DW

Item 1
Id 72337110
Date 2025-04-24
Title Welche Gefahr geht von einer Anerkennung der Krim-Annexion aus?
Short title Welche Gefahr birgt eine Anerkennung der Krim-Annexion?
Teaser Für einen Friedensvertrag zwischen Moskau und Kyjiw könnte die US-Regierung möglicherweise Russlands Kontrolle über die Krim anerkennen. Wie reagiert die Ukraine auf diesen Vorstoß? Und was sagen Experten dazu?
Short teaser Die US-Regierung ist möglicherweise bereit, Russlands Kontrolle über die Krim anzuerkennen. Was bedeutet das für Kyjiw?
Full text

Die USA haben den europäischen Verbündeten angeblich ein vertrauliches Papier mit Vorschlägen für einen Waffenstillstand in Russlands Krieg gegen die Ukraine übermittelt. Einer seiner wichtigsten Punkte soll die Anerkennung der russischen Kontrolle über die im Jahr 2014 von Moskau annektierte ukrainische Halbinsel Krim sein. Dies meldeten zunächst die Nachrichtenagentur Bloomberg, der US-Nachrichtensender CNN, die einflussreiche Tageszeitung Washington Post und die Wirtschaftszeitung The Wall Street Journal.

Demzufolge hätten die Amerikaner bis zum 23. April eine Antwort der Ukraine erwartet. Doch zuvor war ein Treffen von Spitzendiplomaten in London kurzfristig auf Beraterebene herabgestuft worden, nachdem die Vertreter aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und der Ukraine ihre Teilnahme abgesagt hatten. Auch US-Außenminister Marco Rubio blieb fern. Bis dahin wollte US-Präsident Donald Trump die Berichte über eine mögliche Anerkennung der Krim als russisches Territorium weder bestätigen noch dementieren.

Wie reagiert die Ukraine?

In den mehr als elf Jahren seit der völkerrechtswidrigen Annexion war die Krim-Frage immer wieder Thema in den Medien. Diesmal beeilte sich das offizielle Kyjiw aber nicht, zu den Berichten Stellung zu nehmen. Einer der ersten, der auf sie reagierte, war der Vertreter der Krimtataren, Refat Tschubarow. In Radio Liberty sagte er, die Trump-Administration wolle mit ihren Botschaften bezüglich territorialer Zugeständnisse, ohne die der Krieg angeblich nicht beendet und kein dauerhafter Frieden erreicht werden könne, die ukrainische Führung nur testen.

Etwas später reagierte auch das Büro des ukrainischen Präsidenten. Kyjiw habe bei Gesprächen mit den USA die Anerkennung der Krim als Teil Russlands nicht erörtert und sei damit auch nicht einverstanden, versicherte Präsidentenberater Serhij Leschtschenko im ukrainischen Fernsehen.

Präsident Wolodymyr Selenskyj wollte dieser Diskussion dann offenbar ein Ende setzen. Auf Fragen von Journalisten unterstrich er am Abend des 22. April in Kyjiw, dass die Ukraine die russische Besetzung der Autonomen Republik Krim nicht anerkennen werde, denn das wäre ein Verstoß gegen die ukrainische Verfassung. "Die Krim steht nicht zur Debatte", betonte er und bekräftigte, die Halbinsel sei ukrainisches Territorium. Trump nannte die Aussage des ukrainischen Präsidenten "sehr schädlich für die Friedensverhandlungen mit Russland". "Wenn er die Krim haben will, warum haben sie dann nicht schon vor elf Jahren um sie gekämpft, als sie ohne einen Schuss an Russland übergeben wurde?", schrieb Trump am 23. April auf seiner Plattform Truth Social.

Risiken einer Anerkennung der Krim-Annexion

Das amerikanische Robert Lansing Institute for Global Threats and Democracies Studies (RLI) hat in einer Analyse mehrere Risiken einer Anerkennung der Krim-Annexion für die internationale Ordnung aufgeführt. Demnach würde dies einen "grundlegenden Wandel in der US-Außenpolitik bedeuten und einen Bruch mit jahrzehntelangen Rechtsprinzipien zur Verteidigung der territorialen Integrität markieren". Die Experten des Instituts betonen:

Erstens würde eine Anerkennung der Krim-Annexion ein strategischer Schlag gegen internationale Normen sein. Sie würde das im Völkerrecht verankerte Prinzip der territorialen Integrität untergraben und die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffene Rechtsordnung schwächen. Dies würde andere autoritäre Staaten wie China oder die Türkei zu einem territorialen Revisionismus ermutigen.

Zweitens würde dies zu einer Entfremdung zwischen den Verbündeten innerhalb des westlichen Lagers führen. Die Ukraine würde einen solchen Schritt als Verrat und vor allem die osteuropäischen Mitglieder von NATO und EU würden ihn als Kapitulation vor der russischen Aggression werten.

Drittens hätte ein solcher Schritt Auswirkungen auf die US-Innenpolitik. Er würde eine parteiübergreifende Gegenreaktion provozieren und Fragen zu Trumps wahren Motiven aufwerfen, insbesondere angesichts der Spekulationen über seine möglichen langjährigen Verbindungen zu Moskau.

Zudem warnt das RLI davor, dass eine Anerkennung der Krim-Annexion die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Unterstützung für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weltweit schwer beschädigen würde. Insbesondere in Ländern, die anfällig für autoritären Druck seien.

"Äußerst gefährlicher Präzedenzfall"

Der ukrainische Politikwissenschaftler Wolodymyr Fesenko teilt diese Einschätzung. Im DW-Gespräch sagt er, die Krim sei "eine rote Linie" und ihr Verlust "für die Ukraine absolut inakzeptabel". Die rechtliche Anerkennung der Krim-Annexion würde "einen äußerst gefährlichen Präzedenzfall" schaffen. Und dies nicht nur für die Ukraine, sondern für die ganze Welt, wenn die Ansprüche der Volksrepublik China gegenüber Taiwan und anderswo bedacht würden. Fesenko meint, die Herabstufung des Treffens in London zeige, dass die in den Medien verbreiteten US-Vorschläge faktisch abgelehnt worden seien und nicht mehr umgesetzt würden.

Auch Andras Racz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) rechnet derzeit nicht mit einem schnellen Durchbruch in der Diplomatie. "Es ist nicht überraschend, dass die ukrainische Seite den US-Vorschlag abgelehnt hat", meint er. Denn dies hätte von Kyjiw eine offizielle Anerkennung der Krim-Annexion sowie faktisch auch den Verzicht auf das von Russland besetzte ukrainische Territorium erfordert, so der Politologe.

Nachdem das Treffen in London offenbar schiefgelaufen ist, spekulieren Beobachter nun darüber, welchen Kurs Washington einschlagen wird. Am 23. April erklärte US-Vizepräsident JD Vance, dass sowohl die Ukraine als auch Russland einen Teil der Gebiete aufgeben müssten, die beide Seiten derzeit kontrollieren. Die USA hätten Russland und der Ukraine einen "sehr klaren Vorschlag" unterbreitet. Vance warnte: "Es ist nun an der Zeit, dass sie entweder Ja sagen, oder aber, dass sich die USA aus diesem Prozess zurückziehen."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

Item URL https://www.dw.com/de/welche-gefahr-geht-von-einer-anerkennung-der-krim-annexion-aus/a-72337110?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72342099_302.jpg
Image caption Feier in Moskau im Jahr zum 10. Jahrestag der Annexion der Krim durch Russland
Image source Yuri Gripas/picture alliance/abaca
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72342099_302.jpg&title=Welche%20Gefahr%20geht%20von%20einer%20Anerkennung%20der%20Krim-Annexion%20aus%3F

Item 2
Id 72334239
Date 2025-04-24
Title Warum verbietet die Türkei Kaiserschnitte?
Short title Warum verbietet die Türkei Kaiserschnitte?
Teaser Das Gesundheitsministerium untersagt geplante Kaiserschnitte in Kliniken. Kritiker sehen darin einen Eingriff in die Selbstbestimmung der Frau und einen weiteren Schritt in Richtung eines konservativen Familienideals.
Short teaser Kritiker sehen einen Eingriff in die Selbstbestimmung und einen Schritt in Richtung eines konservativen Familienideals.
Full text

"In medizinischen Zentren dürfen keine geplanten Kaiserschnitte mehr durchgeführt werden." So heißt es in der am 19. April im türkischen Amtsblatt veröffentlichten Verordnung. Der Beschluss des Gesundheitsministeriums ist eindeutig: Ohne medizinische Notwendigkeit sind Kaiserschnitte künftig untersagt.

Einrichtungen ohne eigene Operationssäle wird zudem verboten, überhaupt eine Geburtseinheit einzurichten. Darüber hinaus schreibt die neue Regelung die digitale Dokumentation von Patientendaten vor und verpflichtet Gesundheitseinrichtungen zu modernen Standards bei Datensicherheit und Transparenz. Regelmäßige Kontrollen sollen sicherstellen, dass medizinische Behandlungen den wissenschaftlichen Leitlinien entsprechen. Diese vom Gesundheitsministerium verschärften Eingriffe in die Geburtshilfe werden in der Türkei seit Tagen kontrovers diskutiert.

Kaiserschnitte weiterhin sehr verbreitet

Regierungsnahe Stimmen argumentieren, die Kaiserschnittraten seien ohnehin rückläufig, wobei dieses Argument nicht durch Zahlen belegt wird. Tatsächlich liegt die Kaiserschnittrate in der Türkei weit über dem Durchschnitt in Europa und den Ländern der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). 2017 führte das Land die weltweite Statistik an. Laut OECD-Daten lag die Rate im Jahr 2018 bei 51,9 Prozent, 2022 dagegen schon bei 57,2 Prozent.

In Europa ist der Trend deutlich moderater: In Ländern wie Schweden, den Niederlanden oder Frankreich stieg der Anteil nur geringfügig. Der europäische Grundsatz lautet: Kaiserschnitte nur bei medizinischer Notwendigkeit und stets im Dialog zwischen Arzt und Gebärender. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordert strenge Maßstäbe bei der Einschränkung der Geburtswahl - um das Recht auf körperliche Selbstbestimmung zu schützen.

"Mindestens drei Kinder" - auf natürliche Weise?

Während sich viele Länder für mehr Selbstbestimmung einsetzen, geht die Türkei den entgegengesetzten Weg. Die islamisch-konservative Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan sorgt mit dem neuen Vorstoß für heftige Reaktionen. Seit über 23 Jahren verfolgt sie eine sogenannte "familienfreundliche" Politik, die von vielen Frauenrechtlerinnen als frauenfeindlich kritisiert wird.

Bereits 2008 rief Erdoğan türkische Frauen dazu auf, "mindestens drei Kinder zu bekommen", und sorgte damals wie heute für große Diskussionen. Ziel sei es, so der Staatschef, dem demografischen Wandel und der alternden Bevölkerung entgegenzuwirken. 2012 erklärte Erdoğan außerdem: "Wir wollen eine religiöse Jugend heranziehen", und er hat dieses Ziel seither immer wieder bekräftigt. Mit dem für 2025 ausgerufenen "Jahr der Familie" will die Regierung nun gezielt traditionell-islamische Werte ins Zentrum ihrer Familienpolitik rücken und die Familie als gesellschaftliche Kernzelle stärken.

"Verlasst endlich unser Schlafzimmer!"

Frauenrechtsorganisationen üben deutliche Kritik an der Verordnung. "Die Debatte über den Kaiserschnitt wird mit einem frauenfeindlichen Diskurs und mit Maßnahmen geführt, die darauf abzielen, Frauen zu beschuldigen und Kontrolle über ihre Körper auszuüben. Ein Ansatz, der Frauen zum Gebären zwingt und ihnen vorschreiben will, wie sie als Mütter zu sein haben, stellt einen Angriff auf ihr Recht dar, selbst über ihren Körper, ihre Fruchtbarkeit und ihr Leben zu entscheiden. Die Aufgabe des Staates ist es nicht, Frauen vorzuschreiben, wie sie gebären sollen", erklärt die Frauenrechtsorganisation "Lila Dach" im Gespräch mit der DW.

Canan Güllü, Vorsitzende der Föderation der Frauenvereine der Türkei (TKDF), ist der Ansicht, die Verordnung stelle einen klaren Verstoß gegen die türkische Verfassung, internationale Abkommen und grundlegende Menschenrechte dar. "Die Verfassung garantiert jedem Menschen das Recht auf Leben sowie den Schutz und die Entfaltung seiner körperlichen und seelischen Unversehrtheit", schreibt Güllü in ihrem öffentlichen Pressestatement.

In die Entscheidung über die Art der Geburt einzugreifen, sei ein direkter Angriff auf die körperliche Selbstbestimmung von Frauen und ihr Recht auf Gesundheit. "Zwangsmutterschaft, Zwangsgeburten, Verbote von Kaiserschnitten - all das greift tief in das Selbstbestimmungsrecht von Frauen ein. Wir werden das Recht von Frauen auf körperliche Autonomie verteidigen."

Mit ihrer Kritik reiht sich Güllü in eine wachsende Zahl von Stimmen aus der Zivilgesellschaft und der Frauenbewegung ein, die die Gesundheitspolitik der Regierung als ideologisch motivierten Eingriff werten. Der Staat betrachte Frauen als "Geburtsmaschinen", sagt sie und fordert: "Es reicht - verlasst endlich unser Schlafzimmer!"

Scharfe Kritik auch von der Opposition

Auch die oppositionelle CHP schlägt Alarm. Aylin Nazlıaka, stellvertretende Parteivorsitzende und zuständig für Familien- und Sozialpolitik, warnt vor den Folgen für Frauen in ländlichen Regionen: "In vielen Landkreisen und Dörfern sind medizinische Zentren der einzige Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung. Wenn dort keine geplanten Kaiserschnitte mehr möglich sind, ist das ein massiver Rückschritt für die Sicherheit werdender Mütter."

Ihre Warnung ist deutlich: "Diese Entscheidung gefährdet nicht nur Freiheiten, sondern auch Leben. Die Entscheidung über die Art der Geburt trifft die Frau gemeinsam mit ihrem Arzt. Hände weg von den Körpern der Frauen!"

Mitarbeit: Dilhun Develi

Item URL https://www.dw.com/de/warum-verbietet-die-türkei-kaiserschnitte/a-72334239?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/66103828_302.jpg
Image caption In vielen Weltregionen wird bereits die Mehrzahl der Kinder per Kaiserschnitt entbunden
Image source Alexandra Troyan/Zoonar/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/66103828_302.jpg&title=Warum%20verbietet%20die%20T%C3%BCrkei%20Kaiserschnitte%3F

Item 3
Id 72336108
Date 2025-04-24
Title Urteil: Rückführung von Geflüchteten nach Griechenland legal
Short title Urteil: Rückführung von Geflüchteten nach Griechenland legal
Teaser Das oberste deutsche Verwaltungsgericht hat entschieden, dass junge, gesunde, männliche Asylsuchende nach Griechenland zurückgeführt werden dürfen. Nach Ansicht der Richter droht ihnen dort keine extreme Not.
Short teaser Nach Ansicht des deutschen Bundesverwaltungsgericht droht Betroffenen keine extreme Not in Griechenland.
Full text

Zumindest junge, gesunde und arbeitsfähige Männer, die in Griechenland bereits als Flüchtlinge anerkannt wurden, können dorthin auch zurückgeführt werden. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig am vergangenen Mittwoch (16.4.2025) entschieden. Den Flüchtlingen drohten in dem südosteuropäischen EU-Mitgliedsstaat keine "erniedrigenden oder unmenschlichen Lebensbedingungen" und ihre Grundrechte würden dort nicht verletzt, stellten die Richter fest. Zwar gebe es Schwachstellen im griechischen Asylsystem - aber die Betroffenen seien durchaus in der Lage, ausreichend für sich zu sorgen.

Konkret ging es um einen heute 34-jährigen staatenlosen Mann aus Gaza und einen 32-jährigen Somalier. Die beiden Männer kamen im Jahr 2017 bzw. 2018 über die Türkei nach Griechenland und wurden dort als Flüchtlinge anerkannt. Gleichwohl reisten sie später nach Deutschland und stellten weitere Asylanträge. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte die inhaltliche Prüfung dieser Anträge ab und ordnete zudem die Rückführung der beiden Männer nach Griechenland an.

Rechtsgrundlage dafür sind die Dublin-Regelungen der Europäischen Union. Sie sehen vor, dass für die Prüfung eines Asylantrags allein der Staat verantwortlich ist, in den der Antragssteller zuerst eingereist war - in diesem Fall eben Griechenland. Das sogenannte "Erststaats-Prinzip" soll verhindern, dass Asylsuchende ihr Zielland selbst auswählen oder aber von Staat zu Staat weitergereicht werden. Mit Hinweis auf die Dublin-Regelungen könnte Deutschland Asylbewerber, die bereits in einem anderen EU-Land Asyl erhalten haben, dorthin zurückführen. Allerdings greift ein Abschiebungsverbot ein, wenn dem Betroffenen nach seiner Rückführung eine menschenunwürdige Behandlung droht.

Bisherige Rechtsprechung revidiert

In der Vergangenheit hatten Gerichte die Lage in Griechenland als besonders kritisch eingeschätzt und eine Abschiebung dorthin für unzulässig erachtet. So etwa das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster im Januar 2021: In einem vielbeachteten Urteil erklärten die Richter damals, es bestehe die Gefahr, dass die Betroffenen in Griechenland ihre elementarsten Bedürfnisse - Dinge wie ein Bett, Brot oder Seife - nicht befriedigen könnten. Damit würden ihre Rechte aus der EU-Grundrechtecharta und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verletzt.

Eine ähnliche Auffassung vertrat auch das OVG des Saarlandes in fünf Fällen im November 2022: Flüchtlinge in Griechenland seien nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt eigenständig zu erwirtschaften, so die Richter. Diese Rechtsprechung wird nun revidiert. Im August 2024 erklärte der Hessische Verwaltungsgerichtshof in Kassel, gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen drohe in Griechenland "nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit" eine unmenschliche Behandlung. Gegen dieses Urteil wollten sich die Betroffenen vor dem Bundesverwaltungsgericht wehren - ohne Erfolg.

Die Frage der "Sekundärmigration"

Der Richterspruch wird vermutlich auch ein politisches Nachspiel haben. Denn: Die jüngsten Urteile verweisen auf die komplizierte Frage der "Sekundärmigration", die bereits in der Vergangenheit für Irritationen zwischen Deutschland und Griechenland sorgte. Es geht um Zehntausende von Menschen, die in Griechenland Asyl bekommen haben - aber dann nach Deutschland weiterreisten, dort erneut einen Asylantrag stellen und infolge der früheren Rechtsprechung auch bis auf Weiteres in der Bundesrepublik bleiben durften.

Horst Seehofer (CSU) hatte in seiner Zeit als Innenminister im letzten Kabinett von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wiederholt auf dieses Problem hingewiesen und sogar Grenzkontrollen für alle Flüge aus Griechenland rechtlich geprüft. Aus griechischer Sicht gab es dagegen kaum Möglichkeiten, die Sekundärmigration zu verhindern, da anerkannte Flüchtlinge in der Regel mit gültigen Ausweisdokumenten nach Deutschland einreisen. Eine rechtliche Grauzone? Bei einem Besuch in Athen 2023 plädierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) für "bilaterale" und "europäische" Lösungen, um das Problem der Sekundärmigration in den Griff zu bekommen.

Mit den bestehenden Dublin-Regelungen sind sämtliche EU-Staaten unzufrieden - und fordern eine grundlegende Reform der Asylgesetzgebung in der Europäischen Union. Gerade das "Erststaats-Prinzip" wird im Süden Europas stark kritisiert. Denn in der Praxis führt diese Regelung dazu, dass für einen Großteil der europäischen Asylverfahren ausschließlich Griechenland und Italien zuständig sein sollen - allein schon aus geografischen Gründen.

Item URL https://www.dw.com/de/urteil-rückführung-von-geflüchteten-nach-griechenland-legal/a-72336108?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70642281_302.jpg
Image caption Bewohner des Flüchtlingslagers in Malakasa, Ost-Attika im Oktober 2024
Image source Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/70642281_302.jpg&title=Urteil%3A%20R%C3%BCckf%C3%BChrung%20von%20Gefl%C3%BCchteten%20nach%20Griechenland%20legal

Item 4
Id 72322799
Date 2025-04-24
Title Wechseljahre: Was sind eigentlich bioidentische Hormone?
Short title Wechseljahre: Was sind eigentlich bioidentische Hormone?
Teaser Wer Hilfe gegen Beschwerden in den Wechseljahren sucht, stößt schnell auf bioidentische Hormone. Wie helfen sie und wie sicher sind sie? Kann sie jede Frau nehmen? Viele Fragen, zum Welthormontag einige Antworten.
Short teaser Wer Hilfe bei Wechseljahrssymptomen sucht, stößt schnell auf bioidentische Hormone. Wie helfen und wie sicher sind sie?
Full text

Mehr als jede zweite Frau leidet in den Wechseljahren, also vor und nach der letzten Menstruationsblutung, unter Hitzewallungen und Schweißausbrüchen. Auch Schlafstörungen, Scheidentrockenheit, Gelenkschmerzen oder Depressionen sind verbreitete Symptome.

Östrogen: Hilfe gegen Hitzewallungen

Am effektivsten gegen Hitzewallungen hilft laut Leitlinien der Gynäkologischen Gesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz das weibliche Sexualhormon Östrogen, auch Estrogen genannt.

An ihm mangelt es dem weiblichen Körper nach der Menopause, also nach der letzten Regelblutung. Dann sind die Eizellen verbraucht, deren Hüllen das meiste Östrogen im weiblichen Körper produzieren. Allerdings fehlt dann auch der Gegenspieler des Östrogens, das Gelbkörperhormon Progesteron, erklärt Katrin Schaudig, Frauenärztin und Präsidentin der Deutschen Menopause Gesellschaft.

"Wenn Frauen über einen langen Zeitraum nur Östrogene nehmen, gibt es einen zu starken Aufbau der Gebärmutterschleimhaut und das kann im schlimmsten Fall in einem Karzinom enden. Wenn wir Östrogen einsetzen, brauchen wir das Progesteron zum Schutz vor Gebärmutterschleimhautkrebs." Wichtig sei, dass Progesteron ausreichend hoch dosiert werde, so Schaudig.

In der modernen Hormon-Ersatztherapie (HET) werden hauptsächlich sogenannte bioidentische Hormone verwendet: Progesteron sowie Östradiol/Estradiol, das gegen Hitzewallungen wirkt, und Östriol/Estriol, das gegen trockene Vaginalschleimhaut hilft. Diese beiden zählen zur Gruppe der Östrogene. Die molekulare Struktur der bioidentischen Hormone entspricht denen der körpereigenen Hormone.

Bioidentische Hormone schützen Frauen vor Alterserkrankungen

Bioidentisches Östrogen und Progesteron können viele altersbedingte Stoffwechselerkrankungen verhindern, unter denen Frauen nach der Menopause leiden. Dazu zählten vor allem abnehmende Knochendichte und Knochenbrüche, Arterienverkalkung, Thrombosen, Herzinfarkt, Schlaganfall, Nierenschwäche und Demenz, zählt Helena Orfanos-Boeckel auf. Die Fachärztin für innere Medizin und Nierenheilkunde hat sich auf das Thema Nährstoffe und Hormone spezialisiert.

"Auch Haut, Schleimhäute, Gelenke und die Mundgesundheit profitieren von einer HET. Alle Prozesse im Körper sind biochemisch im weitesten Sinne von Hormonen abhängig und mit Hormonen altert es sich gesünder."

Was unterscheidet bioidentische Hormone von Hormon-Derivaten?

Früher wurden Frauen in den Wechseljahren oder nach der Menopause mit Substanzen behandelt, die den Hormonen des menschlichen Körpers in ihrer Struktur nur zu geringen Anteilen entsprachen: mit sogenannten Hormon-Derivaten.

"Obwohl diese Substanzen körperfremd sind, wurden und werden sie verkürzt immer noch als "Hormone" bezeichnet", erklärt Orfanos-Boeckel. "Und diese falsch benannten Substanzen, die in Wahrheit den Hormonhaushalt unterdrücken, haben im Gegensatz zu den bioidentischen Hormonen ein Nebenwirkungspotenzial."

Derivate des natürlichen Progesterons und auch des Testosterons wurden und werden beispielsweise in der Anti-Baby-Pille eingesetzt, um den Eisprung zu verhindern.

Kein erhöhtes Thromboserisiko durch bioidentische Hormone

Manche Progesteron-Derivate haben einen ungünstigen Effekt auf die Blutgerinnung und können das Risiko für Thrombosen und Schlaganfälle erhöhen. Dieses Risiko habe bioidentisches Progesteron laut aktueller Studienlage nicht, betonen Orfanos-Boeckel und Schaudig.

Beim Östrogen kommt es auf die Anwendungsform an. Egal ob bioidentisch oder Östrogen-Derivat: Wird es geschluckt, also über die Leber verstoffwechselt, dann steigt das Thromboserisiko. Deswegen wird Östradiol/Estradiol in der modernen Hormon-Ersatztherapie in der Regel über die Haut als Gel, Pflaster oder Spray eingenommen. So umgeht man das Risiko der Blutgerinnung.

Fördert eine Hormon-Ersatztherapie das Brustkrebsrisiko?

Frauen, die bereits Brustkrebs hatten oder haben, wird auch von bioidentischen Hormonen abgeraten. Denn, so Schaudig: "Zwar streiten die Experten noch, ob das Östrogen den Krebs wirklich entstehen lässt. Aber was wir wissen, ist, dass Östrogene das Wachstum von Brustkrebszellen fördern können, auch von Vorstufen oder Frühformen. Und auch das Östrogen, das der Körper selbst herstellt, begünstigt das Wachstum von Brustkrebszellen - das ist so eine Art hormonelle Düngung dieser Zellen."

Bei Frauen, die keinen Brustkrebs haben, stieg das Brustkrebsrisiko bei einer HET mit bioidentischem Östrogen und Progesteron in einer Studie erst nach sechs bis neun Jahren leicht an. "Es ist keine gute Studie, es ist nur eine Beobachtungsstudie, aber es ist die einzige, die wir haben." Allerdings betont Schaudig: "Zwei Glas Wein am Abend machen viel mehr Risiko, Übergewicht macht per se mehr Risiko, kein Sport macht ebenfalls mehr Risiko."

Wichtig sei, die Brust in den Wechseljahren regelmäßig untersuchen zu lassen, betonen beide Medizinerinnen - und zwar egal ob mit oder ohne Hormon-Ersatztherapie.

Gefahrlos sind dagegen nach aktuellem Wissensstand niedrig dosierte hormonhaltige Vaginalcremes oder -zäpfchen. Hier kommt bioidentisches Östriol/Estriol zum Einsatz. Diese Unterform des Östrogens wirkt gegen die Verkümmerung und Austrocknung der Scheidenhaut - und schützt so vor Blasenentzündungen und Schmerzen beim Sex.

Wie lange können bioidentische Hormone genommen werden?

Oft ist vom sogenannten "Window of Opportunity" die Rede. Es besagt: Je früher Frauen nach der letzten Regelblutung mit einer Hormon-Ersatztherapie starten, desto besser wirkt diese gegen Alterserkrankungen, vor allem gegen Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems.

Es sei aber durchaus möglich auch noch mehrere Jahre später mit den Hormonen zu starten, sagt Frauenärztin Schaudig. "Sie werden wahrscheinlich keinen Schutz fürs Herz-Kreislauf-System mitnehmen, Sie werden sich aber trotzdem vor Osteoporose schützen, auch nach fünf Jahren, und Sie werden sich auch vor Diabetes schützen."

Eine Einschränkung aber gibt es für einen späten Beginn: Wenn Frauen schon beschädigte Gefäße haben, könnten sich dann durch die Einnahme von Hormonen, auch den bioidentischen, möglicherweise Thrombosen bilden. Für diese Frauen sei es extrem wichtig, den Cholesterinspiegel im Zaum zu halten, so Schaudig, auch durch Medikamente, und "dass der Blutdruck top eingestellt ist".

Unsere Quellen unter anderen:

Leitlinien der Deutschen Menopause Gesellschaft

Item URL https://www.dw.com/de/wechseljahre-was-sind-eigentlich-bioidentische-hormone/a-72322799?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/60806736_302.jpg
Image caption Etwa die Hälfte aller Frauen in den Wechseljahren leidet unter Hitzewallungen
Image source Christin Klose/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/repod/repod20230422_gesamtHD_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/60806736_302.jpg&title=Wechseljahre%3A%20Was%20sind%20eigentlich%20bioidentische%20Hormone%3F

Item 5
Id 72333668
Date 2025-04-24
Title Muslimischer Dank an den Papst: zugewandt, nie distanziert
Short title Muslimischer Dank an den Papst: zugewandt, nie distanziert
Teaser Abdassamad El Yazidi traf als wohl letzter Deutscher bei einer längeren Audienz Papst Franziskus. Im DW-Interview erinnert er sich an eine intensive Begegnung.
Short teaser Abdassamad El Yazidi traf als wohl letzter Deutscher bei einer längeren Audienz Papst Franziskus.
Full text

Der am 21. April verstorbene Papst Franziskus arbeitete bis zuletzt. Der wohl letzte Gast aus Deutschland, den er vor seinem 38-tägigen Krankenhaus-Aufenthalt (14. Februar bis 23. März) im Vatikan empfing, war Abdassamad El Yazidi. Der 49-jährige ist Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland. El Yazidi, der sich in Deutschland und international im interreligiösen Dialog engagiert, begegnete dem katholischen Kirchenoberhaupt in Bahrain (November 2022) und mehrmals im Vatikan. Der Deutschen Welle schildert El Yazidi seine Erinnerungen an das letzte Treffen.

DW: Herr El Yazidi, Sie waren vermutlich der letzte Deutsche, der mit etwas Zeit am 10. Februar bei Papst Franziskus zu Gast war. Wie kam es dazu?

Abdassamad El Yazidi: Die knapp 25-minütige Begegnung fand im Rahmen einer Delegation von AMMALE statt, einem Zusammenschluss muslimischer Organisationen und Persönlichkeiten auf europäischer Ebene, dessen Vizepräsident und Beauftragter für den interreligiösen Dialog ich bin.

Es war ein intensives und inhaltlich reiches Gespräch mit Papst Franziskus. Wir sprachen über die Notwendigkeit, den muslimisch-christlichen Dialog auf institutioneller Ebene zu vertiefen. In diesem Zusammenhang wurde auch die Idee angeregt, künftig jährlich eine Dialogkonferenz in Kooperation zwischen dem Vatikan und muslimischen Organisationen Europas zu veranstalten.

An dem Tag war Franziskus schon angeschlagen. Konnten Sie das spüren?

Ja, seine körperliche Schwäche war nicht zu übersehen. Er war sichtbar erschöpft, atmete schwer und sprach mit leiser Stimme - doch geistig war er vollkommen präsent. Als ich mich bei ihm dafür bedankte, dass er das Gespräch trotz seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung wahrnahm, antwortete er lächelnd: "Unkraut vergeht nicht".

Danach bat er mich mit großer Ernsthaftigkeit: "Beten Sie für mich!" Diese Worte haben sich tief in mein Herz eingeprägt. Ich dachte in diesem Moment nicht daran, dass das meine letzte Begegnung mit dieser großartigen Persönlichkeit sein würde. Es war ein Treffen voller Wärme, voller Humor und spiritueller Tiefe.

Sie sind ihm insgesamt vier- oder fünfmal begegnet. Wie redet man dann mit dem Papst, wie redete er mit Ihnen?

Papst Franziskus war in jeder Begegnung zutiefst menschlich, zugewandt, nie distanziert. Er hatte die Gabe, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen - unabhängig von Religion oder Herkunft. Unsere Gespräche waren offen, persönlich und stets getragen von einer gemeinsamen Botschaft des gegenseitigen Respektes und des friedlichen Miteinanders.

Er erinnerte in seinen Gesprächen oft an unsere besondere Verantwortung und an die Vorbildfunktion der geistlichen Würdenträger. Ich werde seine Bescheidenheit und innere Kraft nie vergessen.

Täuscht der Eindruck - oder hat Franziskus häufiger muslimische Delegationen getroffen, als es öffentlich wahrgenommen wurde?

Nein, der Eindruck täuscht nicht. Tatsächlich hatte er regelmäßig und oft im Stillen Begegnungen mit muslimischen Delegationen. Für ihn war der interreligiöse Dialog keine symbolische Geste, sondern ein Ausdruck seines tiefen Glaubens an die gemeinsame Verantwortung der Religionen für den Frieden. Viele dieser Treffen fanden abseits der medialen Aufmerksamkeit statt - und genau darin lag ihre Authentizität.

Wie hat sich der muslimisch-katholische Dialog nach Ihrer Einschätzung durch die Franziskus-Jahre verändert?

Er hat sich nachhaltig vertieft. Papst Franziskus hat Brücken gebaut, wo zuvor Gräben waren. Die 2019 unterzeichnete "Gemeinsame Erklärung zur Brüderlichkeit aller Menschen" mit dem Großimam von Al-Azhar (Red.: Universität in Kairo) war ein Wendepunkt in der Geschichte des interreligiösen Dialogs - nicht nur symbolisch, sondern auch institutionell.

Im Februar 2022, zum Jahrestag der Unterzeichnung dieses historischen Dokuments, haben wir - ich war damals Sprecher des Koordinationsrats der Muslime in Deutschland - zusammen mit der Deutschen Bischofskonferenz unter Leitung von Bischof Bertram Meier unser zentrales Spitzentreffen ganz diesem Dokument gewidmet.

Ein Jahr später reisten Bischof Meier und ich zum Jahrestag der Unterzeichnung nach Abu Dhabi. Bischof Meier leitete unter anderem einen katholischen Gottesdienst in der arabischen Metropole, an dem mehr als 3000 Gläubige teilnahmen.

Abdassamad El Yazidi (49) ist seit Februar 2025 Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD). Zuvor war er einige Jahre ZMD-Generalsekretär. El Yazidi ist seit vielen Jahren im interreligiösen Dialog engagiert. Der gebürtige Hesse betont die Verankerung von Muslimen in der deutschen Gesellschaft.

Das Interview führte Christoph Strack.

Item URL https://www.dw.com/de/muslimischer-dank-an-den-papst-zugewandt-nie-distanziert/a-72333668?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72328562_302.jpg
Image caption Februar 2025: Muslime zu Gast beim schwerkranken Papst - darunter der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Abdassamad El Yazidi (3.v.re.)
Image source Privat
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/Events/mp4/jd/jd20200123_visit_sd.mp4&image=https://static.dw.com/image/72328562_302.jpg&title=Muslimischer%20Dank%20an%20den%20Papst%3A%20zugewandt%2C%20nie%20distanziert

Item 6
Id 72319087
Date 2025-04-24
Title Grüne Tech-Revolution mit Hilfe der Öl- und Gas-Industrie?
Short title Grüne Tech-Revolution mit Hilfe der Öl- und Gas-Industrie?
Teaser Die Gewinnung von klimaschonender Erdwärme ist bisher nur begrenzt möglich. Technologische Fortschritte könnten das ändern. Dabei kann die Expertise der Öl- und Gasindustrie eine Schlüsselrolle spielen.
Short teaser In der Erde lagern riesige Wärmevorkommen. Um sie nutzbar zu machen, wird besonders die Öl- und Gasindustrie gebraucht.
Full text

Island macht es vor. Kaum ein Land nutzt die Energie des Erdkerns so konsequent wie die Vulkaninsel hoch im Norden. Bereits zwei Drittel der Energie des Landes stammen aus heißen unterirdischen Wasservorkommen, aus Erdwärme. Eine erneuerbare Energie zur Produktion von Strom und Wärme, die rund um die Uhr zur Verfügung steht.

Ob in der Türkei, in Indonesien, den USA, Kenia oder Italien: Erdwärme wird in vielen Ländern genutzt. Dabei gibt es einen Haken. Klassische Geothermie kann nur dort angezapft werden, wo sich geeignete und heiße unterirdische Wasservorkommen befinden. Diese gibt es aber nicht an vielen Orten. Darum ist das Potenzial dieser Art von Geothermie begrenzt.

Doch es bahnt sich eine technologische Revolution an, die Geothermie theoretisch überall auf der Erde möglich machen könnte – auch ohne riesige Vorkommen von heißem Wasser.

Erdwärme "ist sogar in der Pariser Innenstadt zu finden. Wenn man bohren kann, kann man darauf zugreifen," erläutert Heymi Bahar, Energieexperte von der Internationalen Energieagentur (IEA) im DW-Gespräch. Er und seine Kollegen haben im vergangenen Jahr einen umfassenden Bericht zur Zukunft von Geothermie herausgegeben. Sie sehen enormes Wachstumspotential für grüne Energie aus der Erde.

Wie zapft man die Energie des Erdkerns an?

Je tiefer man bohrt, umso wärmer wird es. Das heißt auch: umso mehr Energie lässt sich gewinnen. Im Schnitt steigt die Temperatur pro 1000 Meter Tiefe um 25 bis 30 Grad Celsius. Klassische Anlagen zur Gewinnung von Geothermie bohren in der Regel zwischen einigen hundert bis etwa 3000 Meter tief und nutzen die Energie heißer Wasserquellen. Mit neuen Technologien können Bohrungen noch viel tiefer vorstoßen, und die Wärme kann auch ohne Wasservorkommen genutzt werden.

"Zwischen 4000 und 7000 Metern Tiefe ist es praktisch wie Wind- und Sonnenenergie, sie ist überall", so Bahar. Das heißt: Fast überall auf der Welt ist es dort mindestens 150 Grad heiß. Das ist warm genug für die Wärme- und Stromproduktion, sagen die Forscher.

Mit der Energie in der Erde ließe sich theoretisch hundertfünfzig Mal so viel Strom produzieren, wie die Welt derzeit pro Jahr braucht, resümieren die Forscher im IEA-Bericht.

Kreislaufsysteme: Wärme aus trockenem Gestein

Die Energie ist also schon da. Die Herausforderung besteht darin, sie kostengünstig anzuzapfen und an die Oberfläche zu befördern. Ein Beispiel, wie das gehen könnte, findet man im bayerischen Geretsried. Hier will das kanadische Unternehmen Eavor 2026 sein erstes kommerzielles Geothermiekraftwerk in Betrieb nehmen. Dabei handelt es sich um ein geschlossenes Kreislaufsystem, das ohne natürliche Heißwasserquelle auskommt und stattdessen die Wärme aus trockenem Gestein nutzt.

Das funktioniert so: Zwei Bohrlöcher werden jeweils etwa 5000 Meter senkrecht in die Erde getrieben. Von dort verzweigen sich mehrere weitere Bohrungen, die die beiden Hauptbohrungen miteinander verbinden. Durch dieses Netzwerk aus Rohren wird kaltes Wasser gepumpt. Auf seinem Weg durch das heiße Gestein nimmt es Wärme auf und transportiert diese zurück an die Oberfläche. Dort kann die Energie genutzt werden – zum Heizen über Fernwärmesysteme oder zur Stromerzeugung. Eavor plant, in Bayern 350 Millionen Euro in das Projekt zu investieren und und hält dafür mehrere Patente.

Wo ist der Unterschied zum klassischen Fracking für Öl und Gas?

Konkurrenz bekommt Eavor aus den USA, wo das Unternehmen Fervo Energy mit finanzkräftiger Unterstützung von Google eine andere Methode zur Marktreife entwickelt. Der Ansatz besteht darin, selbst künstliche heiße Wasservorkommen unter der Erde zu schaffen, wo keine natürlichen vorkommen.

Dafür hat Fervo Energy in der Wüste von Nevada zwei Tunnel in etwa 2500 Metern Tiefe gebohrt. Danach drehten sie die Bohrköpfe und bohrten horizontal weiter. Die Idee dahinter ist, dass horizontale Bohrungen den Prozess der Wärmeübertragung effizienter machen. Sobald die Bohrer die ideale Position erreicht haben, wird eine Flüssigkeit - in der Regel Wasser - unter hohem Druck in den Boden gepumpt, dadurch werden Steine und Felsen aufgebrochen.

Anschließend wird kaltes Wasser in die Bohrlöcher gepumpt. Es fließt nicht wie in Bayern durch Rohre, sondern direkt durch die Risse im warmen Gestein, heizt sich daran auf und wird wieder an die Oberfläche gepresst. Der Vorgang ähnelt dem umstrittenen Fracking zur Förderung von Öl und Gas. Aber Fervo habe das Verfahren optimiert, so Bahar.

"In kurzer Zeit konnten die Kosten um 50 Prozent und die Bohrzeit um 70 Prozent gesenkt werden. Und jetzt bohren sie für ein neues 370- oder fast 400-Megawatt-Projekt in Utah."

Risikofaktor: Bohrungen können Mini-Erdbeben auslösen

Trotz des großen Potenzials gibt es Risiken. 2017 kam es bei Bohrungen nahe Pohang, Süd-Korea, zu einem heftigen Erdbeben. Dutzende Menschen wurden damals verletzt. "Das war ein großer Schock, und das war leider auch das Ende des Projekts, " erzählt der Seismologe der Universität Stanford, William Ellsworth.

Das Aufbrechen von Gestein in der Tiefe verursacht manchmal mehrere kleine Erdbeben. Diese können außer Kontrolle geraten und dann weitere negative Effekte auslösen. Fervo Energy sagt, dass der Betrieb in den eigenen Anlagen stets sicher war und der gesamte Prozess umfangreich überwacht worden sei. Der Seismologe Ellsworth hält die Gefahr, mit der Technik ein Erdbeben auszulösen, für gering und kontrollierbar. Doch er appelliert für gründliche Voruntersuchungen des Bodens und für seismische Messungen während der Bohrung, um das Risiko zu minimieren.

Ein weiteres Problem: Das von Fervo Energy praktizierte "grüne Fracking" benötigt große Mengen Wasser. Das ist anders bei geschlossenen Kreislaufsystemen wie dem von Eavor in Bayern. Diese verbrauchen deutlich weniger Wasser und haben ein kleineres Erdbebenrisiko, weil die Bohrungen den Boden weniger beeinträchtigen. Allerdings sind diese Verfahren wegen der Bohrtiefe und der langen Bohrungen teurer.

Ölindustrie kann helfen, Geothermiekosten zu senken

Derzeit werden neue Geothermie-Anlagen dort gebaut, wo die Hitze in relativ geringer Tiefe zu finden ist. Denn das Bohren auf vier-, fünf- oder sogar zehntausend Meter Tiefe steigert zwar die Energieausbeute, erhöht aber auch massiv die Kosten.

Beim Senken der hohen Kosten könnten große Öl- und Gaskonzerne eine entscheidende Rolle spielen. Deren Expertise und Technik wird laut Terra Rogers von der Nichtregierungsorganisation Clean Air Taskforce benötigt, um der Geothermie schnellstmöglich zu einem Durchbruch zu verhelfen.

Die IEA schätzt, dass etwa 80 Prozent der Prozesse bei Erdwärmeprojekten – Bohren, Zementieren, Abdichten, Vertriebswege – auf Techniken und Abläufen beruhen, die die Öl- und Gasindustrie heute schon nutzt.

Bei Fervo Energy stammen rund 90 Prozent der Arbeitsstunden von Arbeitern aus der Öl- und Gasbranche. Auch viele Führungskräfte bei Fervo Energy und Eavor kommen aus dem fossilen Energiesektor. Es gibt sogar Überlegungen, alte Öl- und Gasbohrlöcher für die Geothermie umzunutzen.

Bohrt die Öl- und Gasindustrie bald für grüne Energie aus der Erde?

Doch bislang hat die fossile Industrie lediglich 140 Millionen US-Dollar in neue Geothermieprojekte investiert – ein Betrag, der im Verhältnis zur Gesamtbranche verschwindend gering ist. Laut Heymi Bahar wartet die Branche auf einen Innovationsdurchbruch, bevor sie größere Summen investiert.

Das führt zu einem Dilemma: Ohne Investitionen wird es diesen Durchbruch kaum geben. Die IEA schätzt, dass die Geothermiebranche in den nächsten zehn Jahren rund eine Billion Dollar benötigen würde, um ihr volles Potenzial entfalten zu können. Auch gesetzliche Rahmenbedingungen sind nötig - bislang existieren diese erst in weniger als 30 Ländern .

China, USA und Indien sind die vielversprechendsten Länder für Geothermie. Zusammen verfügen sie über drei Viertel des gesamten Marktpotenzials. Die Experten sind dennoch optimistisch. Wenn sich die Technologie weiterentwickelt, sicher bleibt und die Kosten noch weiter sinken, könnte Erdwärme bis 2050 mindestens 15 Prozent des gesamten weltweiten Strombedarfs decken, so die IEA.

Außerdem könnte Erdwärme den großen Öl- und Gaskonzernen die Möglichkeit geben in ein neues, nachhaltiges Geschäftsmodell einzusteigen. Das würden ihnen erlauben, das zu tun, was sie am besten können, nämlich zu bohren: "Drill Baby Drill". Aber Öl und Gas würden dabei im Boden blieben.

Item URL https://www.dw.com/de/grüne-tech-revolution-mit-hilfe-der-öl-und-gas-industrie/a-72319087?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/67625167_302.jpg
Image caption Wäre man nicht auf heißes Wasser in der Geothermie angewiesen, könnte man noch mehr Energie anzapfen
Image source Philipp Sandner/DW
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/ea/ea230614_Island_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/67625167_302.jpg&title=Gr%C3%BCne%20Tech-Revolution%20mit%20Hilfe%20der%20%C3%96l-%20und%20Gas-Industrie%3F

Item 7
Id 72332882
Date 2025-04-24
Title US-Bundesstaaten verklagen Trumps "irrsinniges Zollsystem"
Short title US-Bundesstaaten verklagen Trumps "irrsinniges Zollsystem"
Teaser Zollpolitik ohne die Zustimmung des US-Kongresses sei illegal. Daher haben zwölf US-Bundesstaaten Klage beim Gerichtshof für Internationalen Handel eingereicht.
Short teaser Zollpolitik ohne die Zustimmung des US-Kongresses sei illegal. Daher haben zwölf US-Bundesstaaten Klage eingereicht.
Full text

Es sind nicht nur demokratische Bundesstaaten, die sich gegen die Zollpolitik von US-Präsident Donald Trump wehren. Auch die republikanisch regierten Staaten Arizona und Nevada haben sich der Klage angeschlossen. Mit seinen willkürlich erhobenen Abgaben habe der Präsident "die verfassungsmäßige Ordnung umgestoßen und die amerikanische Wirtschaft ins Chaos gestürzt", heißt es in der Klage, die von den Bundesstaaten Oregon, Colorado, Connecticut, Delaware, Illinois, Maine, Minnesota, New Mexico, New York und Vermont mit verfasst wurde.

Die Befugnis Steuern, Zölle und Abgaben zu erheben, liege laut US-Verfassung beim Kongress, nicht beim Präsidenten, argumentieren die Kläger. Die nationale Handelspolitik dürfe nicht von dessen Launen abhängen. Zudem belasteten sie nicht nur die internationalen Handelspartner, sondern auch die eigene Bevölkerung. Die Justizministerin von Arizona, Kris Mayes, erklärte, was auch immer das Weiße Haus behaupte, Zölle seien "eine Steuer, die auf die Verbraucher in Arizona abgewälzt wird".

Nicht die erste Klage

Bereits in der vergangenen Woche hatte die Regierung des Bundesstaats Kalifornien wegen Trumps weitreichender Sonderzölle Klage eingereicht. Dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge belasten die gewaltigen US-Zölle und entsprechende Vergeltungsmaßnahmen die globale Haushaltslage. Auch die USA selbst leiden unter den Maßnahmen.

Trump hatte Anfang April einen Mindestzollsatz von zehn Prozent für alle Handelspartner verkündet. Für rund 60 Länder verhängte er zunächst noch teils deutlich höhere Aufschläge, darunter 20 Prozent für die EU. Eine Woche später vollzog der US-Präsident jedoch eine Kehrtwende und verkündete eine "Pause" für 90 Tage. Der Mindestsatz von zehn Prozent blieb jedoch bestehen. Gegen China gelten weiterhin Einfuhrzölle von inzwischen 145 Prozent. Trumps Vorgehen im von ihm angezettelten Handelskonflikt löste massive Kurseinbrüche an den Börsen aus.

Trumps bleibt bei seinen erratischen Entscheidungen

Dennoch will Trump in den nächsten zwei bis drei Wochen Zölle festsetzen, wenn er keine Fortschritte bei den Gesprächen mit internationalen Handelspartnern der USA sehe. "Wenn wir keine Vereinbarung mit einem Unternehmen oder einem Land haben, werden wir den Zoll festsetzen. Wir legen einfach den Zoll fest", sagte Trump bei der Unterzeichnung mehrerer Dekrete zum Bildungssystem in Washington. Das könne auch für China gelten.

fab/sti (dpa, afp, rtr)

Item URL https://www.dw.com/de/us-bundesstaaten-verklagen-trumps-irrsinniges-zollsystem/a-72332882?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72200860_302.jpg
Image caption Die Börsen geraten angesichts von Trumps Zollpolitik in einen Strudel
Image source Brendan McDermid/REUTERS
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72200860_302.jpg&title=US-Bundesstaaten%20verklagen%20Trumps%20%22irrsinniges%20Zollsystem%22

Item 8
Id 72322537
Date 2025-04-24
Title Faktencheck: Papst Franziskus im Visier der Desinformation
Short title Faktencheck: Papst Franziskus im Visier der Desinformation
Teaser Gläubige trauern um Papst Franziskus, bekannt für Reformen und das Brechen von Kirchentraditionen. Dafür erntete er Kritik und war oft das Ziel von Desinformation. Ein Faktencheck.
Short teaser Papst Franziskus wurde häufiger ein Ziel von Desinformation als jeder Papst zuvor. Woran lag das? Ein Faktencheck.
Full text

Papst Franziskus war zwölf Jahre lang das Oberhaupt der katholischen Kirche. Während seiner Amtszeit im Vatikan setzte er sich für Schwache, Ausgestoßene und Flüchtlinge ein. Er wollte den Vatikan und das Papstamt reformieren und nahm auch zu weltpolitischen Themen Stellung. Dies brachte ihm große Beliebtheit unter Gläubigen weltweit, aber auch Kritik aus traditionell-konservativen Kirchenkreisen ein. Im Zeitalter der sozialen Medien und KI-generierter Fakes geriet Papst Franziskus deutlich häufiger ins Visier von Falschmeldungen als seine Vorgänger - teils sogar aus den eigenen Reihen.

Das DW-Faktencheck-Team hat einige der größten Desinformationsfälle über den Papst zusammengetragen.

Angeblicher Aufruf zur Euthanasie als Lösung für den Klimawandel

Behauptung: "Papst Franziskus hat sich hinter die Kampagne des Weltwirtschaftsforums gestellt, Menschen mit Autismus, Alkoholismus und anderen leichten Krankheiten und Behinderungen zu euthanasieren, um der Menschheit im Kampf gegen den so genannten 'Klimawandel' zu helfen", schreibt ein X-User.

DW-Faktencheck: Falsch

Die katholische Kirche und Papst Franziskus haben sich mehrfach klar gegen Euthanasie geäußert und betont, dass Menschen mit Behinderungen ein Recht auf Leben und Teilhabe haben. In einem Brief des Vatikans vom September 2020 heißt es: "Euthanasie ist ein Verbrechen gegen das Leben." Der User-Post mit der Falschbehauptung bezieht sich auf einen Artikeldes US-amerikanischen Blogs "The People's Voice", der für die Verbreitung von Desinformation bekannt ist. Der Artikel liefert keine Belege oder echte Zitate des Papstes.

"The People's Voice" hat in der Vergangenheit mehrere Falschbehauptungen über Papst Franziskus verbreitet. Unter anderem veröffentlichte die Seite die Aufrufe des exkommunizierten Erzbischofs Carlo Maria Vigano, des früheren Papstbotschafters in den USA. "Viganos Theorien sind besonders gefährlich, weil er sich als Insider präsentiert und eine treue Anhängerschaft unter rechtsextremen Kreisen in den USA genießt. Und ja, all das begann wegen der liberalen Position des Papstes", so der italienische Journalist Simone Fontana im DW-Gespräch.

Gratulation an Putin statt Kritik am Kreml?

Behauptung: "Papst Franziskus gratuliert Wladimir Putin zu seinem Wahlsieg", schreibt ein X-User im März 2024. Auch andere User verbreiteten diese Behauptung im Netz. Als Quelle diente eine russische Nachrichtenagentur.

DW-Faktencheck: Falsch

Weder der Vatikan noch Papst Franziskus haben Wladimir Putin zu seiner Wiederwahl gratuliert.

Die Präsidentenwahlen wurden in Russland und in den völkerrechtswidrig besetzten ukrainischen Gebieten vom 15. bis zum 17. März 2024 durchgeführt. Dabei wurde Putins fünfte Wahl von vielen weder als fair noch als frei gesehen.

Während Nordkoreas und Venezuelas Staatschefs nach der Verkündung des Siegers ihre Glückwünsche schickten, äußerten sich andere Staaten eher verhalten, dritte entschieden sich, erst gar nicht zu gratulieren. Umso überraschender schien die Meldung der russischen Nachrichtenagentur RIA Novosti vom 17. März 2024, wonach Papst Franziskus Putin zur Wiederwahl gratuliert haben sollte. Die Nachricht zitiert den Vorsitzenden der "Weltunion der Altgläubigen", Leonid Sewastjanow, der mit Papst Franziskus kommuniziert haben soll. Das Presseteam des Vatikans hat auf Anfragen mehrerer Medien diese Meldung widerlegt.

Der italienische Faktenchecker Simone Fontana sieht diese Falschbehauptung als einen Versuch, der russischen Propaganda, die Figur des Papstes zu nutzen, um mehr Publikum für ihre Botschaften zu erreichen. Der russische Präsident inszeniert sich gerne als gläubiger Christ, dem die Beziehung auch zur katholischen Kirche wichtig ist. So nahm er mehrfach an Papst-Audienzen im Vatikan teil.

Papst Franziskus - der erste Papst im KI-Zeitalter

Behauptung: Dieses Bild, das angeblich Papst Franziskus in einer stylischen weißen Jacke mit einem Kreuz um den Hals und einem Kaffeebecher in der Hand zeigt, ging im März 2023 viral und wurde millionenfach angesehen.

DW-Faktencheck: Fake

Das Bild ist kein echtes Foto, sondern wurde mithilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) generiert. Mehrere Details machen dies erkennbar: Ein Brillenglas ist unrealistisch verwischt, das Kruzifix um seinen Hals wirkt unscharf und zeigt nicht eindeutig Jesus.

Ein weiterer Beleg dafür, dass das Bild kein echtes Foto ist, ist der Post des KI-Bildertools Midjourney: Auf dem offiziellen Facebook-Account wurde am 25. März 2023 der Eingabetext veröffentlicht, mit dem das virale Bild des Papstes generiert wurde.

In den vergangenen Jahren hat sich KI so stark verbreitet, dass praktisch jeder einfach KI-generierte Bilder und Videos erstellen kann. Und so wurde Franziskus zum ersten Papst, von dem zahlreiche Fake-Bilder kursierten. Laut Felix Neumann gibt es dafür aber noch einen weiteren Grund: "Der Papst ist nicht nur ein Mensch, er ist auch ein Symbol". Die luxuriöse weiße Jacke stellt ihn als wohlhabenden Mann dar, was Neumann zufolge einen "absurden Gegensatz" zeigen soll: "Ausgerechnet der bescheidene Papst Franziskus, der den bescheidenen Franz von Assisi als Namenspatronen hat, trägt eine unglaublich stylische Designerjacke. Und diese Fallhöhe macht es attraktiv, mit dem Papst, mit seinem Bild zu spielen."

Vorwürfe einer Zusammenarbeit mit der Diktatur in Argentinien

Behauptung: "Jorge Mario Bergoglio hat mit der argentinischen Junta zusammengearbeitet und ist möglicherweise sogar für die Folterung von zwei Jesuiten verantwortlich", schreibt ein X-User.

DW-Faktencheck: Unbelegt


Noch bevor Jorge Mario Bergoglio zum Papst Franziskus wurde, wurde ihm eine Zusammenarbeit mit der Militärdiktatur in Argentinien vorgeworfen. 1976 soll er als Leiter der argentinischen Provinz des Jesuitenordens angeblich dazu beigetragen haben, dass die Jesuitenpriester Orlando Yorio und Francisco Jalics vom argentinischen Militär entführt und fünf Monate gefoltert wurden.

Während des sogenannten "Schmutzigen Krieges" von 1976 bis 1983 verfolgte die Militärdiktatur politische Dissidenten, insbesondere jene, die im Verdacht standen, Verbindungen zu linken Gruppen zu haben. Menschenrechtsorganisationen sprechen heute von bis zu 30.000 Verschwundenen, darunter Priester, Nonnen und Kirchenarbeiter.

Zwei journalistische Untersuchungen (1986 und 2005) behaupteten, Bergoglio habe Verbindungen zum Militär gehabt und von der bevorstehenden Verhaftung der Priester gewusst, ohne etwas zu unternehmen. Nello Scavo, Mitautor des Buches "Fake Pope", bestreitet dies im DW-Gespräch und sagt, Bergoglio habe persönlich Admiral Massera und Junta-Chef Videla gebeten, Yorio und Jalics freizulassen. Scavo zufolge half Bergoglio mehreren Menschen heimlich, der Diktatur zu entkommen.

Der Papst und der Vatikan haben alle Vorwürfe zu seiner Rolle während der argentinischen Militärdiktatur zurückgewiesen, aber nie vollständig aufgeklärt. Franziskus hat während seines Pontifikats viele Länder besucht, jedoch nie Argentinien, angeblich um die Politisierung seines Besuchs zu vermeiden.

Item URL https://www.dw.com/de/faktencheck-papst-franziskus-im-visier-der-desinformation/a-72322537?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/61140174_302.jpg
Image caption Papst Franziskus hat schon 2018 die Ausbreitung von Desinformation beklagt und davor gewarnt. Er selbst wurde zum Ziel von zahlreichen Falschbehauptungen im Netz
Image source Pressebildagentur ULMER/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/61140174_302.jpg&title=Faktencheck%3A%20Papst%20Franziskus%20im%20Visier%20der%20Desinformation

Item 9
Id 72321276
Date 2025-04-24
Title Trump auf dem "Zollkriegspfad": Zieht er gegen China den Kürzeren?
Short title Zieht Trump gegen China den Kürzeren?
Teaser US-Präsident Donald Trump droht fast allen Ländern der Welt mit hohen Zöllen und hat dabei besonders China im Fokus. Einige Experten sehen ihn aber schon jetzt auf der Verliererstraße.
Short teaser Einige Experten sehen ihn schon jetzt auf der Verlierertraße.
Full text

US-Präsident Trump wird das Buch "The Art of the Deal" sicher gelesen haben. Hat er es doch selbst schreiben lassen. Hätte er aber außerdem das Buch "Die Kunst des Krieges" gelesen, der Welt des globalen Handels bliebe gerade viel erspart.

Der chinesische General und Philosoph Sun Tsu hätte ihm darin einen Handelskrieg sicherlich ausgeredet: Schon um das Jahr 500 vor unserer Zeitrechnung schrieb er: "Der Inbegriff des Könnens ist, den Feind ohne Gefecht zu unterwerfen."

Wenn Donald Trump von anderen Ländern spricht, die angeblich auf Kosten seines Landes leben, zielt er oft auf Europa und im Besonderen auf Deutschland. Doch sein eigentlicher "Feind" ist ausgerechnet China, gegen das er die höchsten Zölle verhängt.

Der Feind hinter der großen Mauer

Trump sieht, dass die amerikanische Handelsbilanz mit der zweiten Wirtschaftsgroßmacht der Welt gar nicht in seinem Sinne ausfällt. Und sicher scheint: Gibt es keine Trendumkehr, wird China die USA am Ende dieser Dekade als weltgrößte Volkswirtschaft abgelöst haben.

Die Chinesen sind schon seit einigen Jahren auf der Überholspur. Zwar haben die USA ein sehr viel höheres Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf der Bevölkerung als China. Aber dort leben ja auch etwa viermal so viele Menschen. Beim kaufkraftbereinigten Anteil an der Weltwirtschaft hat China (19,6 Prozent) die USA (14,3 Prozent) schon längst abgehängt.

Während sich die Wachstumsraten beider Volkswirtschaften einander immer mehr annähern, gilt China als die innovativere Wirtschaftsmacht. Außerdem hat China den Konkurrenten als dominante Welthandelsmacht abgelöst: Für sehr viel mehr Länder ist Peking jetzt der wichtigste Handelspartner - vor einem Vierteljahrhundert noch waren das unangefochten die USA.

Schnelle Reaktionen

Die aktuelle Handelspolitik der USA ist mit einem Wort treffend beschrieben: unberechenbar. Ruben Staffa, Makroökonom beim Institut der Deutschen Wirtschaft (DIW), fürchtet einen "Vertrauensverlust in die USA als verlässlicher Anker des globalen Finanzsystems." Das berge "erhebliches Potenzial für weitreichende Marktverwerfungen". Der kurzfristig gewährte Aufschub für viele der angedrohten Zölle sei ein Signal, das auf "eine Fehleinschätzung der Marktreaktion" hindeute, so Staffa zur DW.

Auch Michael Berlemann, wissenschaftlicher Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitutes (HWWI), kann "keine irgendeine kohärente Strategie erkennen". Die Börsenirritationen weltweit zeigen seiner Ansicht nach "die von Donald Trump nicht vorhergesehenen Folgen einer chaotischen Wirtschaftspolitik".

Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, sagte der DW: "Donald Trump scheint überzeugt von seiner Zollpolitik. Insofern hat er gesagt, dass er kurzfristige Übergangsprobleme hinnehmen werde." Und da sind die rutschenden Börsenkurse egal? Das wohl nicht, meint Krämer: "Offensichtlich nimmt Trump doch gewisse Rücksichten auf die Finanzmärkte."

Schlimmer Verdacht

Rücksicht auf die Finanzmärkte? Oder auf die eigene Klientel? Die scheinbar verrückte Wirtschaftspolitik Trumps könnte ja auch einen Zweck verfolgen: Denn als Trump an seinem großen "Liberation Day" die Welt mit seinen Zollplänen konfrontierte, gingen weltweit die Börsenkurse in den Keller, Milliardenwerte wurden über Nacht verbrannt.

Nur kurz darauf nahm der Amerikaner viel wieder zurück oder schob es auf die lange Bank, die Kurse erholten sich schnell wieder. Da hatten einige Leute schon ein großes Geschäft gemacht. Dank Verunsicherung und zweifelhafter Informationspolitik sehen sich der Präsident und seine Unterstützer seither dem Verdacht des Insiderhandels ausgesetzt.

Taumelnde Prognosen

Doch nicht nur die Privatgeschäfte der "Trumpisten" werden von den Kursschwankungen beeinflusst, es ist die Weltwirtschaft insgesamt. Bei ihrer Frühjahrstagung in Washington haben in dieser Woche Weltbank und Internationaler Währungsfonds ihre Konjunkturprognosen deutlich heruntergeschraubt.

Kein Wunder, meint Jörg Krämer: "Schließlich dürften die Zölle die US-Inflation um rund einen Prozentpunkt erhöhen und die Kaufkraft der Amerikaner senken. Außerdem werden sich viele US-Unternehmen wegen der hohen Unsicherheit beim Investieren zurückhalten."

Für Michael Berlemann vom HWWI steht es ebenfalls außer Frage, dass "der Welthandel unter den Zöllen erheblich leiden wird". Einig sind sich beide Experten, wen es besonders trifft. Jörg Krämer: "Am meisten sind von Trumps Zollschock die USA selbst betroffen." HWWI-Direktor Berlemann sieht das genauso: "Ich gehe davon aus dass die USA am Stärksten betroffen sein werden. So wird Amerika sicher nicht 'Great again'."

Höhere Zölle, niedrigere Steuern?

Ein Versprechen Donald Trumps an seine Wähler war, die Steuern zu senken. Das sollte, so das Kalkül, durch Mehreinnahmen beim Zoll finanziert werden. Ruben Staffa ist da skeptisch. Er denkt, "dass sowohl Substitutionseffekte - also die Nachfrageverlagerung hin zu weniger zollbelasteten Gütern - als auch Einkommenseffekte die tatsächlichen Zolleinnahmen schmälern dürften".

Commerzbank-Ökonom Krämer hat dazu eine eindeutige Meinung: "Die höheren Zolleinnahmen werden bei weitem nicht reichen, Steuersenkungen zu finanzieren. Hier liegt Trump falsch".

Das sei auch völlig logisch, unterstreicht Michael Berlemann: "In dem Maße, wie die Zölle wirken, reduzieren sie vor allem das Handelsvolumen. Wenn aber weniger gehandelt wird, gibt es eben auch keine hohen Zolleinnahmen."

Und wer sitzt nun am längeren Hebel?

Diese Frage ließe sich, so Ruben Staffa, "nicht eindeutig beantworten". Zwar agierten die USA von einer Position der Stärke, doch hätten sie "durch ihr zunehmend unberechenbares außenpolitisches Verhalten an Glaubwürdigkeit eingebüßt". Diese Unzuverlässigkeit schwäche "die strategische Position der USA".

Zwar zeige auch China Schwächen, sagt Staffa und weist auf die "anhaltende Immobilienkrise und auf die angespannten öffentlichen Finanzen" hin. Doch Peking versuche bereits, die Binnenwirtschaft zu stabilisieren, Auslandsinvestitionen zu fördern und den privaten Konsum anzukurbeln. China habe sich so bereits "über Jahre hinweg auf eine Zuspitzung des Konflikts vorbereitet".

"Das ist nicht einfach zu beantworten", sagt auch Michael Berlemann der DW. Schließlich seien viele wirtschaftliche Kerndaten aus China "nicht wirklich gesichert". Dennoch wagt er eine Prognose: "Wenn ich wetten müsste, würde ich auf China setzen."

Jörg Krämer sieht kurzfristig die Amerikaner vorn, weil sie nicht so exportabhängig sind wie die Chinesen. Am Ende jedoch würden "die USA massiv leiden. Es wird für sie schwierig, die vielen Importe aus China zu ersetzen", so der Ökonom. "Trump schneidet sich ins eigene Fleisch."

Item URL https://www.dw.com/de/trump-auf-dem-zollkriegspfad-zieht-er-gegen-china-den-kürzeren/a-72321276?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72288045_302.jpg
Image caption Könnte dem US-Präsidenten Donald J. Trump langsam dämmern, was er da losgetreten hat?
Image source Nathan Howard/REUTERS
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/jd/jd202502023_ZoelleKleinunternehmer_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/72288045_302.jpg&title=Trump%20auf%20dem%20%22Zollkriegspfad%22%3A%20Zieht%20er%20gegen%20China%20den%20K%C3%BCrzeren%3F

Item 10
Id 55472009
Date 2025-04-24
Title Erdbeben: Warum ist die Türkei geologisch so gefährdet?
Short title Erdbeben in Istanbul: Warum ist die Türkei so gefährdet?
Teaser Immer wieder wird die Türkei von schweren Erdbeben erschüttert. Seismologen halten ein verheerendes Beben in der Millionenmetropole Istanbul für wahrscheinlich. Trotzdem gelten viele Gebäude als unsicher.
Short teaser Obwohl ein verheerendes Beben in der Metropole Istanbul sehr wahrscheinlich ist, gelten viele Gebäude als unsicher.
Full text

Das jüngste Beben hat zwar keinen größeren Schaden angerichtet – aber die Angst vor einer sehr wahrscheinlichen Katastrophe befeuert. Nach den Erdbeben in Istanbul steht die Bevölkerung weiter unter Schock.

Laut Seismologen war das Erdbeben der Stärke 6,2 das Schwerste in der Region seit über 25 Jahren. Es ereignete sich laut dem Potsdamer Helmholtz-Zentrum für Geoforschung (GFZ) in einer Tiefe von rund zehn Kilometern, etwa 60 Kilometer westlich von Istanbul im Marmarameer.

Im Februar 2023 waren bei einem starken Erdbeben im Südosten der Türkei nahe der syrischen Grenze tausende Menschen gestorben, zehntausende wurden verletzt.

Dynamisches Puzzle in der Erdkruste

Die Türkei liegt in einer der seismisch aktivsten Gegenden der Welt. Doch warum? Dazu muss man wissen, dass die Erdkruste eine Art Puzzle ist - allerdings ein relativ dynamisches, das aus vielen Einzelteilen besteht: aus ein paar gigantischen ozeanischen Platten und mehreren kleinen kontinentalen Krustenplatten. Wie viele kleine und kleinste Erdplatten es tatsächlich gibt, ist in der Wissenschaft umstritten.

Klar ist aber, dass diese Platten stetig einige Zentimeter im Jahr wandern. Das ist ganz normal. Sie bewegen sich entweder voneinander weg, reiben aneinander oder schieben sich auch mal untereinander. Dann bewegt sich der darüber liegende Kontinent. Diese Bewegungen heißen Plattentektonik.

"Die Frage ist nicht, ob ein Erdbeben kommt, sondern wann"

Die Türkei ist für Erdbebenforschende höchst interessant. Das Deutsche Geoforschungszentrum in Potsdam hat seit den 1980er Jahren Messgeräte in der Türkei installiert und seismische Überwachungen durchgeführt. Diese zeigen, dass das Risiko für Erdbeben in der gesamten Region um das Marmarameer, an dessen Küste Istanbul liegt, besonders hoch ist.

"Die Frage ist nicht, ob ein Erdbeben kommen wird. Die Frage ist, wann es kommen wird", sagte Marco Bohnhoff, Seismologe vom GFZ und Kenner der Region, dazu bereits 2019.

Diese Abschätzung leiten Bohnhoff und andere Fachleute aus dem Auftreten von mehreren Starkbeben im Verlauf der Geschichte Istanbuls ab, aus der andauernden Kontinentalverschiebung unterhalb des Marmarameeres und aus der Tatsache, dass direkt vor den Toren Istanbuls ein Bereich der Erdbebenzone liegt, der schon lange verdächtig ruhig ist.

"Vieles deutet darauf hin, dass dieser Bereich gegenwärtig und schon seit langem verhakt ist. Dabei bauen sich dann Spannungen auf, die irgendwann die Festigkeit des Gesteins überschreiten und ruckartig durch einen Versatz beider Erdplatten um mehrere Meter innerhalb von Sekunden abgebaut werden", sagte der Seismologe im Gespräch mit der Wissensplattform ESKP (Earth System Knowledge Platform).

Bausubstanz und Untergrund entscheidend für Erdbebensicherheit

Die eigentliche Gefahr für Gebäude, Infrastruktur und die örtliche Bevölkerung stellen die entstehenden Erdbebenwellen dar. Es sei also nicht die Frage des "Ob", so Bohnhoff, sondern die des "Wie stark?" und des "Wann?".

Obwohl Experten seit Jahrzehnten vor einem großen Erdbeben warnen, gilt die Metropole am Bosporus nicht als erdbebensicher. Zwar wurde in den vergangenen Jahren auch vor dem Hintergrund der verheerenden Erdbebenkatastrophe im Südosten des Landes 2023 Programme zur Erneuerung gefährdeter Gebäude vorangetrieben. Mehr als eine Million Gebäude gelten aber immer noch als nicht sicher.

Denn eine erdbebensichere Bauweise sei leider sehr teuer, sagte der Seismologe. Es stelle sich die Frage, was die bessere Alternative sei: neu zu bauen oder nachzurüsten.

"Auf Fotos kann man sehen, dass einige der eingestürzten Gebäude möglicherweise erbaut wurden, bevor die modernen Vorschriften zur Erdbebensicherheit in Kraft traten. Für ein Beben dieser Stärke waren sie nicht ausgelegt", sagt Mehdi Kashani, außerordentlicher Professor für bauliches- und Erdbeben-Ingenieurswesen an der University of Southampton in Großbritannien.

"Die Kombination aus enormer Stärke und einem Auftreten relativ dicht unter der Erdoberfläche hat diesem Erdbeben eine große zerstörerische Kraft gegeben. Wir müssen die eingestürzten Gebäude genau untersuchen und von diesem schrecklichen Ereignis lernen. Nur so können wir unsere Gebäude und Städte in Zukunft erdbebensicher machen", so der Experte.

Doch nicht nur der Baubestand, auch der Untergrund spielt eine nicht unerhebliche Rolle. Grundsätzlich gelte: Je fester desto besser. "Am besten ist es, wenn der Untergrund aus Granit besteht. Anders ist es, wenn der Untergrund aus trockengelegten Sedimenten wie Sand oder Ton besteht", sagte Bohnhoff.

Auf weichem Untergrund könne es eher zu Verstärkungen der Bodenbewegungen kommen, teilweise zusammen mit Verflüssigungseffekten, der sogenannten "liquefaction". Diesen Mechanismus vergleicht der Seismologe mit feuchtem Sand am Strand. Wenn man wiederholt auf dieselbe Stelle im Sand tippt, sammelt sich dort Wasser. "Dann wird der Untergrund instabil."

Anmerkung der Redaktion:

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 2. November 2020. Er wurde zuletzt am 24.04.2025 aktualisiert.

Item URL https://www.dw.com/de/erdbeben-warum-ist-die-türkei-geologisch-so-gefährdet/a-55472009?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72330800_302.jpg
Image caption Obwohl Experten seit Jahrzehnten vor einem großen Erdbeben warnen, gilt die Metropole am Bosporus nicht als erdbebensicher.
Image source Ali Cevahir Akturk/AA/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/pz/pz20160826_frage_sd_sor.mp4&image=https://static.dw.com/image/72330800_302.jpg&title=Erdbeben%3A%20Warum%20ist%20die%20T%C3%BCrkei%20geologisch%20so%20gef%C3%A4hrdet%3F

Item 11
Id 72323038
Date 2025-04-23
Title Anschlag in Kaschmir: Tragödie im Himalaya
Short title Anschlag in Kaschmir: Tragödie im Himalaya
Teaser Dutzende von Touristen wurden im von Indien verwalteten Teil Kaschmirs getötet. Die Region im Himalaya ist von der von Indien verkündeten Stabilität weit entfernt. Der Traum vom Tourismus scheint ausgeträumt.
Short teaser Die Gewalttat in Kaschmir zeigt: Die Region im Himalaya ist von der von Indien verkündeten Stabilität weit entfernt.
Full text

Nach dem tödlichen Anschlag auf Touristen in einem beliebten Ausflugsort im Kaschmirtal lotet die Regierung in Neu-Delhi mit Hochdruck Optionen aus, wie sie auf den Anschlag reagieren soll. Bei dem Angriff mit Schusswaffen am 22. April waren mindestens 26 Menschen getötet und 17 weitere verletzt worden, die meisten indische Staatsbürger.

Die Sicherheitsvorkehrungen wurden in der gesamten Region verschärft, Schulen wurden geschlossen und Straßensperren errichtet. Wie Augenzeugen indischen Medien berichteten, waren am Nachmittag Bewaffnete, gekleidet in Militäruniformen, aus nahegelegenen Wäldern aufgetaucht und hatten die Baisaran-Wiese angriffen, einen beliebten Ausflugsort außerhalb der Stadt Pahalgam im südlichen Bezirk Anantnag.

Die Regierung in Indien hat die Region Jammu und Kaschmir in den letzten Jahren als Reiseziel beworben. Sie hatte bekräftigt, dass sie die politische Kontrolle über die Region gewonnen habe. Nach Jahrzehnten mit Aufständen gegen ihre Herrschaft sei die Sicherheit erhöht worden.

Kaschmir - ein gefährlicher Brennpunkt

Das im Himalaya gelegene Kaschmir ist seit langem ein Zankapfel zwischen Indien und Pakistan. Beide Länder beanspruchen die gesamte Region für sich.

In Wirklichkeit kontrollieren die zwei südasiatischen Staaten nur je einen Teil des Territoriums mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung. Der Anspruch auf ganz Kaschmir auf der einen Seite und die realen Gegebenheiten auf der anderen machen die Bergregion zu einem Brennpunkt in der regionalen Rivalität zwischen Indien und Pakistan.

Der Anschlag vom Dienstag, den Indien als Terroranschlag betrachtet, droht die Spannungen zwischen Indien und Pakistan erneut auf ein gefährliches Niveau zu heben. Er ist der tödlichste Angriff auf indische Zivilisten seit den Terroranschlägen von Mumbai im Jahr 2008.

Die Verantwortung für den Angriff auf die Touristen hat eine militante Gruppe namens "The Resistance Front" (TRF) übernommen. Nach Angaben Indiens ist sie eine Terrororganisation, die mit der in Pakistan ansässigen militanten Gruppe Lashkar-e-Taiba verbunden sei.

Die TRF betrachtet sich selbst als eine kaschmirische Separatistengruppe. Sie formierte sich 2019, nachdem Neu-Delhi den halbautonomen Status von Jammu und Kaschmir aufgehoben und den damaligen Bundesstaat herabgestuft und in zwei Unionsterritorien Jammu und Kaschmir aufgespalten hatte. Dies ermöglichte Delhi eine direktere Kontrolle.

Der Schritt, der es Nicht-Kaschmiris nun ermöglicht, Immobilien zu kaufen und sich an der Regierung zu beteiligen, hat viele muslimische Bewohner Kaschmirs verärgert, die befürchten, von einer hindu-nationalistischen Agenda unter der Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi an den Rand gedrängt zu werden. Es provozierte auch Spannungen mit Pakistan.

Neu-Delhi erklärt dagegen, dass die politische Neuordnung der ganzen Region eine bessere Integration im indischen Staat ermögliche - mit den damit verbundenen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Vorteilen.

Indien will "entschlossen" den Terror bekämpfen

Der indische Premierminister Narendra Modi traf sich am Mittwoch mit dem Nationalen Sicherheitsberater Ajit Doval und Außenminister Subrahmanyam Jaishankar sowie den regionalen Sicherheitschefs, um zu prüfen, wie weiter vorgegangen werden soll.

"Diejenigen, die hinter dieser abscheulichen Tat stehen, werden vor Gericht gestellt [...] Unsere Entschlossenheit, den Terrorismus zu bekämpfen, ist unerschütterlich und wird noch stärker werden", schrieb Modi auf X.

Der Ministerpräsident von Jammu und Kaschmir, Omar Abdullah, zeigte sich "unglaublich schockiert". Der Angriff "auf unsere Besucher ist ein Gräuel" und viel schlimmer als alle Aktionen, die "wir in den letzten Jahren gegen Zivilisten gesehen haben." Am Mittwoch besuchte der indische Innenminister Amit Shah den Tatort und traf sich mit Familienangehörigen der Getöteten und Verletzten.

Zehntausende Sicherheitskräfte sind nun im Einsatz. Die Einheimischen empfänden "tiefe Trauer und Scham" über den Angriff, sagte Anjum Fazili, die Vorsitzende des Frauenflügels in der People's Democratic Party (PDP) in Jammu und Kaschmir, gegenüber der DW. Sie forderte die Behörden auf, die Verantwortlichen zu "bestrafen".

"Dies ist ein äußerst tragischer und herzzerreißender Vorfall. Die Menschen, die hierhergekommen sind, um die Schönheit und den Frieden dieses Ortes zu genießen, haben ihr Leben verloren", sagte sie.

Kaschmir wiederholt Ziel von Terroristen

Der letzte große Angriff auf Zivilisten im von Indien verwalteten Kaschmir ereignete sich im Juni 2024, als neun Menschen getötet und 33 verletzt wurden, nachdem Bewaffnete das Feuer auf einen Bus mit Hindu-Pilgern eröffneten und ihn in eine Schlucht im Bezirk Reasi in Jammu stürzen ließen.

Im Februar 2019 tötete ein Selbstmordattentäter in Pulwama mindestens 46 Soldaten, was zu indischen Luftangriffen auf Ziele in Pakistan führte. Zu diesem Anschlag hatte sich die in Pakistan ansässige militante islamistische Gruppe Jaish-e-Mohammed bekannt.

Der ehemalige Polizeichef von Jammu und Kaschmir, A K Suri, sagte der DW, der Angriff auf Pahalgam sei ein Rückschlag für Neu-Delhi. "Dieser Terroranschlag in Pahalgam hat zweifellos einen Schatten auf das Narrativ der indischen Regierung von der wiederhergestellten Normalität und dem boomenden Tourismus in der Region geworfen", sagte er.

"Das ist nicht das Ende. Solche sporadischen Angriffe wird es in unregelmäßigen Abständen immer wieder geben und sie werden Schrecken verbreiten", befürchtet Suri. Leider habe es an Geheimdienstinformationen gefehlt, und es habe zu wenig Einsatz von Sicherheitskräften gegeben in der Region Pahalgam, "in der es derzeit von Touristen wimmelt".

Tourismus in Kaschmir im Visier

Baisaran, ein beliebter Ausflugsort in der Region, der als "Mini-Schweiz" bekannt ist, war voller Touristen, als der Angriff stattfand. Tourismus ist eine wichtige Einnahmequelle im von Indien verwalteten Kaschmir und ist stark mit den Normalisierungsbemühungen der Zentralregierung für die Region verbunden.

Im vergangenen Monat sagte Ministerpräsident Abdullah vor der Staatsversammlung, dass im vergangenen Jahr über 23 Millionen Touristen Jammu und Kaschmir besucht hätten.

Der Vorfall hat neue Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der Touristen geweckt, insbesondere im Hinblick auf die bevorstehende Hindu-Pilgerfahrt Amarnath Yatra, die im Juli beginnen soll und bei der viele Tausende von Gläubigen zu einem heiligen Tempel im Anantnag-Distrikt von Jammu und Kaschmir wandern.

"Dieser Angriff wird erhebliche Auswirkungen auf das Tal haben. Es ist Tourismus-Hochsaison, und wir waren gerade dabei, uns darauf einzustimmen, als sich dieser schreckliche Vorfall ereignete", sagt Abdul Wani, ein Reiseveranstalter aus der Regionalhauptstadt Srinagar, im Gespräch mit der DW.

Pakistan verneint Unterstützung

Radha Kumar, eine Spezialistin für Frieden und Konflikte in Südasien, sagte der DW, die Angreifer hätten es auf Hindu-Männer abgesehen, was an den Terroranschlag von Mumbai 2008 erinnere. "Der schreckliche Angriff auf Pahalgam war eindeutig seit Wochen, wenn nicht seit Monaten geplant", sagte sie.

"Ich weiß nicht, wie die indische Regierung reagieren wird, aber es gibt einen großen berechtigten Druck auf sie, in einer Weise zu reagieren, die als ernsthafte Abschreckung für bewaffnete Radikale und ihre Unterstützer in Pakistan wirkt", fügte Kumar hinzu.

Sie betonte auch, dass viele in Indien den Anschlag mit dem pakistanischen Armeechef Asif Munir in Verbindung bringen werden, der Kaschmir als Pakistans "Halsschlagader" bezeichnete, als er letzte Woche in einer Rede die religiösen und kulturellen Unterschiede zwischen Hindus und Muslimen betonte.

Der ehemalige Polizeichef von Jammu und Kaschmir, Suri, wies darauf hin, dass der Angriff sowohl mit Munirs Rede als auch mit einem hochkarätigen Besuch von US-Vizepräsident JD Vance in Indien in dieser Woche zusammenfiel. In diesem Zusammenhang sieht Suri den Angriff als "einen vorsätzlichen Akt, um Indiens Kaschmir-Narrativ zu destabilisieren und den anhaltenden Einfluss Pakistans auf die Kaschmir-Militanz zu signalisieren".

Pakistan bestreitet jedoch, militante Gruppen in Kaschmir zu unterstützen und zu finanzieren, und besteht darauf, dass es nur moralische und diplomatische Unterstützung anbiete.

Ein Sprecher des pakistanischen Außenministeriums sagte, sein Land sei besorgt über den Verlust von Menschenleben in der Region und fügte hinzu, es wünsche "den Verletzten eine schnelle Genesung".

Aus dem Englischen adaptiert von Florian Weigand.

Item URL https://www.dw.com/de/anschlag-in-kaschmir-tragödie-im-himalaya/a-72323038?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72319411_302.jpg
Image caption Indische Sicherheitskräfte auf Patrouille in Kaschmir nach tödlichem Angriff auf Touristen im beliebten Ausflugsort Pahalgam
Image source Nasir Kachroo/NurPhoto/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72319411_302.jpg&title=Anschlag%20in%20Kaschmir%3A%20Trag%C3%B6die%20im%20Himalaya

Item 12
Id 72320827
Date 2025-04-23
Title Papstwahl: Viele Namen, keine offiziellen Kandidaten
Short title Papst-Nachfolge: Viele Namen, keine offiziellen Kandidaten
Teaser Die Spekulationen um den Nachfolger von Papst Franziskus haben längst begonnen. Welche Kardinäle könnten aus dem Konklave als Pontifex hervorgehen?
Short teaser Bis zur Wahl eines neuen Papstes vergehen noch über zwei Wochen. Welche Kardinäle könnten in die engere Wahl kommen?
Full text

Bei vielen Interviews mit Vatikan-Experten nach dem Tod von Papst Franziskus taucht immer wieder die Frage auf: "Und - wer wird es?".

Doch schon zu Lebzeiten gehörte der Blick auf Kandidaten oder Favoriten für die Nachfolge von Franziskus zu römischen Tischgesprächen. Kandidaten im eigentlichen Sinne gibt es bei der Wahl eines künftigen Papstes allerdings in der Katholischen Kirche nicht.

Bei dem in vielen Details ausgesprochen realitätsnahen Erfolgsfilm "Konklave" lernten viele Zuschauer, dass es vor dem ersten Wahlgang keine Liste mit Namen und keine laut genannten Kandidaten gibt. Jeder schreibt einen Namen auf seinen Stimmzettel und wirft ihn in die Urne. Erst allmählich wird dann klar, wer öfter oder häufig genannt wird und damit in eine Favoritenrolle kommt.

Im Dezember lobte der Münchner Kardinal Reinhard Marx den Film als "Oscar-verdächtig" und bewertete ihn als gutgemacht. Falls ein Konklave länger dauern würde und Schwierigkeiten auftauchten, so der 71-Jährige, könne er sich gut vorstellen, dass es ähnlich wie im Film dann zu intensiveren Diskussionen kommen könne.

Klar ist: Höchstwahrscheinlich kommt der künftige Papst aus dem Kreis der Konklave-Teilnehmer. So ist es seit vielen Jahrhunderten. Klar ist auch: Die letzten beiden Pontifikate dauerten acht (Papst Benedikt) und zwölf Jahre (Papst Franziskus).

Eine Amtszeit von etwa zehn Jahren scheint angemessen gewesen zu sein, um die Kirche zu prägen, aber gleichzeitig eine Vielfalt an Strömungen zuzulassen. Das könnte eher für einen Kandidaten sprechen, der um die 70 Jahre alt ist. Und noch etwas: Jeder der Papst-Wähler weiß, wie wichtig es ist, sich in mehreren Sprachen und vor allem im Italienischen bewegen zu können.

Drei chancenreiche italienische Nachfolge-Kandidaten

Seit 1978 stand an der Spitze der katholischen Kirche kein Italiener mehr. Das wurde schon nach den Konklaven von 2005 und 2013 in italienischen Medien wehmütig-kritisch angemerkt.

So wird die bisherige Nummer 2 des Vatikan, der 70-jährige Kurienkardinal Pietro Parolin, nun am häufigsten genannt und ist auch bei den Wettbüros der Favorit. Ein herausragender Vatikan-Diplomat mit ruhiger Stimme und gelegentlichem leisem Humor. Parolin stammt aus dem eher wohlhabenden Norditalien – wie die meisten italienischen Päpste der vergangenen 250 Jahre.

Auch der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Kardinal Pierbattista Pizzaballa (60 Jahre), stammt aus Norditalien. Aber seit 25 Jahren lebt der Franziskaner in Jerusalem und hat sich nicht zuletzt seit dem 7. Oktober 2023 nach dem terroristischen Angriff der Hamas auf Israel einen herausragenden Ruf erarbeitet. So hatte er sich im Austausch für verschleppte Israelis als Geisel angeboten.

Dritter Italiener im Favoriten-Lotto ist der 69-jährige Erzbischof von Bologna, Kardinal Matteo Maria Zuppi, der derzeit auch den Vorsitz der Italienischen Bischofskonferenz innehat. Zuppi ist gesellschaftspolitisch sehr engagiert und in Italien medial präsent. Alle drei, Parolin, Pizzaballa und Zuppi, stehen für den bisherigen Kurs von Papst Franziskus.

Aber nicht kalkulierbar ist, ob die maximal 133 Kardinäle (zwei der 135 möglichen Papstwähler haben schon aus gesundheitlichen Gründen abgesagt) Italiens Rolle für die Weltkirche als entscheidend erachten. Nur 17 der 133 Geistlichen aus 71 Ländern sind Italiener. Zählt man Pizzaballa und Kardinal Giorgio Marengo (50 Jahre), der als Geistlicher in der Mongolei wirkt, hinzu, sind es 19.

Die Päpste Johannes Paul II. (1978-2005), Benedikt (2005-2013) und vor allem Franziskus (2013-2025) haben auf ihre eigene Art auch die Nähe der Römer gesucht. Und stammten doch aus der Weltkirche.

Donald Trump und der Kandidat aus den USA

Seit langem setzen viele Katholiken aus den Vereinigten Staaten darauf, dass erstmals ein Papst aus ihrem Land kommt. Wohl in keinem Land der Welt ist die Mehrzahl der Laien, Bischöfe und Kardinäle so konservativ und durchaus auch politisch rechts.

Der nun wieder mal als "papabile" genannte Kurienkardinal Raymond Leo Burke, einer der treuesten Kritiker von Papst Franziskus und Freund von liturgischem Prunk, passt in dieses Schema. Doch spätestens mit dem System Trump werden die Chancen auf einen Papst aus der "Neuen Welt" erneut gen null gesunken sein.

Eher bleiben prominente Kardinäle aus anderen Ländern. Der Erzbischof von Mexiko-Stadt, Carlos Aguiar Retes (74 Jahre), wäre eine mit Blick auf die USA und die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen beiden Staaten außergewöhnliche Wahl.

Aus den asiatischen Ländern gilt der 67-jährige philippinische Erzbischof Luis Antonio Tagle, nach seiner Kardinalserhebung 2012 fast so etwas wie ein Star im Kreis der Purpur-Männer, als Favorit. Der Erzbischof von Yangon in Myanmar, Kardinal Charles Mauung Bo (76 Jahre), zählt als Außenseiter. Asien ist der Boom-Kontinent der katholischen Kirche.

Nachfolger aus Afrika oder Deutschland unwahrscheinlich

In Afrika hat sich zuletzt der 65-jährige Erzbischof von Kinshasa, Kardinal Fridolin Ambongo Besungu, einen Namen gemacht. Doch Besungu zeigte sich bei Themen verbal hart, bei denen sich in (vielen) Teilen der Weltkirche die Sichtweisen wandeln: Homosexualität und die Frage des kirchlichen Umgangs damit, vor allem aber die Frage von Segnungen gleichgeschlechtlicher Paare.

Manche Namen, die jetzt gerne genannt werden, stehen für den Druck reaktionärer Gruppen. Sie waren bewährte Kritiker von Franziskus, haben aber de facto keine Chance.

So wird der langjährige Kurienkardinal Robert Sarah, der aus Guinea stammt, in knapp zwei Monaten 80 Jahre alt. Damit ist er als Papst fast nicht mehr geeignet. Und der deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Müller (77 Jahre) fiel zu oft mit Äußerungen auf, die harsch oder wirr waren, gelegentlich auch gegen Franziskus.

Es werden durchaus auch Namen einiger Geistlicher aus europäischen Ländern außerhalb Italiens genannt. Aber die katholische Kirche in Europa schwindet zahlenmäßig. Papst Franziskus, der einst als Erzbischof von Buenos Aires auf die europäische Heimat seiner Vorfahren schaute, formulierte gelegentlich beißende Kritik am Selbstverständnis der Europäer.

Missbrauchsskandal kann Konklave "überschatten"

Ein Thema bleibt unkalkulierbar beim sogenannten Vor-Konklave und bei den geheimen Abstimmungen in der Sixtinischen Kapelle. Der Skandal der sexualisierten Gewalt und des Missbrauchs in der katholischen Kirche ist längst ein Welt-Thema.

Wohl keine Region bleibt da unberührt. Und immer mal wieder prangern Betroffene bei Protestaktionen in der Nähe des Vatikan mangelnde Aufarbeitung an.

Der italienisch-US-amerikanische Theologe Massimo Faggioli schrieb zehn Tage vor Ostern in der US-Zeitschrift "Commonweal", der "Skandal um den sexuellen Missbrauch durch Geistliche" könne "ein künftiges Konklave überschatten". Er schloss ausdrücklich Beeinflussungsversuche von außen vor oder während des Konklaves nicht aus.

Schon vor vielen Monaten gab es Ankündigungen konservativer Kreise in den USA, Kardinäle professionell überprüfen zu wollen und auf Schwachstellen zu schauen. Bei dem Thema haben mehrere Kardinäle schon für Aufsehen gesorgt. Der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki ist wegen seines Umgangs mit dem Thema und vielerlei Kritik durchaus international bekannt.

Der US-amerikanische Kurienkardinal Kevin Farrell, der der Welt die offizielle Nachricht vom Tode Franziskus‘ überbrachte, hatte früher engen dienstlichen Kontakt mit Missbrauchstätern wie dem Anfang April 2025 im Alter von 94 Jahren verstorbenen US-Kardinal Theodore McCarrick, dessen Name kirchlich längst ein Synonym für übelste Taten ist.

Und der Erzbischof von Marseille, Kardinal Jean-Marc Aveline, ein Papst-Vertrauter, einst in Algerien geboren, ist seit langer Zeit geistlicher Begleiter der 1972 gegründeten Gemeinschaft "Emmanuel", aus der wiederholt über Missbrauch berichtet wurde. Auch der Gründer der Gemeinschaft wird längst kritisch gesehen.

Jorge Mario Bergoglio war 2013 auch ein Außenseiter bei Papst-Wahl

So oder so – das Papst-Lotto wird andauern bis "weißer Rauch" aus dem Schornstein der Sixtinischen Kapelle aufsteigt. Die Schwaden kündigen irgendwann nach den ersten Mai-Tagen die erfolgreiche Wahl eines neuen Papstes an. Dann weiß man mehr.

Der Name Jorge Mario Bergoglio, des späteren Papst Franziskus, spielte 2013 bei den einschlägigen Debatten und bei Buchmachern übrigens keine große Rolle. Der "Papability Index", der auf X, dem früheren Twitter, anhand vieler überwiegend statistischer Faktoren alle Kandidaten einstuft, schaute dieser Tage zurück: 2013 sei Bergoglio noch nicht einmal unter den Top-20 der Favoriten gewesen.

Item URL https://www.dw.com/de/papstwahl-viele-namen-keine-offiziellen-kandidaten/a-72320827?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72306953_302.jpg
Image caption Überraschende Wahl: Beim Konklave in der Sixtinischen Kapelle im März 2013 wurde Jorge Bergoglio zum Papst gekürt
Image source OSSERVATORE ROMANO/AFP
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72306953_302.jpg&title=Papstwahl%3A%20Viele%20Namen%2C%20keine%20offiziellen%20Kandidaten

Item 13
Id 72318760
Date 2025-04-23
Title Wie realistisch ist ein Machtverzicht der Hamas?
Short title Wie realistisch ist ein Machtverzicht der Hamas?
Teaser Ein palästinensischer Funktionär hat kürzlich erklärt, die Hamas sei unter bestimmten Bedingungen bereit, ihre Macht im Gazastreifen abzugeben. Ob es wirklich dazu kommen könnte, hängt auch von Israel ab.
Short teaser Die Hamas soll angeblich bereit sein, ihre Macht in Gaza aufzugeben. Ob es dazu kommen könnte, hängt auch von Israel ab.
Full text

Wer könnte den Gazastreifen künftig regieren? Die Frage erhält seit Dienstag (22.04.) neue Aktualität. Denn ein namentlich nicht genannter palästinensischer Funktionär erklärte gegenüber der BBC, die im Gazastreifen herrschende islamistische Hamas habe ihre Bereitschaft signalisiert, die Regierungsmacht an eine andere palästinensische Behörde zu übergeben.

Dabei könne es sich um die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) oder eine neue, noch zu schaffende Institution handeln. Voraussetzung sei, dass zuvor "auf nationaler und regionaler Ebene" eine Verständigung erzielt werde, so der Funktionär.

Die Bemerkung erfolgte im Kontext eines von Ägypten und Katar ausgearbeiteten Entwurfs für weitere indirekte Verhandlungen zwischen Israel und der Hamas über einen erneuten Waffenstillstand. Dieser soll demnach fünf bis sieben Jahre dauern, hinzu käme der vollständige Abzug der israelischen Streitkräfte aus dem Gazastreifen und die Freilassung aller israelischen Geiseln im Austausch gegen palästinensische Häftlinge.

Zu der Ankündigung dürfte nicht zuletzt eine erhebliche Schwächung der Hamas durch die Kriegsführung Israels im Gazastreifen beigetragen haben. Diese war eine Reaktion auf den Überfall der Hamas auf israelisches Territorium am 7. Oktober 2023.

Seinerzeit ermordete die Hamas, die in westlichen und weiteren Staaten als Terrororganisation eingestuft wird, rund 1200 Menschen und entführte weitere 250 Personen in den Gazastreifen. Im Gazastreifen selbst wurden nach Angaben der Hamas-kontrollierten Gesundheitsbehörde vor Ort inzwischen mehr als 50.000 Menschen durch Israels Armee getötet. Die UN schätzen diese Zahlen als weitgehend glaubwürdig ein. Das UN-Menschenrechtsbüro meint, dass sie sogar eher noch zu niedrig sein könnten.

Demonstrationen gegen die Hamas

Es sei klar, dass die Hamas unter dem Druck des seit anderthalb Jahren andauernden Krieges um eine Reaktion nicht umhinkomme, heißt es in einer Analyse der von der politisch konkurrierenden Palästinensischen Autonomiebehörde vertriebenen Zeitung "Al Hayat al-Jadeeda". Die offenbar gestiegene Kompromissbereitschaft der Hamas dürfte auch auf die zuletzt beinahe täglich vorkommenden Demonstrationen von Bürgern im Gazastreifen zurückgehen, die den Rücktritt der Organisation forderten.

"Diese Demonstrationen spiegeln deutlich die Ablehnung der Herrschaft der Bewegung durch die Bevölkerung", heißt es in der Zeitung. Auch spiele die Überlegung eine Rolle, dass die Regierung in Teheran ihre regionalen Verbündeten in Nahost - und unter ihnen die Hamas-Bewegung - im Zuge der laufenden Verhandlungen mit den USA bald aufgeben werde, so die Prophezeiung.

Käme es tatsächlich zu einem Machtverzicht der Hamas, ginge im Gazastreifen eine lange Phase unveränderter politischer Herrschaft zu Ende. 2005 setzte der damalige israelische Premier Ariel Scharon den Abzug des israelischen Militärs wie auch der israelischen Siedler aus dem Gazastreifen durch.

Ein Jahr später gewann die Hamas bei den Parlamentswahlen in den Palästinensergebieten die Mehrheit der Parlamentssitze. Bald darauf willigte sie in eine gemeinsame Regierung mit der konkurrierenden Fatah ein, die im wesentlichen die Autonomiebehörde beherrscht.

Die Koalition scheiterte jedoch nach wenigen Monaten. 2007 griffen bewaffnete Verbände der Hamas das Fatah-Hauptquartier an und brachten den gesamten Gazastreifen unter ihre Kontrolle. Seitdem regierte die Hamas weitgehend unangefochten den Gazastreifen.

Experte: Hamas-Entwaffnung ist Schlüsselfrage

Gerät ihre Macht nun ernsthaft ins Wanken? Dass es absehbar zu einer freiwilligen und substantiellen Machtübergabe der Hamas kommen könne, bezweifelt der Politologe Peter Lintl, der an der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik zum Nahostkonflikt forscht. Die eigentliche Hürde bestehe in der von Israel geforderten Demilitarisierung. Zwar könne er sich vorstellen, dass die Hamas bereit wäre, zugunsten einer Technokraten-Regierung auf ihre unmittelbare politische Machtausübung im Gazastreifen zu verzichten.

"Aber dass die Hamas sich darauf einließe, ihrer eigenen Entwaffnung zuzustimmen, scheint mir doch zweifelhaft. Und damit stellt sich die Frage, wer für die innere und äußere Sicherheit sorgen soll, wenn die Hamas weiter bewaffnet bliebe. Vermutlich wäre sie weiterhin stärker als jede staatliche bewaffnete Einheit", so der Nahost-Experte im Gespräch mit der DW. Dass Israel dem zustimmen könnte, erscheint zumindest nach derzeitigem Stand annähernd unvorstellbar.

Auch Marcus Schneider, Leiter des Regionalprojekts für Frieden und Sicherheit im Mittleren Osten der Friedrich-Ebert-Stiftung mit Sitz in Beirut, ist skeptisch. Es sei zwar theoretisch denkbar, dass die Hamas den Gazastreifen tatsächlich verlasse. Fraglich sei aber, was dann an deren Stelle treten könnte.

"Innerhalb des Gazastreifens gibt es keine wirkliche Alternative", so Schneider. "Die einzige infrage kommende Lösung wäre die Palästinensische Autonomiebehörde. Aber die wird von Israel ja seit anderthalb Jahren blockiert", so Schneider. "Vergessen wird dabei, dass der Gazastreifen und das Westjordanland eine politische Einheit bilden. Dass beide von getrennten Einheiten regiert werden, ist langfristig schwer vorstellbar", so Schneider zur DW.

Schwer vorstellbare Alternativen

Wie eine Alternative zur Hamas-Herrschaft aussehen könnte, sei derzeit schwer vorstellbar, sagt auch Peter Lintl. Unter einer anderen israelischen Regierung wäre womöglich ein Kompromiss denkbar, so Lintl. "Aber die derzeitige israelische Regierung ist gegen eine palästinensische Selbstverwaltung - und ganz klar auch gegen einen israelischen Abzug aus dem Gazastreifen."

Im Gegenteil, Teile der derzeitigen Regierung propagierten eine israelische Neu-Besiedlung des Gazastreifens oder zumindest die Einrichtung großer dauerhafter israelischer Pufferzonen. Die derzeitige Pufferzone mache immerhin bereits rund 30 Prozent des Gazastreifens aus, so der Experte.

Auf palästinensischer Seite verschärft dies noch einmal die Sorgen vor einer Vertreibung der eigenen Bevölkerung.

Dass Israels derzeitige Regierung nach einer etwaigen Selbst-Entmachtung der Hamas irgendeiner neuen Form von palästinensischer Selbstverwaltung zustimme könne, hält Lintl bis auf Weiteres nicht für denkbar.

Ähnlich sieht es Marcus Schneider von der Ebert-Stiftung: Angesichts der israelischen Politik der letzten anderthalb Jahre scheine es relativ klar, dass Israel kein Interesse habe, dass sich im Gazastreifen eine neue politische Entität der Palästinenser bilde - wie auch immer diese zusammengesetzt und beschaffen wäre.

"Man hätte seit Beginn des Krieges ja mit alternativen Kräften reden können. Aber das ist nicht geschehen. Es besteht seitens Israels überhaupt kein Bedürfnis nach einer politischen Alternative."

Dieser Artikel wurde am 24.05. aktualisiert und präzisiert.

Item URL https://www.dw.com/de/wie-realistisch-ist-ein-machtverzicht-der-hamas/a-72318760?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72270727_302.jpg
Image caption Unmut: Im März kam es zu Protesten gegen die Hamas im Gazastreifen
Image source Habboub Rame/abaca/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72270727_302.jpg&title=Wie%20realistisch%20ist%20ein%20Machtverzicht%20der%20Hamas%3F

Item 14
Id 72319829
Date 2025-04-23
Title Was Wolodymyr Selenskyj in Südafrika erreichen will
Short title Was Wolodymyr Selenskyj in Südafrika erreichen will
Teaser Zum ersten Mal besucht der ukrainische Präsident Südafrika - in einer Zeit, in der viel von Friedensverhandlungen die Rede ist. Experten halten Südafrika für einen möglichen Mediator zwischen Kyjiw und Russland.
Short teaser Der ukrainische Präsident besucht erstmals Südafrika - einen möglichen Mediator im russischen Angriffskrieg.
Full text

Dieser Besuch wird eine Premiere für Wolodymyr Selenskyj: Am Donnerstag reist der ukrainische Präsident zum ersten Mal nach Südafrika. Anlass ist ein Arbeitstreffen mit seinem Kollegen Cyril Ramaphosa in Pretoria - offiziell mit dem Ziel, die Bande zwischen beiden Ländern zu stärken. Ein Schwerpunktthema dürfte jedoch ein bislang hypothetischer Friedensdeal zwischen der Ukraine und Angreifer Russland sein.

"Ich bin mir absolut sicher, dass das auf der Agenda steht", sagt Dr. Oscar van Heerden vom Zentrum für Diplomatie und Staatsführung an der Universität Johannesburg. "Ich glaube, die südafrikanische Regierung will nicht zu hohe Erwartungen wecken - und ganz sicher nicht ihre wahren Intentionen öffentlich darlegen", sagte van Heerden der DW.

Im Juni 2023 hatte Ramaphosa eine afrikanische Friedensmission angeführt. Gemeinsam mit den Präsidenten von Senegal, Sambia und den Komoren reiste er erst nach Kyjiw zu Selenskyj und anschließend nach Moskau zum russischen Staatschef Wladimir Putin.

"Es gibt durchaus Interesse an dem Thema, und ich bin mir sicher, dass Ramaphosa und Selenskyj zu irgendeinem Punkt des Besuchs darauf zu sprechen kommen", mutmaßt van Heerden.

Südafrikas besondere Beziehung zu beiden Seiten

Damals hatte die Delegation die vage Hoffnung im Gepäck, einen Friedensdeal zwischen den beiden Ländern zu vermitteln. Die Gespräche brachten allerdings keine konkreten Ergebnisse. Doch immerhin hat die Ukraine seither ihre Beziehungen mit afrikanischen Partnern vertieft, etwa in der Zusammenarbeit im technologischen und militärischen Bereich. Kyjiw hat zudem angekündigt, zehn weitere Botschaften in afrikanischen Hauptstädten zu eröffnen.

Die guten Beziehungen von Südafrikas größter Regierungspartei ANC nach Moskau reichen zurück bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damals unterstützte die Sowjetunion die damalige Befreiungsorganisation ANC in ihrem Kampf gegen das rassistische Apartheidregime.

Bis heute kooperieren Südafrika und Russland in vielen Bereichen - auch militärisch. Nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 enthielt sich Südafrika bei Abstimmungen über Resolutionen der Vereinten Nationen, in denen diese "Spezialoperation" als völkerrechtswidriger Angriffskrieg gebrandmarkt wurde.

Neben Brasilien, Russland, Indien und China ist Südafrika ein Gründungsmitglied der nach den Anfangsbuchstaben der Ländern benannten BRICS-Gruppe. Das verschafft Ramaphosa einen besonderen Zugang zu Putin, den er bei Friedensverhandlungen einsetzen könnte.

Auch Oscar van Heerden sieht Ramaphosa deshalb als möglichen Vermittler. "Weil Südafrika der BRICS-Gemeinschaft angehört und freundliche Beziehungen zur Russischen Föderation pflegt, kann Ramaphosa sich direkt an Putin wenden und sagen: 'Das ist es, was Selenskyj auf den Tisch legt'."

Südafrika als Mittler in humanitären Fragen

Dzvinka Kachur, die Ehrenvorsitzende der Ukrainischen Gesellschaft in Südafrika (UAZA), sieht noch viele Hindernisse für einen echten Frieden. "Anhaltenden Frieden in der Ukraine kann es nur geben, wenn Russland aufhört, sich wie ein Imperium aufzuführen und die Ukraine als Kolonie unterwerfen zu wollen", sagte Kachur der DW. Dazu könne Südafrika wenig beitragen, räumt sie ein.

Kachur sieht jedoch andere Wege, wie das Land die Lage in der Ukraine verbessern könnte: "Im humanitären Bereich könnte Südafrika sich stärker engagieren. Südafrika könnte die Rückkehr ukrainischer Kinder vermitteln, die von Russland verschleppt wurden, oder die Folter im von Russland besetzten Atomkraftwerk Saporischschja beenden helfen." Auch für die Freilassung ziviler Kriegsgefangener und Journalisten könnte Pretoria sich einsetzen, meint Kachur.

Der Krieg hat aus ihrer Sicht einmal mehr die Lähmung des UN-Sicherheitsrats verdeutlicht. Afrikanische und südamerikanische Länder kritisieren seit langem das Ungleichgewicht in dem Gremium. Die fünf Atommächte des Atomwaffensperrvertrags - die USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich - haben ständige Sitze mit Vetorecht inne, während dem globalen Süden nur wechselnde Mitgliedschaften zustehen.

"Wir sehen, dass dieses internationale System nicht funktioniert, und das sagen afrikanische Länder schon seit langem", sagt Kachur. "Russland hat die Ukraine angegriffen, während es dem Sicherheitsrat vorsaß, und der Rat war komplett blockiert." Auch Kachurs UAZA hat in Pretoria ein Treffen mit Selenskyj geplant.

Südafrika will die globale Regierungsführung reformieren

Seit Dezember hat Südafrika den Vorsitz über die G20 inne, das Austauschformat der 19 größten Volkswirtschaften sowie der Europäischen Union und der Afrikanischen Union. Neben anderen Zielen will Südafrika die Präsidentschaft dazu nutzen, globale Regierungsstrukturen zu reformieren.

Was genau damit gemeint ist, führte der Generalsekretär des südafrikanischen Außenministeriums, Zane Dangor, im März vor der UN-Generalversammlung aus: "Wir müssen das multilaterale System stärken und die internationale Kooperation vertiefen, um die komplexen Herausforderungen der Welt anzugehen." Die Erosion des Multilateralismus stelle eine Bedrohung für globales Wachstum und die Stabilität dar.

In diesem Dezember gibt Südafrika den G20-Staffelstab an die USA weiter, deren Präsident Donald Trump im Sinne seiner "America First"-Ideologie außenpolitisch für große Verunsicherung sorgt. Die Trump-Regierung hat eine Beendigung des Ukraine-Kriegs als Ziel ausgegeben und ist dafür zugunsten Russlands auf Abstand zur Ukraine gegangen.

Im Februar enthielten sich die USA bei einer Abstimmung bei den Vereinten Nationen, die die territoriale Integrität der Ukraine unterstrich. Südafrika hingegen stimmte der Resolution zu.

Ob es zu den von Trump angestrengten direkten Friedensgesprächen in Saudi-Arabien überhaupt kommt, gilt derzeit als völlig offen. Wohl auch deshalb dürfte es im Sinne der Ukraine sein, in Südafrika einen alternativen Vermittler zu finden.

Adaptiert aus dem Englischen von David Ehl.

Item URL https://www.dw.com/de/was-wolodymyr-selenskyj-in-südafrika-erreichen-will/a-72319829?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72078687_302.jpg
Image caption Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj - hier in Kyjiw - ist zur Zeit viel unterwegs. Von London aus geht es nach Pretoria.
Image source Genya Savilov/AFP
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72078687_302.jpg&title=Was%20Wolodymyr%20Selenskyj%20in%20S%C3%BCdafrika%20erreichen%20will

Item 15
Id 72207288
Date 2025-04-23
Title EU verhängt Sanktionen gegen US-Tech-Konzerne
Short title Apple, Meta & Co.: EU verhängt Sanktionen
Teaser Die Europäische Union greift durch; Apple muss 500 Millionen Euro zahlen, Meta 200 Millionen. Doch die Tech-Giganten wehren sich. Und das ausgerechnet mitten im transatlantischen Zollstreit mit Donald Trump.
Short teaser EU verhängt Millionenstrafen gegen Apple und Meta – ausgerechnet mitten im transatlantischen Zollkonflikt.
Full text

Die EU-Kommission hat die US-Technologiekonzerne Apple und Meta wegen Verstößen gegen das Gesetz über digitale Märkte (Digital Markets Act, DMA) mit Geldbußen in Höhe von insgesamt 700 Millionen Euro belegt.

Die Entscheidung fällt in eine Zeit zunehmender transatlantischer Spannungen. Zwar hatte US-Präsident Donald Trump angekündigt, die angedrohten Strafzölle gegen die Europäische Union für 90 Tage auszusetzen - woraufhin auch Brüssel seine geplanten Gegenzölle auf Stahl- und Aluminium aussetzte. Doch könnte das aktuelle Vorgehen der Kommission die Lage weiter verschärfen. Offiziell betont Brüssel jedoch, dass die Maßnahmen im Rahmen des DMA unabhängig von den laufenden Zollverhandlungen seien.

Gesetz für mehr Wettbewerb

Der Digital Markets Act soll faire Wettbewerbsbedingungen in der digitalen Wirtschaft sicherstellen. Im Zentrum stehen dabei besonders mächtige Plattformbetreiber - sogenannte "Gatekeeper".

Seit 2023 ist das Gesetz in der gesamten EU anwendbar. 2023 hat die EU-Kommission auch erstmals die Online-Anbieter Alphabet, Amazon, Apple, ByteDance, Meta und Microsoft als Gatekeeper identifiziert. Verstößt ein solcher Anbieter gegen die Vorschriften, kann die EU-Kommission empfindliche Strafen verhängen - bis zu zehn Prozent des weltweiten Jahresumsatzes, im Wiederholungsfall bis zu 20 Prozent.

Apple unter Druck

Die Verfahren gegen Apple und Meta wurden bereits im März 2024 eingeleitet. Im Fokus stand zunächst die sogenannte "Steering“-Klausel: Apple soll App-Entwickler daran gehindert haben, ihre Nutzer über günstigere Angebote außerhalb des App Stores zu informieren - ein klarer Verstoß gegen das DMA, wie die Kommission nun offiziell feststellte. Apple muss deshalb 500 Millionen Euro zahlen und die entsprechenden Einschränkungen beseitigen.

Zudem veröffentlichte die Kommission vorläufige Ergebnisse zu einem weiteren Aspekt: der alternativen App-Verteilung auf iOS-Geräten. Zwar lässt Apple inzwischen Drittanbieter-Stores und App-Downloads über das Web formal zu. Doch die Bedingungen seien laut EU so restriktiv, kostenintensiv und benutzerunfreundlich, dass sie faktisch abschreckend wirken. Besonders kritisiert wird eine neue "Core Technology Fee“, die Drittanbieter zur Kasse bittet.

Apple reagierte ungewöhnlich scharf auf die Entscheidungen. In einer Stellungnahme warf der Konzern der EU "unfaire Behandlung“ vor. Die geforderten Maßnahmen seien "schlecht für den Datenschutz, schlecht für die Sicherheit und schlecht für unsere Produkte“, heißt es. Man habe "hunderttausende Ingenieurstunden“ investiert, um den Vorgaben zu entsprechen - und werde gegen die Entscheidung Rechtsmittel einlegen.

Kritik an Geschäftsmodellen von Meta

Auch Meta wurde von der Kommission ins Visier genommen - konkret wegen des seit 2023 angebotenen Consent-or-Pay-Modells. Nutzer von Facebook und Instagram mussten dabei entweder der umfassenden Nutzung ihrer persönlichen Daten zustimmen oder für eine werbefreie Version der Dienste bezahlen. Die EU sieht darin keinen echten Wahlmechanismus und verhängte eine Geldstrafe in Höhe von 200 Millionen Euro für den Zeitraum März bis November 2024.

Meta wehrt sich entschieden gegen die Vorwürfe. In einer Stellungnahme wirft Joel Kaplan, Chief Global Affairs Officer des Techkonzerns, der Kommission vor, US-Firmen gezielt zu benachteiligen: "Die Europäische Kommission versucht, erfolgreiche amerikanische Unternehmen zu behindern, während chinesische und europäische Firmen nach anderen Standards arbeiten dürfen. Sie zwingt uns zu einem Geschäftsmodell, das einem Milliardenzoll gleichkommt und den europäischen Unternehmen und Volkswirtschaften schadet.“

Auch Alphabet und X im Fokus

Die Kommission führt derzeit auch Verfahren gegen weitere US-Konzerne. Alphabet, der Mutterkonzern von Google, steht im Verdacht, eigene Dienste in den Suchergebnissen zu bevorzugen und Anbieter im App-Store "Google Play" daran zu hindern, Nutzer auf externe Angebote zu lenken. Alphabet hat die Möglichkeit, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen.

Einige Verfahren laufen unter dem Gesetz über digitale Dienste (DSA). Es stellt sich unter anderem gegen illegale Inhalte im Internet. Bei Verstoß kann die EU-Kommission Geldbußen von bis zu sechs Prozent und Zwangsgelder von bis zu fünf Prozent des Jahresumsatzes verhängen.

Die EU-Kommission führt mehrere Untersuchungen aufgrund dieses Gesetzes, unter anderem auch gegen Meta und Amazon. Am medienwirksamsten ausgetragen und wohl am weitesten fortgeschritten scheint das Verfahren gegen die Plattform X, ehemals Twitter, des Multimilliardärs und Trump-Beraters Elon Musk zu sein. Laut "New York Times" bereitet die EU-Kommission massive Strafen gegen den Konzern vor, die diesen Sommer angekündigt werden könnten.

Politisch brisantes Terrain

In Brüssel betont man, dass die Verfahren unabhängig von den derzeitigen Handelskonflikten mit den USA geführt werden. "Wir werden diese bei unseren Verhandlungen mit den USA nicht vermischen", betonte EU-Kommissionssprecher Olof Gill Anfang März.

Beobachter sehen das differenzierter. Guilia Torchio von der Brüsseler Denkfabrik "European Policy Center" weist darauf hin, dass die Digitalgesetzgebung in einigen Mitgliedstaaten durchaus als Verhandlungsmasse gewertet werde. Die Politikanalystin weist im Gespräch mit der DW darauf hin, dass die digitalen Gesetze die Rechte der EU-Bürger- und Bürgerinnen schütze. Wenn diese in die Verhandlungsmasse mit den USA eingingen, sende man das Signal, dass man bereit sei, bei seinen demokratischen Grundprinzipien nachzugeben.

Sowohl die Zölle als auch die Sanktionen, die vor dem Hintergrund der Digitalgesetze verabschiedet wurden, sind von einer Digitalsteuer zu unterscheiden. Mit dieser würde der Gewinn von Tech-Unternehmen in dem Land versteuert, in dem er erzielt wird. Ein Vorschlag der EU-Kommission für eine solche Steuer aus dem Jahr 2018 scheiterte erst einmal an den Mitgliedstaaten.

Die Arbeit an der Steuer übernahm dann die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa (OECD). Während es in den vergangenen Jahren ruhig um diese Steuer wurde, wurde sie in den vergangenen Wochen wieder häufiger diskutiert.

Reaktionen aus den USA

In den USA regt sich schon länger Widerstand gegen die Digitalgesetzgebung der EU. So hat in der Vergangenheit insbesondere Meta-Chef Mark Zuckerberg diese als "Zensur" bezeichnet. Ähnliches war auch von X-Besitzer Elon Musk zu hören.

Mark Zuckerberg hatte sich im Januar auch an den US-Präsidenten Donald Trump gewandt und ihn gebeten, US-Tech-Firmen vor EU-Strafen zu schützen. Trump sagte laut der Nachrichtenagentur AFP bereits vergangenen Monat zu, Maßnahmen - wie etwa Zölle - als Reaktion auf Steuern und Geldstrafen gegen US-Unternehmen prüfen zu wollen.

Item URL https://www.dw.com/de/eu-verhängt-sanktionen-gegen-us-tech-konzerne/a-72207288?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72273129_302.jpg
Image caption Big Five: Google, Microsoft, Amazon, Apple und Meta bestimmen den Alltag vieler Menschen
Image source La Nacion/ZUMA Press/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72273129_302.jpg&title=EU%20verh%C3%A4ngt%20Sanktionen%20gegen%20US-Tech-Konzerne

Item 16
Id 72313307
Date 2025-04-23
Title Welche Rolle spielen die USA künftig bei IWF und Weltbank?
Short title Welche Rolle spielen die USA künftig bei IWF und Weltbank?
Teaser Präsident Donald Trump hat eine Überprüfung der von den USA finanzierten internationalen Organisationen angeordnet. Was bedeutet das für die Frühjahrstagung von IWF und Weltbank in dieser Woche?
Short teaser Die USA, prüfen, ob sie internationale Organisationen weiter finanzieren. Wie zukunftsfähig sind IWF und Weltbank?
Full text

Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank sorgen meist nur in Zeiten erheblicher Umbrüche für Schlagzeilen. Eine Suchmaschinen-Recherche mit dem Begriff "Argentinien" bringt mit etwa gleicher Wahrscheinlichkeit Artikel über IWF-Kredite für das schuldengeplagte Land hervor, wie Informationen über die jüngsten Fußballtriumphe von Fußball-Star Lionel Messi.

In der vergangenen Woche wurde das jüngste Finanzpaket des IWF in Höhe von 30 Milliarden US-Dollar (17,4 Milliarden Euro) für Argentinien, sein größtes Schuldnerland, verkündet. Damit unterstützt der Weltwährungsfonds weiter den Reformkurs des libertären Präsidenten Javier Milei, der die Wirtschaft des südamerikanischen Landes nach Jahrzehnten überbordender Staatsausgaben wieder auf Kurs bringen will.

Die Arbeit der Weltbank findet in der Regel eher unter dem Radar statt. Während der Corona-Pandemie vergab die Finanzinstitution laut ihrer Website still und leise Kredite und Zuschüsse in Höhe von 170 Milliarden US-Dollar an über 100 Länder und erreichte damit rund 70 Prozent der Weltbevölkerung.

Wenn der IWF und die Weltbank am Donnerstag zu ihrer Frühjahrstagung in der US-Hauptstadt Washington zusammenkommen, stehen ihnen unsichere Zeiten bevor. Erstens droht die Zollpolitik von US-Präsident Donald Trump das globale Wirtschaftswachstum aus dem Tritt zu bringen. Und zweitens ist völlig offen, ob die USA die beiden internationalen Institutionen weiter unterstützen werden.

Das "Project 2025" und die Abkehr von IWF und Weltbank

Die Spekulationen über einen US-Austritt werden vor allem durch die Forderungen des "Project 2025" befeuert, eine Art rechtsnationales Drehbuch für Trumps zweite Amtszeit. Das unter Mitwirkung von mehr als einhundert republikanischen Denkfabriken und Organisationen entstandene Programm für den konservativen Umbau der USA fordert den Rückzug der USA aus beiden Institutionen, weil sie als "teure Zwischenhändler" gesehen werden, die US-Gelder weltweit umverteilen.

Trumps Rückzug aus dem Pariser Klimaabkommen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO), verbunden mit einer Anordnung vom Februar, alle von den USA finanzierten internationalen Organisationen innerhalb von 180 Tagen zu überprüfen, hat die Sorgen über die zukünftige Beteiligung der USA an IWF und Weltbank weiter angeheizt. Washington hat noch keine Exekutivdirektoren für beide Organisationen ernannt, was auf eine bewusste Pause im US-Engagement hindeutet.

Die USA profitieren jedoch erheblich durch ihre Rolle bei beiden Institutionen - rein wirtschaftlich und durch die Ausübung von "Soft Power", die den Vereinigten Staaten die Verbreitung eigener Normen und Werte ermöglicht. Mit dem größten Stimmenanteil sowohl beim IWF als auch bei der Weltbank verfügt die Regierung in Washington über ein effektives Vetorecht bei wichtigen Entscheidungen. Kredite an verschuldete Länder sind oft an Bedingungen wie Marktliberalisierung geknüpft, die mit den Interessen der USA übereinstimmen.

Robert Wade, Professor für politische Ökonomie an der London School of Economics (LSE), glaubt, dass ein Rückzug der USA schwerwiegende Auswirkungen auf Washingtons globales Ansehen hätte. "Aufeinanderfolgende US-Regierungen und der Kongress haben lange Zeit so getan, als wären die Weltbank und der IWF Agenten oder Waffen des US-Staates", sagte Wade der DW. "Auf die eine oder andere Weise übt Washington einen großen Einfluss auf ihre Politik aus."

Zölle schocken Investoren und schüren Krisenängste

Die Anfang des Monats von Donald Trump angekündigten höchsten Zölle seit rund 100 Jahren sorgen für große Unsicherheit in der Weltwirtschaft - besonders, seit die Aktienmärkte stark nachgegeben haben. Trumps Kritiker befürchten nun, dass eine nach innen gerichtete US-Regierung das gesamte globale Finanzsystem aufs Spiel setzen könnte, das 1944 beim Abkommen von Bretton Woods festgelegt worden war.

Damals hatten die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs unter Federführung der USA die Rahmenbedingungen für den künftigen internationalen Handel definiert: Stabilität durch freie Wechselkurse, die Dominanz des US-Dollars und die Schaffung von Institutionen wie IWF und Weltbank.

"Die Trump-Regierung hat keine kohärente Position zu Reformen der Weltbank, des IWF oder einer anderen internationalen Institution", sagt Constantin Gurdgiev, außerordentlicher Professor für Finanzen an der University of Northern Colorado, im Interview mit der DW. "Dies ist eine transaktionale, populistische, nach innen gerichtete Agenda, die darauf abzielt, schnelle Erfolge auf Kosten des internationalen Systems zu erzielen."

Jeder Rückzug der USA könnte zu einer unmittelbaren Liquiditätskrise bei IWF und Weltbank führen, deren Ressourcen in Höhe von insgesamt 1,5 Billionen US-Dollar stark von den finanziellen Beiträgen der USA abhängen. Gurdgiev prognostiziert "signifikante Auswirkungen" auf die Fähigkeit von IWF und Weltbank, wirksame Maßnahmen bei künftigen Krisen zu finanzieren. Ein Rückzug der USA, so Gurdgiev, wäre ein strategisches Geschenk an China, das bereits stark investiert hat, um seinen globalen Einfluss auszuweiten.

"Beide Institutionen sind für die USA äußerst kosteneffizient und helfen ihnen, ihre längerfristigen Ziele zu erreichen", so Gurdgiev und meint damit auch den Umgang mit China.

Chinas Rolle als globaler Kreditgeber

Eine Berechnung des Global Development Policy Center der Boston University schätzt, dass China zwischen 2008 und 2021 Kreditzusagen in Höhe von fast 500 Milliarden US-Dollar gegenüber 100 Ländern gemacht hat. Angesichts der Schwächung von IWF und Weltbank könnten sich Länder, die stark verschuldet oder auf der Suche nach der Finanzierung von Infrastrukturprojekten sind, zunehmend an Chinas Institutionen wenden. Damit werde Pekings geopolitischer Einfluss weiter verstärkt.

Im Jahr 2015 hatten China und andere BRICS-Staaten des globalen Südens die New Development Bank (NDB) gegründet, die oft als Rivale der Weltbank gesehen wird. Die NDB bietet Kredite mit weniger strengen Bedingungen an und fördert die Kreditvergabe in Nicht-Dollar-Währungen, womit sie die westliche Finanzdominanz in Frage stellt.

Ein Rückzug der USA würde auch die Verlegung des Hauptsitzes von IWF und Weltbank aus Washington nach Japan, dem zweitgrößten Geldgeber, nach sich ziehen. Wade zufolge würde sich China, das bei den Stimmrechtsanteilen unterrepräsentiert ist (mit nur 6,1 Prozent beim IWF), vehement dagegen wehren.

Könnte Trump einen besseren Deal aushandeln?

"Trump könnte argumentieren: Erhöhen Sie Ihre Mittel, und Sie werden einen größeren Stimmenanteil gewinnen", so Wade über eine mögliche Verhandlungstaktik des US-Präsidenten. "Es ist wahrscheinlicher, dass die USA zumindest eine ernsthafte Drohung aussprechen könnten, die Weltbank (und nicht den IWF, Anm. d. Red.) zu verlassen."

Während regionale Banken wie die Asiatische Entwicklungsbank oder die Interamerikanische Entwicklungsbank die Rolle der Weltbank teilweise ausfüllen könnten, sind Alternativen zum IWF rar gesät. Die Bemühungen der BRICS, ein Pendant zum IWF zu schaffen, sind ins Stocken geraten.

Gurdgiev argumentiert, dass Trump den IWF und die Weltbank als "Cheerleader" für seine Hochzoll-Politik und America-First-Agenda ansieht und seine Regierung Schritte unternehmen wird, um den Einfluss Chinas und anderer BRICS-Staaten in beiden Organisationen einzudämmen. "Aber diese Institutionen verfügen über genügend intellektuelle Integrität, um zu verstehen, wie gefährlich diese Politik sowohl für die US-amerikanische als auch für die Weltwirtschaft ist", fügt er hinzu.

Gewitterwolken über der Weltwirtschaft

In der Tat wächst die Sorge, dass Trumps aggressive Handelspolitik, wenn sie vollständig umgesetzt und Vergeltungsmaßnahmen ergriffen werden, das Potenzial hat, eine große globale Finanzkrise auszulösen. Der IWF hat am Dienstag seine Wachstumsprognose für Dutzende von Ländern gesenkt, weil das Abwürgen des Welthandels viele verschuldete Länder unter Druck setzt.

"Die globale Finanzlage ist derzeit sehr fragil und könnte leicht in eine Finanzkrise kippen", warnt Wade von der LSE und prognostiziert, dass Trump gezwungen sein werde, bei den Gesprächen über einen Austritt aus dem IWF und der Weltbank einen Rückzieher zu machen, "wenn klare Anzeichen für eine Schuldenkrise auftauchen".

Gurdgiev warnt , dass ein mangelndes Engagement Washingtons in beiden Institutionen den derzeitigen Pessimismus gegenüber Trumps Wirtschaftspolitik und die zukünftige Rolle der USA in globalen Angelegenheiten nur noch verstärkt. Diese Unsicherheit, glaubt er, könnte zu einer systemischen Krise führen, in einer Zeit, in der sowohl der IWF als auch die Weltbank stark geschwächt sind.

"Wir neutralisieren die Fähigkeit von Institutionen, die als Kreditgeber letzter Instanz fungieren, ihre Arbeit zu tun", warnt Gurdgiev, der auch Gastprofessor am Trinity College in Dublin ist. "Das ist kompletter und ausgemachter Blödsinn."

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert

Item URL https://www.dw.com/de/welche-rolle-spielen-die-usa-künftig-bei-iwf-und-weltbank/a-72313307?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72309383_302.jpg
Image caption IWF und Weltbank kommen ab Donnerstag zu ihrer Frühjahrstagung in Washington zusammen
Image source Celal Gunes/Anadolu/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72309383_302.jpg&title=Welche%20Rolle%20spielen%20die%20USA%20k%C3%BCnftig%20bei%20IWF%20und%20Weltbank%3F

Item 17
Id 72272130
Date 2025-04-22
Title Maler des Lichts: 250 Jahre William Turner
Short title Maler des Lichts: 250 Jahre William Turner
Teaser Er bannte die Erhabenheit der Natur so grandios auf die Leinwand wie die Macht der Maschinen: William Turner, einer der größten Maler der Romantik, kam vor 250 Jahren zur Welt.
Short teaser Der englische Maler William Turner ist einer der größten Maler der Romantik. Er wurde vor 250 Jahren geboren.
Full text

Sein Porträt ziert den 20-Pfund-Schein. Auch der wichtigste Preis Großbritanniens für moderne Kunst trägt seinen Namen: Joseph Mallord William Turner (1775-1851).

Zufall ist das nicht: Leuchtende Sonnenuntergänge, dunkle Wolkentürme, schäumende Gischt - Turner beherrschte das Spiel mit Licht, Farbe und Atmosphäre wie kaum ein anderer. Inspiration für seine Bilder fand er vor allem auf Streifzügen durch die Natur und auf Reisen.

Im Laufe seines Lebens reiste Turner nicht nur innerhalb Großbritanniens, sondern auch in die Niederlande, nach Belgien, Frankreich, Italien und nach Deutschland.

Hier faszinierte ihn der mächtige Strom des Rheins. Die dort entstandenen Landschaftsbilder weckten darauf auch die Reiselust der Briten und machten das Rheinland zum beliebten Reiseziel. Heute gilt Turner als einer der Väter der Rheinromantik.

Ganz besonders prägte ihn aber Venedig. Dreimal besucht er die Lagunenstadt im Norden Italiens, 1819, 1833 und 1840. An Turners Venedig-Ansichten lässt sich seine Stilentwicklung nachvollziehen: Zunehmend unschärfer, mystischer und lichtdurchfluteter werden seine Bilder.

Wie kaum ein anderer setzt Turner Licht ein, um Atmosphäre zu erzeugen. Grenzen zwischen Land und Wasser verschwimmen. Nicht umsonst werden die Darstellungen auch als Feenbilder oder Märchenbilder genannt. Turner scheint so den Zeitgeist zu treffen, denn die Bilder erfreuen sich großer Beliebtheit.

"Light is therefore colour" beschrieb Turner schon im Jahr 1818 die Bedeutung von Licht in einem Vortrag. Es heißt sogar, Turner habe Atelierbesucher vor dem Besuch seiner Ausstellung im Dunkeln warten lassen, damit sie die Lichteffekte in seinen Bildern bewusster wahrnahmen.

Wer war William Turner?

Geboren am 23.04.1775 in London, wuchs Turner in Zeiten der industriellen Revolution auf, die verbunden war mit großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Mit zwölf Jahren fertigte er erste eigene Landschaftsskizzen an.

Sein Vater, Barbier und Perückenmacher von Beruf, erkannte sein Talent und stellte Bilder des Sohnes in seinem Laden zum Verkauf aus. Auch deshalb nahm Turners künstlerische Karriere schnell Fahrt auf.

Mit nur 14 Jahren trat er als Student in die königliche Kunstakademie, Royal Academy in London ein, wo er zunächst vor allem Aquarelle malte. Später lehrte er hier selbst als Professor für Perspektive.

Historienbilder der etwas anderen Art

Seine Gemälde bildeten jedoch nicht einfach nur Natur ab. Stattdessen nahm Turner auch das Zeitgeschehen in seinen Werken auf und malte - ungewöhnlich für die Epoche der Romantik - auch technische Errungenschaften wie Lokomotiven und Dampfschiffe im Kampf gegen die Naturgewalten.

Auch historische und mythische Ereignisse fanden Platz in seinen Bildern - wenn auch in ungewöhnlicher Inszenierung.

Turners Spätwerk wurde immer eigenwilliger und stieß damit auf viel Unverständnis. 1842 stellte die Royal Academy das Gemälde "Schneesturm" aus - heute eines seiner berühmtesten Werke. Es zeigt ein Dampfschiff im Kampf gegen die Elemente oder, wie zeitgenössische Kritiker es formulierten, "für unsere Augen ist es eine Masse wirbelnder Seifenlaugen".

Ebendieser, beinah abstrakt wirkende Stil, für den Turner damals kritisiert wurde, inspirierte spätere Impressionisten wie Claude Monet und Camille Pissaro. Heute gilt Turner als Vater des Impressionismus, als ein eigenwilliger Wegbereiter der Moderne und manchen sogar als Vorläufer der abstrakten Kunst. In jedem Fall aber war er seiner Zeit weit voraus.

Item URL https://www.dw.com/de/maler-des-lichts-250-jahre-william-turner/a-72272130?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72254130_302.jpg
Image caption Turner-Gemälde "Schneesturm - Dampfschiff vor einer Hafeneinfahrt" (1842)
Image source akg-images/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72254130_302.jpg&title=Maler%20des%20Lichts%3A%20250%20Jahre%20William%20Turner

Item 18
Id 72265583
Date 2025-04-22
Title Deutschland: Gesundheitszustand des Kanzlers ist geheim
Short title Deutschland: Gesundheitszustand des Kanzlers ist geheim
Teaser In den USA weiß die Bevölkerung über die Gesundheit ihres Präsidenten Bescheid. Donald Trump, so las man neulich, sei top in Form. Deutsche Regierungschefs sind weit weniger offen. Krankheiten werden geheimgehalten.
Short teaser In den USA erfuhr die Bevölkerung neulich, Trump sei top in Form. Deutsche Regierungschefs sind weit weniger offen.
Full text

Donald Trump geht es gut. Der US-Präsident "erfreut sich nach wie vor einer exzellenten Gesundheit" und sei problemlos in der Lage, seinen Job auszuüben, so heißt es in einem Bericht von Trumps Leibarzt, dem ehemaligen US Navy Captain Sean Barbabella.

Das Memorandum wurde Mitte April veröffentlicht und enthält genaue Angaben zu Trumps Größe, Gewicht, Blutdruck und mehr. Interessierte können nachlesen, welchen medizinischen Tests sich der Präsident bei seiner Routineuntersuchung unterzogen hat, welche Medikamente er zur Kontrolle seines Cholesterinspiegels einnimmt und dass ihm im Alter von 11 Jahren der Blinddarm entfernt wurde.

Captain Barbabella teilte ebenfalls mit, dass Trump einen kognitiven Funktionstest mit Bravour bestanden hat (30 von 30 Punkten!) und dass sein hervorragender Zustand auch auf seinen "aktiven Lebensstil" zurückzuführen sei - schließlich habe Trump schon viele Golfturniere gewonnen.

Über den deutschen geschäftsführenden Bundeskanzler Olaf Scholz wird man solche Informationen kaum finden, und das nicht nur, weil der Mann nicht dafür bekannt ist, viel Golf zu spielen. In Deutschland weiß die Öffentlichkeit so gut wie nichts über die Gesundheit ihres Regierungschefs.

Keine Informationen zum Gesundheitszustand des Kanzlers

Für diesen Text wollte die DW vom Presseamt der Bundesregierung wissen, welcher Arzt oder welche Ärztin den Bundeskanzler behandelt, warum es so wenig öffentliche Informationen über seine Gesundheit gibt und wo frühere Regierungschefs in Behandlung waren. Nach sensiblen Informationen, wie beispielsweise ob Scholz noch seinen Blinddarm hat oder wie hoch sein Blutdruck ist, haben wir uns gar nicht erst erkundigt.

Und trotzdem: "Wir bitten um Verständnis, dass wir uns zur medizinischen Versorgung des Bundeskanzlers grundsätzlich nicht äußern", kam als Antwort zurück.

Was wir wissen, ist, dass der deutsche Bundeskanzler keinen Leibarzt hat. Der Regierungschef nimmt keine Mediziner mit auf Dienstreisen oder Staatsbesuche, es sei denn, es gibt einen besonderen Grund dafür. In Berlin gibt es keinen fest im Kanzleramt niedergelassenen Arzt. Wenn medizinische Hilfe gefordert ist, wäre zum Beispiel die renommierte Charité nur fünf Autominuten entfernt.

Warum hat der Bundeskanzler keinen Leibarzt?

Es ist anzunehmen, dass Olaf Scholz nicht in überfüllten Wartezimmern sitzen muss. Und Angela Merkel hat während ihrer 16-jährigen Amtszeit wahrscheinlich auch eher selten monatelang auf einen Facharzttermin warten müssen. Dennoch mag sich mancher fragen, warum der Regierungschef der größten europäischen Volkswirtschaft keinen persönlichen Arzt zur Verfügung hat, der ihm auf Abruf zur Verfügung steht.

Da von offizieller Seite keine Informationen zu bekommen sind, kann man nur spekulieren. Ein Grund könnte das Vertrauen in das solide öffentliche Gesundheitssystem in Deutschland sein. Eine andere Erklärung für den krassen Unterschied zwischen der medizinischen Versorgung des US- und des deutschen Regierungschefs könnte in ihrer unterschiedlichen Machtstellung liegen.

"Kein deutscher Politiker hat auch nur annähernd eine solche Machtfülle wie ein amerikanischer Präsident", sagte Ronald D. Gerste, ein deutscher Augenarzt und Historiker, der in Washington, D.C. lebt, dem medizinischen Nachrichtenportal Coliquio. "Eine Krankheit des Bundeskanzlers wäre kaum folgenschwer, da Deutschland keine Präsidialdemokratie ist - das Kabinett würde weiter tagen und auch Entscheidungen treffen."

Größerer Respekt vor der Privatsphäre in Deutschland

Dass die Deutschen wenig Informationen über den Gesundheitszustand ihrer Regierungsoberhäupter haben, mag auch an der Kultur liegen.

Wenn es keinen offensichtlichen Grund zur Besorgnis gibt (mehr dazu weiter unten), kämen nur wenige Reporter auf die Idee, sich nach der Herzfrequenz oder der Medikamenteneinnahme des Bundeskanzlers zu erkundigen. In Deutschland schätzen wir unsere Privatsphäre mehr als fast alles andere, und das gilt auch für Bundeskanzler.

"Grundsätzlich respektiert man - sprich: die Medien - in Deutschland das Privatleben der Politiker in stärkerem Maße als heute in den USA", sagt Gerste. "Und so ähnlich dezent geht man mit den Krankheiten der Regierenden um."

Das heißt natürlich nicht, dass Bundeskanzler nicht krank werden. Es wird nur meist nicht öffentlich darüber berichtet.

Depressionen, Ohnmachtsanfälle, Zittern

Willy Brandt, Bundeskanzler von 1969 bis 1974, wurde nachgesagt, dass er an Depressionen litt; er zog sich regelmäßig für einige Tage aus der Öffentlichkeit zurück. Kurz vor seinem Rücktritt wurde eine Erklärung veröffentlicht, in der es hieß, er leide an "einer fiebrigen Erkältung". Jahre später gab Brandt zu: "In Wirklichkeit war ich kaputt."

Sein Nachfolger, Helmut Schmidt, der bis 1982 im Amt war, hatte das Adams-Stokes-Syndrom, bei dem man aufgrund von kurzen Herzstillständen immer wieder bewusstlos wird. "Ich bin wahrscheinlich an die hundert Mal besinnungslos vorgefunden worden. Meistens nur wenige Sekunden, manchmal aber auch Minuten", sagte Schmidt. "Das haben wir mit Erfolg verheimlicht und es hat mich nicht daran gehindert, meine Pflicht als Regierungschef zu tun."

In jüngerer Vergangenheit bekam Bundeskanzlerin Angela Merkel im Sommer 2019 einige Male einen Zitteranfall in der Öffentlichkeit, was in der Presse und in der Bevölkerung die seltene Frage nach ihrem Gesundheitszustand auslöste. Als offizieller Grund für das Zittern wurde damals Dehydrierung angegeben. Erst nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt gab Merkel zu, dass hohe Temperaturen und zu wenig Wasser nicht der einzige Grund waren.

"Der Tod meiner Mutter hat mir sehr zu schaffen gemacht", sagte sie 2022 in einem Interview. Merkel und ihre Mutter hatten sich sehr nahegestanden, bevor die ältere Frau im April 2019 verstarb - etwa zwei Monate vor Merkels erstem Zittern in der Öffentlichkeit.

Item URL https://www.dw.com/de/deutschland-gesundheitszustand-des-kanzlers-ist-geheim/a-72265583?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70750304_302.jpg
Image caption Über die Gesundheit von Donald Trump ist weit mehr bekannt als über die von Olaf Scholz (Archivbild)
Image source -/ dts-Agentur/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/70750304_302.jpg&title=Deutschland%3A%20Gesundheitszustand%20des%20Kanzlers%20ist%20geheim

Item 19
Id 72265109
Date 2025-04-22
Title Ukraine: Warum Deserteure wieder an die Front gehen
Short title Ukraine: Warum Deserteure wieder an die Front gehen
Teaser Bis Anfang März hatten desertierte ukrainische Soldaten die Möglichkeit, freiwillig in den Dienst zurückzukehren - ohne strafrechtliche Konsequenzen. Die DW hat mit mehreren von ihnen über ihre Beweggründe gesprochen.
Short teaser Bis Anfang März konnten desertierte ukrainische Soldaten ohne strafrechtliche Konsequenzen in den Dienst zurückkehren.
Full text

"Was für ein Verbrechen? Ich hatte familiäre Probleme!", sagt Kostjantyn, Deserteur der ukrainischen Armee. Und fügt hinzu: "Es ist übrigens ein Verbrechen, dass ich nach meiner Verwundung weder eine Rehabilitation noch Entschädigung bekam!"

Kostjantyn gehört zu den 21.000 Soldaten, die nach Angaben der ukrainischen Ermittlungsbehörden von der Front geflohen oder ihren Pflichten ferngeblieben sind. Sie kehrten in den letzten Monaten freiwillig wieder in den Militärdienst zurück, um einem Strafverfahren zu entgehen.

Anfang März endete eine entsprechende Frist. Zu Jahresbeginn waren knapp 123.000 Verfahren wegen unerlaubten Verlassens von Truppenteilen und Desertion in der Ukraine registriert.

Anzahl der Fälle überfordert Ermittler

Schon in den Jahren 2023 und 2024 erreichte die Zahl der Fälle ein Ausmaß, das die Ermittler nicht mehr bewältigen konnten. In den vergangenen zweieinhalb Jahren wurden nur sieben Prozent aller Fälle aufgearbeitet.

So kam es zur stillschweigenden Abmachung, dass die Behörden nicht ermitteln, solange es dem Kommandanten einer Einheit gelingt, seinen desertierten Soldaten zur Rückkehr in den Dienst zu überreden.

Schon bald wurde diese Praxis vom ukrainischen Parlament gesetzlich festgeschrieben. Seit Herbst 2024 können Soldaten, die ihren militärischen Pflichten ferngeblieben oder desertiert sind, freiwillig wieder in den Dienst zurückkehren und so einer strafrechtlichen Verfolgung entgehen. Der Grund für diese Entscheidung war offensichtlich der Personalmangel an der Front. Noch im Januar sagte der Oberkommandeur der ukrainischen Streitkräfte, Oleksander Syrskyj, dass die Ukraine mehr Soldaten in den mechanisierten Brigaden brauche. Die Mobilisierungskapazitäten reichten aber nicht, um diesen Bedarf zu decken.

Nach einer weiteren Gesetzesänderung im Dezember wurde den betroffenen Männern jedoch eine Frist bis zum 1. Januar 2025 gesetzt, die dann noch um weitere zwei Monate bis Anfang März verlängert wurde.

Ermüdung und Konflikte mit Vorgesetzten

"Ich heiße Jewhen, bin Soldat der ukrainischen Streitkräfte, und wurde nach meiner Desertion wieder in den Dienst gestellt", sagt über sich der 38-jährige Mann, den wir auf einem Übungsplatz der 59. selbstständigen Sturmbrigade treffen, die am Frontabschnitt bei Pokrowsk im Einsatz ist.

"Ich kämpfe seit zehn Jahren und komme aus Mariupol. Der Krieg hat mich auf seine Weise verbrannt, er hat mir alles genommen, die ganze Familie. Aber ich bin hartgesotten und habe einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn", so Jewhen.

Der Soldat hatte sich unerlaubt von seiner 109. Separaten Brigade der Territorialverteidigung entfernt, in der er seit Beginn von Russlands umfassender Invasion der Ukraine gedient hatte.

"Ich hatte Meinungsverschiedenheiten mit meinem ehemaligen Kommandeur. Er mochte mich nicht und schickte mich zu solchen Einsätzen, von denen man eigentlich nicht zurückkehrt, aber ich bin zurückgekehrt und dann desertiert", erzählt Jewhen.

Anderthalb Monate lebte er in Dnipro und nahm dort illegal einen Job an. "Ich habe mich ein wenig ausgeruht, denn ich hatte in all den Jahren nur einmal Urlaub", fügt der Mann hinzu.

Letztendlich wandte sich Jewhen an die ukrainische Militärpolizei. "Dort habe ich gesagt, dass ich mich unerlaubt dem Dienst entzogen habe und wieder zurück will", erinnert er sich. Am nächsten Tag wurde er zusammen mit anderen Deserteuren zu einem Reservebataillon gebracht, wo sich von Zeit zu Zeit Rekrutierer verschiedener Brigaden einfanden. Schließlich nahm er das Angebot der 59. Sturmbrigade an und war bald wieder im Kriegseinsatz.

"Ich muss kämpfen. Ich bin ein Soldat von den Zehen bis zu den Haarspitzen", sagt Jewhen über seine Motivation. "Wenn man in einer Großstadt von der Front zurückkehrt, ist es seltsam und schwierig zu sehen, wie das Leben weitergeht", fügt er hinzu.

"Von außen betrachtet scheint es, als gäbe es keinen Krieg. Geschäfte, Restaurants, Maybachs, Jeeps, Porsches... Die Menschen leben und verstehen nicht, was dort passiert".

Rückkehrer an der Front gern gesehen

Jetzt trainiert Jewhen zusammen mit einem Dutzend Soldaten, die ebenfalls in den Dienst zurückgekehrt sind. Ihr Kommandant mit dem Rufnamen "Weißer" zeigt Verständnis für das Verhalten seiner neuen Kameraden. Die überwiegende Mehrheit habe gute Gründe gehabt, sich ihrem Dienst zu entziehen.

"Oft werden die Stellungen über einen längeren Zeitraum nicht frisch besetzt, oder sie mussten nach Hause, um familiäre Probleme zu lösen", berichtet der Kommandant und fügt hinzu, dass es auch vorkommt, dass ein Soldat nach einer medizinischen Behandlung als Deserteur gemeldet wird, wenn er nicht innerhalb von zwei Tagen in seine Militäreinheit zurückkehrt.

Doch der Kommandant betont, dass die Rückkehrer ihre Aufgaben gewissenhaft erfüllen, wenn man sie normal behandelt. "Die meisten von ihnen haben bereits gedient und waren auf Stellungen. Sie sind besser ausgebildet als diejenigen, die neu eingezogen werden. Zudem sind sie motivierter, es ist einfacher, mit ihnen zu arbeiten", sagt er.

Im Herbst, als die russische Armee ihre Offensive in Richtung Pokrowsk verstärkte, bekam die Brigade Rekruten. Damals bemängelte der Kommandant mit dem Rufnamen "Weißer" im Gespräch mit der DW deren Ausbildung und ihren Kampfgeist.

So hätten sie häufig ihre Stellungen verlassen. In den letzten drei Monaten habe sich die Situation in seiner Brigade aber dank der Verstärkung durch die freiwilligen Rückkehrer verbessert, sagt er.

Ungelöste Probleme bleiben bestehen

"Die begangenen Taten fallen unter das Strafgesetzbuch, was aber nicht heißt, dass sie schlechte Soldaten sind", betont Roman Horodezkyj, Offizier für psychologische Unterstützung des Personals der 68. separaten Jägerbrigade. Die Brigade ist ebenfalls am Frontabschnitt bei Pokrowsk im Einsatz. Von den desertierten Soldaten seien rund 30 Prozent zurückgekehrt, die Hälfte davon in ihre frühere Brigade, so Horodezkyj.

Er findet, dass das jetzige Verfahren die Rückkehr desertierter Soldaten in den Militärdienst gut regelt. Es löse aber nicht die Ursache für die massenhafte Desertion im Land.

"Das Hauptproblem ist die physische und psychische Erschöpfung der Soldaten. Aber im Moment ist es einfach unmöglich, dieses Problem zu lösen", beklagt Horodezkyj.

"Krieg ist wie eine Droge"

Der 42-jährige Militärangehörige mit dem Rufnamen "Milka" gehört selbst zu den Rückkehrern. Warum er sich unerlaubt seinen Dienstpflichten entzogen hat, will er nicht erklären. Dies geschah nicht an der Front, sondern im Hinterland, wohin er nach einer Verwundung versetzt wurde.

"Warum ich wieder zurückgekehrt bin? Wie soll ich es erklären? Krieg ist wie eine Droge. Wenn man im Krieg war, zieht es einen dorthin zurück", so "Milka". "Es ist nicht so, dass man diese Explosionen braucht, überhaupt nicht. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll."

Er erhielt den Befehl, zur 68. Brigade zu wechseln, wo er mit der Ausbildung von Soldaten beauftragt wurde. "Milka" findet, sein Zustand habe sich während der Zeit, die er zu Hause verbracht hat, verbessert.

"Ich bin wieder aufgeladen", sagt er und fügt hinzu: "An Urlaub denke ich im Moment gar nicht. Aber am liebsten würde ich alles ausziehen, in Benzin tauchen und die Kleidung verbrennen, und dann einen Trainingsanzug anziehen, meine Kinder an die Hand nehmen und spazieren gehen. Das ist es, was ich mir wünsche", sagt der Mann.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

Item URL https://www.dw.com/de/ukraine-warum-deserteure-wieder-an-die-front-gehen/a-72265109?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72093886_302.jpg
Image caption Ein Soldat der 59. Separaten Sturmbrigade auf dem Übungsgelände
Image source Hanna Sokolova-Stekh/DW
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72093886_302.jpg&title=Ukraine%3A%20Warum%20Deserteure%20wieder%20an%20die%20Front%20gehen

Item 20
Id 72308296
Date 2025-04-22
Title Wie gehen Inder mit Falschinformationen auf WhatsApp um?
Short title Wie gehen Inder mit Falschinformationen auf WhatsApp um?
Teaser Indien ist der größte Markt für WhatsApp. Chatgruppen werden oft zu Foren für politische Debatten. Falschinformationen führen zu Spannungen bei Freunden und Familie. Der Messaging-Dienst versucht, dagegen vorzugehen.
Short teaser Indien ist der größte Markt für WhatsApp. In Chatgruppen kursieren Fake News. WhatsApp versucht, dagegen vorzugehen.
Full text

Die 26-jährige Nidhi* aus Indiens Hauptstadt Neu-Delhi stand ihrem Onkel einst sehr nahe, erzählt sie der DW. Doch nachdem er begann, antimuslimische Nachrichten mit Falschinformationen im Gruppenchat ihrer Familie weiterzuleiten, verschlechterte sich ihre Beziehung.

"Bei Familienessen führten wir immer wieder gesunde politische Debatten, aber seineWhatsApp -Posts wurden unerträglich", sagte sie und fügte hinzu: "Er leitete eindeutige Falschinformationen weiter und verdrehte historische Fakten, um sie einer bestimmten Art von Propaganda anzupassen".

Ihr Onkel habe vorher nie offenen Hass gegenüber Muslimen gezeigt, doch auf WhatsApp sei das anders gewesen. "Einige von uns haben ihn darauf angesprochen und seine Fakten überprüft. Aber das schien keinen Unterschied zu machen. Einmal schickte er eine Nachricht, in der er Leute aus der muslimischen Gemeinde als ‚Infiltratoren‘ bezeichnete, und das war's für mich."

Nidhi sagte, sie habe den Familiengruppenchat verlassen und sich seitdem nicht wieder mit ihrem Onkel versöhnt. "Ich habe ihn sehr respektiert" sagt sie. Aber jetzt sei das schwierig auch im persönlichen Miteinander, eben weil er sich online so verhalten hat.

"Toxische" Chats

Ein anderer junger Inder, der 19-jährige Armaan* aus Mumbai, wurde aus seinem Familiengruppenchat ausgeschlossen, weil er auf Falschinformationen hingewiesen hatte. Er sagte, dass die durch WhatsApp-Nachrichten ausgelösten Familienstreitigkeiten ihn psychisch belasteten.

"Die Chats waren toxisch geworden. Ich war ihnen fast täglich ausgesetzt, und das hat mich sehr wütend gemacht", sagt er. "Es gab Nachrichten, die mit 'weitergeleitet wie empfangen' unterzeichnet waren. Wenn man den Informationen selbst nicht vollkommen vertraute, warum sollte man sie dann weiterleiten? Manchmal wurden den Nachrichten auch lange Namenslisten beigefügt, um zu zeigen, dass viele Personen der Echtheit der Informationen zugestimmt hatten und diese daher zwangsläufig wahr sein mussten, obwohl sie in Wirklichkeit fast immer gefälscht waren."

Falschinformationen auf WhatsApp

Indien ist der größte Markt für WhatsApp. Die Messaging-App hat über 530 Millionen Nutzer im Land und ist damit eine der beliebtesten Social-Media-Plattformen aller Altersgruppen. Allerdings entwickelt sie sich zunehmend zu einem Medium zur Verbreitung von Falschinformationen.

"WhatsApp University" beispielsweise hat sich in den letzten Jahren zu einem Schlagwort im indischen Sprachgebrauch entwickelt und bezieht sich sarkastisch auf die weit verbreitete Verbreitung von Falschinformationen und Fake News auf der Plattform.

"Über WhatsApp werden viele Informationen und Falschinformationen verbreitet. Information ist Bildung. Woher man Informationen bezieht, prägt die Weltanschauung", sagt Pratik Sinha, Mitbegründer der indischen Faktencheck-Website Alt News, gegenüber der DW.

"Wenn Ihr Informationsökosystem je nach Quelle oder Gruppe völlig korrupt ist", fügt er hinzu, "spiegeln diese Informationen nicht mehr einen realen Blick auf die Welt wider."

In Indien reichen die Arten von Falschinformationen von Politik und Geschichte bis hin zu Wissenschaft und Medizin. "Viele politische oder gesellschaftspolitische Falschinformationen zielen darauf ab, Spaltungen zu schaffen und die muslimische Gemeinschaft zu verunglimpfen. Dies hat zu einer tiefen Polarisierung der Gesellschaft geführt. Dies hat zu Angriffen auf Minderheiten geführt", analysiert Sinha.

Was hat der Konzern gegen Falschinformationen unternommen?

Die Verbreitung von Fake News in WhatsApp-Gruppen in Indien rückte 2018 erstmals in den Fokus, als sich Gerüchte über Kindesentführungen verbreiteten und infolgedessen mehr als ein Dutzend Menschen durch Lynchmorde ums Leben kamen.

Auch während der Coronavirus-Pandemie kam es zu einer Welle von Falschinformationen. Während der Wahlen verbreiteten sich auch Falschmeldungen auf der Plattform. Künstliche Intelligenz und Deepfakes haben die Situation zusätzlich verkompliziert.

WhatsApp geht Falschinformationen nach eigenen Angaben mit einem mehrgleisigen Ansatz an. Dazu gehören die Einschränkung viraler Weiterleitungen, der Aufbau eines Netzwerks von Faktenprüfern in Indien und die Durchführung von Sensibilisierungskampagnen für die Nutzer, um sie über die Erkennung und Unterbindung von Falschinformationen aufzuklären.

WhatsApp sei der einzige Messaging-Dienst, der das virale Teilen durch die Begrenzung von Weiterleitungen bewusst einschränkt. "WhatsApp kennzeichnet Nachrichten, die 'weitergeleitet' und 'häufig weitergeleitet' wurden, sodass man weiß, dass sie nicht von einem engen Kontakt stammen. Unsere Beschränkungen für Weiterleitungen haben die Verbreitung "häufig weitergeleiteter Nachrichten' auf WhatsApp um über 70 Prozent reduziert", erklärte ein WhatsApp-Sprecher gegenüber der DW.

Er betonte weiter: "2022 haben wir neue Beschränkungen für die Weiterleitung von Nachrichten in Gruppen eingeführt. Nachrichten mit der Kennzeichnung 'Weitergeleitet' können nun nur noch an eine Gruppe gleichzeitig weitergeleitet werden, anstatt an fünf".

Außerdem soll in Zusammenarbeit mit der 'Misinformation Combat Alliance', eine Faktencheck-Hotline auf WhatsApp eingerichtet worden sein, um die Verbreitung von KI-generierten Falschinformationen in Indien zu bekämpfen.

"Abgesehen davon haben wir viele Faktencheck-Organisationen auf WhatsApp-Kanälen, die Menschen mit korrekten Informationen versorgen", sagte der WhatsApp-Sprecher

Datenschutz und Kontrolle im Gleichgewicht

Einige Analysten betonen, dass WhatsApp aufgrund seiner Ende-zu-Ende-Verschlüsselung ein heikles Feld für die Inhaltsmoderation darstellt. Hier entsteht eine schwierige Balance zwischen Datenschutz und den durch Falschinformationen verursachten Schäden.

"WhatsApp sind die Hände gebunden. Jede Art von Moderation könnte missbraucht und überstrapaziert werden, um den Datenschutz zu gefährden und die Verschlüsselung zu knacken. Das wollen sie nicht", sagt Kiran Garimella, Assistenzprofessorin an der School of Communication and Information der Rutgers University in New Jersey, gegenüber der DW.

Garimella warnt auch vor dem Risiko, dass Regierungen versuchen, Verschlüsselung zu knacken.

"Verschlüsselung ist großartig. Das sollten wir alle akzeptieren. Wir sollten aber darauf achten, dass die falschen Akteure, beispielsweise die Regierung, dies nicht missverstehen und behaupten, es gebe viele Fehlinformationen auf WhatsApp und deshalb müsse die Verschlüsselung geknackt werden", fügt sie hinzu.

Wie reagieren junge Inder darauf?

In einer Zeit, in der es in Indien politische Lücken im Umgang mit dem Problem der Fehlinformationen gibt, stellen sich einige junge Inder der Herausforderung, Vertrauen im digitalen Zeitalter zu fördern. Ein Beispiel dafür ist das interaktive Rollenspiel "Trust Me, it's a Forward!" von der Theaterkünstlerin Karen D'Mello.

Dabei schlüpfen die Spieler in die Rolle von Charakteren in einer fiktiven Welt und werden einer Flut von Informationen ausgesetzt. Anschließend müssen sie sich mit dem Einfluss von Instant-Messaging-Plattformen, der sich wandelnden öffentlichen Meinung und den Vorstellungen von Vertrauen und Wahrheit auseinandersetzen.

"Ich wollte das ernste Problem der Falschinformationen auf unterhaltsame Weise ansprechen. Etwas, das direkter ist, weil es sich um ein digitales Medium handelt, und es nichts gibt, woran man sich festhalten kann", erklärte D'Mello ihre Zielsetzung gegenüber der DW.

"Ich habe darüber nachgedacht, was Vertrauen in der digitalen Welt wirklich bedeutet, wo man mit vielen Menschen hinter dem Bildschirm interagiert und wahrscheinlich nicht einmal Gesichter sieht. Ich habe an die Rolle von WhatsApp gedacht, insbesondere an die Idee der Massenweiterleitungen, die in Indien ein so großes und wachsendes Phänomen ist", sagt sie.

D'Mello fügt hinzu, dass sie mit dem Spiel nicht nur Menschen ansprechen wolle, die sich professionell mit Falschinformationen befassen, wie Faktenprüfer oder Mitarbeiter aus Politik und Technologie, sondern sich auf die Probleme von Falschinformationen konzentrieren wollte, mit denen alltägliche Nutzer konfrontiert sind.

Faktenchecker Sinha ist davon überzeugt, dass Falschinformationen ein größeres gesellschaftliches Problem darstellen und dies eine langfristige Lösung erfordert. "Die Welt ist nicht dafür geschaffen, dass sechs Milliarden Menschen miteinander kommunizieren können. Das schafft ein ganz anderes Problem, und um dieses Problem zu lösen, sind sehr ernsthafte Maßnahmen erforderlich", sagt er.

Er fügt hinzu, dass ein Lösungsweg bereits auf der schulischen Ebene beginne. "Unser Bildungssystem muss eine Komponente enthalten, die den kritischen Umgang mit Informationen fördert. Es sollten auch umfassende Sensibilisierungsprogramme in der Gesellschaft stattfinden" betont Sinha.

Der Faktencheker ergänzt: "Das Problem beginnt ganz oben. Keine der politischen Parteien ist daran interessiert, Falschinformationen zu bekämpfen. Es müssen mehrere Interessengruppen zusammenkommen und darüber nachdenken, wie mit diesem Problem umgegangen werden soll".

*Zum Schutz der Identität wurden auf Wunsch nur die Vornamen verwendet.

Aus dem Englischen adaptiert von Shabnam von Hein.

Item URL https://www.dw.com/de/wie-gehen-inder-mit-falschinformationen-auf-whatsapp-um/a-72308296?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/69328680_302.jpeg
Image caption Richtig oder falsch? Ein Nutzer schaut sich nach den Wahlen in Indien im Juni 2024 die ersten Wahlprognosen auf dem Mobiltelefon an
Image source Noah Seelam/AFP
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/je/je20240110_InfluencersSubtitelsNEU_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/69328680_302.jpeg&title=Wie%20gehen%20Inder%20mit%20Falschinformationen%20auf%20WhatsApp%20um%3F

Item 21
Id 72277488
Date 2025-04-22
Title Aufbruch und Skepsis in Argentinien - Mileis Wirtschaftsbilanz
Short title Aufbruch und Skepsis - Mileis Wirtschaftsbilanz
Teaser Argentiniens libertärer Präsident Javier Milei ist seit 500 Tagen im Amt. Sein wirtschaftsliberaler Kurs findet weltweit Beachtung. Aber ist er erfolgreich?
Short teaser Mileis umstritttener wirtschaftsliberaler Kurs lässt Raum für Hoffnung und Skepsis.
Full text

Nur ein paar Gehminuten im Viertel Boedo trennen in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires die beiden Stimmungslagen: Aufbruch und Skepsis, Zustimmung und Ablehnung. "Zutritt verboten" steht auf einem Plakat unter den hochgezogenen Rollläden eines Warenhaues. Gemeint sind Präsident Javier Milei und Sicherheitsministerin Patricia Bullrich.

Beide sind hier nicht willkommen, zeigen die durchgestrichenen Portraits der beiden Politiker. Doch ganz in der Nähe wird wieder kräftig gebaut, gehämmert und gemauert: Es entsteht ein neues Wohngebäude, es wird wieder in die Zukunft investiert. Aufbruchsstimmung.

Seit 500 Tagen ist Javier Milei in Argentinien nun in Amt. Und kaum ein Regierungschef zieht weltweit so viel Aufmerksamkeit auf sich wie der libertäre Präsident in Buenos Aires. Aus dem linken Lager schlägt ihm wegen seines wirtschaftsliberalen Kurses bisweilen blanker Hass entgegen, ein überwiegender Teil der Ökonomen sehen in dem Wirtschaftswissenschaftler den Befreier eines von Bürokratie und Regularien gefesselten Landes.

Aufhebung der Devisenbeschränkung

Der jüngster Coup Mileis ist das Ende der sogenannten cepo. Die cepo (auf deutsch "Die Fessel") war ein seit 2003 von verschiedenen argentinischen Regierungen immer wieder eingesetztes Instrument, um den Zugang zum begehrten US-Dollar im Kampf gegen die Inflation einzugrenzen. Seit Mitte April ist diese cepo aufgehoben und somit sind Devisengeschäfte von privaten Personen und Unternehmen unbeschränkt möglich.

"Im Gegensatz zu den alarmistischen Prognosen vieler lokaler und internationaler Wirtschaftswissenschaftler und Analysten ist der Wechselkurs nicht in die Höhe geschossen", sagt Aldo Abram vom wirtschaftsliberalen Think Tank Fundacion Libertad y Progreso aus Buenos Aires im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Im Gegenteil, der Wechselkurs stabilisierte sich unter dem Niveau vor der Paralleleröffnung. Der Handel normalisierte sich ohne Krise, ohne einen Run und ohne Abwertung." Die Regierung feierte das Ergebnis mit einem Bild, das Milei und seinen Wirtschaftsminister Santiago Caputo jubelnd wie bei einem Torerfolg feiert.

Milei macht Hoffnung und bittet um Geduld

Der Präsident selbst sieht sich in der richtigen Spur: "Nach mehr als 100 Jahren chronischen Haushaltsdefizits gehören wir heute zu den fünf Ländern der Welt, die nur das ausgeben, was sie einnehmen, und nicht einen Peso mehr", sagte Milei in seiner TV-Ansprache vor wenigen Tagen, die die Zeitung Clarin dokumentierte.

Milei kündigte dabei das Ende der Devisenbeschränkungen an und versprach seinen Landsleuten eine vielversprechende Zukunft: "Argentinien wird in den nächsten 30 Jahren das Land mit dem höchsten Wirtschaftswachstum sein." Dies werde nicht über Nacht geschehen, so Milei weiter. Aber es werde schrittweise geschehen und mit der Gewissheit, "dass wir sowohl an der internen als auch an der externen Front unsere Hausaufgaben gemacht haben, um jede Volatilität so weit wie möglich abzumildern."

Auf der Habenseite steht eine nach Angaben der Statistikbehörde INDEC erreichten Reduzierung der Armut auf 38,1 Prozent, die damit leicht unter dem Wert liegt, die Milei bei seinem Amtsantritt von der Vorgängerregierung erbte. Auch die Inflation sank laut INDEC unter Milei im Jahr 2024 um 44,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Die Spuren der Kettensägen

Deutlich skeptischer sieht Svenja Blanke von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Buenos Aires die wirtschaftliche Entwicklung. Sie kritisiert im Gespräch mit der Deutschen Welle, dass die Regierung "den Wechselkurs als eine Art 'Stütze' verwendet, um die Inflation zu bremsen."

Dadurch sei der Peso im Vergleich zu anderen Währungen stärker geworden, mit dem Ergebnis, dass ein "Big Mac" in Argentinien mit 5,48 Euro ungefähr so viel koste wie in Deutschland - der Mindestlohn pro Stunde aber mit 1,06 Euro weit unter dem deutschen von 12,82 Euro liege. "Es gibt also eine Art von sozialem Kettensägen-Massaker, das betrifft die Einkommen, die Bildungspolitik, die Forschung, die Kultur, die öffentliche Infrastruktur, die Erinnerungspolitik."

EU-Mercosur-Abkommen als Chance

Zuversichtlicher ist Hans-Dieter Holtzmann von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Buenos Aires: "Mit dem Wegfall der Kapitalverkehrskontrollen und der Flexibilisierung des Wechselkurses sind wichtige Hemmnisse für eine wirtschaftliche Erholung Argentiniens aus dem Weg geräumt", sagt er zur DW.

"Trotz steuerlicher Anreize hielten sich internationale Investoren bisher mit konkreten Engagements in Argentinien zurück, obwohl das Land attraktive Ressourcen im Energiebereich (Gas, Wasserstoff) und bei Rohstoffen (Lithium, Kupfer) aufweist." Umso wichtiger sei es nun das EU-Mercosur Abkommen schnellstmöglich zu ratifizieren, damit Argentinien und Deutschland die Chancen für Handel und Investitionen vollumfänglich nutzen könnten.

Die beiden Gesichter Argentiniens

Im Zentrum der Hauptstadt sind die beiden Gesichter des Landes zu sehen: Volle Restaurants und Cafes, die so gar nicht zum Krisengerede der Opposition passen. An einem Generalstreik vor wenigen Tagen nahmen nur wenige Menschen teil, die Gewerkschaften scheinen mit drei Generalstreiks seit Beginn von Mileis Amtszeit den Bogen überspannt zu haben. Der überwiegende Teil der Argentinier will vorankommen, arbeiten und die Krise hinter sich lassen.

Und dann gibt es die Bilder der wöchentlich demonstrierenden Rentner, die wiederum die Versprechen Mileis widerlegen, dass nur die "Kaste", also die bis Dezember 2023 regierenden Eliten und Mächtigen aus dem Lager des Peronismus für die Reformen zur Kasse gebeten werden. Sie spüren durch reale Kaufkraftverluste die Effekte der Sparpolitik in der eigenen Geldbörse.

Item URL https://www.dw.com/de/aufbruch-und-skepsis-in-argentinien-mileis-wirtschaftsbilanz/a-72277488?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71904872_302.jpg
Image caption Die Wirtschaftspolitik von Javier Milei hat vieles teuer gemacht. Immer wieder gibt es Proteste in Argentinien. So gehen die Rentnerinnen und Rentner regelmäßig auf die Straße und werden dabei unter anderem von Fußballfans unterstützt.
Image source Agustin Marcarian/REUTERS
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/71904872_302.jpg&title=Aufbruch%20und%20Skepsis%20in%20Argentinien%20-%20Mileis%20Wirtschaftsbilanz

Item 22
Id 72308199
Date 2025-04-22
Title Deutsches Bier ist nicht mehr so beliebt
Short title Deutsches Bier ist nicht mehr so beliebt
Teaser Bier aus Deutschland gilt als weltweiter Exportschlager. Doch die Zeiten scheinen sich zu ändern. Und auch im Inland ist das nur aus vier Zutaten gebraute Getränk nicht mehr so gefragt.
Short teaser Bier aus Deutschland gilt als weltweiter Exportschlager. Doch die Zeiten scheinen sich zu ändern.
Full text

1,45 Milliarden Liter Bier aus Deutschland sind 2024 ins Ausland verkauft worden. Das waren sechs Prozent weniger als noch 2014, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitteilte. Gut die Hälfte (55,7 Prozent) der im vorigen Jahr exportierten deutschen Biersorten ging an Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

Geringere Nachfrage im Inland

"Trotz der gesunkenen Auslandsnachfrage zeigte sich der Bierexport stabiler als der Absatz im Inland", erklärten die Statistiker weiter. Mit insgesamt 6,8 Milliarden Litern wurden in Deutschland im vergangenen Jahr 15,1 Prozent weniger Bier verkauft als 2014.

Mit dem sinkenden Bierabsatz ging zuletzt auch die Zahl der Brauereien in Deutschland zurück. Zwar gab es im vergangenen Jahr mit bundesweit 1459 Brauereien rund 7,4 Prozent mehr als 2014, so das Statistische Bundesamt. Seit dem Höchststand im Vor-Corona-Jahr 2019 mit 1552 Brauereien nimmt deren Zahl jedoch nahezu kontinuierlich ab. Allein verglichen mit 2023 verringerte sich die Zahl der Brauereien 2024 um 3,4 Prozent, so die Statistiker.

"Tag des Bieres" erinnert an Reinheitsgebot

Anlass für die Veröffentlichung der neuesten Daten des Bundesamtes ist der "Tag des Bieres" in Deutschland am Mittwoch. Damit wird dem Deutschen Brauer-Bund zufolge an das Reinheitsgebot erinnert, das am 23. April 1516 erstmals in Bayern erlassen worden war. Dieses schreibt vor, dass zur Bierherstellung nur Wasser, Malz, Hopfen und Hefe verwendet werden dürfen. "Es steht für die Bewahrung einer althergebrachten Handwerkstechnik und gilt zugleich als älteste, heute noch gültige lebensmittelrechtliche Vorschrift der Welt", betont der Brauer-Bund.

se/AR (rtr, afp, kna, destatis.de)

Item URL https://www.dw.com/de/deutsches-bier-ist-nicht-mehr-so-beliebt/a-72308199?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70318391_302.jpg
Image caption Ein Ausflug ohne Bier - nicht in Bayern: ein Kettenkarussell auf dem Oktoberfest in München
Image source Peter Kneffel/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/md/md230725_KiBier_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/70318391_302.jpg&title=Deutsches%20Bier%20ist%20nicht%20mehr%20so%20beliebt

Item 23
Id 72306012
Date 2025-04-22
Title Papst Franziskus ist tot - was passiert bis zu dem Konklave?
Short title Papst Franziskus ist tot - was passiert bis zu dem Konklave?
Teaser Mit dem Tod von Papst Franziskus ist der Heilige Stuhl leer. Jetzt folgt die Phase der sogenannten Sedisvakanz. Wenige Dinge sind in der katholischen Kirche so sorgfältig geregelt wie die Zeit zwischen zwei Päpsten.
Short teaser Wenige Dinge sind in der katholischen Kirche so sorgfältig geregelt wie die Zeit zwischen zwei Päpsten: die Sedisvakanz.
Full text

Niemand regiert – und alles ist geregelt. Es ist die Zeit des leeren Stuhls (lateinisch: Sedisvakanz), niemand sitzt auf dem Papstthron. Doch der weitere Ablauf in den nächsten Tagen steht schon genau fest. So lässt sich die Zeit des Übergangs in der katholischen Kirche zusammenfassen, die mit dem Tod eines Papstes beginnt und mit der Wahl eines neuen Kirchenoberhaupts endet.

Letztlich folgen in dieser Zeit drei Abschnitte nacheinander: Die Tage bis zur Beisetzung des verstorbenen Papstes, dann eine weitere Phase der Trauer und der Vorbereitungen der Kardinäle für das Konklave, schließlich das Konklave selbst.

Trauer und Abschied vom verstorbenen Papst

Am Tag der Beisetzung des Papstes beginnt das sogenannte Novendiale, neun Tage mit täglichen feierlichen Totenmessen im Petersdom.

Es ist kirchlich eine eigene Zeit. Zu all dem gehören viele kleine Zeichen von hoher Symbolik. Seit Montag prangt auf Urkunden des Vatikan nicht mehr das Emblem des Heiligen Stuhls, sondern ein eigenes Sedisvakanz-Wappen. Es zeigt die gekreuzten Petrusschlüssel unter einem geöffneten Schirm. Dieses Symbol erscheint bis zur Wahl eines neuen Papstes auch im Kopf der Vatikanzeitung Osservatore Romano.

Nach sechs Tagen sollte die Beisetzung des verstorbenen Papstes erfolgt sein, Franziskus wird am Samstag beerdigt. Dieser Zeitrahmen galt auch bei Johannes Paul II. im Jahr 2005, auch nach dem Tod von Paul VI. und Johannes Paul I. im August beziehungsweise Ende September 1978. Bei den Vorgängern war man sogar schneller. Johannes XXIII. wurde 1963 binnen drei Tagen bestattet, Pius XII. 1958 binnen vier Tagen.

In der Zeit bis zur Beisetzung gibt es auch Gelegenheit für die Gläubigen, sich im Petersdom vom verstorbenen Papst zu verabschieden. Franziskus ist allerdings der erste Papst nach knapp 150 Jahren, der nicht in diesem Gotteshaus seine letzte Ruhestätte hat.

Er wird der unweit des römischen Hauptbahnhofs gelegenen Kirche Santa Maria Maggiore, der wichtigsten Marienkirche der Stadt und seiner Herzenskirche, in einem schlichten Grab beigesetzt. Das legte er in seinem am Montag veröffentlichten Testament fest. Davon berichtete Franziskus auch schon in seiner im Januar 2025 veröffentlichten Autobiographie "Hoffe" und in einigen Interviews der vergangenen beiden Jahre.

Meinungsbild der Kardinäle. Und Lagerbildung vor Konklave

Schon vor der Beisetzung beginnen die Zusammenkünfte der Kardinäle, die auf das Konklave hinführen. An dieser Reihe der sogenannten Generalkongregationen vor und nach dem Tag der Beisetzung dürfen nicht nur die Kardinäle unter 80 Jahren, die zur Papstwahl berechtigt sind (derzeit 135), teilnehmen, sondern alle Kardinäle der Weltkirche (derzeit 252). Dafür hat sich in jüngerer Zeit der Begriff "Vor-Konklave" etabliert. Dieser Austausch ist wichtig, weil sich die 135 Kardinäle aus 71 Ländern längst nicht alle kennen, auch nicht in ihren kirchenpolitischen Standpunkten.

Diese Generalkongregationen tagen in der vatikanischen Synodenaula. An den Sitzungen müssen die zur Papst-Wahl berechtigten Kardinäle teilnehmen, sobald sie in Rom eingetroffen sind. Im Nachgang der Wahl von Franziskus am 13. März 2013 wurde die Bedeutung dieser Beratungen deutlich – weil es eine sehr offene Aussprache war. Und weil der damalige Erzbischof von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, in einer offensichtlich spektakulären Ansprache den Zustand von Kirche und Glauben ansprach – und sich damit bewusst oder unbewusst zum Kandidaten machte.

Die Kardinäle beraten jedoch längst nicht nur in dieser einen großen Versammlung oder in informellen Gesprächen am Rande dieser Sitzungen. Das machte Papst Franziskus in seiner Autobiographie deutlich. Damals habe ihn in den Tagen vor dem Beginn des Konklave ein Erzbischof in seinem Quartier in der römischen Innenstadt aufgesucht und mit ihm über Namen, die gehandelt wurden, gesprochen. Ein Gespräch, das ihm "unbehaglich war", so Franziskus.

Klar ist jedenfalls: Wenn man mit Blick auf das Kardinalskollegium von Seilschaften oder Strippenziehern spricht, sind diese nicht auf der großen Bühne zu verorten. Sie können sich an Sprachgruppen oder kontinentaler Verbundenheit festmachen, eher aber an der jeweiligen eher offenen oder reaktionären kirchenpolitischen Ausrichtung.

Konklave: Abschottung der Kardinäle und Wahl mit weißem Rauch

Mindestens 15 und spätestens 20 Tage nach dem Tod des Papstes müssen die wahlberechtigten Kardinäle ins Konklave einziehen. Sie logieren in der Casa Santa Marta, dem vatikanischen Gästehaus, in dem auch Franziskus als Papst wohnte - ohne Handys, ohne Computer, ohne Zeitungen. Am Vormittag gibt es dann noch eine Messfeier "zur Erwählung des Bischofs von Rom" im Petersdom. Am Nachmittag ziehen die Geistlichen dann in die Sixtinische Kapelle, in der sie auch wählen.

Johannes Paul II. hat in einer sogenannten Apostolischen Konstitution 1996 den gesamten Ablauf von Konklave und Papst-Wahl genau beschrieben. "Kein anderes Dokument in der Papst-Geschichte ist im Hinblick auf die Sedisvakanz derart akribisch und ausführlich", sagt der Kirchenhistoriker und Papst-Experte Jörg Ernesti der DW. Und dann wird gewählt.

Noch am Todestag von Franziskus formulierten einige Kommentatoren die Erwartung, es gebe ein "langes Konklave". Was das heißt? Im 20. Jahrhundert dauerten die Konklave zwischen zwei und fünf Tagen. Die beiden Konklave von 2005 und 2013 dauerten nur 26 und 27 Stunden. Sie gelten als zwei der kürzesten Konklave der Geschichte. Schon wegen der größeren Zahl der Teilnehmenden könnte es nun etwas länger dauern.

Ernesti verweist mit Blick auf ein ausgesprochen langes Konklave auf die Runde der Kardinäle, die 1800 Papst Pius VII. wählten. Sie kamen am 1. Dezember 1799 zusammen und gingen erst am 14. März 1800 auseinander. Nach 1831 gab es kein Konklave mehr, das länger als sechs oder sieben Tage dauerte.

Nach jedem erfolglosen Wahlgang werden die Wahlzettel in einem speziellen Ofen mit nassem Stroh und Öl oder Pech verbrannt. Der schwarze Rauch, der durch den Schornstein der Sixtinischen Kapelle aufsteigt, bedeutet, dass es noch keinen neuen Papst gibt. Ist ein neuer Papst gefunden, wird den Wahlzetteln Flachs beigemischt, durch den sich der Rauch weiß färbt.

Ein Problem haben die heutigen Kardinäle jedenfalls nicht mehr: rechtzeitig zum Konklave anreisen zu können. Die Welt ist so zusammengerückt, dass auch die Purpurträger vom anderen Ende der Welt binnen Tagen in Rom sein werden. Das war lange anders. 1875 ernannte der 83-jährige Papst Pius IX. den damaligen Erzbischof von New York, John McCloskey (1810-1885), zum Kardinal. Es war – eine Sensation – der erste Kardinal aus der sogenannten Neuen Welt, der erste Nicht-Europäer. Nach dem Tod von Pius IX. machte sich McCloskey auf den langen Weg der Schiffspassage nach Rom. Als er dort nach zwei Wochen eintraf, war der neue Papst Leo XIII. bereits gewählt.

Item URL https://www.dw.com/de/papst-franziskus-ist-tot-was-passiert-bis-zu-dem-konklave/a-72306012?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72306512_302.jpg
Image caption Die Hände, der Rosenkranz - der verstorbene Papst Franziskus ist in der Kapelle von Casa Santa Marta aufgebahrt
Image source Simone Risoluti/Vatican Media/Handout via REUTERS
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72306512_302.jpg&title=Papst%20Franziskus%20ist%20tot%20-%20was%20passiert%20bis%20zu%20dem%20Konklave%3F

Item 24
Id 72262523
Date 2025-04-21
Title Syrische Ärzte aus Deutschland: Helfen in der alten Heimat
Short title Syrische Ärzte aus Deutschland helfen in ihrer alten Heimat
Teaser In Deutschland arbeiten tausende Ärzte aus Syrien. Einige sind für einige Zeit in die alte Heimat zurückgekehrt, um dort zu helfen.
Short teaser In Deutschland arbeiten tausende syrische Ärzte. Einige von ihnen helfen zeitweilig in der alten Heimat aus.
Full text

Mohammed Qanbat hatte Glück: Anfang April wurde der 55 Jahre alte Syrer aus der Stadt Hama am offenen Herzen operiert. Nach 14 Jahren Krieg sind Eingriffe dieser Art in Syrien selten. Das nationale Gesundheitssystem hat massiv unter der jahrelangen Gewalt gelitten, zudem sind derartige Operationen vergleichsweise teuer.

Zur Hilfe kam Qanbat der Umstand, dass viele syrische Ärzte in Deutschland arbeiten. Einige von ihnen reisten im April in ihre alte Heimat, um dort für einige Zeit medizinische Hilfe zu leisten. Sie setzten Qanbat auf die Liste derjenigen Patienten, die ärztlichen Beistand am dringendsten benötigen.

"Ich kann kaum ausdrücken, wie glücklich und dankbar ich bin", sagt Qanbat der DW. "Wir haben sehr lange darauf gewartet, dass unsere Landsleute wieder zurückkommen und uns helfen", sagt er mit Blick auf die ins Ausland geflohenen Syrer, unter denen auch viele Ärzte und Ärztinnen sind. "Sie haben uns nicht vergessen. Sie sind zurückgekehrt, um uns zu helfen."

Nach wie vor ist unklar, wie viele syrische Ärzte das Land während des Krieges verließen. Angaben der Weltbank zufolge waren im Jahr 2010, also kurz vor dem folgenreichen Aufstand des Jahres 2011, rund 30.000 Ärzte in Syrien tätig. Im Jahr 2020 - dem einzigen Jahr, für das die Vereinten Nationen Daten erhoben hatten - waren es weniger als 16.000. Auch anderes medizinisches Personal, etwa Krankenschwestern, Apotheker und Zahnärzte, hatte das Land verlassen.

Viele von ihnen fanden Exil in Deutschland. Laut Statistiken arbeiten derzeit knapp über 6.000 syrische Ärzte in Deutschland, überwiegend in Krankenhäusern. Hinzu kommen viele Ärzte, die bereits einen deutschen Pass haben. Beide Gruppen zusammen könnten auf über 10.000 Ärzte syrischer Herkunft kommen.

Erster Einsatz in Syrien

Nach dem Sturz von Diktator Baschar al-Assad Anfang Dezember letzten Jahres schlossen sich einige dieser Ärzte zusammen und gründeten die "Syrian German Medical Association", kurz SGMA.

Alles habe begonnen mit einer kleinen WhatsApp-Gruppe von Ärzten, die sich fragten, wie sie helfen könnten, erzählt Nour Hazzouri, ein auf Gastroenterologie spezialisierter Oberarzt am Helios-Klinikum in Krefeld.

Aus der WhatsApp-Gruppe wurde eine Facebook-Seite, so Hazzouri im Gespräch mit der DW. Mitte Januar wurde die SGMA dann offiziell gegründet. Inzwischen hat sie rund 500 Mitglieder. "Selbst wir waren überrascht, wie schnell die Gruppe gewachsen ist", so Hazzouri.

Im April traten die SGMA-Mitglieder ihre erste Syrien-Reise an. Seitdem kamen rund 85 syrische Ärzte der SGMA nach Syrien, um Vorträge zu halten, den Zustand des syrischen Gesundheitssystems zu inspizieren und um medizinische Operationen im ganzen Land durchzuführen.

Eine Herausforderung sei, dass die Ausrüstung in syrischen Krankenhäusern vielfach veraltet sei, sagte Ayman Sodah, Oberarzt und Kardiologe am Rhön-Klinikum im bayerischen Bad Neustadt, dem Nachrichtensender Al-Dschasira. "Es liegt auf der Hand, dass in den letzten 15 Jahren kaum etwas erneuert wurde."

"Vor dem Krieg war Syrien ein Land mit mittlerem Einkommen und relativ guten Gesundheitsindikatoren", heißt es in einem Report der in Washington ansässigen Denkfabrik "Brookings Institution". Doch während des Krieges griffen das Assad-Regime und seine russische Verbündeten in Teilen des Landes regelmäßig Gesundheitseinrichtungen an. Aufgrund von Sanktionen und einer kränkelnden Wirtschaft verschlechterte sich das Gesundheitssystem zusätzlich.

Davon war am Sonntag, 13. April, in Syriens Hauptstadt Damaskus freilich keine Rede. Rund 300 Menschen hatten sich versammelt, um den Vortrag einer SGMA-Delegation zu hören. "Ich bin etwas aufgeregt", sagte Mustafa Fahham, leitender Arzt für Nierenheilkunde und Dialyse am Krankenhaus Bremerhaven, der DW. "Jeder Syrer hatte latente Angst vor dem Assad-Regime. Diese Angst ist jetzt weg. Ich fühle mich gut und bin froh, hier in Damaskus zu sein, wo ich endlich helfen kann."

Hilfreiche Partnerschaften

Die syrischen Freiwilligen hätten die Reise größtenteils selbst finanziert, berichtet Mediziner Hazzouri. Auch hätten sie Geld für medizinische Ausrüstung gesammelt. "Viele brachten Spenden aus ihren Kliniken mit. Gleichzeitig starteten wir eine Online-Fundraising-Kampagne, mit der wir innerhalb eines Monats fast 100.000 Euro sammeln konnten, hauptsächlich von syrischen Ärzten in Deutschland", so der Arzt, der sich zudem auch vor Ort über Hilfen freut: "Lokale syrische Nichtregierungsorganisationen unterstützen uns zusätzlich durch Materialspenden."

Bislang gibt es noch keine offizielle Unterstützung durch die deutsche Regierung. Mitglieder der SGMA nahmen Mitte Februar jedoch an einer Konferenz des deutschen Entwicklungsministeriums über deutsch-syrische Krankenhausallianzen teil. Dies, sagt Hazzouri, sei "ein wichtiger Schritt in Richtung einer möglichen Partnerschaft".

Das syrische Gesundheitsministerium seinerseits erteilte den SGMA-Ärzten Arbeitserlaubnisse. Der neue Gesundheitsminister im syrischen Kabinett, der Neurochirurg Musab al-Ali, war zuvor ebenfalls in Deutschland tätig und engagierte sich für die "Syrische Gemeinschaft in Deutschland" (SGD). Außerdem war er auch schon früher als Freiwilliger in seiner Heimat unterwegs.

Inzwischen gibt es eine weitere medizinische Initiative: die in diesem Monat in Syrien angelaufene Hilfskampagne "Shifa, Hand in Hand für Syrien". Sie steht in direkter Verbindung mit der SGD und dem syrischen Gesundheitsministerium. An ihr beteiligen sich rund 100 syrische Ärzte.

In Syrien oder Deutschland leben?

Die meisten der medizinischen Freiwilligen der SGMA werden an ihren Arbeitsplatz in Deutschland zurückkehren. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage der Syrischen Gesellschaft für Ärzte und Apotheker in Deutschland ergab jedoch, dass 76 Prozent der Mitglieder eine dauerhafte Rückkehr in ihre alte Heimat in Betracht ziehen.

In Interviews mit deutschen Medien, etwa der Wochenzeitung DIE ZEIT, äußern sich syrische Ärzte besorgt über zunehmende rechtsextreme und einwanderungsfeindliche Haltungen in der Bundesrepublik und darüber, wie schwierig es für einige sei, in Deutschland voll akzeptiert zu werden.

Ihre Ausreise würde sich nachteilig auf die Gesundheitsversorgung in Deutschland auswirken - darauf hatte unter anderem die Deutsche Krankenhausgesellschaft (GKS) frühzeitig in einer Erklärung Ende 2024 hingewiesen. Auch wenn syrische Ärzte nur zwei Prozent aller Ärzte in Deutschland ausmachen, so stellen sie doch unter ausländischen Medizinern die größte Gruppe und spielen nicht zuletzt in unterbesetzten Krankenhäusern und Kliniken Ostdeutschlands eine wichtige Rolle.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Item URL https://www.dw.com/de/syrische-ärzte-aus-deutschland-helfen-in-der-alten-heimat/a-72262523?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72253607_302.jpeg
Image caption Für einige Zeit zurück in der alten Heimat, um zu helfen: der syrische Kardiologe Ayman Sodah (ganz rechts) im Kreise von Kolleginnen und Kollegen
Image source Courtesy of Ayman Sodah, SGMA
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/jd/jd20250414_DYTMINES_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/72253607_302.jpeg&title=Syrische%20%C3%84rzte%20aus%20Deutschland%3A%20Helfen%20in%20der%20alten%20Heimat

Item 25
Id 72301272
Date 2025-04-21
Title Was folgt aus der Oster-Waffenruhe im Ukrainekrieg?
Short title Was folgt aus der Oster-Waffenruhe im Ukrainekrieg?
Teaser Die vom russischen Präsidenten Wladimir Putin kurzfristig und unerwartet angekündigte Waffenruhe dauerte kaum 30 Stunden. Worum ging es dabei wirklich?
Short teaser Russlands kurzfristig und unerwartet angekündigte Waffenruhe dauerte kaum 30 Stunden. Worum ging es dabei wirklich?
Full text

Wie begann die Waffenruhe?

Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte, die Entscheidung sei aus "humanitären Gründen" getroffen worden. Angekündigt hatte er die Waffenruhe nur mit zwei Stunden Vorlauf. Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, beschuldigte Putin zunächst, mit dem Leben der Menschen zu spielen, stimmte aber schließlich dem Waffenstillstand zu.

Wie sind die Reaktionen?

Die meisten Einwohner der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw, mit denen die DW sprach, haben Putins sogenannter "humanitärer" Geste von Anfang an skeptisch gegenübergestanden. "Ich glaube es keine Sekunde lang. Putin hält nie sein Wort. Das ist alles eine Farce", sagt eine Frau aus Kyjiw der DW.

Wolodymyr Fesenko, Vorsitzender des Penta-Zentrums für angewandte politische Studien in Kyjiw, sagte der DW, Russland habe während der Waffenruhe bewusst Kämpfe provoziert und die Pause als Deckmantel für Angriffsoperationen in bestimmten Gebieten genutzt.

Der ukrainische Präsident schrieb am Montag auf seinem Telegram-Kanal, dass Russland während des Waffenstillstands 2935 Mal gegen die eigene Waffenruhe verstoßen habe. Selenskyj fügte hinzu, dass der Kreml nicht auf seinen Vorschlag für einen 30-tägigen Waffenstillstand reagiert habe, versprach aber, dass die ukrainische Armee "symmetrisch" vorgehen werde.

"Wir werden auf das Schweigen mit Schweigen antworten. Um sich gegen russische Angriffe zu verteidigen, wird es Gegenschläge geben", hieß es in der Erklärung. Aus dem Kreml hieß es, Putin habe keinen Befehl gegeben, den von ihm angekündigten "Osterwaffenstillstand" zu verlängern.

Die Aufforderung des US-Außenministeriums, die Waffenruhe zu verlängern, wies die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, zurück. Mit der Begründung, Kyjiw habe den Waffenstillstand nicht eingehalten.

Warum war die Waffenruhe so kurz?

Viele Beobachter haben darauf hingewiesen, dass Putin den Waffenstillstand sehr kurzfristig angekündigt hat. Zwischen seiner Erklärung und dem Beginn der Waffenruhe sollten nur zwei Stunden vergehen. Für die Ukraine wäre es schwierig gewesen, sich in so kurzer Zeit technisch auf den Waffenstillstand vorzubereiten.

Der Experte Fesenko glaubt, dass Putins mit der einseitigen Waffenstillstandsankündigung der Ukraine eine Falle stellen wollte. Die Ukraine musste innerhalb von zwei Stunden eine politische Entscheidung treffen, diese koordinieren und dann Befehle an das Militär erteilen. "Natürlich hätte die Ukraine den Waffenstillstand nicht um 18 Uhr beginnen können, selbst wenn es einen solchen Wunsch gegeben hätte. Es wäre einfach unmöglich gewesen", sagte Fesenko.

Warum hat Putin beschlossen, Trump zu gefallen?

Die Waffenruhe zu Ostern war ursprünglich eine Idee von US-Präsident Donald Trump. Letzte Woche drohte Trump damit, die Bemühungen um Frieden in der Ukraine aufzugeben und sich aus dem Verhandlungsprozess zurückzuziehen, wenn er nicht die Bereitschaft Russlands und der Ukraine zu einer Einigung sehe.

Politische Analysten, mit denen die DW gesprochen hat, sind überzeugt, dass Putin die Verhandlungen mit den USA fortsetzen will, und er deshalb den Waffenstillstand verkündet hat.

Nikolay Petrov, Gastwissenschaftler bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, glaubt, dass Wladimir Putin beschlossen hat, Trump im Boot zu halten. "Dieser Waffenstillstand - wenn auch nur für 30 Stunden - kam genau zu Ostern, so wie es die Amerikaner zuvor gefordert hatten. Das sieht sehr gut aus [für den Kreml]. Vor allem, weil die Initiative aus Russland kommt, und vor allem, weil sie sie nicht wirklich zu irgendetwas verpflichtet", sagte Petrov.

Zudem konnte Putin auch einige seiner eigenen Ziele erreichen. Wolodymyr Fesenko verweist unter anderem auf die Schwächung der westlichen Einheit, die Verringerung der Abhängigkeit Russlands von China und die Rückkehr in den exklusiven Club der einflussreichen Staats- und Regierungschefs.

Was kommt als nächstes?

Zwei Stunden vor dem Ende der Waffenruhe zu Ostern schrieb US-Präsident Donald Trump auf seiner Social-Media-Plattform Truth Social, dass Russland und die Ukraine "hoffentlich diese Woche einen Deal machen werden". Er versprach, dass beide Länder dadurch die Möglichkeit hätten, mit den USA ein "großes Geschäft" zu machen.

Politische Analysten sind sich einig, dass Trump versucht, die USA aus diesem Konflikt herauszuziehen, aber sie haben unterschiedliche Ansichten darüber, ob er sich aktiv um den Frieden zwischen der Ukraine und Russland bemühen wird. "Es ist nicht Trumps Standpunkt, um jeden Preis Frieden in der Ukraine zu erreichen, sondern die USA aus diesem Krieg herauszuziehen", sagt Nikolay Petrov von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Seiner Ansicht nach konzentriert sich die US-Regierung darauf, ihre Beteiligung an dem Krieg zu beenden, und es ist ihr egal, ob dies vor dem Hintergrund eines langen Waffenstillstands oder eines dauerhaften Friedens geschieht.

Wolodymyr Fesenko hingegen ist überzeugt, dass Donald Trump bei der Stange bleiben könnte, weil Putin zumindest teilweise auf seine Forderungen eingegangen ist und einen Waffenstillstand angekündigt hat. Jetzt, so Fesenko, werde Trump nun noch aktiver auf einen vollständigen Waffenstillstand drängen.

Aus dem Englischen adaptiert von Sabine Faber

Item URL https://www.dw.com/de/was-folgt-aus-der-oster-waffenruhe-im-ukrainekrieg/a-72301272?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72292425_302.jpg
Image caption Eine brüchige Oster-Waffenruhe
Image source UKRAINIAN ARMED FORCES via REUTERS
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72292425_302.jpg&title=Was%20folgt%20aus%20der%20Oster-Waffenruhe%20im%20Ukrainekrieg%3F

Item 26
Id 71982835
Date 2025-04-21
Title KI: Die Superkraft, die Jobs für Frauen schafft
Short title KI: Die Superkraft, die Jobs für Frauen schafft
Teaser Frauen "am Bau" schwärmen davon, am Ende des Tages etwas geschafft zu haben. Es sind zwar nur wenige Frauen in dieser Branche, doch neue Technologien erleichtern die Arbeit und eröffnen neue Möglichkeiten.
Short teaser Neue Technologien erleichtern die Arbeit und eröffnen auch Frauen neue Möglichkeiten.
Full text

Larissa Zeichhardt beschäftigt in ihrer Baufirma einen Roboterhund. Der Vierbeiner ist mit mehreren unterschiedlichen Kameras und Sensoren bestückt und dokumentiert die Arbeiten des Familienunternehmens LAT aus Berlin, eines Spezialisten für das Verlegen von Starkstromkabeln an Gleisanlagen.

Nach einer vollen Schicht auf der Baustelle setze man sich nicht gerne noch an den Schreibtisch um aufzuschreiben, was gemacht wurde, weiß Zeichhardt. Doch ohne diese Dokumentation wüsste die nächste Schicht nicht, wo genau die Kabel liegen.

Der Roboter nimmt den Monteuren nun diese Aufgabe ab. Er läuft im Gleisbett, zeichnet die Stellen auf und überträgt die Daten direkt in ein virtuelles 3D-Modell des Bauwerks (BIM), damit alle Kollegen darauf zugreifen können. Die automatische Datenerfassung verhindert auch eine Beschädigung der Leitungen und damit verbundene Stromausfälle und teure Reparaturen: Wenn man ihre genaue Lage nicht kennt, können sie bei weiteren Arbeiten zerstört werden.

Die "Schwesternwirtschaft"

Zeichhardt und ihre Schwester Arabelle Laternser übernahmen vor zehn Jahren nach dem plötzlichen Tod des Vaters den mittelständischen Familienbetrieb und führten LAT gemeinsam ins digitale Zeitalter. Dies geschah teils aus Spaß an der Technik, teils aus purer Not.

Die Elektroingenieurin Zeichhardt war schwanger, als der Vater starb, und ihre Schwester brachte ihr ständig neue Unterlagen zur Unterschrift nach Hause. Irgendwann wollten die Geschäftsführerinnen keine Aktenordner mehr schleppen. Sie digitalisierten die ganze Verwaltung, um von überall arbeiten zu können.

Auch die Mitarbeitenden draußen am Gleis nutzen digitale Tools. Die komplette Dokumentation, das Werkzeug-Management und die Dokumente zur Arbeitssicherheit sind in einer Baustellen-App zusammengefasst. "Unsere Arbeitszeiten sind hart", sagt Zeichhardt im Gespräch mit OECD Berlin. Es müsse oft nachts, an Wochenenden oder Feiertagen gearbeitet werden. Deshalb versucht sie, die Leute vom Bürokram zu entlasten.

Wenig weibliche Beschäftigte

Die Baubranche hat einen eher negativen Ruf: dreckig, laut, männerdominiert und technologisch konservativ. Das Müllaufkommen und der CO2-Ausstoss: zum Haareraufen. Ewige Baustellen wie der Berliner Flughafen, der Stuttgarter Hauptbahnhof, die Bonner Beethovenhalle: Milliardengräber und Inbegriff von Chaos.

Eine noch größeres Problem der Branche ist allerdings der Fachkräftemangel. Ein Viertel der Facharbeiter geht laut Hauptverband der deutschen Bauindustrie (HDB) in den kommenden zehn Jahren in Rente. Jüngere, erst recht Frauen, kommen jedoch nicht nach.

Die Baubranche hat laut HDB die wenigsten weiblichen Beschäftigten in Deutschland: 14 Prozent. Mehrere Jahre hervorragender Baukonjunktur mit guten Verdienstmöglichkeiten haben in dieser Hinsicht nicht viel bewirkt. In den Berufen, die Mauern hochziehen, Straßen asphaltieren und Kanäle graben, arbeiten sogar nur zwei Prozent Frauen. Der Anteil ist seit den 2000-er Jahren kaum gewachsen. Bei der Planung und Überwachung der Projekte sind es immerhin 28 Prozent.

Schwierige Work-Life-Balance

Von Baustelle zu Baustelle zu ziehen, lässt sich nur schwer mit einem Familienleben vereinbaren. Beschäftigte fordern flexiblere Arbeitszeiten, Unterstützung bei der Kinderbetreuung und mobiles Arbeiten. Ein Netzwerk (WIR.KÖNNEN.BAU) will mehr Frauen für diese Berufe begeistern.

LAT jedoch bekomme viele tolle Bewerbungen von Frauen und jungen Leuten, "obwohl wir als kleine Firma mit rund 130 Mitarbeitern nicht viel in Recruiting investieren können", so Zeichhardt. Sie führt das auf das moderne Image des Unternehmens zurück, auf Auszeichnungen für Familienfreundlichkeit und die Zusammenarbeit mit Startups.

Gutes Arbeitsklima

Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) eröffnen gerade Frauen neue Aufgabenfelder auf dem Bau, betont Bianca Weber-Lewerenz. Sie hat ein Buch zum Thema geschrieben (Diversität im Bauwesen - Die Gamechanger) und dabei Beispiele für weibliche Karrieren, Digitalisierung und New Work gesammelt. Weber-Lewerenz war 1997 die erste Maurerin Baden-Württembergs. Das Berufsverbot fürs weibliche Geschlecht im westdeutschen Bauhauptgewerbe war damals erst kurz zuvor, im Jahr 1994, gefallen.

Den Maurerberuf von der Pike auf gelernt zu haben, hilft der promovierten Bauingenieurin, wenn sie nun ganze Belegschaften davon überzeugen will, dass Bau, Frau und KI hervorragend zusammenpassen: "Uns hat der Maurerkran damals auch von schweren körperlichen Arbeiten entlastet. Genauso funktioniert die KI."

Das sehe man auch am Beispiel der Bild- und Objekterkennung: "Wenn ich Rohre verlegt habe, mache ich ein Bild und schicke es an die Abrechnungsabteilung. Sie kann sofort die Rechnung stellen, weil die KI via Bilderkennung den fertigen Abschnitt definiert." Solche Aufgaben sowie Aufmaße, Planung und Design ließen sich gut im Home Office erledigen. "Klar, eine Architektin oder Bauingenieurin muss auch vor Ort sein. Die Frage ist nur, wie oft und wie lange".

Allein unter Männern zu sein, hat sie übrigens nie gestört. Mit ihrem damaligen Vorgesetzten ist sie heute noch befreundet. "Für die Männer war es irre, die erste 'Maurerazubine' (scherzhafte Abkürzung für weibliche Auszubildende) auf einer Baustelle zu sehen. Sie trauten mir peu à peu die körperlich schweren Arbeiten zu. Männer haben Respekt vor Frauen, die es draußen bei Wind und Wetter aushalten, die einen Plan haben."

Heute erfordert das Bauen dank der vielen Hilfsmittel weniger Muskelkraft, erzählt die promovierte Bauingenieurin. Sie ist als Mitglied der "Spitzenfrauen Baden-Württemberg" Mentorin für Schülerinnen und Studentinnen mit Interesse für Karrieren in der Baubranche. Immer mehr Sensorik und KI werde auch die Gefahren reduzieren, indem sie beispielsweise in heiklen Situationen Alarm schlagen.

KI sinnvoll nutzen

Große Hoffnungen liegen auch auf BIM (Building Information Modelling). Auf diese digitale Plattform eines Bauwerks haben die Vertreter aller Gewerke Zugriff. Dadurch weiß man, wer wann was gemacht hat, wie es um den Zeit- und Kostenplan steht. "Das vereinfacht die Absprachen und verhindert viel Chaos und Krawall", weiß Weber-Lewerenz, die mehrere Bauprojekte geleitet hat.

"Mir geht es darum, welche Tools in einem Unternehmen Sinn machen, um schwere und monotone Arbeit an die Maschine abzugeben, effizienter zu bauen, Materialverschwendung zu verhindern, die Daten zu schützen und die wichtigen Werte unserer Branche Wertschätzung, Zuverlässigkeit und Qualität zu bestärken", betont die KI-Beraterin.

2020 hat sie die Exzellenzinitiative für nachhaltige menschengeführte KI im Bauwesen gegründet. Sie war damit eine Pionierin, die Ethik, KI und Bau zusammengedacht hat. Dieser Initiative haben sich inzwischen der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB), der Verband für Wertemanagement EMB und mehrere Hochschulen angeschlossen.

Item URL https://www.dw.com/de/ki-die-superkraft-die-jobs-für-frauen-schafft/a-71982835?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71987489_302.jpg
Image caption Innovationen in der Arbeitswelt: Larissa Zeichhardt, CEO der Firma LAT, mit dem Roboterhund
Image source LAT
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/vps/webvideos/DEU/2025/BUSI/BUSIDEU250220_DWIROBOTERHORST_CMS_01SMW_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/71987489_302.jpg&title=KI%3A%20Die%20Superkraft%2C%20die%20Jobs%20f%C3%BCr%20Frauen%20schafft

Item 27
Id 72267320
Date 2025-04-20
Title USA: Demokratie unter Druck
Short title USA: Demokratie unter Druck
Teaser Seit seinem Amtsantritt im Januar fordert US-Präsident Donald Trump auf mehreren Ebenen den amerikanischen Rechtsstaat heraus und testet unaufhörlich dessen Grenzen. Wie sehr ist die US-Demokratie in Gefahr?
Short teaser Donald Trump testet die Grenzen des Rechtsstaates in den USA - gleich auf mehreren Ebenen.
Full text

Gerade einmal drei Monate ist US-Präsident Donald Trump wieder im Amt. Drei Monate, in denen die USA nicht nur innenpolitisch umgewälzt und erschüttert, sondern in denen auch an den Grundfesten der Demokratie gerüttelt wurde.

Die renommierte Washingtoner Brookings-Institution konstatierte "gefährliche Risse in den Säulen der US-Demokratie". Angriffe gegen diese Säulen gibt es gleich auf mehreren Ebenen. Einige Beispiele:

Streit mit den Universitäten

"Harvard ist ein Witz, lehrt Hass und Dummheit und sollte keine Fördermittel mehr erhalten." Dies postete Donald Trump am Mittwoch auf seiner Plattform Truth Social. Es ist die jüngste Eskalation im Streit zwischen der US-Regierung und den Elite-Universitäten des Landes.

Entzündet hatte sich der Streit daran, dass Harvard und andere private Hochschulen in den USA angeblich nicht streng genug gegen propalästinensische Proteste gegen den Gazakrieg vorgegangen seien und damit jüdische Studentinnen und Studenten in Gefahr gebracht hätten.

Doch die Auseinandersetzung ist längst eskaliert - mittlerweile geht es um die generelle politische Ausrichtung der in den Augen der Trump-Administration als (zu) links wahrgenommenen Eliteunis. Damit diese weiter mit Bundesmitteln gefördert werden, sollen die politischen Ansichten von Studenten und Lehrkräften auf den Prüfstand und der Regierung die Zulassungsdaten aller Studierenden zur Verfügung gestellt werden.

Harvards Universitätspräsident Alan Garber widersetzt sich jedoch diesen Forderungen und sieht die Freiheit von Forschung und Lehre in Gefahr. Er erklärte, die Universität sei weder bereit, ihre Unabhängigkeit noch ihre von der Verfassung garantierten Rechte aufzugeben.

"Keine Regierung - unabhängig davon, welche Partei an der Macht ist - sollte vorschreiben, was private Universitäten lehren dürfen, wen sie zulassen und einstellen und welchen Studien- und Forschungsbereichen sie nachgehen dürfen.“

Doppeltes Spiel mit der Justiz

Rechtsstaatlichkeit und das Befolgen richterlicher Anordnungen ist einer der Grundpfeiler westlicher Demokratien - doch genau dies steht in den USA vermehrt und immer öfter auf dem Spiel.

Zum einen ignorierte die Trump-Administration bereits mehrere Gerichtsurteile und führte Abschiebungen entgegen richterlicher Anordnungen durch.

Besonders bekannt wurde der Fall des irrtümlich ins berüchtigte Hochsicherheitsgefängnis CECOT in El Salvador abgeschobenen Kilmar Abrego Garcia. Der Oberste Gerichtshof hatte die US-Regierung angewiesen, sich um eine schnelle Rückführung Garcias in die USA zu bemühen. Geschehen sei bislang nichts, kritisierte Bundesrichterin Paula Xinis bei einer Anhörung.

Richter wie James Boasberg, die sich Trumps Regierung entgegenstellen und seine geplanten Abschiebungen aussetzen, werden öffentlich als "durchgeknallte Linksradikale" diffamiert. Trump bedroht sie mit Amtsenthebungsverfahren und liebäugelt damit, diese Juristen durch ihm genehmere Richter zu ersetzen.

Gleichzeitig benutzt er das Justizministerium, um gegen seine Kritiker vorzugehen. Schon in seinen ersten Wochen im Amt hatte er dort zahlreiche Mitarbeiter feuern oder strafversetzen lassen, die an Ermittlungen gegen ihn beteiligt waren.

So ordnete er im Februar die Entlassung aller noch aus der Biden-Zeit verbliebenen Bundesstaatsanwälte an. Mehreren seiner Anwälte verschaffte er dagegen hochrangige Posten in der Regierung. Einer ist inzwischen Vize-Justizminister.

Trump begnadigte außerdem fast alle 1.600 Menschen, die wegen des Kapitolsturms am 6. Januar 2021 verurteilt worden waren. Das Justizministerium besetzte er mit der ihm absolut loyalen Parteigängerin Pam Bondi.

Erste Einschränkungen der Pressefreiheit

Kritische Berichterstattung über ihn ist Donald Trump schon länger ein Dorn im Auge. "Sie sind korrupt und illegal", wetterte der US-Präsident bei einer Rede im Justizministerium Mitte März gegen große US-Sender wie CNN oder MSNBC.

Er unterstellte ihnen, sie würden "zu 97,6 Prozent" negativ über ihn berichten und seien "der politische Arm der Demokratischen Partei." Bereits im Wahlkampf hatte er damit gedroht, unliebsamen Sendern die Lizenz zu entziehen.

Den internationalen US-Medien Voice of America und Radio Liberty hat Trump die Finanzierung komplett gestrichen - sie stehen vor dem Aus.

Auch die Akkreditierung der Nachrichtenagentur AP für den Presseraum des Weißen Hauses hat Trumps Administration einkassiert - weil diese sich geweigert hatte, den Golf von Mexiko wie von Trump gewünscht als "Golf von Amerika" zu bezeichnen. Wieder einmal hatte ein Gericht dies für unzulässig erklärt - und wieder einmal wurde dies von der US-Regierung ignoriert; die AP-Journalisten müssen weiter draußen bleiben. Und Donald Trump ging noch weiter: Am Dienstag entzog er der unabhängigen Reportervereinigung des Weißen Hauses (WHCA) die Kontrolle über die Besetzung des sogenannten Korrespondentenpools - jetzt haben neben AP auch die Nachrichtenagenturen Bloomberg und Reuters keinen sicheren Platz mehr bei Pressekonferenzen im Weißen Haus.

Umbau des Staatsapparates

Als Trump in seiner Kongressrede erklärte, "die Zeiten ungewählter Bürokraten an der Macht" seien vorüber, erntete er von den Demokraten spöttisches Gelächter. Ist es doch ausgerechnet der nie demokratisch legitimierte Präsidentenberater Elon Musk, der seit Januar US-Verwaltungen und -Behörden effizienter machen und unnötige Ausgaben stoppen soll - und dabei ganz nebenbei den gesamten Staatsapparat auf Trump-Linie trimmt.

"Sie gehen nicht in Behörden und Ministerien, die Dinge tun, die sie mögen. Sie gehen in öffentlichen Institutionen, mit denen sie nicht einverstanden sind", kritisierte Douglas Holtz-Eakin, Ex-Direktor des Haushaltsbüros im US-Kongress, schon im Februar.

In den Steuer-, Umwelt- und Gesundheitsbehörden, im Pentagon und anderen Ministerien kam es zu Massenentlassungen. Als "linkswoke Steuerverschwendung" wahrgenommene Diversitäts- und Inklusionsprogramme wurden gestoppt, Umweltauflagen zurückgefahren, Sozial- und Gesundheitsausgaben drastisch gesenkt. Die Entwicklungsagentur USAID und andere Behörden wurden zerschlagen - gegen die gängige Rechtsauffassung, dass dazu erst der US-Kongress befragt werden muss.

Zudem steht DOGE im Verdacht, mithilfe künstlicher Intelligenz Regierungsmitarbeiter auszuspionieren. In mindestens einer Bundesbehörde soll so die interne Kommunikation überwacht worden sein - angeblich mit dem Ziel, Angestellte herausfiltern und entlassen zu können, die illoyale Bemerkungen gegenüber Trump getätigt haben. Kritiker dieses Vorgehens sprechen sogar von einer "politischen Säuberung" des Staatsapparates

Item URL https://www.dw.com/de/usa-demokratie-unter-druck/a-72267320?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71836385_302.jpg
Image caption In Kampfeslaune: US-Präsident Trump, hier bei seiner Rede vor dem US-Kongress Anfang März
Image source Ben Curtis/AP Photo/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/ea/ea250326_TschechienNEU_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/71836385_302.jpg&title=USA%3A%20Demokratie%20unter%20Druck

Item 28
Id 72273592
Date 2025-04-20
Title Myanmar nach dem Erdbeben: kaum Hilfe - mehr Luftangriffe
Short title Myanmar nach dem Erdbeben: kaum Hilfe - mehr Luftangriffe
Teaser Nach dem schweren Erdbeben in Myanmar kämpfen Tausende ums Überleben. Inmitten von Luftangriffen und Bürgerkrieg erreicht humanitäre Hilfe die Betroffenen nur schwer.
Short teaser Nach dem Erdbeben in Myanmar kämpfen Tausende ums Überleben. Luftangriffe und Bürgerkrieg behindern die Hilfsmaßnahmen.
Full text

Wie viele Tausende Menschen beim schweren Erdbeben Ende März in Myanmar ums Leben gekommen sind, ist noch unklar. Mit einer Stärke von 7,7 war das Beben vom 28. März 2025 in Myanmar das stärkste seit 1912. Wohnhäuser und Hotels stürzten ein, Straßen und Brücken wurden zerstört.

Rund 60.000 Menschen leben nun in Zeltlagern in Zentralmyanmar.

Natty Tangmeesang, eine Bloggerin aus dem benachbarten Thailand, die die betroffenen Gebiete Myanmars, darunter die Stadt Sagaing, besuchte, berichtete, dass vielen Menschen, die durch das Erdbeben obdachlos geworden sind, die nötigen Mittel für den Wiederaufbau ihrer Häuser fehlen.

"In den Gebieten, die ich besucht habe, gab es viele Klöster, Schulen für Nonnenklöster und abgelegene Dörfer", sagte Natty der DW. "Dort fehlt es ihnen immer noch an allem: an Lebensmitteln, Trinkwasser, Dingen des täglichen Bedarfs und an Geld. Viele Familien müssen in den engen Straßen ausharren und Passanten um Spenden bitten."

Die Militärregierung Myanmars, die sich selbst als Staatsverwaltungsrat (SAC) bezeichnet, teilte mit, dass 3145 Menschen beim Erdbeben ums Leben gekommen und mehr als 4500 verletzt seien. Viele werden noch vermisst.

Das Medienunternehmen "Democratic Voice of Burma" (DVB) berichtete von 4346 Toten, 7890 Verletzten und 210 Vermissten.

Die Hilfsmaßnahmen wurden durch den brutalen Bürgerkrieg in Myanmar erschwert, der seit der Machtübernahme durch das Militär im Jahr 2021 tobt. Die demokratisch gewählte Zivilregierung unter Aung San Suu Kyi war damals gestürzt worden.

Das Militär kämpft gegen Widerstandsgruppen, darunter die oppositionelle Nationale Einheitsregierung (NUG), und bewaffnete ethnische Organisationen. Die NUG wurde von gewählten myanmarischen Abgeordneten gegründet, die von der Junta ihres Amtes enthoben wurden.

Obwohl der SAC weniger als die Hälfte des Landes kontrolliert, muss jegliche internationale Hilfe über das Regime laufen, das noch immer die Kontrolle über Großstädte wie Mandalay, Yangon und die Hauptstadt Naypyidaw hat.

Was behindert die Hilfsmaßnahmen?

Hilfskräfte berichten, dass sie angesichts der Verwüstung Schwierigkeiten haben, Hilfe zu leisten. Das UN-Menschenrechtsbüro kritisiert, dass Myanmars Militär trotz eines erklärten Waffenstillstands weiterhin Luftangriffe durchführt, obwohl der alleinige Fokus darauf liegen sollte, sicherzustellen, dass die Hilfe die Katastrophengebiete erreicht.

Die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmondgesellschaften erklärte, dass starke Regenfälle am Dienstagabend Straßen und Lager rund um Myanmars zweitgrößte Stadt Mandalay überflutet hätten.

The Progressive Voice Myanmar, eine Interessenvertretungsorganisation, die vor Ort die Betroffenen unterstützt, erklärte, dass die internationale Hilfe die Gebiete außerhalb von Sagaing nicht erreicht habe.

"Unsere lokal geleiteten Hilfseinsätze in der ersten Phase der Wiederaufbaumaßnahmen haben aber einige betroffene Gemeinden außerhalb von Mandalay und Sagaing erreicht", sagte der Gründer der Organisation, Khin Ohmar, gegenüber der DW. "Diese lokal geleiteten Bemühungen werden sowohl von der Zivilgesellschaft als auch von der NUG getragen und umfassen auch die Gesundheitsversorgung."

Khin sagte: "Die Junta blockiert und behindert die Hilfe, bedroht die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen und erpresst Geld."

Mehr Hilfe nötig

Das Erdbeben veranlasste das myanmarische Militär zu einer seltenen Bitte um internationale Unterstützung und Hilfe, obwohl Juntachef Min Aung Hlaing in der internationalen Gemeinschaft weitgehend isoliert ist. Der zehnköpfige Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) hat Min von seinen Gipfeltreffen ausgeschlossen, da es keine Fortschritte bei einem Friedensplan für Myanmar gebe.

Teams aus den USA, China, Großbritannien, Malaysia und Südkorea haben Millionen von Dollar an Nothilfe zugesagt, während Thailand, Indonesien, die Philippinen, Vietnam, Neuseeland, Indien, Japan, Singapur und Russland Rettungseinheiten zur Unterstützung der Nothilfe entsandt haben.

Nach Aussage von Soe Myint, dem Chefredakteur des Medienunternehmens Mizzima, reicht das nicht aus. "Es braucht mehr Unterstützung für den Transport der Hilfsgüter in die betroffenen Gebiete", forderte er im Gespräch mit der DW. "Es müssen mobile Kliniken eingerichtet, ausgebildete Sanitäter für Erste Hilfe und psychologische Betreuung bereitgestellt werden".

Und es mangle an Berichten über die Lage vor Ort, kritisiert der Journalist. Während internationale Hilfe nach Myanmar gelassen wurde, wurde vielen internationalen Medienschaffenden die Berichterstattung über die Folgen des Erdbebens untersagt.

Schwierigkeiten bei der Berichterstattung

Die Junta führt als Begründung für dieser Verbot an, dass Myanmar nach dem Erdbeben nicht sicher sei und es an Unterkünften mangele. Staatlich kontrollierte Medien aus China erhielten jedoch bereits Zugang zum Epizentrum.

Tin Tin Nyo, Geschäftsführerin von Burma News International, erklärte, es sei selbst für lokale Medien in Myanmar schwierig, über die Verwüstung zu berichten. "Insbesondere unabhängige Medien können nicht in die vom SAC kontrollierten Gebiete reisen, aber sie können über die von der NUG und den ethnischen Widerstandsorganisationen kontrollierten Gebiete auf Informationen zugreifen."

"Die meisten Medien sind auf Bürgerjournalisten und einige freie Mitarbeiter angewiesen, die ihnen in bestimmten Gebieten zugewiesen werden", sagte sie gegenüber der DW. Sie fügte hinzu, dass die Luftangriffe, die die Hilfsmaßnahmen behindern, eingestellt werden und die UN-Organisationen mehr tun müssten.

"Die Bombardierungen sind zahlreicher und intensiver geworden und haben viele Zivilisten getötet. UN-Organisationen und Diplomaten müssen in diese Gebiete reisen, um die Menschen zu treffen. Sie müssen Druck auf die Junta ausüben, damit sie die Bombenangriffe einstellt", sagte Khin.

Min Aung Hlaing wird Ende dieser Woche zum zweiten Mal innerhalb eines Monats nach Bangkok, Thailand, reisen, um mit dem malaysischen Premierminister und ASEAN-Vorsitzenden Anwar Ibrahim über humanitäre Hilfe zu sprechen.

"Wir schicken unser Rettungsteam dorthin, um die Sicherheit zu gewährleisten", sagte er und fügte hinzu, er werde sich dafür einsetzen, dass der Waffenstillstand auch über sein Ablaufdatum am 22. April hinaus Bestand hat.

Aus dem Englischen adaptiert von Shabnam von Hein

Item URL https://www.dw.com/de/myanmar-nach-dem-erdbeben-kaum-hilfe-mehr-luftangriffe/a-72273592?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72263504_302.jpg
Image caption Zeltlager nach dem Erdbeben in Myanmar
Image source Magdalena Chodownik/Anadolu/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72263504_302.jpg&title=Myanmar%20nach%20dem%20Erdbeben%3A%20kaum%20Hilfe%20-%20mehr%20Luftangriffe

Item 29
Id 72248086
Date 2025-04-19
Title Leben mit dem Tod
Short title Leben mit dem Tod
Teaser Für viele Gläubige ist der Tod nicht das Ende. Aber was geschieht danach? Wann setzt der Tod ein? Und haben wir eine Seele? Die Wissenschaft kann das Tabu-Thema zumindest versachlichen, der Rest ist eine Glaubensfrage.
Short teaser In vielen Religionen ist der Tod nicht das Ende. Aber was geschieht danach? Wann setzt der Tod ein? Haben wir Seelen?
Full text

An Ostern feiern Christen die Auferstehung Jesu und den Sieg des Lebens über den Tod. Auch orthodoxe Juden und Muslime glauben an die Auferstehung. Für Hindus und Buddhisten steht die Erlösung von der Wiedergeburt im Vordergrund.

In die Trauer über den Verlust eines Menschen durch Krankheit, Alter, Gewalt oder Unfälle mischt sich bei gläubigen Menschen die Hoffnung, dass der Tod nicht das Ende ist.

Trost finden sie in Jenseitsvorstellungen, die es nicht nur bei den heutigen Weltreligionen gibt. Auch bei den frühen Sammlern und Jägern, den Ägyptern, Wikingern und bei vielen anderen Kulturen nahmen Hinterbliebene oftmals mit Bestattungsritualen und Grabbeigaben Abschied von Verstorbenen und ebneten ihnen den Weg ins Jenseits.

Wie definiert man den Tod?

Biologisch funktioniert der Körper maximal etwa 120 Jahre. Entscheidend ist aber die tatsächliche Lebenserwartung, die sich durch verbesserte Lebens- und Hygienebedingungen im Laufe der Zeit deutlich verlängert hat - in Deutschland zum Beispiel nimmt die Lebenserwartung jährlich um rund 3 Monate zu.

Für die meisten Menschen gilt: Nicht der Tod selber macht uns Angst, sondern das Unwissen, was beim Sterben und danach mit uns passiert. Medizinisch betrachtet gibt es unterschiedliche Todesarten: Beim "klinischen Tod" versagt das Herz-Kreislauf-System, Puls und Atmung setzen aus, die Organe werden nicht mehr mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Beim "klinischen Tod" ist allerdings noch eine Reanimation durch Beatmung und Herzdruckmassage möglich und nicht selten auch erfolgreich.

Das ist beim "Hirntod" nicht der Fall, denn dabei sind dann Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm ausgefallen. Zwar können auch beim Hirntod noch bestimmte Gehirnzellen in tieferen Schichten aktiv sein, aber das "Bewusstsein" ist bereits verloren gegangen.

Trotzdem können "Hirntote" noch lange künstlich am Leben gehalten werden. Manche hirntoten Patienten reagieren auch auf äußere Reize, etwa bei Operationen. Allerdings sind dies aus medizinischer Sicht nur Rückenmarks-Reflexe und kein Schmerzempfinden.

Was geschieht mit dem toten Köper?

Unsere Organe können zunächst noch eine Weile ohne Sauerstoff und Nährstoffe auskommen. Erst allmählich stoppt die Zellteilung vollständig, dann sterben die Zellen ab. Sind zu viele Zellen abgestorben, können sich die Organe nicht mehr regenerieren. Am schnellsten reagiert das Gehirn, wo die Zellen bereits nach drei bis fünf Minuten absterben. Das Herz kann bis zu einer halben Stunde durchhalten. Sobald das Blut nicht mehr zirkuliert, sinkt es ab, es bilden sich "Totenflecken", die Gerichtsmedizinern Hinweise auf die Todesursache und den Todesort geben können.

Nach zwei Stunden setzt die Leichenstarre ein, weil kein Adenosintriphosphat mehr gebildet wird. Ohne diesen Energieträger in den Zellen versteifen die Muskeln. Nach einigen Tagen löst sich diese Leichenstarre wieder.

Der Magen-Darm-Trakt stirbt erst nach zwei bis drei Tagen ab, die darin befindlichen Bakterien beschleunigen die Zersetzung des Körpers. Krankheitserreger im Körper bleiben aber zum Teil noch lange gefährlich. Hepatitis-Erreger leben zum Beispiel noch mehrere Tage weiter, Tuberkulose-Bakterien sogar jahrelang. Insgesamt dauert der Zersetzungsprozess des menschlichen Körpers rund 30 Jahre.

Was lehren uns Nahtoderfahrungen?

Wissenschaftlich gesehen treten Nahtoderfahrungen in der Zeit zwischen dem klinischen Tod und der Reanimation ein. Intensiv beschäftigt sich nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Religionen und die Esoterik mit den geschilderten Erlebnissen, die je nach kultureller oder regionaler Prägung stark variieren können.

Viele Betroffene haben keinerlei Erinnerungen an diese Phase. Andere berichten von einströmenden Erinnerungen, von einer Loslösung vom Körper, von Landschaften oder von einem hellen Licht (am Ende eines Tunnels). Einige berichteten von einem großen Glücksgefühl, Andere erlebten Angst- oder Panikzustände.

Offenbar treten Nahtoderfahrungen häufiger auf, wenn die Reanimation besonders lang gedauert hat und die Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff länger beeinträchtigt ist. Diese Unterversorgung des Gehirns hat vor allem Auswirkungen auf die Schläfen- und Scheitellappen des Gehirns sowie auf die dazwischen liegende Schaltstelle Gyrus Angularis. Ob die Nahtoderfahrungen auch dort entstehen, ist indes unklar.

Haben wir eine Seele?

Obwohl der Tod zum Leben dazu gehört, wollen wir ihn nicht als unvermeidbares Ende akzeptieren. "Seele" meist meistens den nicht-materiellen, vom Körper getrennten, unsterblichen Wesenskern einer Person. In vielen Religionen ist die Seele dasjenige, was einen Menschen ausmacht.

Der Glaube an eine unsterbliche Seele wurzelt tief in unserem dualistischen Denken, das die Welt in zwei gegensätzliche Kategorien einteilt: gut vs. schlecht, richtig vs. falsch, Körper vs. Seele. Philosophen wie Platon, Sokrates oder Descartes sahen Körper und Seele als getrennten Einheiten.

Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften legen nahe, dass alle mentalen Prozesse mit der Gehirnfunktion zusammenhängen. Demnach lässt sich unser gesamtes "Seelenleben" mit Neuronen, chemischen Botenstoffen und Netzwerken erklären.

Aber machen wirklich nur messbare Gehirnaktivitäten, biochemische Prozesse und soziokulturelle Einflüsse das Wesen, die Seele eines Menschen aus? Oder prägt ein sehr komplexes Wechselspiel aus Körper, Geist und Umwelt unser "Seelenleben"?

Wissenschaftlich lässt sich die Existenz einer Seele oder ein solches Wechselspiel nicht belegen. Und jenseits der empirischen Wissenschaften beginnt der Glaube.

Item URL https://www.dw.com/de/leben-mit-dem-tod/a-72248086?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/64299226_302.jpeg
Image caption Obwohl der Tod zum Leben dazu gehört, wollen viele ihn nicht als endgültiges Ende akzeptieren.
Image source NDR/DW
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/shd/shd240924_gesamt_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/64299226_302.jpeg&title=Leben%20mit%20dem%20Tod

Item 30
Id 72252327
Date 2025-04-18
Title Turbulenzen am Anleihemarkt: Was steckt dahinter?
Short title Turbulenzen am Anleihemarkt: Was steckt dahinter?
Teaser Die Renditen von US-Staatsanleihen waren "nur" um eine Zahl hinter dem Komma gestiegen. Sie haben aber Trump zum Einlenken im Zollstreit bewegt. Woran liegt das?
Short teaser Warum konnte der Markt für Staatsanleihen Trump zum Einlenken im Zollstreit bewegen?
Full text

Die Idee von Donald Trump, weltweit Zölle zu erheben, hat Anfang April die Finanzmärkte kräftig durcheinandergerüttelt. An vielen Börsen weltweit fielen die Aktienkurse.

In Zeiten großer Unsicherheit und niedriger Erwartungen in Bezug auf die Wirtschaftsentwicklung flüchten Anleger in der Regel aus Aktien in sichere Häfen: in Staatsanleihen von Ländern mit hoher Bonität. So war es während der Finanzkrise ab 2008 oder nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.

Bisher galten die USA als ein solcher sicherer Hafen. Doch als nach Trumps Zollankündigungen Anfang April die Börsenkurse in den Keller rutschten, flüchteten Anleger nicht in die sicheren Staatsanleihen. Ganz im Gegenteil: auch die wichtigen US-Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit wurden weniger nachgefragt. Was steckt dahinter?

Wenn der Staat sich Geld am Finanzmarkt leiht

Grundsätzlich unterscheiden sich Staatsanleihen von Aktien dadurch, dass ein Staat hinter der Anleihe steht und dem Käufer der Anleihe im besten Fall Sicherheit gibt. Dabei werden Staatsanleihen auch Staatsschuldverschreibungen, Staatsobligationen, Renten, Bonds und in den USA Treasuries genannt.

Staatsanleihen werden über Finanzmärkte verkauft. Der Staat verspricht den sogenannten Nennwert der Anleihe nach einem festgelegten Zeitraum (der Laufzeit der Anleihe) wieder zurückzuzahlen. Auf diese Weise leiht sich der Staat bei den Anlegern Geld. Die Anleger erhalten zusätzlich für das Verleihen ihres Geldes einen Zins, auch Coupon genannt, der meist jährlich gezahlt wird.

Risiken: Zahlungsausfall und Währungsschwankungen

Wer Staatsanleihen kauft, hat vor allem das Risiko, dass der betreffende Staat pleite gehen und das geliehene Geld nicht zurückzahlen könnte. Die Höhe des Risikos hängt davon ab, wie hoch die Kreditwürdigkeit des Landes eingeschätzt wird. Anleihen von Ländern mit einer hohen Bonität gelten als sichere Anlagen. Die Kurse solcher Anleihen schwanken in der Regel weniger als die von Aktien.

Schlechte Erfahrungen haben in der Vergangenheit beispielsweise Käufer von argentinischen Staatsanleihen gemacht. Argentinien konnte schon wiederholt seine Schulden aus Anleihen nicht bezahlen.

Ein weiteres Risiko besteht, wenn Anleihen in einer anderen Währung gekauft werden. US-Staatsanleihen werden grundsätzlich in US-Dollar ausgegeben und auch in US-Dollar zurückgezahlt. Wenn der Dollar gegenüber dem Euro an Wert verliert während der Laufzeit, dann verliert entsprechend auch der in Dollar gezahlte Zins und der am Ende zurückgezahlte Nennwert der Staatsanleihe an Wert.

Handel mit Staatsanleihen: Kurswert sinkt, Rendite steigt – warum?

Wer einmal Staatsanleihen gekauft hat, muss sie aber nicht während der gesamten Laufzeit behalten. Gehandelt werden Staatsanleihen allerdings nicht zu ihrem Nennwert, sondern zu einem aktuellen Kurs, der oft in Prozent des Nennwertes angegeben wird. Liegt der Kurs also bei 96 Prozent, muss man 96 Euro bezahlen für eine Anleihe mit einem Nennwert von 100 Euro.

Beim Handel mit Anleihen ist die sogenannte Rendite wichtiger als der angegebene Zinssatz. Die Rendite gibt an, wie hoch der jährliche Ertrag bis zum Ende der Laufzeit in Bezug auf den aktuellen Kurs ist. Daher schwankt die Rendite von Staatsanleihen mit deren Kursen.

Wenn die Kurse von Anleihen sinken, dann bezahlen die Käufer weniger für die Anleihe, bekommen in der Regel aber am Ende den Nennwert der Anleihe, also 100 Prozent zurück. Für weniger Geld dasselbe bekommen, bedeutet: Die Rendite für das eingesetzte Geld ist gestiegen. Umgekehrt gilt, wenn die Kurse steigen, muss mehr für eine Anleihe gezahlt werden, um am Ende den Nennwert zu bekommen. Damit ist die Rendite gesunken.

Turbulenzen am US-Anleihenmarkt

Zurück zum Geschehen in den USA: Nach dem "Befreiungstag" von Donald Trump waren die richtungsweisenden zehnjährigen US-Staatsanleihen unter massiven Verkaufsdruck geraten.

Staatsanleihen waren weniger gefragt, weil sie anscheinend als weniger sicher bewertet wurden. Auch der Dollar ist abgesackt, weil das Vertrauen in die US-Währung gesunken ist. Damit lohnen sich US-Staatsanleihen für Nicht-Amerikaner weniger.

Für den Laien sah es nicht nach viel Bewegung aus - die Rendite der US-Staatsanleihen hatte sich "nur" um die erste Zahl hinter dem Komma erhöht, von 4,3 auf 4,5 Prozent. In den vergangenen Jahren gab es teils deutlich stärkere Schwankungen, diesmal fand der Anstieg so viel Beachtung, weil er nicht durch Wirtschaftsdaten wie Konjunkturzahlen oder Zinssignale der US-Notenbank ausgelöst wurde, sondern durch ein geopolitisches Schockereignis, die Einführung neuer US-Zölle. Wenn sich Anleger in so einer Situation nicht in US-Staatsanleihen flüchten, ist das ein Zeichen für eine besondere Unsicherheit an den Märkten.

"Immer mehr Marktakteure scheinen aufgrund des weiter eskalierten Handelskonflikts an der traditionellen Rolle des US-Dollars und der US-Staatsanleihen als 'sichere Häfen' zu zweifeln", beurteilt Ulrich Stephan, Chefstratege der Deutschen Bank, die Lage.

US-Schulden werden teurer

Für die amerikanische Regierung bedeutet der Renditeanstieg um 0,2 Prozent außerdem, dass neue Staatsschulden wesentlich teurer werden. Möchten die USA bei gestiegenen Renditen neue Schulden aufnehmen, also neue Staatsanleihen auf den Markt geben, müssen sie höhere Zinsen bieten, damit die neuen Staatsanleihen gekauft werden. Somit verteuert sich für die USA das Schuldenaufnehmen. Eine ungünstige Situation, wollte Trump doch eigentlich die die enormen Staatsschulden der USA reduzieren. Nachdem Trump die 90-Tage-Zollpause verkündet hatte, beruhigte sich die Situation wieder etwas.

Kritisch ist zusätzlich: Stehen Staatsanleihen unter Druck, spüren das viele andere Wirtschaftsbereiche. Zahlreiche andere Anlageformen orientieren sich an der Rendite für Staatsanleihen, etwa Hypothekenzinsen oder Zinsen für Unternehmenskredite.

Chinas Einfluss auf US-Anleihenmarkt

Noch heftiger als bisher könnte die Reaktion auf dem Anleihenmarkt ausfallen, würde China im Zuge eines eskalierenden Handelskriegs Teile seiner hohen Bestände an US-Anleihen verkaufen. Insgesamt beträgt das ausstehende Volumen bei US-Staatsanleihen mehr als 25 Billionen Euro.

Nach Japan hat China die größten Bestände an US-Staatsanleihen. Im Januar besaß die Volksrepublik US-Anleihen im Volumen von rund 760 Milliarden Dollar. Würde nur ein Teil dieser Anleihen verkauft, könnte das zusätzliche Angebot die Kurswerte von US-Anleihen deutlich drücken und die Renditen erhöhen. Was wiederum künftige Schulden für die USA verteuern würde.

Item URL https://www.dw.com/de/turbulenzen-am-anleihemarkt-was-steckt-dahinter/a-72252327?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/68751740_302.jpg
Image caption Sinkendes Vertrauen in die Wirtschaftskraft der USA und den US-Dollar schwächt den Markt für US-Staatsanleihen
Image source La Nacion/ZUMA/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/68751740_302.jpg&title=Turbulenzen%20am%20Anleihemarkt%3A%20Was%20steckt%20dahinter%3F

Item 31
Id 72248074
Date 2025-04-16
Title 500 Jahre Auerbachs Keller: Berühmt durch Goethes Faust
Short title 500 Jahre Auerbachs Keller: Berühmt durch Goethes Faust
Teaser Theologe Martin Luther, Komponist Robert Schumann und Schriftsteller Johann Wolfgang von Goethe waren in Auerbachs Keller in Leipzig schon zu Gast. Was macht den sagenumwobenen Ort besonders? Ein Blick in die Geschichte.
Short teaser Martin Luther, Robert Schumann und Goethe waren in Auerbachs Keller in Leipzig zu Gast. Was macht den Ort so besonders?
Full text

Auerbachs Keller in Leipzig gehört zu den berühmtesten Restaurants weltweit. Hier werden pro Jahr 36.000 hausgemachte Rindsrouladen verzehrt, 90.000 Liter Bier und ebenso viel Wein ausgeschenkt. "Wir haben pro Jahr ungefähr 300.000 Gäste - viele davon aus dem Ausland", sagt Tanja Pieper, Sprecherin und Jubiläumsbotschafterin des Hauses.

Doch noch beeindruckender als all die Zahlen ist die Tatsache, dass der Dichter Johann Wolfgang von Goethe hier vor 250 Jahren zu seinem bekannten Drama "Faust - der Tragödie erster Teil" inspiriert wurde. Eine Szene in seinem Buch spielt in Auerbachs Keller. Das lockt bis heute Goethe-Verehrer aus aller Welt nach Leipzig.

Das 500. Jubiläum wie Goethe feiern

In der Osterzeit 1525 schenkte der Leipziger Mediziner und Universitätsprofessor Heinrich Stromer von Auerbach in seinem Keller erstmals Wein an Studenten aus. Er war ein Freund Martin Luthers. So verkehrte auch der Kirchenreformator Luther Anfang des 16. Jahrhunderts in Auerbachs Keller und versteckte sich zeitweise dort vor seinen Feinden.

Zur Osterzeit wird in diesem Jahr der Höhepunkt des 500-jährigen Jubiläums gefeiert. Dazu gehört das sogenannte große Gelage: "Das haben wir uns von Goethe abgeschaut, da gibt es einen großen 'Schlampamp', eine Schlemmerei, die Dreieinigkeit von Essen, Trinken und guter Gesellschaft. Wir feiern an langen Tafeln wie in alten Zeiten", sagt Tanja Pieper im Gespräch mit der DW. Serviert wird auf Brettern und in Schüsseln - so wie damals im 18. Jahrhundert.

Was Goethes Faust mit Auerbachs Keller zu tun hat

Goethes Drama handelt vom gealterten, schwermütigen Lehrer Heinrich Faust, der Mephisto, dem Teufel, seine Seele verkauft. Verzaubert zum jungen Mann, packt Faust neue Lebenslust. Doch Mephisto hat seine Finger weiter im Spiel, etwa als Faust die junge Margarete (Gretchen) verführt und schwängert. Aus Verzweiflung tötet sie ihr uneheliches Kind, wird verhaftet und wartet im Gefängnis auf Gottes Erlösung.

Auch in der Szene, die in Auerbachs Keller spielt, treibt Mephisto sein Unwesen. Er will Faust "in lustige Gesellschaft bringen". Vor den Augen einiger Trinkgesellen zaubert er köstlichen Wein und reitet später auf einem Fass aus dem Keller. Heute gibt es im sogenannten Fasskeller des Restaurants in neun Meter Tiefe ein beliebtes Event, die sogenannte "Fasskellerzeremonie". Der Schauspieler Hartmut Müller nimmt seit 30 Jahren Besucher mit auf eine kulturhistorische Reise. Als "Fasskellermeister" führt er durch die Geschichte und die Gewölbe des Hauses.

Die Fasskellerzeremonie

Die Kellergewölbe sind illustriert mit sagenumwobenen Szenen. Im Fasskeller werden das Essen und die Getränke serviert. "Zu vorgerückter Stunde geht es dann durch eine separate Tür von diesem Fasskeller nochmals hinunter in die Hexenküche", erklärt Tanja Pieper. Es ist ein kleiner Verschlag zwölf Meter unter der Erde. Hier bekommen die Gäste - wie Faust in Goethes Drama - einen Verjüngungstrunk. "Sie müssen das Hexeneinmaleins vorgesprochen aufsagen und auf einem Bein um das Hexenfeuer tanzen", schildert Tanja Pieper das vergnügliche Treiben.

Danach geht es darum, im Fasskeller die Wette um das große Fass zu bestehen. "Wenn es den Gästen gelingt, dieses Fass hinauszureiten - sie können also da hinauf krabbeln - dann dürfen sie es behalten, aber das Fass ist immer noch in unserem Gewahrsam."

Die alte Sage von Doktor Faustus

Frei erfunden hat Goethe seinen Faust und den Fassritt nicht. Das Ganze geht auf eine alte Sage aus dem Volkssagenschatz (Volksbuch von Johann Spies) zurück, die Goethe bereits kannte. Im Fasskeller sah er zwei Holztafeln von 1625, die den Fassritt des legendären Magiers Dr. Faustus illustrieren. Dieser soll beobachtet haben, wie Transporteure ein überschweres Fass aus dem Weinkeller bugsieren wollten und machte sich über sie lustig. Er wettete, dass er das Fass hinausreiten könne.

"Es geht dabei natürlich mit dem Teufel zu, wenn er dieses Fass hinausreitet", erzählt Pieper. "Von diesen beiden Holztafeln, die dort hingen, war Goethe so fasziniert, dass er uns ins "Faust"-Drama hineingeschrieben hat." Heute hängen die beiden Tafeln im Goethezimmer des Restaurants, das 30 Gästen Platz bietet. Auch Martin Luther ist mit dem "Lutherstübchen" ein eigener Raum gewidmet mit ebenso vielen Plätzen.

Das Lokal zu Goethes Zeiten

Im 18. Jahrhundert war das Lokal noch ein reines Weinlokal. "Dieser Keller war damals riesig groß. Leipzig war als Stadt bis zu dreimal unterkellert", erläutert Tanja Pieper. Seinerzeit wurde der Wein noch nicht in Flaschen abgefüllt, sondern aus eingelagerten Fässern ausgeschenkt. "Da gibt es Gemälde, wo man sieht, wie zwischen den Fässern gezecht wurde."

Gekocht wurde damals noch nicht in Auerbachs Keller. Das Essen kam aus der damaligen Gaststätte "Auerbachs Hof", der heute nicht mehr existiert und wurde in den Keller gebracht. "Erst im 19. Jahrhundert begann man in Auerbachs Keller zu kochen und Speisen wurden parallel zu Getränken interessant."

Bachs Faust beim Leipziger Bachfest

Zu den Geburtstagsevents zum Jubiläum von Auerbachs Keller Leipzig gehört auch "Bachs Faust", eine Art Singspiel vom Bachfest-Intendanten Michael Maul. In Leipzig war Johann Sebastian Bach von 1723 bis zu seinem Lebensende 1750 Thomaskantor. Sein täglicher Weg zur Arbeit führte ihn auch an Auerbachs Keller vorbei. Bach zu Ehren wird in der Stadt jedes Jahr im Juni das Bachfest gefeiert.

"In Goethes Faust wird ja viel Musik erwähnt, ohne das Goethe präzisiert, welche genau das ist", erklärt Maul im Gespräch mit der DW. Goethe habe Bachs Musik sehr geschätzt. Maul hat deshalb in seinem Stück Goethes Faust mit Chorälen und Kantaten von Johann Sebastian Bach kommentiert, illustriert und untermalt.

"Als Faust sich zu Beginn des Dramas das Leben nehmen will, in dem Augenblick, wo er zum Trunk ansetzt, da hört er aus der Ferne den Osterhymnus 'Christ ist erstanden'. Da erklingt dann bei uns 'Christ lag in Todesbanden' von Bach", erklärt Maul. Die Uraufführung von Bachs Faust mit Sängern, Musikern und Schauspielern findet im Rahmen des Bachfestes am 15. Juni statt, im großen Saal von Auerbachs Keller. Das Jubiläum des geschichtsträchtigen Restaurants wird noch das ganze Jahr gefeiert.

Item URL https://www.dw.com/de/500-jahre-auerbachs-keller-berühmt-durch-goethes-faust/a-72248074?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72239572_302.jpg
Image caption Mephisto-Darsteller Hartmut Müller im legendären Fasskeller
Image source Christian Modla
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72239572_302.jpg&title=500%20Jahre%20Auerbachs%20Keller%3A%20Ber%C3%BChmt%20durch%20Goethes%20Faust

Item 32
Id 72260056
Date 2025-04-16
Title Weinproduktion auf niedrigstem Stand seit mehr als 60 Jahren
Short title Weinproduktion auf niedrigstem Stand seit mehr als 60 Jahren
Teaser Klimawandel, verändertes Verbraucherverhalten, Preisniveau: Für die weltweit abnehmende Menge an Rebensaft gibt es gleich mehrere Gründe. In Europa traf es 2024 besonders heftig die Winzer in Frankreich.
Short teaser Klima, Verbraucherverhalten, Preis: Für die weltweit abnehmende Menge an Rebensaft gibt es gleich mehrere Gründe.
Full text

Die weltweite Weinerzeugung ist 2024 nach Branchenangaben wegen extremer Witterungseinflüsse auf den niedrigsten Stand seit über 60 Jahren gesunken. Die Erzeugung sank auf 225,8 Millionen Hektoliter, was ein Rückgang gegenüber dem Vorjahr von 4,8 Prozent bedeutet, wie die Internationale Organisation für Rebe und Wein (OIV) im französischen Dijon mitteilte. Ein Hektoliter entspricht ungefähr 133 Weinflaschen.

Auch Winzer fürchten Donald Trump

Als extreme Wettereinflüsse nannte die Branchenorganisation unter anderem Starkregen, Hagel, späten Frost im Frühjahr, Trockenperioden und in der Folge dieser Witterung auch Schädlingsbefall. Neben dem Klimawandel hätten sich die wirtschaftliche Lage und eine sinkende Nachfrage negativ auf die Weinerzeugung ausgewirkt.

Die Weinbranche fürchtet schließlich auch, mit ihren Produkten in den von US-Präsident Donald Trump ausgelösten Zollkonflikt zu geraten. Die Vereinigten Staaten sind der größte Weinimporteur nach Wert mit 6,3 Milliarden Euro im Jahr 2024. Dahinter kommen Großbritannien mit 4,6 Milliarden und Deutschland mit 2,5 Milliarden Euro.

In der Europäischen Union lag die Weinerzeugung mit 138,3 Millionen Hektolitern im vergangenen Jahr um 3,5 Prozent unter der von 2023. In Deutschland - dem viertgrößten europäischen Erzeugerland - sank sie nach den OIV-Daten um 9,8 Prozent auf 7,8 Millionen Hektoliter. Italien als weltweit größte Weinbaunation verbuchte mit einer Erzeugung von 44,1 Millionen Hektoliter zwar ein Plus, lag aber immer noch sechs Prozent unter dem Fünfjahresdurchschnitt.

Geringste Produktion in Frankreich seit 1957

Frankreich als zweitgrößter Erzeuger verzeichnete mit 36,1 Millionen Hektolitern einen Rückgang um 23,5 Prozent und damit die niedrigste Produktion seit 1957. Spanien auf Rang drei bleibt mit einer Erzeugung von 31 Millionen Hektolitern 11,1 Prozent ebenfalls unter dem Fünfjahresdurchschnitt.

Der weltweite Konsum von Wein wird für 2024 auf 214,2 Millionen Hektoliter geschätzt, was im Vorjahresvergleich einen Rückgang um 3,3 Prozent und damit die niedrigste Menge seit 1961 bedeutet, wie es bei der OIV weiter heißt. Damit setze sich ein Trend fort, für den neben kurzfristigen wirtschaftlichen Gründen wie etwa die Inflation auch ein veränderter Lebensstil, soziale Gewohnheiten und ein anderes Verbraucherverhalten - vor allem der jüngeren Generation - verantwortlich seien.

Weiter Trend zu höherpreisigen Weinen

In der EU sank der Konsum im Vorjahresvergleich um 2,8 Prozent auf 103,6 Millionen Hektoliter, was im Fünfjahresdurchschnitt ein Minus von 5,2 Prozent bedeutet. In Deutschland lag der Konsum mit 17,8 Millionen Hektolitern um drei Prozent niedriger als 2023.

Der Wert der weltweiten Weinexporte wird für 2024 auf 35,9 Milliarden Euro geschätzt, was nur einen geringfügigen Rückgang gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Auch der durchschnittliche Exportpreis bleibt unverändert bei 3,60 Euro pro Liter. Das Gesamtpreisniveau ist nach Angaben der Organisation OIV hoch - unter anderem weil sich der Trend zu höherpreisigen Weinen in den letzten Jahren immer stärker ausgeprägt hat. Die Verbraucher zahlten heute für ihren Rebensaft im Schnitt 30 Prozent mehr als 2019/2020.

sti/pg (afp, dpa, rtr)

Item URL https://www.dw.com/de/weinproduktion-auf-niedrigstem-stand-seit-mehr-als-60-jahren/a-72260056?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/68926273_302.jpg
Image caption Winzer spannen Frischhaltefolie an Weinreben entlang, um die Triebe vor Kälte zu schützen (Archivfoto)
Image source Pia Bayer/dpa/picture-alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/68926273_302.jpg&title=Weinproduktion%20auf%20niedrigstem%20Stand%20seit%20mehr%20als%2060%20Jahren

Item 33
Id 72242640
Date 2025-04-15
Title "Autismus-Epidemie" in den USA laut RFK Jr.: Stimmt das?
Short title "Autismus-Epidemie" in den USA laut RFK Jr.: Stimmt das?
Teaser Donald Trumps Gesundheitsminister möchte bis September herausfinden, was die "Autismus-Epidemie" in den USA verursacht. Forschende und Autismus-Organisationen stehen der Aktion skeptisch gegenüber.
Short teaser Autismus-Diagnosen in den USA haben sich in den letzten 20 Jahren vervierfacht. Woran liegt das?
Full text

Das US-Gesundheitsministerium hat eine "massive Test- und Forschungsanstrengung" in die Wege geleitet, die bis September 2025 feststellen soll, "was die Autismus-Epidemie verursacht hat", wie Trumps Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. in einer Kabinettssitzung sagte.

Die Zahl der Autismus-Diagnosen in den USA steigt seit Jahrzehnten. Im Jahr 2020 wurde bei etwa einem von 36 Kindern eine Autismus-Spektrum-Störung festgestellt. Nach Angaben der US-Zentren für Krankheitskontrolle und -prävention (CDC) war es im Jahr 2000 noch eines von 150 Kindern.

Aber: Nach Jahrzehnten der Forschung über die genetischen und neurowissenschaftlichen Ursachen von Autismus "ist die Vorstellung, dass wir bis September plötzlich die Ursachen finden können, unrealistisch", sagt Geoff Bird, ein kognitiver Neurowissenschaftler und Autismus-Experte an der Universität Oxford und am University College London.

Was sind die Ursachen für Autismus?

Es gibt viele verschiedene Anzeichen für Autismus und nicht bei allen zeigen sich die Symptome auf die gleiche Weise. Für einige Menschen mit Autismus kann die soziale Kommunikation eine Herausforderung oder sogar eine Überforderung darstellen. Andere haben Schwierigkeiten beim Lernen oder reagieren überempfindlich auf Sinnesreize wie Berührung oder Licht.

Die Autismus-Spektrum-Störung entsteht durch Veränderungen in der Entwicklung des Gehirns in den ersten Lebensjahren. Die Forschung hat gezeigt, dass bei Menschen mit Autismus ein breites Spektrum von Veränderungen in der Funktionsweise des Gehirns auftreten kann.

Forschende sind sich "sehr sicher, dass es eine genetische Grundlage gibt", so Bird gegenüber der DW. Etwa 80 Prozent der Autismus-Fälle können mit vererbten Genmutationen in Verbindung gebracht werden.

Forschende konnten außerdem feststellen, dass Veränderungen in bestimmten Genen die Entwicklung des Gehirns beeinflussen. Aber es gibt keine eindeutigen Beweise, dass bestimmte Veränderungen direkt mit Autismus zusammenhängen.

"Die Diagnose von Autismus war schon immer die größte Herausforderung..., weil wir keine biologischen Marker für Autismus haben", erklärt Bird. Das stelle für Forschende, welche die biologischen Ursachen von Autismus zu verstehen versuchen, eine große Herausforderung dar.

Breitere Diagnostik eine Ursache für den Anstieg von Autismus-Fällen

Nach Ansicht von Experten liegt der Hauptgrund für den Anstieg der Autismus-Diagnosen darin, dass sich die klinischen und sozialen Definitionen seit der ersten Beschreibung von Autismus vor 80 Jahren häufig geändert haben.

"Heute ist es üblich, Menschen mit viel subtileren Symptomen zu diagnostizieren, und das erklärt einen Teil der gestiegenen Prävalenz", sagt Bird.

Änderungen bei den Screening-Methoden haben auch dazu beigetragen, dass Anzeichen von Autismus bei Mädchen besser erkannt werden.

"Autismus wurde hauptsächlich dadurch definiert, wie er bei Jungen auftritt, und die Diagnose bei Mädchen war darauf abgestimmt. Jetzt erweitern wir die Kriterien für die Diagnose von Autismus, um auch Mädchen und Frauen Rechnung zu tragen", so Bird. "Die natürliche Folge ist, dass die Prävalenz von Autismus steigt."

Außerdem haben Bemühungen zur Sensibilisierung für Autismus dazu beigetragen, dass Menschen eher bemerken, wenn ihrer Erfahrungen oder Angewohnheiten möglicherweise nicht neurotypisch sind.

"Das öffentliche Bewusstsein hat wahrscheinlich dazu geführt, dass sich mehr Menschen um eine Beurteilung und Diagnose bemühen", sagte Suzy Yardley, Geschäftsführerin der gemeinnützigen Organisation Child Autism UK, gegenüber der DW. "Sie können sich dann Erleichterung verschaffen, wenn sie Antworten und mögliche nächste Schritte finden."

Forschende untersuchen zudem, ob Faktoren wie Schadstoffe in der Luft, Veränderungen der Darm-Hirn-Achse oder des Immunsystems eine direkte Auswirkung auf die Neuroentwicklung und Autismus haben könnten.

Bird sagt jedoch, die Beweise für diese Theorien seien "nicht überzeugend".

"Schadstoffe sind zweifellos schädlich, aber es würde mich überraschen, wenn sie die Autismus-Rate erhöhten", so der Neurowissenschaftler.

Impfstoffe verursachen keinen Autismus

Die Behauptung, dass Impfstoffe für die steigenden Autismus-Raten verantwortlich sind, wurde wiederholt und nachdrücklich widerlegt.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben Forschende in vielen groß angelegten Studien untersucht, ob irgendein Aspekt von Impfungen Autismus verursachen könnte. In keiner dieser Studien wurde ein Zusammenhang zwischen Autismus und Impfungen nachgewiesen. Das galt sowohl für Immunisierungen, welche die Mutter während der Schwangerschaft erhielt, als auch Impfungen, die dem Kind nach der Geburt verabreicht wurden. Die National Institutes of Health in den USA fanden ebenfalls keinerlei Zusammenhang zwischen Autismus und Impfstoffen.

Die falsche Behauptung, dass Impfstoffe Autismus verursachen, stammt ursprünglich aus einer 1998 veröffentlichten Studie, in der ein Zusammenhang zwischen dem Impfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln und Problemen bei der Gehirnentwicklung hergestellt wurde. Später stellte sich heraus, dass die Studie schwerwiegende Fehler aufwies, und sie wurde zurückgezogen. Doch die falsche Information, die sie in die Welt gesetzt hatte, blieb hängen.

Kennedy ist als Impfgegner bekannt. Erst im März forderte er die CDC auf, die Zusammenhänge zwischen Impfstoffen und Autismus zu untersuchen, obwohl die früheren Untersuchungen der Behörde hier keinen Zusammenhang zeigten.

Autismus-Aktivisten skeptisch gegenüber Kennedys Zielen

Menschen, die sich im Bereich Autismus engagieren, haben die Ankündigung des Gesundheitsministers mit Skepsis aufgenommen.

"Wir sind fassungslos über die gefühllose und wissenschaftsfeindliche Art und Weise, wie Trump und RFK Jr. über autistische Menschen sprechen", sagt Tim Nicholls, stellvertretender Direktor für Politik, Forschung und Strategie bei der britischen National Autistic Society. "Wäre es nicht besser, wenn sie ihre enormen finanziellen Ressourcen dafür einsetzen würden, das Leben autistischer Menschen und ihrer Familien zu verbessern, und das Verständnis für Autismus in der Gesellschaft zu erhöhen?"

Bird sagt, dass "Spannungen" in der Art und Weise, wie Menschen über Autismus denken und ihn erforschen, weit verbreitet sind, insbesondere wenn es um die Idee geht, Fallzahlen zu reduzieren, Autismus zu heilen oder gar, ihn auszurotten.

Einige Organisationen sagen, dass Autismus keine Krankheit sei und es daher nichts zu heilen gebe, so Yardley von Child Autism UK.

Andere Stimmen wiederum argumentieren, dass diejenigen, die sagen, Autismus sei keine Krankheit, "eine große Anzahl von Menschen mit Autismus übertönen, die das Gefühl haben, ihr Leben wurde durch Autismus negativ beeinflusst", sagt Bird.

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Englisch

Item URL https://www.dw.com/de/autismus-epidemie-in-den-usa-laut-rfk-jr-stimmt-das/a-72242640?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72149000_302.jpg
Image caption US-Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. möchte die Ursachen für Autismus final klären - und zwar bis September.
Image source Laura Brett/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/ea/ea2025026_italien_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/72149000_302.jpg&title=%22Autismus-Epidemie%22%20in%20den%20USA%20laut%20RFK%20Jr.%3A%20Stimmt%20das%3F

Item 34
Id 72191254
Date 2025-04-15
Title "Morbus Mediterraneus" – Diagnose: Vorurteil
Short title "Morbus Mediterraneus" - Diagnose: Vorurteil
Teaser In der Medizin gibt es diskriminierende Begriffe für übertrieben empfundene Schmerzen bei Migranten. Vor allem Frauen, Muslime sowie schwarze und asiatische Menschen werden nicht ausreichend oder falsch behandelt.
Short teaser Vor allem Frauen, Muslime sowie schwarze und asiatische Menschen werden oftmals falsch behandelt.
Full text

Die medizinischen Bezeichnungen klingen seriös und harmlos, aber sie sind eindeutig diskriminierend. Diagnosen wie "Morbus Mediterraneus", "Morbus Bosporus" oder "Mamma-mia-Syndrom" beschreiben eine vermeintlich übersteigerte Schmerzwahrnehmung ohne medizinischen Grund bei Menschen mit Migrationsgeschichte.

Alle diese Begriffe entstanden während der ersten Welle der Arbeitsmigration in den späten 1950er und 1960er Jahren, als sehr viele "Gastarbeiter" aus Italien, der Türkei, Spanien, Griechenland und Jugoslawien nach Mitteleuropa kamen. "Morbus" bedeutet Krankheit, "Mediterraneus" beschreibt den Mittelmeerraum.

"Das sind eigentlich Hilfs- oder Verlegenheitsdiagnosen", sagt Meryam Schouler-Ocak, die Leitende Oberärztin der Psychiatrischen Institutsambulanz der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin. "Die Beschwerden der frühen Arbeitsmigranten waren den hiesigen Ärztinnen und Ärzten fremd."

Unterschiedliche Schmerzwahrnehmung?

Aus biologischer Sicht gibt es keine genetischen oder hormonellen Gründe, warum Menschen unterschiedlicher Herkunft Schmerzen unterschiedlich empfinden sollten. Das Schmerzempfinden lässt sich auch nicht auf die ethnische Herkunft oder das Geschlecht reduzieren.

Eine zentrale Rolle bei der Schmerzwahrnehmung und Schmerzäußerung spielen kulturelle und soziale Einflüsse. So mussten Medizinerinnen und Mediziner erst lernen, dass die Schilderung der Beschwerden bei ein und derselben Störung sehr unterschiedlich sein können, so Schouler-Ocak. Dass man Schmerzen überall haben und nicht näher lokalisieren kann. Oder dass Personen mit einer depressiven Störung auch eine ganz andere Haltung und eine sehr reduzierte Mimik oder Gestik zeigen können.

"Diesen Blick und dieses Verständnis hatten wir damals nicht. Uns fehlten die kulturellen Informationen über die diversen Gruppen in unserer Gesellschaft", so die Professorin für Interkulturelle Psychiatrie.

Phänomen aus grauer Vorzeit?

Heute werden diskriminierende Begriffe wie "Morbus Mediterraneus" nur noch sehr selten verwendet. Seit den 1960er Jahren hat die Globalisierung zugenommen, viele Gesellschaften haben sich durch Zuwanderung stark verändert. In Deutschland haben heute knapp 30 Prozent der Bevölkerung eine Migrationsgeschichte: Hier leben mehr als fünf Millionen Muslime, mehr als eine Million Schwarze und mehr als drei Millionen Asiaten. Und entsprechend hat sich auch das medizinische Personal inzwischen deutlich diversifiziert.

Trotzdem spiele Diskriminierung in der Medizin unterschwellig noch immer eine Rolle, so Meryam Schouler-Ocak. Gerade wenn sich Menschen nicht verständlich machen oder ihre Beschwerden nicht artikulieren können, werde ihnen zum Teil nicht adäquat geholfen. "Wer nicht beschreiben kann, was er hat, der wird eben nicht mehr so gut verstanden", so die Professorin für Interkulturelle Psychiatrie.

Der Einsatz von Dolmetschern ist für medizinisches Fachpersonal oftmals zu aufwendig und kostspielig, zumal der Mehraufwand vom Gesundheitssystem nicht abgegolten werde, so Schouler-Ocak. "Das ist ein Riesendilemma".

Vorurteile beeinflussen die Diagnose

Vor allem Frauen, Muslime sowie schwarze und asiatische Menschen sind betroffen. Sie werden zum Teil noch immer nicht ausreichend oder falsch behandelt, Betroffene erhielten selbst bei starken Schmerzen keine oder unzureichende Schmerzmittel.

Dies ist ein klarer Verstoß gegen geltendes Recht, denn jede Form von Schmerzschilderung muss vom medizinischen Personal ernst genommen werden. Niemand darf aufgrund seiner Herkunft benachteiligt werden, so steht es auch zum Beispiel im Deutschen Grundgesetz und im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz.

Das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung hat zu dem Thema 21.000 Menschen mit Migrationsgeschichte befragt. Laut dem "NaDiRa Monitoringbericht 2023: Rassismus und seine Symptome" vom November 2023 hat etwa jede dritte befragte Person bereits eine Arztpraxis oder Klinik gewechselt, weil sie sich mit ihren Beschwerden nicht ernst genommen fühlte.

Frauen werden besonders diskriminiert

Besonders schlecht fühlten sich Frauen mit Migrationsgeschichte behandelt: Rund 39 Prozent der befragten schwarzen Frauen, 35 Prozent der muslimischen Frauen und 29 Prozent der asiatischen Frauen berichten von negativen Erfahrungen in Praxen und Kliniken.

Laut dem Nationale Aktionsplan gegen Rassismus der Bundesregierung von 2017 gibt es bei Frauen mit Migrationsgeschichte eine erhöhte Häufigkeit von schweren psychischen Krankheiten und eine erhöhte Suizidrate.

Gleichzeitig lassen sich betroffene Frauen seltener behandeln. Das könne auch mit Scham- oder Schuldgefühlen zusammenhängen, so Schouler-Ocak. Oftmals fehlen den Frauen aber auch die Sprachkenntnisse, um ihre Probleme oder Beschwerden zu schildern.

Problematische Lehre

Häufig sind nicht offener Rassismus, sondern eher Unkenntnis oder eine fehlende kulturelle Sensibilität für eine diskriminierende Behandlung von Menschen mit Migrationshintergrund verantwortlich.

Mitverantwortlich sei lange auch die medizinische Ausbildung gewesen, die sich von der Kontaktaufnahme über die Diagnostik und Therapie bis zur Medikamentendosierung an einem männlichen, weißen, jungen, mitteleuropäischen, nicht behinderten "Prototypen" orientiert hat. Wer von diesem Prototypen abweicht, passt nicht ins Schema.

Weiterer Nachholbedarf

Geschlecht, Klasse, Bildung, Religion und Migrationsgeschichte können immer noch einen erheblichen Einfluss auf die Behandlung haben, das zeigt auch eine Befragung von Medizinstudierenden in Deutschland aus dem Jahr 2023. In ihrer Ausbildung bemängelten die Studierenden erhebliche interkulturelle Wissenslücken, rassistische Verhaltensweisen und diskriminierende Strukturen, für die sie vor allem die medizinischen Ausbildungsgrundlagen verantwortlich machten.

Es gebe in der medizinischen Literatur nur wenige Daten zu Menschen mit Migrationshintergrund. In früheren medizinischen Lehrmaterialien wurden Menschen aus anderen Kulturkreisen oftmals mit problematischen Stereotypen in Verbindung gebracht, etwa mit einem erhöhten Risiko für sexuell übertragbare Krankheiten oder mit übermäßigem Alkohol- und Drogenkonsum, erinnert sich auch Medizinerin Schouler-Ocak.

Inzwischen aber habe sich sehr viel getan und die Vermittlung von interkultureller Kompetenz ist eine verpflichtender Teil der medizinischen Ausbildung geworden, so Schouler-Ocak. "Es ist schon gut und wichtig, auch dass die interkulturelle Öffnung und Diversität der Gesellschaft jetzt auch in den Institutionen sichtbar ist. So zeigt das Behandlungssystem, dass es für alle Patienten da ist, nicht nur für Einheimische. Auch die Schwelle für die Inanspruchnahme dieser Einrichtungen ist so niedriger."

Trotzdem gebe es nicht nur in Deutschland, sondern europaweit nach wie vor einen großen Nachholbedarf.

Quellen:

NaDiRa-Bericht 2023 Rassismus und seine Symptome https://www.rassismusmonitor.de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/Rassismus_Symptome/Rassismus_und_seine_Symptome.pdf

Medical students' perspectives on racism in medicine and healthcare in Germany: Identified problems and learning needs for medical education https://www.egms.de/static/en/journals/zma/2023-40/zma001604.shtml

Item URL https://www.dw.com/de/morbus-mediterraneus-diagnose-vorurteil/a-72191254?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72196889_302.jpg
Image caption Viele Patienten mit Migrationsgeschichte haben bereits eine Arztpraxis oder Klinik gewechselt, weil sie sich mit ihren Beschwerden nicht ernst genommen fühlten
Image source Britta Pedersen/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/Events/mp4/md/md191112_Migrant_sd.mp4&image=https://static.dw.com/image/72196889_302.jpg&title=%22Morbus%20Mediterraneus%22%20%E2%80%93%20Diagnose%3A%20Vorurteil

Item 35
Id 72219385
Date 2025-04-15
Title Immer mehr Hochwasser und Hitze in Europa - was nun?
Short title Immer mehr Hochwasser und Hitze in Europa - was nun?
Teaser Die Klimakrise verschärft sich: 2024 war es in Europa heißer als je zuvor, mit alarmierenden Folgen. Doch es gibt auch Lichtblicke, so der neue Report des EU-Klimadiensts Copernicus.
Short teaser 2024 war das Klima in Europa heißer als je zuvor, mit alarmierenden Folgen. Das zeigt der neue Copernicus-Klimareport.
Full text

Kein anderer Kontinent erwärmt sich so schnell wie Europa. Das zeigt der heute veröffentlichte Bericht zum Zustand des Klimas in Europa "State of the European Climate 2024". Im vergangenen Jahr wurden demnach zahlreiche Temperatur-Grenzwerte überschritten und Negativ-Rekorde aufgestellt.

Verfasser sind rund 100 Wissenschaftler des Copernicus Climate Change Service der Europäischen Kommission und der Weltwetterorganisation. Die gesamte Erde hat sich im Durchschnitt seit der Industrialisierung um rund 1.3 Grad erwärmt. In Europa sind es 2.4 Grad. Bis auf Island, wo es kühler als sonst war, wurden vergangenes Jahr überall in Europa überdurchschnittlich hohe Temperaturen gemessen.

"Die Meerestemperaturen waren außergewöhnlich hoch, der Meeresspiegel stieg weiter an, die Eisschilde und Gletscher schmolzen weiter," erläutert Samantha Burgess, eine der Hauptautoren des Berichts. Auch weltweit war das vergangene Jahr das wärmste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.

"Und das, während die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre weiter anstieg und 2024 erneut Rekordwerte erreichte. Seit den achtziger Jahren hat sich Europa doppelt so schnell erwärmt wie der globale Durchschnitt", so Burgess weiter.

Hochwasser und Hitze gefährden Menschen und Infrastruktur

Das hat weitreichende Folgen. Beim menschengemachte Klimawandel "geht es nicht nur um weltweite Durchschnittszahlen. Sie haben Folgen auf regionaler und lokaler Ebene", so Florence Rabier, Generalsekretärin des European Centre for Medium-Range Weather Forecasts, das mit Copernicus zusammenarbeitet.

Ob Überschwemmungen, Hitzetage, Stürme, oder Dürren: das Leben der rund 750 Millionen Menschen in Europa wird immer häufiger von extremem Wetter beeinflusst – befeuert durch den menschengemachten Klimawandel.

In Valencia starben bei den Überschwemmungen vergangenen Oktober und November mehr als 220 Menschen. Die Niederschlagsmengen brachen binnen weniger Stunden alle bisherigen Rekorde und zerstörten Autos, Häuser und Infrastruktur. Der Schaden beläuft sich auf megr als 16 Milliarden Euro.

Davor kam es durch Sturm Boris bereits in acht osteuropäischen Ländern zu Überschwemmungen entlang tausender Kilometer Flussläufe.

Von den Stürmen und Überschwemmungen waren in Europa vergangenes Jahr laut Schätzungen 413.000 Menschen betroffen, mindestens 335 Menschen verloren ihr Leben.

Die Anzahl der Tage mit extremer Hitzebelastung war 2024 die zweithöchste seit Beginn der Aufzeichnungen. Vor allem in Osteuropa war es extrem heiß und trocken. Der Süden erlebte einmal mehr schwere Dürren, sogar im Winter.

Im Westen Europas regnete es dagegen so viel wie in kaum einem Jahr seit 1950. Eine Kombination aus Dürre und Starkregen erhöht das Hochwasserrisiko enorm, da harter, ausgetrockneter Boden große Wassermassen in kurzer Zeit nicht aufnehmen kann. Dadurch entstehen schnell gefährliche Ströme.

Städte brauchen mehr Schutzmaßnahmen

"Jeder zusätzliche Bruchteil eines Grades Temperaturanstieg ist von Bedeutung, weil er die Risiken für unser Leben, unsere Wirtschaft und unseren Planeten vergrößert. Anpassung ist ein Muss", so WMO-Generalsekretärin Celeste Saulo bei der Vorstellung des Berichts.

Zwar nehmen weltweit die Emissionen, die den Klimawandel treiben, immer noch zu. Doch eine gute Nachricht: Europa produzierte 2024 Jahr so viel Energie aus Sonne, Wind und Biomasse wie noch nie. 45 Prozent des Stroms kam aus klimafreundlichen Erneuerbaren.

Doch besonders beim Hochwasserschutz und Hitzestress müssen die Länder schnellstmöglich Vorkehrungen und Anpassungsmaßnahmen zu treffen, warnen die Forscher eindringlich.

Laut Burgess könnte eine langfristige Erderwärmung über 1.5 Grad zu 30.000 zusätzlichen Todesfällen in Europa durch extreme Hitze führen.

Positiv heben die Forscher hervor, dass mehr als die Hälfte von Europas Städten inzwischen Pläne erarbeiten, um sich an extremes Wetter anzupassen und ihre Bürger besser zu schützen.

Paris, Mailand, die Niederlande und Glasgow gehen hier voran. Dort werden der Bau von Klimaschutzeinrichtungen, der Ausbau von Grünflächen zur Kühlung der Stadt, sowie Hochwasserschutzmaßnahmen deutlich vorangetrieben.

Redaktion: Tamsin Walker, Anke Rasper

Item URL https://www.dw.com/de/immer-mehr-hochwasser-und-hitze-in-europa-was-nun/a-72219385?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70243063_302.jpg
Image caption Portugal im September 2024: Brände vernichteten tausende Hektar Wald. Mehr als 200.000 Anwohner waren in Gefahr.
Image source Pedro Nunes/REUTERS
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/70243063_302.jpg&title=Immer%20mehr%20Hochwasser%20und%20Hitze%20in%20Europa%20-%20was%20nun%3F

Item 36
Id 72212318
Date 2025-04-14
Title Serienmörder Fritz Haarmann: "Der Schlächter von Hannover"
Short title Serienmörder Fritz Haarmann: "Der Schlächter von Hannover"
Teaser London hat Jack the Ripper und Hannover hat Fritz Haarmann. Der Serienmörder biss seine Opfer tot und zerstückelte sie dann. Vor 100 Jahren wurde er hingerichtet - und freute sich darauf, in die Geschichte einzugehen.
Short teaser London hat Jack the Ripper und Hannover hat Fritz Haarmann. Vor 100 Jahren wurde er hingerichtet.
Full text

Friedel Rohte ist gerade mal 17 Jahre alt, als er im September 1918 in Hannover verschwindet. Zuvor hat man ihn mit einem feinen Herrn im Café gesehen. Fritz Haarmann heißt der Mann - und ist der Polizei wohlbekannt, weil er als Spitzel in ihren Diensten steht. Als sie ihn in seiner Wohnung befragen wollen, erwischen sie ihn mit einem 13-jährigen Jungen im Bett. Den Gesuchten finden sie nicht. "Hätten sie mal richtig geguckt, denn der Schädel Friedel Rohtes stand wohl in einer Wandnische, versteckt unter Zeitschriften und Büchern", erzählt der pensionierte Kriminalbeamte Jürgen Veith der DW.

In Hannover wandelt Veith bei "Mord(s)-Touren" mit seinen Gästen auf den Spuren des Serienmörders. "Haarmann war im Prinzip der deutsche Jack the Ripper", sagt er. 26 Morde - andere Quellen reden von 24 - an jungen Männern habe er gestanden. "Das waren die Morde, an die er sich erinnern konnte. In Wirklichkeit dürften es mehr als 50 gewesen sein", sagt Veith.

Wer war Fritz Haarmann?

Rückblick: Fritz Haarmann wurde am 25. Oktober 1879 in Hannover geboren, als jüngstes von sechs Kindern. "Er hatte eine sehr schlimme Kindheit. Sein Vater war wohl alkoholkrank, ein Säufer- wie man früher sagte -, er muss ihn auch viel geprügelt haben", erzählt Jürgen Veith. Und Fritz Haarmann hat wohl sexuellen Missbrauch durch einen älteren Bruder über sich ergehen lassen müssen."

Sind das Faktoren, die einen zum Serienmörder werden lassen? "Eine 'schwere Kindheit' ist keine Entschuldigung", sagt die Kriminalpsychologin Lydia Benecke der DW. "Natürlich begehen die allermeisten Menschen, die entsprechend ungünstigen Faktoren in ihrem frühen Leben ausgesetzt waren, keine schweren Straftaten." Doch wissenschaftliche Erkenntnisse, ergänzt sie, würden belegen, dass entsprechende Misshandlungen bei einer kleinen Gruppe von Menschen Auslöser für die Entwicklung hin zur Begehung schwerer Straftaten sein könnten - zu deren Extremform Serienmorde gehören.

"Eine fundamentale Fehlannahme von Menschen besteht darin, zu glauben, es müsste einem Menschen anzumerken sein, wenn er schwere Straftaten begeht", so Benecke. "Dies trifft in den meisten Fällen nicht zu." Auch bei Fritz Haarmann nicht. Im Alltag wirkt er vertrauenerweckend. Er ist stets gut gekleidet, freundlich und unauffällig. Auch bei der Polizei kommt er gut an. Er liefert ihr Informationen aus dem Rotlichtmilieu.

Morden in der Dachkammer

Haarmann begeht seine Morde in einer Zeit, als die Menschen gerade mal ein paar Jahren den Ersten Weltkrieg hinter sich haben. Es gibt viele Arbeitslose, Essen ist Mangelware, der Schwarzmarkt floriert ebenso wie die Prostitution. Fritz Haarmann handelt unter der großen Vorhalle des Hauptbahnhofs Hannover mit gestohlener Kleidung junger Männer, Fleisch und anderen Dingen. Hier schaute er sich nach seinen Opfern um. "Er hatte einen guten Riecher für junge Burschen, die in der damaligen schlimmen wirtschaftlichen Zeit der 1920er-Jahre so mehr oder weniger ziellos und hilflos waren", erzählt Veith. "'Ach komm, du hast bestimmt Hunger. Du siehst so müde aus. Kannst bei mir mal übernachten und kriegst du auch was zu essen' - so hat er vermutlich seine Opfer angelockt."

Die jungen Männer, die Haarmann in seine Dachkammer folgen, sind zwischen zehn und 22 Jahre alt. Haarmann nennt sie seine "Puppenjungs". Sie sollen den Ort nicht mehr lebend verlassen. Die Nachbarn in dem Armenviertel kümmern sich nicht um die seltsamen Geräusche aus seiner Wohnung. Haarmann zerbeißt seinen Opfern die Kehle. Das habe ihn sexuell erregt, wird er später zu Protokoll geben.

Allerdings ist ihm offenbar der Aufwand, der mit der Beseitigung der Leichen verbunden war, lästig: "Ich bin immer mit Grauen an diese Arbeit gegangen und doch war meine Leidenschaft stärker als das Grauen vor der Zerstückelung."

"Es wurde vermutet, dass Haarmann Fleisch seiner Opfer… auf dem Schwarzmarkt verkaufte. Illegaler Fleischhandel war alltäglich, das Fleisch dort zu verkaufen, könnte also eine sehr pragmatische Methode dargestellt haben, um sowohl Leichenteile zu beseitigen, als auch sich an diesen zu bereichern", so Lydia Benecke zur DW. "Ob er jemals etwas von dem Fleisch tatsächlich verkaufte oder sogar selbst verzehrte, bleibt ungeklärt." Fest steht aber, dass er viele Knochen seiner Opfer im Fluss entsorgt, der Leine.

Das Geständnis

Das wird Fritz Haarmann schließlich zum Verhängnis. Spielende Kinder finden Schädel am Ufer. Zunächst hält man sie für die Überreste von Ertrunkenen, doch als immer mehr Knochen auftauchen, wird die Polizei hellhörig. Nach und nach tauchen rund 500 Leichenteile auf. Die Bürger der Stadt haben Angst, wer mordet da unter ihnen? Der "Schlächter", "Werwolf" und "Vampir von Hannover" macht weltweit Schlagzeilen.

Die Spur führt zu Fritz Haarmann, im Juni 1924 wird er verhaftet. Die Polizei kennt ihn als Kleinkriminellen, hat oft ein Auge zugedrückt, weil er gute Spitzeldienste leistet. Aber ein Serienmörder? Man will es kaum glauben. Doch die Polizisten finden bei der Durchsuchung seiner Wohnung Blutspuren und blutbefleckte Kleidungsstücke.

Zunächst verweigert Haarmann die Aussage, daraufhin erhöht die Polizei den Druck und greift, so Veith, zu unlauteren Methoden. Sie stellt beleuchtete Schädel in die Ecken seiner Gefängniszelle, die Augenhöhlen mit rotem Papier beklebt. Auch ein Sack mit menschlichen Gebeinen steht in der Ecke. Die Verstorbenen würden ihn holen, wenn er nicht gestehen würde, droht man ihm. Und Haarmann gesteht. "Seine Puppenjungen sei doch immer so lieb zu ihm gewesen und hätten gerne mitgemacht", sagt er. Er habe sie im "sexuellen Rausch" getötet.

"Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir"

Der Prozess gegen Fritz Haarmann ist das Medienereignis schlechthin. Der Volksmund dichtet einen bekannten Operettenschlager um. Aus "Warte, warte noch ein Weilchen, dann kommt auch das Glück zu dir" wird "Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir - mit dem kleinen Hackebeilchen und macht Leberwurst aus dir."

Der Prozess beginnt im Dezember. "In der heutigen Zeit wäre so ein Riesenverfahren in so kurzer Zeit nicht abgeschlossen worden", sagt Veith. Schon damals seien Zweifel an der Rechtmäßigkeit aufgekommen; so kritisierte der zeitgenössische Journalist Theodor Lessing: "Kaum jemals ist ein bedeutender Prozess unfähiger, kleinlicher und törichter geführt worden." Man habe die Zurechnungsfähigkeit Haarmanns nicht richtig überprüft.

Das Todesurteil wird trotzdem vollstreckt. Am 15. April stirbt Fritz Haarmann unter dem Fallbeil. Zuvor hat er sich noch gewünscht, dass man ihm ein Denkmal errichtet. " Das ist eine Sehenswürdigkeit noch in 1000 Jahren. Da kommen sie alle und seh’n sich das noch an“, soll er zu dem Psychiater gesagt haben, der ihn in der Haft befragte.

Zweifelhafter Ruhm nach dem Tod

Die Geschichte des Serienmörders Fritz Haarmann schaffte es mehrfach auf auf Theaterbühnen und die Film-Leinwand, so etwa in "M - eine Stadt sucht ihren Mörder" von Fritz Lang aus dem Jahre 1931 oder dem Oscar-nominiertem Streifen "Der Totmacher" (1995) mit Götz George. Hörspiele, ein Musical, Bücher, eine Graphic Novel und sogar ein mörderisches Brettspiel - das allerdings sehr umstritten war- beschäftigen sich mit Haarmann. Und auch in der Musik hat man Fritz Haarmann verewigt. Zuletzt 2023, da veröffentlichte die japanische Metal-Band "Church of Misery" in Anlehnung an Haarmann den Song "Most Evil". Und ja, es gibt sogar eine Statue, wie er es sich gewünscht hat - von dem bekannten Wiener Bildhauer Alfred Hrdlicka (1928-2009).

Fritz Haarmann wollte berühmt werden, und das ist ihm definitiv gelungen. Auch 100 Jahre nach seinem Tod kennt man seinen Namen. Und das nicht nur in seiner Heimatstadt Hannover.

Item URL https://www.dw.com/de/serienmörder-fritz-haarmann-der-schlächter-von-hannover/a-72212318?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72212657_302.jpg
Image caption Fritz Haarmann tötete mindestens 24 junge Männer
Image source dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72212657_302.jpg&title=Serienm%C3%B6rder%20Fritz%20Haarmann%3A%20%22Der%20Schl%C3%A4chter%20von%20Hannover%22

Item 37
Id 72238568
Date 2025-04-14
Title Meta vor Zerschlagung? "Facebook-Prozess" beginnt
Short title Meta vor Zerschlagung? "Facebook-Prozess" beginnt
Teaser Könnte es dazu kommen, dass der Facebook-Konzern Meta dazu verurteilt wird, sich von Instagram und WhatsApp zu trennen? Darüber geht es ab diesem Montag vor einem Gericht in Washington.
Short teaser Könnte Meta dazu verurteilt werden, sich von Instagram und WhatsApp zu trennen?
Full text

Die Handelsbehörde FTC wirft Meta vor, den Chatdienst WhatsApp und die Foto-Plattform Instagram gekauft zu haben, um - widerrechtlich - die eigene Monopolstellung zu schützen. Deshalb fordert sie Konsequenzen bis hin zu einer Rückabwicklung der Übernahmen. Die FTC (Federal Trade Commission) agierte bislang traditionell unabhängig und bestand aus Vertretern aus beiden großen US-Parteien. US-Präsident Donald Trump hat die Überparteilichkeit beendet und die beiden Kommissare aus den Reihen der Demokraten entlassen. Sein Ziel; die volle Kontrolle über die Behörde.

Meta bestreitet die Vorwürfe kategorisch und verweist auf den extrem harten Wettbewerb mit anderen Plattformen wie Tiktok. Auch Meta-Chef Mark Zuckerberg wird im Laufe des Prozesses voraussichtlich als Zeuge gehört werden.

Bis zur endgültigen Klärung des Falls könnten noch weitere Jahre vergehen. Beobachter halten es für sehr wahrscheinlich, dass - ungeachtet des Prozessausganges - mindestens eine der Seiten in Berufung geht.

Trump hatte es losgetreten

Noch unter dem Namen Facebook hatte der Konzern 2012 Instagram für etwa eine Milliarde Dollar und zwei Jahre darauf WhatsApp für rund 22 Milliarden Dollar gekauft. Meta konnte durch die Zukäufe seinen Umsatz deutlich steigern. Die US-Behörden hatten die Übernahmen freigegeben.

Die Klage war im Dezember 2020 am Ende der ersten Amtszeit Donald Trumps erhoben worden. Das wurde als politische Maßnahme aufgefasst. Trump wolle sich, hieß es damals, dagegen wehren, wie Meta auf seinen Plattformen gegen falsche und irreführende Informationen vorging. Dabei ging es auch um die Behauptungen des Präsidenten, ihm sei der Wahlsieg durch Betrug gestohlen worden.

Biden klagte weiter

Die erste Klage hatte Richter James Boasberg zurückgewiesen. Die klagende Behörde hätte sich nicht die Mühe gemacht, ihre Vorwürfe mit Zahlen zu untermauern. Die FTC hielt jedoch - auch unter Trumps Nachfolger Joe Biden - an der Klage fest und reichte viele Zahlen nach.

Dennoch kann sich die FTC ihrer Position im Prozess nicht sicher sein. So kann sie nicht, wie in vergleichbaren Fällen üblich, argumentieren, dass die Preise für die Verbraucher gestiegen seien, weil Instagram und WhatsApp kostenlos sind.

Die Behörde argumentiert stattdessen, dass die Qualität von Metas Apps gesunken sei – weil jetzt der Konkurrenzdruck fehle. Meta behauptet, die Kunden hätten von den Übernahmen wohl profitiert. Die seien auch gut für den Wettbewerb gewesen seien.

Sind Trump und Zuckerberg einander nah genug?

Facebook-Gründer und Meta-Chef Mark Zuckerberg ist in den vergangenen Monaten sichtbar näher zu Trump gerückt. So war er auch prominent bei Trumps Amtseinführung dabei.

Er lockerte seither Regeln für die Inhalte auf seinen Plattformen und stoppte die Faktenchecks in den USA. Schließlich einigte sich der Konzern mit dem Präsidenten auf eine Entschädigungszahlung von 25 Millionen Dollar für die Sperrung seiner Accounts nach der Erstürmung des Kapitols in Washington durch seine Anhänger im Januar 2021.

Der heute beginnende Prozess hält auch eine interessante Beobachtung bereit: Mit Richter Boasberg hat die Trump-geführte Administrsation nämlich auch bei anderen Fällen zu tun. So auch bei der Auseinandersetzung um die umstrittene Abschiebung angeblicher Banden-Krimineller nach El Salvador. Trump beschimpfte den Richter bereits als einen "radikalen linken Irren".

Item URL https://www.dw.com/de/meta-vor-zerschlagung-facebook-prozess-beginnt/a-72238568?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/59658123_302.jpg
Image caption Die Apps von Facebook, Instagram und WhatsApp - und alle gehören zum Mutterkonzern Meta
Image source Revierfoto/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/shd/shd2023110_PaidSocialNEU2_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/59658123_302.jpg&title=Meta%20vor%20Zerschlagung%3F%20%22Facebook-Prozess%22%20beginnt

Item 38
Id 72234869
Date 2025-04-14
Title Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa gestorben
Short title Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa gestorben
Teaser Mit 89 Jahren ist Mario Vargas Llosa gestorben. Der peruanische Autor von Romanen wie "Die Stadt und die Hunde" und "Das grüne Haus" galt als einer der wichtigsten lateinamerikanischen Schriftsteller.
Short teaser Mit Romanen wie "Das grüne Haus" galt der Peruaner als einer der wichtigsten lateinamerikanischen Schriftsteller.
Full text

Mario Vargas Llosa wurde in den 1960er-Jahren zu einer der Schlüsselfiguren der lateinamerikanischen Literaturszene. Er schrieb bis ins hohe Alter preisgekrönte Romane, und seine Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Wie seine Familie in Lima mitteilte, ist er am 13. April 2025 (Ortszeit) im Alter von 89 Jahren gestorben.

Im Laufe seiner Karriere hat Vargas Llosa zahlreiche Preise und Ehrungen gewonnen, darunter den französischen Titel "Ritter der Ehrenlegion", den spanischen Prinz-von-Asturien- sowie den Cervantes-Preis und den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. 2010 verlieh ihm die Schwedische Akademie den Literaturnobelpreis "für seine Kartographie der Machtstrukturen und scharfkantigen Bilder individuellen Widerstands, des Aufruhrs und der Niederlage".

"Wir wären schlechtere Menschen ohne die guten Bücher, die wir gelesen haben – angepasster, nicht so rastlos, unterwürfiger. Und der kritische Geist, der Motor des Fortschritts, würde nicht einmal existieren. Lesen, wie Schreiben, ist ein Protest gegen die Unzulänglichkeiten des Lebens", sagte Vargas Llosa in seiner Dankesrede am 7. Dezember 2010 in Stockholm.

Und er fügte hinzu: "Gute Literatur baut Brücken zwischen verschiedenen Völkern, und indem sie uns Freude bereitet, leiden lässt oder überrascht, vereint sie uns über Sprachen, Glaubensrichtungen, Traditionen, Bräuche und Vorurteile hinweg, die uns sonst trennen." 2016 wurde Vargas Llosa der erste spanischsprachige Autor in der Klassiker-Buchreihe "Bibliothèque de la Pléiade" des renommierten französischen Verlags Gallimard. 2021 wurde er Mitglied der altehrwürdigen Gelehrtengesellschaft der Académie française.

Wichtige Stimme der Literatur Lateinamerikas

Am 28. März 1936 wurde der zukünftige Literaturstar als Jorge Mario Pedro Vargas Llosa in Arequipa, Peru, geboren. Seine Kindheit verbrachte er mit seiner alleinerziehenden Mutter, die aus der peruanischen Mittelschicht stammte, in Bolivien, bevor sich die gesamte Familie im Norden Perus niederließ. Als Teenager besuchte er die Militärakademie in Lima und arbeitete danach als Lokaljournalist. Seine ersten Kurzgeschichten veröffentlichte Vargas Llosa als Student der Rechtswissenschaften und Literatur in den späten Fünfzigern. 1959 zog er für einige Jahre nach Paris.

Sein erster Roman, "Die Stadt und die Hunde", erschien 1963 und wurde sofort ein Erfolg. Das Buch spielt in der Militärakademie, die er als Jugendlicher besuchte. Drei Jahre später folgte "Das grüne Haus", das ebenfalls in Peru spielt. Damit zementierte Vargas Llosa endgültig seinen Ruf als wichtigste neue Stimme Lateinamerikas.

In den Jahrzehnten, die folgten, schrieb Mario Vargas Llosa zahlreiche weitere erfolgreiche Romane, darunter "Der Krieg am Ende der Welt" (1981) oder der Polit-Thriller "Das Fest des Ziegenbocks" (2000).

Politisch aktiv - mit spanischem Adelstitel

Der gebürtige Peruaner hat im Laufe seiner Karriere in vielen Städten auf der Welt gelebt und in Universitäten in den USA, Südamerika und Europa gelehrt. Von 1976 bis 1979 war Vargas Llosa Präsident des internationalen Schriftstellerverbandes PEN. Seine gesamte Laufbahn hindurch war Mario Vargas Llosa politisch aktiv. Wie viele andere Schriftsteller seiner Generation war er in seiner Jugend vom Marxismus geprägt, wandte sich später jedoch der liberalen Demokratie zu. 1990 stellte sich Vargas Llosa in Peru zur Wahl als Präsident, kam jedoch nicht zum Zug.

Später wurde er spanischer Staatsbürger. König Juan Carlos I. erhob Vargas Llosa 2011 in den Adelsstand und verlieh ihm den Erbtitel "Marquesado de Vargas Llosa". In einem Interview mit der dänischen Website "Louisiana Channel" warnte der Autor 2020, dass "Bilder Ideen als große Protagonisten der zeitgenössischen Kultur ersetzt" hätten. Ein Phänomen, das ihn beunruhige, "denn wenn Bilder Ideen vollständig ersetzen, werden die Mächtigen dieser Welt die Gesellschaft sehr leicht manipulieren können."

Späte Präsenz in Klatschmagazinen

Mario Vargas Llosa war zweimal verheiratet. Seine zweite Ehe mit Patricia, seiner Cousine ersten Grades, hielt mehr als 50 Jahre. 2015 wurde der Literaturnobelpreisträger zum Ziel der Paparazzi, als seine Romanze mit Isabel Preysler, Exfrau des spanischen Sängers Julio Iglesias und Witwe des ehemaligen spanischen Wirtschaftsministers Miguel Boyer, bekannt wurde und Vargas Llosa seine Frau Patricia verließ. 2022 trennten sich Preysler und Vargas Llosa.

"Vargas Llosa ist ein neugieriger Kosmopolit, der ein lebhaftes Interesse an den Phänomenen unserer Zeit hat und gleichzeitig aktiv daran teilnimmt. Das erklärt seine Kandidatur für die peruanische Präsidentschaft oder wieso er in seinem Alter immer noch den Drang verspürt, über Venezuela oder Mexiko zu schreiben", sagte Jürgen Dormagen, langjähriger Lektor von Vargas Llosas Büchern beim Suhrkamp Verlag, anlässlich des 80. Geburtstag des Nobelpreisträgers.

Das von der Kritik gelobte erste Kinderbuch des Autors erschien 2010 und trug den Titel "Fonchito y la luna" ("Fonchito und der Mond"). 2019 veröffentlichte Vargas Llosa seinen Roman "Harte Jahre" über den Putsch in Guatemala 1954. 2023 erschien sein letztes Werk: "Ich widme ihr mein Schweigen". In seinem 20. Werk beschäftigte sich der Autor mit peruanischer Populärmusik.

Mario Vargas Llosa zitierte einmal seine Frau Patricia mit den Worten: "Mario, das einzige, wozu du taugst, ist das Schreiben." Er sagt, er nehme dies als Kompliment, und tatsächlich hat er den Großteil seiner Zeit in das investiert, was er 2010 in Stockholm "die Leidenschaft, das Laster, das Wunder des Schreibens" nannte.

Item URL https://www.dw.com/de/literaturnobelpreisträger-mario-vargas-llosa-gestorben/a-72234869?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72234920_302.jpg
Image caption Mario Vargas Llosa bei einer Konferenz in Madrid 2023
Image source Atilano Garcia/SOPA Images/ZUMA Press/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72234920_302.jpg&title=Literaturnobelpreistr%C3%A4ger%20Mario%20Vargas%20Llosa%20gestorben

Item 39
Id 56210806
Date 2025-04-11
Title Josephine Baker: Tänzerin, Aktivistin und Spionin gegen die Nazis
Short title Josephine Baker: Tänzerin und Aktivistin
Teaser 50 Jahre sind seit ihrem Tod vergangen, doch noch immer inspiriert Josephine Baker mit ihrer einzigartigen Mischung aus künstlerischem Ausdruck und lebenslangem Engagement für Bürgerrechte und Freiheit.
Short teaser 50 Jahre sind seit ihrem Tod vergangen, doch ihre Mischung aus Kunst und Aktivismus ist bis heute inspirierend.
Full text

In ihren Memoiren, die im März erstmals auch auf Deutsch erschienen sind unter dem Titel "Tanzen, Singen, Freiheit", erinnert sich Josephine Baker an den Moment, als sie 1925 als unbekannte Tänzerin die USA verließ: "Ich war nur ein kleines Showgirl - nein, eigentlich nur ein kleines schwarzes Mädchen", schrieb sie. "Ich war fertig mit Amerika. Ich musste neu anfangen." Als das Schiff New York in Richtung Frankreich verließ, "verschwand die Angst (...) Ich war lebendig, ich war frei."

Josephine Baker hatte dem von Rassentrennung geprägten Amerika den Rücken gekehrt – und sollte bald auf Europas größten Bühnen mit provokanten Auftritten glänzen, getragen von ihrem unbedingten Willen zur Selbstbefreiung.

Schon bald als "Schwarze Venus" gefeiert, wurde sie später zu einer wichtigen Figur der US-Bürgerrechtsbewegung an der Seite von Martin Luther King. Doch zuvor stellte sie sich dem NS-Regime entgegen – als Spionin im Dienst der französischen Résistance. Doch auch Bakers Bühnenkarriere ist bemerkenswert: In gut 50 Jahren tanzt und singt sie sich aus dem Armenviertel von St. Louis heraus und auf die großen Bühnen Europas.

Mehr als 1500 Heiratsanträge soll Josephine Baker bekommen haben. 1927 verdient die berühmte Tänzerin mehr als jede andere Entertainerin und jeder andere Entertainer in Europa. Da ist sie gerade mal 20. Mit ihr kommt die weltberühmte "Revue Nègre" und der "Hot Jazz" in die europäischen Kulturmetropolen.

In Paris, Madrid und Berlin liegen ihr Künstler und Literaten wie Picasso und Ernest Hemingway, der Architekt Le Corbusier sowie Schauspieler und Theaterleute wie Jean Gabin und Max Reinhardt zu Füßen. Der französische Künstler Jean Cocteau schwärmt euphorisiert: "Dieses schöne Idol aus braunem Stahl, Ironie und Gold!"

Aus den Slums bis zum Broadway

Als Kind hat Josephine Baker nicht viel zu lachen. Sie muss früh hart arbeiten und Geld verdienen. 1917 erlebt sie mit elf Jahren die Pogrome mit, bei der fast 100 Schwarze Lynchmorden zum Opfer fallen.

Geboren wird sie in Missouri/USA, in den Slums von St. Louis. Freda Josephine McDonald steht auf ihrer Geburtsurkunde, datiert auf den 3.6.1906: uneheliche Tochter einer Schwarzen und eines weißen Spaniers. Der Vater, Musiker jüdischer Abstammung, ist arbeitslos und macht sich schnell aus dem Staub.

Bei reichen weißen Familien kommt sie als Hausmädchen unter. Aber sie lernt schnell den tagtäglichen Rassismus der besitzenden Klasse kennen. Mit 15 verheiratet die Mutter ihre Tochter, um sie versorgt zu wissen. Aus dieser kurzen Verbindung behält Josephine ihren Nachnamen Baker.

Bei einer Wandertruppe hilft sie als Ankleidemädchen aus, ihr Alter muss sie verschleiern: Kein Theaterdirektor hätte einen Teenager engagiert. Als eine Tänzerin krank wird, ergreift sie mutig ihre Chance und tritt mit der Truppe auf. Auf der Bühne erobert sie sich ihre Welt.

Und sie ist ehrgeizig und zäh: Mit 16 tanzt sie als Zweitbesetzung in einem schwarzen Musical, 1922 folgen Auftritte in der erfolgreichen Show "Chocolate Dandies", die Gastspiele in Moskau und St. Petersburg hat. Mit dieser Revue gelingt ihr auch der erfolgreiche Sprung an den New Yorker Broadway - und kurz darauf nach Europa.

Paris als glamouröse Kulisse

Im mondänen Pariser "Theatre des Champs Elysées" tritt sie 1925 in einer Tanzrevue auf - nur mit ein paar Federn und Perlenkette bekleidet. Ihre sinnliche Erotik, ihr durchtrainierter Körper und ihre legendären Charleston-Nummern reißen die Zuschauer vor Begeisterung von den Stühlen. Berühmt ist vor allem ihr "danse sauvage", ihr Bananentanz in einem Röckchen aus 16 Bananen.

Über Nacht wird sie zum gefeierten Star. Zu sehen ist sie im berühmten Varietétheater "Folies Bergère" von Paris und in vielen weiteren Städten Europas, als sie sich mit der "Revue Nègre" auf Tournee begibt. Am 14. Januar 1926 begeistert sie zum ersten Mal ein deutsches Publikum am Kurfürstendamm in Berlin.

Als exotische Tänzerin wird Josephine Baker auf den Tourneen vergöttert. Ihre Verehrer überschütten sie mit teuren Geschenken und Liebesschwüren. Ungerührt hält sich die Diva zahllose Liebhaber, schläft mit Männern wie Frauen - und heiratet einen sizilianischen Hochstapler, um sich mit dessen Adelstitel zu schmücken. Doch glücklich wird sie trotz Reichtum nicht.

Der "Hot Jazz" erobert Europas Bühnen

Josephine Baker ist in den "Roaring Twenties" das Sexsymbol ihrer Zeit. Den "Hot Jazz" macht sie in den 1920er-Jahren in Paris, Berlin und anderen Städten salonfähig. Wenn sie singt, sind ihre Texte eher halbseiden. Sie spielt mit ihrem Image als "Schwarze Venus". Jeder Auftritt ist begleitet von einem Riesenrummel. In München erhält sie allerdings Auftrittsverbot: wegen der zu erwartenden "Verletzung des öffentlichen Anstands".

Während einer USA-Tournee erlebt Baker, die in Europa als schwarzer Revuestar gefeiert wird, massive rassistische Anfeindungen. Nach der Show muss sie durch den Dienstboteneingang verschwinden. Enttäuscht wird sie 1937 endgültig französische Staatsbürgerin - dank ihrer Heirat mit dem französischen Juden und Großindustriellen Jean Lion.

"Résistance"-Kämpferin gegen die Nazis

Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 und die Besetzung Frankreichs durch Hitlers Wehrmacht verändern das Leben von Josephine Baker grundlegend. Anfangs arbeitet sie für das Rote Kreuz, hilft wo sie kann.

Durch Kontakte zur französischen Widerstandsbewegung "Résistance" lässt sie sich zur Agentin der französischen Geheimpolizei ausbilden. Versteckt in ihrem Tourneegepäck schmuggelt sie Briefe und geheime Dokumente über die Grenze. General Charles De Gaulle verleiht ihr am Ende des Krieges das Band der französischen Ehrenlegion.

Begründerin der "Regenbogen-Familie"

Politisches Engagement prägt auch die Zeit nach dem Krieg. Zusammen mit ihrem dritten Mann baut Josephine Baker das Schloss "Les Milandes" in der Dordogne zu einem Wallfahrtsort der Rassen- und Religionstoleranz aus. Zwölf Kinder, völlig unterschiedlicher Herkunft und Religion, hatte sie adoptiert: ihre "Regenbogen-Familie".

Aber Baker ist ständig auf Tournee und kaum zu Hause. Die Kindererziehung überlässt sie wechselnden Nannies und ihrem Mann. 1963 marschiert sie an der Seite von Martin Luther King in den USA bei dem legendären "Marsch auf Washington" mit, um gegen den Rassismus in den USA zu protestieren.

Ihr luxuriöses Leben verschlingt Unsummen, am Ende ist Josephine Baker hoch verschuldet. Im Mai 1968 wird ihr Anwesen zwangsversteigert. Ihr Mann hat sie längst entnervt verlassen. Ihre Freundin Fürstin Gracia Patricia sorgt dafür, dass die Regenbogen-Familie beim Roten Kreuz in Monaco unterkommt.

Ein Comeback 1973 in der New Yorker Carnegie Hall und ihre legendäre Show 1975 im Pariser Bobino-Theater bescheren Josephine Baker noch einmal großen Presserummel. Aber die alternde Diva kann nicht an ihre früheren Erfolge anknüpfen. Am 12. April 1975 stirbt sie im Alter von 68 Jahren an Herzversagen. Ihr Ruhm als Tänzerin ist unvergänglich.

Dies ist die aktualisierte Version eines Artikels vom 20.05.2023

Item URL https://www.dw.com/de/josephine-baker-tänzerin-aktivistin-und-spionin-gegen-die-nazis/a-56210806?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/66349723_302.jpg
Image caption Starfoto: Josephine Baker posiert auf einem Tigerfell
Image source Keystone Archives/HIP/picture-alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/66349723_302.jpg&title=Josephine%20Baker%3A%20T%C3%A4nzerin%2C%20Aktivistin%20und%20Spionin%20gegen%20die%20Nazis

Item 40
Id 72198912
Date 2025-04-11
Title Was ist eine Rezession?
Short title Was ist eine Rezession?
Teaser Zölle, Gegenzölle, Handelsstreit - die Angst vor einer weltweiten Rezession schwebt wieder im Raum. Aber was ist das eigentlich - eine Rezession? Und hat sie auch gute Seiten?
Short teaser Die Angst vor einer Rezession schwebt wieder im Raum. Aber was ist eine Rezession? Und hat sie auch gute Seiten?
Full text

Von einer Rezession ist die Rede, wenn die Wirtschaft schrumpft. Dabei wird die Wirtschaftskraft in der Regel anhand der Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gemessen. Das BIP kennzeichnet den Wert aller Dienstleistungen und Waren, die in einem bestimmten Zeitraum hergestellt werden. Um eine Rezession zu verstehen, hilft es, sich die Konjunkturzyklen des Wirtschaftsgeschehens anzusehen.

Die wirtschaftliche Entwicklung kann in immer wiederkehrenden Konjunkturzyklen beschrieben werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Entwicklung in periodischen Phasen verläuft: Nach einer Expansion der Wirtschaft (Aufschwung), kommt es zu einer Hochkonjunktur (Boom), danach folgt ein Abschwung (Rezession), der in einem Konjunkturtief (Depression) mündet. Danach beginnt der Zyklus wieder von vorne. Dabei können die einzelnen Phasen unterschiedlich lang sein. Insgesamt kann so ein Konjunkturzyklus in 3 Jahren, aber auch in 60 Jahren durchlaufen sein.

Warum folgen diese Phasen aufeinander?

Aufschwungphase (Expansion): In dieser Phase wächst die Wirtschaft. Die Produktion und die Beschäftigung steigen, die Arbeitslosenrate sinkt. Unternehmen und Konsumenten sind optimistisch, investieren mehr beziehungsweise geben Geld für Konsum aus. Durch die gestiegene Nachfrage erhöht sich wiederum die Produktion, es werden mehr Menschen eingestellt und so weiter. In dieser Phase gibt es oft Innovationen, es können sich neue Technologien etablieren und Märkte entstehen.

Hochkonjunktur (Boom): Irgendwann befindet sich die Wirtschaft am Höhepunkt des Konjunkturzyklus. Hier sind die Produktionskapazitäten der Unternehmen voll ausgelastet. Um die Nachfrage zu bedienen, müssen Unternehmen neue Anlagen bauen. Durch diese Investitionen erhöhen sich die Preise – die Inflation steigt. So zeigen sich in dieser Phase Überhitzungserscheinungen. Unter Umständen erhöht die Zentralbank die Zinsen, um die Wirtschaft abzukühlen. Am Arbeitsmarkt steigen die Löhne durch die hohe Nachfrage nach Arbeitnehmern. Höhere Löhne und die höheren Zinsen führen aber auch zu höheren Kosten für Unternehmen, was ihren Investitionsspielraum einschränkt.

Abschwungphase (Rezession): Das Wirtschaftswachstum verlangsamt sich oder wird sogar negativ. Die höheren Preise können nicht alle Verbraucher bezahlen und es wird weniger konsumiert. In dieser Phase sinken die Investitions- und Konsumausgaben. Die Lager sind überfüllt. Einige Unternehmen müssen schließen. Die Arbeitslosigkeit steigt wieder. Die gestiegene Unsicherheit senkt das Verbrauchervertrauen, wodurch die wirtschaftliche Aktivität weiter gebremst wird.

Tiefpunkt (Depression): Am Ende mündet die Wirtschaft im Tiefpunkt des Konjunkturzyklus mit niedriger wirtschaftlicher Aktivität. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, es wird wenig produziert. Das senkt die Preise und Zinsen können Investitionen und Konsum anregen, wodurch die Wirtschaft langsam wieder an Fahrt gewinnt.

Offiziell tritt eine sogenannte technische Rezession ein, wenn das BIP in zwei aufeinanderfolgenden Quartalen im Vergleich zu den jeweiligen Vorquartalen zurückgeht.

Die Rezession ist also eine der vier Phasen, die der Konjunkturzyklus einer Volkswirtschaft durchlaufen kann.

Was sind die Ursachen einer Rezession?

Eine Rezession ist somit ein Teil des Konjunkturzyklus. Sie kann aber auch durch sogenannte externe Schocks ausgelöst werden. Beispielsweise durch einen Krieg, ein Virus, das sich weltweit verbreitet, aber eben auch, wenn ein wichtiger Handelspartner hohe Zölle einführt.

Manchmal wird ein einzelner Wirtschaftsbereich geschwächt. Das belastet dann häufig restliche Teile der Wirtschaft, im schlimmsten Fall auch die gesamte Weltwirtschaft. Das passierte beispielsweise beim Platzen der Immobilienblase 2007, als der Immobiliensektor weltweit Banken und daraufhin den Rest der Wirtschaft beeinflusste, was zur Weltfinanzkrise führte.

Welche Arten der Rezession gibt es?

Man unterscheidet zwischen einer technischen Rezession und einer wirtschaftlichen. Wenn das BIP zwei Quartale in Folge geschrumpft ist, spricht man von einer technischen Rezession. Wenn das BIP länger schrumpft, spricht man von einer wirtschaftlichen Rezession.

Was sind Mittel gegen eine Rezession?

Um das Abrutschen in eine Rezession zu verhindern oder die Phase der Rezession möglichst kurz zu halten, nimmt oft der Staat Geld in die Hand, investiert beispielsweise in die Infrastruktur oder das Bildungswesen, wodurch Aufträge für Unternehmen entstehen. So schafft der Staat zusätzliche Nachfrage. Außerdem kann der Staat die Steuern senken, um so die Bürgerinnen und Bürger zu entlasten.

Was sind die Chancen in einer Rezession?

Rezession hört sich ja zunächst einmal nicht wünschenswert an. Sie kann aber auch positive Entwicklungen in Gang setzen. So gibt sie Unternehmen Anreize, die eigenen Strukturen auf Effizienz zu durchleuchten, bestehende Geschäftsmodelle zu überprüfen und überflüssige Strukturen abzubauen.

Der Ökonom Joseph Schumpeter war Mitte des 20. Jahrhunderts schon der Ansicht, dass in einer Rezession veraltete, nicht-innovative Produkte und Serviceleistungen aus dem Markt gedrängt werden und sich so Marktanteile in Richtung höherwertige und innovative Produkte und Dienstleistungen verschieben.

Wird eine Rezession durch externe Schocks ausgelöst, könnte das die Entwicklung von Innovationen vorantreiben. So wurden beispielsweise aufgrund der Corona-Pandemie neue Impfstoffe auf Basis ganz neuer Verfahren entwickelt.

Item URL https://www.dw.com/de/was-ist-eine-rezession/a-72198912?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/66692470_302.jpg
Image source Maximilian Koch/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/66692470_302.jpg&title=Was%20ist%20eine%20Rezession%3F

Item 41
Id 72213999
Date 2025-04-11
Title China erhöht Gegenzölle auf US-Waren auf 125 Prozent
Short title China erhöht Gegenzölle auf US-Waren auf 125 Prozent
Teaser Die Volksrepublik will im Handelskonflikt mit der Trump-Administration keinen Millimeter zurückweichen. Das Weiße Haus musste derweil seinen Chef korrigieren: Der hatte sich kurzzeitig im Zoll-Zahlenwerk verheddert.
Short teaser Die Volksrepublik will im Handelskonflikt mit der Trump-Administration keinen Millimeter zurückweichen.
Full text

China erhöht im Handelskonflikt mit den USA seine Zölle auf US-Importe auf 125 Prozent. Washington wende sich mit seiner Handelspolitik gegen "grundlegende wirtschaftliche Regeln und den gesunden Menschenverstand", erklärte das Finanzministerium in Peking zur Begründung. Die neuen Aufschläge träten am Samstag in Kraft. Die USA hatten ihren Zollsatz auf chinesische Importe seit vergangener Woche um 125 Prozentpunkte angehoben - China tat schrittweise dasselbe.

"Die Verhängung ungewöhnlich hoher Zölle gegen China durch die USA stellt eine schwerwiegende Verletzung internationaler Handelsregeln dar", erklärte die dem Finanzministerium unterstellte Zollkommission. Die Volksrepublik werde künftige Zollerhöhungen durch die USA "ignorieren", da US-Produkte für Importeure nicht länger wirtschaftlich sinnvoll seien. Chinesische Staatsmedien berichteten überdies, dass Peking wegen der erneuten US-Importaufschläge Beschwerde bei der Welthandelsorganisation WTO einlegen werde.

Trump übersieht Zoll von 20 Prozent

Am Mittwoch war US-Präsident Donald Trump im weltweiten Handelsstreit zurückgerudert und hatte seine gerade erst gültig gewordenen Zölle für fast alle Handelspartner zunächst für 90 Tage auf zehn Prozent gesenkt. Für China gilt die Kehrtwende explizit nicht: Für die Volksrepublik erhöhte Trump den Zollsatz noch einmal auf insgesamt 145 Prozent, wie das Weiße Haus nun klarstellte.

Trump hatte zuvor von 125 Prozent gesprochen. Dazu addiert sich aber ein Aufschlag von 20 Prozent vom März, den die US-Regierung mit dem Schmerzmittel Fentanyl aus China begründet, das in den Vereinigten Staaten als Droge verkauft wird. Seine harte Linie gegen Peking begründet Trump wiederum mit den Gegenzöllen, die China verhängt hat.

Spaniens Regierungschef in Peking

Die Volksrepublik wirbt derweil bei anderen Handelspartnern um bessere Beziehungen. Bei einem Treffen mit Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez in Peking sagte Präsident Xi Jinping, dass China und die EU gemeinsam das internationale Handelsumfeld schützen und sich gegen einseitige und schikanöse Praktiken wehren sollten, um die internationalen Regeln und Ordnung zu wahren. In einem Zollkrieg gebe es keine Gewinner und man isoliere sich selbst, erklärte Xi laut der amtlichen Nachrichtenagentur Xinhua.

Sánchez erklärte nach dem Treffen seinerseits vor Medienvertretern: "Wir haben uns immer für Verhandlungen und eine einvernehmliche Lösung für eine Krise wie die derzeitige Handelskrise eingesetzt." Davon ausgehend sei eine Tür zum Dialog offen. Er sei sich sicher, dass die Welt sowohl China als auch die Vereinigten Staaten brauche, sagte Sánchez.

Der spanische Sozialist ist der erste Regierungschef eines EU-Landes, der Peking seit den Zoll-Entscheidungen von Trump und der Eskalation im Handelsstreit besucht. Kurz zuvor hatten zudem EU-Handelskommissar Maros Sefcovic und der chinesische Handelsminister Wang Wentao telefonisch über mehr wirtschaftlichen Austausch beider Seiten gesprochen.

sti/wa (afp, dpa, rtr)

Item URL https://www.dw.com/de/china-erhöht-gegenzölle-auf-us-waren-auf-125-prozent/a-72213999?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72213568_302.jpg
Image caption Wie stark wird der Handel zwischen China und den USA beeinträchtigt? Verladung von E-Autos im Hafen von Suzhou in der ostchinesischen Provinz Jiangsuv (Foto von April 2024)
Image source AFP/Getty Images
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72213568_302.jpg&title=China%20erh%C3%B6ht%20Gegenz%C3%B6lle%20auf%20US-Waren%20auf%20125%20Prozent

Item 42
Id 72212096
Date 2025-04-11
Title Sind Trumps Zölle eine Chance für die Türkei?
Short title Sind Trumps Zölle eine Chance für die Türkei?
Teaser Trumps Zölle scheinen die Türkei zu schonen - im Vergleich zur EU und China. Die türkische Wirtschaft will daraus Kapital schlagen und ihre Exporte steigern. Dazu muss die Regierung aber ihre Karten richtig spielen.
Short teaser Trumps Zölle scheinen die Türkei zu schonen. Die türkische Wirtschaft will daraus Kapital schlagen.
Full text

"Ich habe tolle Beziehungen zu einem Mann namens Erdoğan" - so beschrieb US-Präsident Donald Trump zu Beginn der Woche im Oval Office seine Gefühle gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, während er neben Erdogans politischem Feind Benjamin Netanjahu saß. "Ich mag ihn, und er mag mich. Wir haben nie ein Problem gehabt", ergänzte er.

Das stimmt nicht ganz: Am 7. Oktober 2019 drohte Trump, "die türkische Wirtschaft zu zerstören", und ergänzte, er habe das schon einmal getan. In einem Brief vom 16. Oktober 2019 direkt an Erdoğan forderte Trump den türkischen Präsidenten auf, ein "gutes Geschäft" mit ihm zu machen, und warnte: "Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, die türkische Wirtschaft zu zerstören."

Die türkische Wirtschaft hat in den vergangenen sechs Jahren einiges einstecken müssen: Die Türkische Lira verlor erheblich an Wert. Ein US-Dollar war im März 2007 etwa 1,30 Türkische Lira wert - im Oktober 2019 dann 5,79 und heute sind es 38,06 Lira.

Obwohl Trump der türkischen Wirtschaft möglicherweise doch geschadet hat, scheinen sich die beiden Staatschefs heute besser zu verstehen als damals. Tatsächlich gehört die Türkei zu den Ländern, die von Trumps Zollpolitik am wenigsten betroffen sind: Für türkische Waren wurde ein Zoll von 'nur' zehn Prozent verhängt. Trumps 90-Tage-Pause für die Zölle und die generelle Reduzierung auf 10 Prozent für alle Länder außer China bringen vorläufig erstmals alle auf dasselbe Niveau wie die Türkei.

Eine neue Hoffnung?

Im Gegensatz zur negativen Stimmung in Europa sehen türkische Wirtschaftsvertreter in den Zöllen keine Krise, sondern eine Chance. Sie sind überzeugt: Mit der richtigen Handelspolitik kann die Türkei von der neuen Situation profitieren.

Die neuen Spielregeln Trumps könnten insbesondere türkischen Exporteuren helfen, sich auf dem wettbewerbsintensiven US-Markt Vorteile zu verschaffen, so Bülent Aymen, stellvertretender Präsident des Verbandes der Exporteure von Möbel-, Papier- und Forstprodukten am Mittelmeer (AKAMIB). "Die USA sind seit drei Jahren unser heißer Markt. Unsere Exporte steigen monatlich. Die Verschärfung des Zollkriegs ermöglicht der Türkei, in Bereichen wie Chemie, Automobil, Möbeln und Elektronik Marktanteile in den USA zu gewinnen. Diesen Vorteil müssen wir unbedingt gut nutzen", sagt Aymen.

Die Türkei und die USA handeln im Umfang von über 30 Milliarden US-Dollar. Die USA sind derzeit der zweitwichtigste Handelspartner der Türkei - nach Deutschland. Die türkischen Exporte in die USA sind in den vergangenen fünf Jahren durchschnittlich um 16 Prozent gestiegen - während die US-Exporte in die Türkei um neun Prozent zunahmen. Laut dem Türkischen Exporteurenverband (TİM) exportierte die Türkei 2023 Waren im Wert von rund 21,1 Milliarden US-Dollar nach Deutschland - und verdiente etwa 14,8 Milliarden durch Exporte in die USA. Laut dem Türkischen Statistikamt (TÜİK) stiegen die Exporte in die USA Ende 2024 auf 16,3 Milliarden US-Dollar.

Die Türkei exportiert vor allem chemische Produkte, Automobilteile, Kleidung, Teppiche und Elektronik in die USA. Zugleich importiert sie über die Hälfte der Baumwolle aus den USA - für Textilien, die dann wiederum in die USA exportiert werden.

Trumps hohe Zölle gegen China und die EU könnten laut Seref Fayat, dem Textilbeauftragten bei der Union der Kammern und Börsen der Türkei (TOBB), die Sichtbarkeit türkischer Produkte auf dem US-Markt steigern. "Wir müssen jetzt rasch handeln. Wir können die Probleme, die China, Vietnam und Kambodscha voraussichtlich haben werden, zu unserem Vorteil nutzen", meint Fayat.

Kritik an der türkischen Handelspolitik

Fayat ist optimistisch, was die Zukunft des Handels mit Trumps Amerika betrifft. "Ich erwarte nicht, dass die Türkei von der neuen Lage negativ beeinflusst wird." Er schlägt vor, einen begrenzten zollfreien Handel mit den USA auszuhandeln.. "Das ist eine sehr wichtige Chance. Wir müssen aber genau beobachten, wie unser wichtigster Handelspartner EU von der amerikanischen Zollpolitik betroffen sein wird", warnt er.

Doch bei manchen herrscht vorsichtige Euphorie: Es gebe zwar genug Potenzial, aber viele türkische Firmen seien nicht bereit, es zu nutzen, meint Murat Akyüz, ehemaliger Präsident des Verbands der Exporteure chemischer Produkte in Istanbul (IKMIB). "Ich sehe die neue US-Zollpolitik als große Gelegenheit für die Türkei. Gleichzeitig halte ich die Exporteure in der Türkei für unzureichend vorbereitet." In der Vergangenheit habe man viele Chancen nicht genutzt, weil "keine nachhaltige Handelspolitik verfolgt wurde", so Akyüz.

Auch Fayat sieht Versäumnisse: Der Zugang amerikanischer Kunden zu türkischen Produkten sei begrenzt - wegen fehlender Handelszentren und Lagerhäuser. Er kritisiert die Politik: "Obwohl Trump diese Zölle schon seit langer Zeit angekündigt hatte, haben wir die notwendigen Vorbereitungen leider nicht getroffen."

Türkei als Produktionshub?

Neben dem Export könnte sich die Türkei noch auf einem anderen Feld als strategischer Akteur etablieren: als Produktionsstandort für asiatische Firmen. Konkret könnte die Türkei Unternehmen etwa aus China einladen, ihre Produkte in der Türkei fertigen zu lassen - um so hohe Zölle zu umgehen. Die geopolitische Lage als Brücke zwischen Ost und West spricht dafür.

"Wir müssen diesen Ländern - besonders China - die Vorteile einer Produktionsverlagerung in die Türkei erklären", fordert Akyüz. "Wir sollten aktiv Investitionen hierzulande fördern. Die Türkei ist mit ihrer Infrastruktur und dem Fachkräftepotenzial dafür gut aufgestellt. Besonders das Handelsministerium ist hier gefragt", so Akyüz.

Item URL https://www.dw.com/de/sind-trumps-zölle-eine-chance-für-die-türkei/a-72212096?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/47770346_302.jpg
Image caption Kann Ankara diese neue Zollpolitik wirtschaftlich zu seinem Vorteil nutzen?
Image source picture-alliance/dpa/B. Wüstneck
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/47770346_302.jpg&title=Sind%20Trumps%20Z%C3%B6lle%20eine%20Chance%20f%C3%BCr%20die%20T%C3%BCrkei%3F

Item 43
Id 71892428
Date 2025-04-11
Title E-Antrieb statt Diesel: Die Zukunft der Schifffahrt?
Short title E-Antrieb statt Diesel: Die Zukunft der Schifffahrt?
Teaser Auch große Schiffe fahren immer öfter mit E-Motoren. Das vermeidet giftige Abgase und ist gut für's Klima. Doch es gibt noch viele Herausforderungen. Was sind die Trends und wie verändern sie die Schifffahrt?
Short teaser Auch Schiffe haben immer öfter E-Motoren. Das nützt dem Klima und vermeidet schädliche Abgase. Was sind die Trends?
Full text

Die Rheinfähre Mondorf bei Bonn pustet keinen schwarzen Ruß mehr in die Luft, man hört nur noch Wind und Wellen. Statt der alten Dieselmotoren treiben seit Februar 2025 nun Elektromotoren mit 290 KW (400 PS) die Fähre an.

Der Rhein ist hier 400 Meter breit. Für die Überfahrt braucht die Autofähre rund zwei Minuten. Der Strom für den Antrieb kommt aus einer Batterie mit 1000 Kilowattstunden (kWh), das entspricht der Batteriekapazität von 14 E-Autos. Nachts wird der Akku am Anleger mit regenerativem Strom aufgeladen. Für die 14 Stunden Fährbetrieb am Tag reichen rund 600 kWh.

Gefördert wurde der Umbau der 60 Jahre alten Fähre von der Bundesregierung - bezuschusst mit bis zu 80 Prozent. "Ohne den Zuschuss wären die Kosten zu hoch", sagt Schiffsbauingenieur Elmar Miebach-Oedekoven, Geschäftsführer der Lux-Werft und Schifffahrt GmbH. Die mittelständische Firma betreibt seit vergangenem Jahr noch eine weitere Elektrofähre bei Bonn und hat schon rund 20 Personenschiffe auf Elektroantrieb umgerüstet.

E-Motoren brauchen in Vergleich zum Diesel weniger Wartung. So ist der Betrieb der Fähre trotz relativ hohem Strompreis in Deutschland "langfristig wohl günstiger", sagt Miebach-Oedekoven im Gespräch mit der DW. Die Technik sei auch deutlich umweltfreundlicher, denn es gebe "keinen brennbaren Diesel auf dem Schiff, keine Gewässergefährdung beim Tanken, die ganze Technik ist sicherer und einfacher", ergänzt Betriebsleiter Ingo Schneider-Lux während der Überfahrt auf dem Rhein.

Bei Fähren und Personenschiffen auf Binnenseen und Flüssen gehe der Trend in Deutschland zum Antrieb mit Elektromotor, so Schneider-Lux. Auch weltweit gibt es immer mehr Schiffe mit Batterieantrieb.

Laut den neuesten Daten des gemeinnützigen Netzwerks Maritime Battery Forum in Norwegen fahren weltweit schon mehr als 1000 von insgesamt 109.000 Schiffen mit Elektro- oder Hybridantrieb. Und es dürften noch mehr sein, da die Zählung nur ein Teil der Elektroschiffe erfasst. Mehr als 460 weitere E-Schiffe werden demnach aktuell gebaut.

Norwegen ist Pionier bei der E-Schifffahrt

Führend bei der batteriebetriebenen Schifffahrt ist bislang Norwegen. Seit mehr als zehn Jahren fördert die Regierung die Technik für Fähren, Frachtschiffe, Fischereiboote, Wartungsschiffe für Offshore-Industrie - die künftig an Windkraftanlagen direkt nachgeladenwerden können - bis hin zu Kreuzfahrtschiffen.

Bis 2030 will die norwegische Regierung durch finanzielle Förderung und Vorschriften den CO2-Ausstoß in der Schifffahrt drastisch reduzieren. Und Schiffe, die in die westnorwegischen Fjorde fahren, sollen dort bald schon emissionsfrei fahren.

Besonders viele E-Motoren gibt es bereits bei den norwegischen Autofähren, die für den Verkehr an der 1800 Kilometer langen Küste besonders wichtig sind. Mehr als 80 der 199 Autofähren fahren laut Daten der norwegischen Klimastiftung schon elektrisch.

Eine der größten E-Fähren verkehrt seit 2020 im Oslofjord im Süden des Landes. Die "Basto Electric” hat Platz für mehr als 200 Autos und 600 Passagiere. Sie fährt ausschließlich mit Energie aus der Batterie. Das Schiff braucht für die 1,8 Kilometer zwischen den Städten Moss und Hortem eine halbe Stunde.

Während der Haltezeit in den Häfen wird die große Batterie (4300 kWh) mit besonders leistungsstarken Schnellladern wieder aufgeladen. Bei einer Leistung von 9000 kW fließt hier 25-mal mehr Strom als bei den sehr leistungsstarken Schnellladern für Straßenfahrzeuge mit 350 KW.

Das weltweit größte nur mit Batterien betriebene Schiff soll im Mai 2025 in Australien vom Stapel laufen. Der Platz reicht für 2100 Passagiere und 225 Fahrzeuge. Der leichte Hochgeschwindigkeitskatamaran aus Aluminium wird zwischen Argentinien und Uruguay 50 Kilometer über den Rio de la Plata pendeln. Die große Batterie hat eine Speicherleistung von 43.000 kWh, das entspricht der Batteriekapazität von 570 E-Autos.

Hybridantriebe für längere Strecken

Für sehr weite Strecken reicht die Kapazität von fest verbauten Batteriespeichern allerdings nicht aus. Darum werden einige E-Schiffe zusätzlich mit Verbrennungsmotoren betrieben, die derzeit Diesel, verflüssigtes Erdgas (LNG) oder Biodiesel tanken.

Ein Beispiel dafür ist die Hybrid-Elektrofähre Saint-Malo, die seit Februar 2025 den Ärmelkanal überquert. Die Autofähre für 1300 Personen, 330 PKW und 60 LKW braucht für die Strecke von 260 Kilometer vier bis sechs Stunden.

Der Strom aus der großen Batterie (12.000 kWh) wird vor allem für die Fahrt an der Küste und für die Ein- und Ausfahrt in die Häfen genutzt. Das vermeidet Abgase und Lärm.

Austauschbare Batteriecontainer machen lange Strecken möglich

Doch E-Schiffe können auch heute schon viel weitere Strecken zurücklegen, wenn sie mit austauschbaren Batteriecontainern fahren.

Zum Beispiel die zwei E-Frachter auf dem Jangtsekiang, dem längsten Fluss Chinas. Sie können bis zu 700 Container (TEU) laden und pendeln um die 300 Kilometer zwischen der Stadt Nanjing und dem Hafen Yangshan in Shanghai.

Die Energie für die Motoren kommt aus bis zu 36 Batteriecontainern. Sie können bis zu 57.700 kWh Energie abgeben. Wenn sie entladen sind, werden sie im Hafen ausgetauscht.

In den Niederlanden fahren zwei kleinere Containerschiffe mit austauschbaren Batteriecontainern. Der Batterietausch dauert laut dem Verleiher ZES nur 15 Minuten. Gebaut wurde das Batteriewechselsystem gemeinsam vom Hafen Rotterdam, großen Technologieunternehmen und einer Großbank mit Hilfe der EU.

Das Ziel: Bis 2050 sollen 400 E-Binnenschiffe in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Deutschland mit Batteriecontainern unterwegs sein. Dafür müssen in den nächsten Jahrzehnten noch viele zusätzliche Stationen für den Batterietausch aufgebaut werden.

Neue Infrastruktur: Schiffe brauchen leistungsstarke Stromanschlüsse

Umweltfreundlicher Strom aus dem Netz kann auch große Kreuzfahrtschiffe und Frachter während der Liegezeiten im Hafen versorgen. Wenn die Schiffe mit dicken Kabeln an das spezielle Stromnetz im Hafen angeschlossen sind, können die Verbrennungsmotoren an Bord ausgestellt werden.

Der Strombedarf ist jedoch immens: Ein Kreuzfahrtschiff braucht im Hafen so viel Strom wie 12.000 Einfamilienhäuser. Wenn diese Energie mithilfe von Sonne-, Wind- und Wasserkraft erzeugt wird, spart das Kosten, gesundheitsschädliche Abgase und CO2.

Doch der Aufbau einer flächendeckenden Infrastruktur mit Stromanschlüssen in Häfen, Batteriecontainern und Ladestationen für Schiffe ist eine große Herausforderung: Neue Leitungen müssen verlegt, neue Trafos und Kraftwerke gebaut werden. Das erfordert hohe Anfangsinvestitionen und auch staatliche Unterstützung.

Globale Zukunft für Elektro-Schiffe?

Die Schifffahrt ist laut EU-Kommission für rund 2,8 Prozent der globalen ⁠CO2⁠-Emissionen verantwortlich. Durch den Umstieg auf Elektromotoren können CO2-Emissionen reduziert und die lokale Luftqualität erheblich verbessert werden. Und der Strombetrieb kann auch Kosten sparen: Auf kürzeren Strecken sind Batterie-Schiffe bereits heute wettbewerbsfähig.

"Die Aussichten für die elektrische Schifffahrt sind positiv. Die Nachfrage nach Hybrid- und vollelektrischen Anwendungen steigt von Jahr zu Jahr", sagt Roger Holm, Präsident des Schiffsausrüsters Wärtsilä Marine mit Sitz im finnischen Helsinki. Zwischen 2019 und 2024 habe sich die Auftragslage in der Branche vervierfacht, so Holm im Gespräch mit der DW.

"Die E-Schifffahrt wird in den nächsten zwei Jahrzehnten geprägt werden von bahnbrechenden Innovationen in der Batterietechnologie, einem Anstieg von Systemen mit Hybridantrieben und einem schnell wachsenden Markt, angetrieben durch politische Unterstützung und die Wettbewerbsdynamik", prognostiziert Geschäftsführer Stefano Sommadossi von NatPower Marine der DW. Das Unternehmen mit Hauptsitz in London entwickelt Ladeinfrastruktur für Häfen und Wasserstraßen.

Der große Vorteil von Strom als Antriebsenergie sei die hohe Effizienz im Vergleich zu den anderen klimafreundlichen Optionen, wie etwa synthetisch erzeugten Kraftstoffen aus grünem Wasserstoff, betont Sommadossi.

Für eine Energiemenge von 1 kWh am Motor brauchten batteriebetriebene Schiffe "nur eine (Anm.d.Red: Ausgangs-) Energiemenge von 1,09 kWh. Bei flüssigen Kraftstoffen wie Ammoniak, Methanol und Wasserstoff sind es dagegen vier bis neun kWh. Der Einsatz von Strom als Energiekraftstoff ist billiger als die flüssigen Alternativen."

Bis 2030 sollen die Emissionen von Treibhausgasen aus der Schifffahrt laut der internationalen Schifffahrtorganisation IMO um 30 Prozent sinken, bis 2040 um 80 Prozent und bis 2050 um 100 Prozent.

Laut Sommadossi wird "der asiatisch-pazifische Raum voraussichtlich den globalen Markt für Elektroschiffe dominieren." In diesen Ländern werden derzeit die weitaus meisten Schiffe gebaut.

An zweiter Stelle stehe Europa, sagt Sammadossi. Hier gebe es einen zusätzlichen Schub durch die europäischen Ziele der Dekarbonisierung für die Schifffahrt.

Beispielsweise verlangt eine EU-Verordnung, die sogenannte FuelEU Maritime, dass alle europäischen Häfen leistungsstarke Stromanschlüsse legen müssen, damit Container-, Passagier- und Kreuzfahrtschiffe ab 2030 so ihren Strombedarf in den Häfen decken können.

Wo sind die Grenzen für die E-Schifffahrt?

Für sehr lange Strecken wird die Batterietechnik vermutlich begrenzt bleiben. Zwar seien Entfernungen von bis zu 15.000 Kilometer für batterieelektrische Containerschiffe technisch erreichbar, heißt es in Studie in der Fachzeitschrift zur Energieumwandung und Management. Wirtschaftlich jedoch reduzierten sich die Anwendungsbereiche einer klimaneutralen Hochseeschifffahrt auf "maximal 10.000" Kilometer, so die Studie.

Die Überquerung des Atlantiks zwischen New York und Lissabon (ca. 8300 Kilometer) wäre mit einem Containerschiff durchaus möglich, die Strecke zwischen Shanghai und Venedig (30.000 Kilometer) ohne Zwischenstopp zum Nachladen jedoch nicht.

Für lange Seerouten wird derzeit klimafreundlich erzeugtes Methanol für den Schiffsantrieb favorisiert. Die dänische Reederei Maersk hat seit 2024 ein erstes Containerschiff, das damit fahren kann. Und im dänischen Kassø wird seit 2025 klimafreundliches Methanol aus Sonnen- und Windstrom erzeugt.

Für eine klimaneutrale Schifffahrt müssen laut Experten künftig noch viele weitere solcher Anlagen errichtet werden.

Redaktion: Anke Rasper

Item URL https://www.dw.com/de/e-antrieb-statt-diesel-die-zukunft-der-schifffahrt/a-71892428?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71861024_302.jpg
Image caption Fährt mit Batteriestrom: Das Hybridschiff Saint-Malo überquert den Ärmelkanal zwischen Frankreich und England
Image source Jess Breheret
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/71861024_302.jpg&title=E-Antrieb%20statt%20Diesel%3A%20Die%20Zukunft%20der%20Schifffahrt%3F

Item 44
Id 72139985
Date 2025-04-10
Title Frankreichs zentrale Rolle bei Europas Verteidigung
Short title Frankreichs zentrale Rolle bei Europas Verteidigung
Teaser Der Verteidigungssektor Frankreichs ist einer der stärksten Europas und könnte eine wichtige Rolle auf dem Weg zu einer militärischen Autonomie des Kontinents spielen. Doch auf diesem Weg gibt es noch einige Hürden.
Short teaser Frankreich könnte eine zentrale Rolle für die militärische Sicherheit und Unabhängigkeit Europas spielen.
Full text

Dem Konzept der sogenannten strategischen Autonomie hatte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron schon 2017 verschrieben. "Was Verteidigung angeht, müssen wir Europa die Fähigkeit verleihen, autonom zu handeln, ergänzend zur NATO", sagte er damals in einer Europa-Rede in der Pariser Universität Sorbonne.

Sein Aufruf stieß zunächst auf taube Ohren. Doch das hat sich inzwischen geändert - mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine seit Februar 2022 und vor allem kürzlich der Wiederwahl von US-Präsident Donald Trump, der sagt, er wolle nicht länger bedingungslos Europas Sicherheit garantieren.

Die Europäische Union (EU) hat kürzlich ihr sogenanntes "Rearm-Europe"-Paket beschlossen. Bis 2030 will man rund 800 Milliarden Euro in den europäischen Verteidigungssektor investieren. Mehrere EU-Länder haben angekündigt, ihre Militärbudgets erhöhen zu wollen. Frankreich könnte dabei eine zentrale Rolle spielen - jedoch nicht im Alleingang, sagen Experten.

Frankreichs Einsatzerfahrung

Frankreichs jährliches Militärbudget soll sich bis 2030 verdoppeln. Zurzeit beträgt es rund 50 Milliarden Euro, etwa zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Die erhöhten Militär-Ausgaben könnten zu etwa 1,5 Prozent zusätzlichem Wirtschaftswachstum führen, schätzen Ökonomen.

Mit seinen rund 20.000 Unternehmen, die etwa 200.000 Mitarbeiter beschäftigen, sei Frankreichs Verteidigunggssektor das Rückgrat der EU in Sachen Verteidigung, erklärt Fanny Coulomb, Verteidigungsökonomin an der Universität Sciences Po Grenoble.

"Frankreich ist in praktisch allen Produktionssegmenten präsent", sagt sie zur DW. "Anders als andere Länder haben wir diese Kenntnisse weitgehend aufrechterhalten seit den 1960er Jahren. Nach Ende des Kalten Krieges in den 1990er Jahren hatte man die Ausgaben zwar gesenkt. Aber nach den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001 und dem darauffolgenden Krieg gegen den Terrorismus hat sich dieser Trend wieder gedreht. Frankreich hat zudem immer Auslandsmissionen durchgeführt, zum Beispiel in Libyen oder der Sahelregion."

Systeme statt Kugeln

Dadurch habe das Land eine regelrechte Kriegskultur beibehalten, fügt Sylvie Matelly dem hinzu. Die ebenfalls auf den Verteidigungssektor spezialisierte Ökonomin ist Direktorin der Pariser Denkschmiede Institut Jacques Delors. "Man muss eine genaue Vorstellung der Bedrohung haben, um zu wissen, welche Waffen gebraucht werden. Diese Analysefähigkeiten hat Frankreich beibehalten - anders als zum Beispiel Deutschland", sagt die Expertin im Gespräch mit der DW.

Dabei sei Frankreich Vorreiter in sogenannten Systemen der Systeme, also Hochtechnologien wie dem Kampfflugzeug Rafale oder auch dem Flugzeugträger Charles de Gaulle. "Die Produktion leichter Waffen und von Munition haben wir indes drastisch gesenkt. Wir dachten, die Herstellung dieser weniger komplexen Produkte könne man leichter wieder hochfahren", detailliert Matelly.

Geld und Rohstoffe

Andererseits könnte die Wiederaufnahme der Produktion von leichten Waffen und Munition doch nicht ganz problemlos sein, so Coulomb. "Man wird große Mengen an Rohstoffen brauchen, die seit dem Inkrafttreten der Sanktionen gegenüber dem Rohstoff-Lieferanten Russland wegen der Invasion der Ukraine schwerer zu beschaffen sind", sagt die Ökonomin. "Außerdem müssen wir mehr Ingenieure und Spezialisten ausbilden. Frankreichs industrielle Wirtschaftsbereiche sind in die vergangenen Jahrzehnten stetig geschrumpft."

Und da ist die Frage nach dem Geld. Das Land hat hohe Staatsschulden und muss drastisch sparen, um sein Haushaltsdefizit zu senken. Das wird sich dieses Jahr wohl auf über fünf Prozent des BIPs belaufen. Der Staat hat daher einen Verteidigungsfonds durch die öffentliche Investitionsbank BPIFrance angekündigt, durch den 450 Millionen Euro zusammenkommen sollen. Auch andere speziell auf Verteidigung ausgerichtete Finanzprodukte sind im Gespräch, um die Ersparnisse der Franzosen anzuziehen.

Die Pariser Agentur Defense Angels, die auf die Finanzierung von Start-ups im Verteidigungsbereich spezialisiert ist, rechnet auch mit mehr Zulauf. Das Investoren-Netzwerk hat seit seiner Gründung Ende 2021 bereits 23 Unternehmen finanziell unterstützt. Die Agentur, zu der 90 Investoren gehören, könnte allein dieses Jahr knapp 30 Jungunternehmen fördern.

Game Changer Trump

"Der Streit im Weißen Haus zwischen Trump und dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj Ende Februar war ein Game-Changer", sagt François Mattens, Vize-Präsident von Defense Angels, zur DW. Das Treffen der beiden Staatschefs endete ohne eine geplante Einigung auf einen Rohstoffdeal und entfachte Ängste, die USA könnten der Ukraine die Unterstützung ganz entziehen.

"Seitdem rufen mich viele vorher zögerliche Geldgeber an und wollen investieren." Für Mattens spielen Start-Ups dabei eine wichtige Rolle. "Wir brauchen Innovation und State-Of-The-Art-Technologie im Verteidigungssektor. Dynamische Startups können das besser als große, träge Unternehmensgruppen", sagt Mattens.

Konkurrenz zu Musk

Vermehrtes Investoren-Interesse nach dem Krach im Weißen Haus hat auch Cailabs gespürt. Das 2013 gegründete Start-Up stellt sogenannte Sonnen-Optik-Stationen her, die über Laser mit Satelliten kommunizieren. Die Stationen können Internetverbindungen, aber auch sichere Kommunikationsleitungen etablieren und sie sind ein Konkurrenzprodukt zu den Satellitenschüsseln Starlink des US-Milliardärs Elon Musk.

"Unsere Stationen sind erheblich schwieriger zu orten, weil sie nicht auf Radiosignalen basieren, sind aber bisher zu groß, um sie an der Front einzusetzen", erklärt Geschäftsführer Jean-François Morizur gegenüber der DW.

Dennoch stamme die Hälfte des Umsatzes aus militärischen Anwendungen der Technik. Dieser Anteil sollte in Kürze auf 80 Prozent steigen. "Bisher exportieren wir den größten Teil unserer Produkte vor allem in die USA. Aber das könnte sich bald ändern, auch durch die EU-Gelder."

Europa braucht Frankreich - und umgekehrt

Das Pariser Start-Up Kayrros hat vor Kurzem seine ersten Verträge mit Verteidigungsfirmen unterschrieben. Das Unternehmen analysiert Veränderungen auf Satellitenbildern mithilfe Künstlicher Intelligenz. Das könnten bald auch Truppenbewegungen sein.

"Frankreich wird eine wichtige Rolle mit seiner Kompetenz in Sachen Weltall spielen im Zuge der Aufrüstung, weil es hier ein Mini-Silicon-Valley in dem Bereich und viele sehr gute Forschungsinstitutionen gibt", sagt Antoine Halff, Mitgründer von Kayrros, zur DW.

Dennoch sollte Frankreich Bescheidenheit an den Tag legen, sagen einige Experten und Expertinnen wie etwa Delphine Deschaux-Dutard, Politikwissenschaftlerin und stellvertretende Leiterin des Grenobler Forschungszentrums für Internationale Sicherheit und Europäische Kooperationen: "Frankreich kann die USA als neuer Anführer in Sachen Sicherheit nicht ersetzen - es geht um Kooperation mit anderen Ländern wie Deutschland oder Italien", sagt sie zur DW. "Wir brauchen europäische Champions, um Skaleneffekte zu erzielen. Da sollte Frankreich diplomatischer und nicht zu hochnäsig auftreten."

Item URL https://www.dw.com/de/frankreichs-zentrale-rolle-bei-europas-verteidigung/a-72139985?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71908465_302.jpg
Image caption "Rafale"-Kampfjets, hier auf einem Flugzeugträgerdeck, gehören zum französischen Abschreckungspotential
Image source PUNIT PARANJPE/AFP/Getty Images
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/Events/mp4/ea/ea20190515_brigade_sd.mp4&image=https://static.dw.com/image/71908465_302.jpg&title=Frankreichs%20zentrale%20Rolle%20bei%20Europas%20Verteidigung

Item 45
Id 72207202
Date 2025-04-10
Title Trump-Zölle treiben China und EU zur Diversifizierung des Handels an
Short title China und EU wollen Handel diversifizieren
Teaser Wegen der hohen US-Zölle suchen China und die EU nach neuen Handelspartnern. Wie groß ist dabei die Gefahr, dass Europa zum Ziel einer neuen Welle von Billig-Importen wird?
Short teaser Wegen der hohen US-Zölle suchen China und die EU nach neuen Märkten. Droht Europa eine neue Welle von Billig-Importen?
Full text

"Risiken abbauen, diversifizieren und den Handel neu ausrichten" - das Mantra, mit dem man einst weniger abhängig vom Handelspartner China werden wollte, wird nun auf die USA angewendet. Die weitreichenden Zölle von Präsident Donald Trump, die sich derzeit für Waren "made in China" auf schwindelerregende 145 Prozent belaufen, haben Schockwellen durch die Finanzmärkte von Sydney bis Sao Paolo geschickt.

Das Londoner Analysehaus Capital Economics warnte am späten Donnerstag, dass Chinas Exporte in die USA in den kommenden Jahren um mehr als die Hälfte einbrechen würden, wenn die Zölle nicht zurückgenommen werden und das chinesische Wirtschaftswachstum um bis zu 1,5 Prozent verringern würde.

Da viele chinesische Waren speziell für den US-Markt produziert werden, befürchten Ökonomen, dass es schwierig wird, diese Produkte heimischen Kunden zu verkaufen. Stattdessen überdenkt Peking seine Exportstrategie und will sich auf andere Handelspartner konzentrieren, um die Auswirkungen der rückläufigen Exporte in die USA abzufedern.

Neben der Anhebung der chinesischen Zölle auf US-Waren auf zuletzt 125 Prozent überdenkt Peking nun seine Exportstrategie und räumt anderen globalen Handelspartnern Vorrang ein, um den Rückgang der Exporte in die größte Volkswirtschaft der Welt abzufedern.

Zu Beginn dieser Woche versprach der chinesische Präsident Xi Jinping, die "allseitige Zusammenarbeit" mit Chinas Nachbarn zu vertiefen, und forderte am Freitag die Europäische Union auf, sich gemeinsam mit Peking gegen die "einseitige Einschüchterung" durch Washington zu wehren.

Diana Choyleva, Gründerin und Chefökonomin von Enodo Economics, einem in London ansässigen Forschungshaus, das sich auf China konzentriert, glaubt, dass Peking versuchen wird, sein Exportgeschäft mit regionalen Nachbarn anzukurbeln - auch wenn man zu ihnen in der Vergangenheit angespannte Beziehungen hatte.

China möchte Beziehungen zu alten Gegnern kitten

"Die jüngste Wiederbelebung der Wirtschaftsdialoge Pekings mit Japan - dem ersten seit sechs Jahren - und Südkorea deutet darauf hin, dass die Regionalmächte ihre Beziehungen neu bewerten - als Reaktion auf die Verunsicherung durch die US-Handelspolitik", sagt Choyleva im Interview mit der DW. "Während Seoul die Behauptungen der chinesischen Staatsmedien über eine 'gemeinsame Antwort' auf die US-Zölle zurückwies, signalisiert die bloße Wiederaufnahme der trilateralen wirtschaftlichen Zusammenarbeit nach Jahren angespannter Beziehungen einen strategischen Wendepunkt."

Chinesische Medien berichteten am Freitag, dass Xi nächste Woche zu einer Reise durch drei südostasiatische Länder aufbrechen wird, um die Handelsbeziehungen mit Vietnam, Malaysia und Kambodscha zu festigen.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben China und die Länder Südostasiens ihre Handelsbeziehungen erheblich vertieft. Im Jahr 2023 erreichte das Gesamthandelsvolumen zwischen China und den ASEAN-Staaten nach Angaben der chinesischen Regierung rund 872 Milliarden US-Dollar (794 Milliarden Euro). Und diese Zahl wird weiter steigen, wenn chinesische Unternehmen praktisch vom US-Markt ausgeschlossen sind.

"(Chinesische Hersteller, Anm. d. Red.) werden in Südostasien nach Möglichkeiten suchen, in die sie in der Vergangenheit vielleicht nicht die Zeit, Mühe und Geld investiert haben, weil sie einen lukrativen US-Markt hatten, der alles aufsaugte, was sie produzierten", sagt Deborah Elms, Leiterin der Abteilung Handelspolitik bei der Hinrich-Foundation in Singapur, gegnüber der DW.

Auch Europa muss den Handel diversifizieren

Obwohl die geplanten US-Zölle gegen die Europäische Union für 90 Tage auf Eis gelegt wurden, drohen danach der EU Zölle in Höhe von 20 Prozent auf Exporte in die USA im Wert von bis zu 380 Milliarden Euro (416 Milliarden US-Dollar). Und so erwägen die politischen Entscheidungsträger in Brüssel eine ähnliche Reaktion wie China: Die EU plant, den Ländern des indopazifischen Raums und des globalen Südens die Hand zu reichen, um dem US-Protektionismus entgegenzuwirken.

Während eines dreitägigen Besuchs in Vietnam in dieser Woche betonte Spaniens Premierminister Pedro Sanchez, dass Europa neue Märkte erschließen will und sagte, seine Regierung sei "fest entschlossen", sein Land und Europa für mehr Handel mit Südostasien zu öffnen.

Varg Folkman, politischer Analyst am European Policy Centre (EPC), warnte jedoch, dass Europa Schwierigkeiten haben werde, die Exporte über den Atlantik durch andere Märkte zu ersetzen, da die US-Wirtschaft sowohl "größer als auch wohlhabender" sei.

Folkman wies auf einen "großen Widerstand" unter den EU-Mitgliedern gegen neue Handelsabkommen hin und hob die Zurückhaltung Frankreichs hervor, seinen Agrarsektor im Rahmen des Handelsabkommens der EU mit den südamerikanischen Mercosur-Staaten für Brasilien und Argentinien zu öffnen. Über das Abkommen wurde 25 Jahre lang verhandelt und es ist noch nicht ratifiziert.

"Handelsabkommen sind umstritten", sagt er der DW. "Es wird möglicherweise sehr schwierig sein, neue zu implementieren, selbst mit der Dringlichkeit, die wir heute sehen."

Während die EU und China versuchen könnten, den bilateralen Handel anzukurbeln, befürchten Ökonomen und politische Entscheidungsträger, dass Europa Schwierigkeiten haben könnte, gleichzeitig mit dem Doppelschlag viel höherer US-Zölle und der neuen Handelskonkurrenz Chinas, der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt, fertig zu werden.

Chinesisches Überangebot bedroht EU-Konkurrenz

In einem am Dienstag veröffentlichten Kommentar schrieb das Center for Strategic and International Studies (CSIS), ein in Washington ansässiger Think-Tank, dass die US-Zölle gegen China "durchaus zu einer Umlenkung chinesischer Exportgüter in die Europäische Union führen könnten, was zusätzlichen Druck auf europäische Hersteller bedeutet und wahrscheinlich Rufe nach einer protektionistischen Reaktion aus Brüssel aufkommen lassen wird".

Die EU kritisiert seit langem Pekings staatliche Subventionen, die es chinesischen Unternehmen ermöglicht, die europäischen Märkte mit künstlich verbilligten Waren zu fluten. Diese Subventionen, verbunden mit niedrigen Arbeitskosten und enormen Skaleneffekten, setzen europäische Konkurrenten zunehmend unter Druck und haben bereits zu Insolvenzen und erheblichem Stellenabbau geführt.

Elektrofahrzeuge (EV) sind die jüngsten Beispiele. Dank staatlicher Zuschüsse, Steuererleichterungen und günstiger Kredite drängen chinesische EV-Marken wie BYD, Nio und XPeng nun aggressiv in den EU-Markt und unterbieten damit ihre europäische Konkurrenz.

Europas Autoindustrie befindet sich derzeit in einem großen Umbruch, durch den Werksschließungen, der Abbau von Produktionsstandorten und der Verlust von Zehntausenden von Arbeitsplätzen vor allem in Deutschland drohen.

Während Washington einen Zoll von 100 Prozent auf in China hergestellte Elektrofahrzeuge verhängte und damit Chinas Autohersteller effektiv vom US-Markt ausschloss, unterscheiden sich die Zölle in der EU je nach chinesischem Autohersteller. Das Maximum liegt bei 35,3 Prozent und bei BYD bei nur 17 Prozent.

Deborah Elms von der Hinrich-Foundation in Singapur glaubt, dass es zu einem "ersten Schub" von Billigwaren aus Asien in den Rest der Welt kommen könnte, weil die Produzenten "auf einem Berg von Produkten sitzen".

"Aber sie werden nicht weiterhin Waren produzieren, die keinen Gewinn abwerfen, also werden chinesische Firmen schnell auf die Herstellung anderer Produkte umschwenken. Sonst sind sie aus dem Geschäft", sagte sie.

Neues EU-Frühwarnsystem gegen "Dumping"

Jörg Wuttke, der ehemalige Chef des deutschen Industrieriesen BASF in China, warnte vor einem chinesischen "Überkapazitäts-Tsunami", der auf Europa zusteuert. Er hofft, dass dies keine neuen Handelshemmnisse durch die EU auslösen wird. Er forderte eine Verbesserung von "Kommunikation und Vertrauen" zwischen Brüssel und Peking, um neues Warendumping zu vermeiden.

Der Experte für europäische Industriepolitik Varg Folkman bezweifelt, dass die EU weitere Handelsverzerrungen widerstandslos hinnehmen wird: "Die Europäische Kommission hat signalisiert, dass sie die Importe genau beobachten und Maßnahmen ergreifen wird, wenn ein Anstieg aus China oder anderswo sie dazu zwingt."

Im Jahr 2023 hatte die EU Pläne für eine Task Force zur Überwachung der Einfuhren angekündigt, um auf plötzliche Importanstiege zu reagieren, die die europäische Industrie bedrohen könnten. Das Frühwarnsystem wurde geschaffen, um die Risiken gegenüber China zu reduzieren, die sich aus geopolitischen Spannungen oder Problemen mit subventionierten Waren ergeben.

Es gibt aber Befürchtungen, dass auch andere asiatische Export-Nationen und die USA überschüssige Waren zu niedrigen Preisen in der EU abladen könnten. Die Taskforce könnte Brüssel helfen, viel schneller auf Drohungen von unterschiedlichen Seiten zu reagieren, mit Antidumping-Untersuchungen, Zöllen und vorübergehenden Importbeschränkungen.

Brüssel müsste allerdings mit der Kritik rechnen, dass es die protektionistische Politik Donald Trumps widerspiegelt und damit eine Abkehr von der langjährigen Unterstützung der EU für den Freihandel vollzieht, die Normen der Welthandelsorganisation (WTO) weiter aushöhlt und eine Eskalation der globalen Handelsspannungen riskiert.

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert und am 11. April aktualisiert

Item URL https://www.dw.com/de/trump-zölle-treiben-china-und-eu-zur-diversifizierung-des-handels-an/a-72207202?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/63548026_302.jpg
Image caption Kommen bald noch mehr subventionierte chinesische Waren nach Europa?
Image source Clement Mahoudeau/AFP/Getty Images
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/63548026_302.jpg&title=Trump-Z%C3%B6lle%20treiben%20China%20und%20EU%20zur%20Diversifizierung%20des%20Handels%20an

Item 46
Id 72180851
Date 2025-04-10
Title Protest, Performance, Popkultur: Vom Glanz und Schatten des Glitzers
Short title Protest, Performance, Popkultur: Vom Glanz des Glitzers
Teaser Glitzer fasziniert - schon in der Steinzeit. Es zieht Aufmerksamkeit an, bringt Magie und Extravaganz ins Leben und kann bei Protesten eine Waffe sein. Doch Glitzer hat auch seine Schattenseiten.
Short teaser In Kunst und Mode sorgt Glitzer für Glanz -und sogar bei bei Protesten. Doch es gibt auch dunkle Seiten.
Full text

Mal schmückt er Taylor Swifts Wangenknochen, mal werfen ihn Demonstrierende als politisches Statement. Dann wieder klebt er auch drei Tage nach einem Musikfestival noch hartnäckig im Gesicht: Glitzer hat eine magische Präsenz in unserem Leben.

Glitzer findet sich auf Weihnachtskarten und Ornamenten, in Nagellack, auf Modeaccessoires, wird als Make-up bei Sportveranstaltungen getragen und findet sich sogar in Lebensmitteln. Im Marketing spielt er eine Rolle, er kommt im Produktdesign zum Einsatz und immer dann, wenn es gilt "gehobene" oder gar "feierliche" Stimmung zu erzeugen. Bei glänzendem Geschenkpapier, funkelnden Sektetiketten und Produktverpackungen in limitierter Auflage - wenn es glitzert, bleiben wir neugierig stehen und schauen hin.

Sogar eine Ausstellung dreht sich jetzt ums Glitzern: Im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe dreht sich von Februar bis Oktober alles um "Glitzer".

Glitzer - eine Liebesaffäre

"Meine Liebe zu Glitter begann vor über zehn Jahren auf britischen Festivals, wo sich alle mit Pailletten, Kostümen und natürlich viel Glitter verkleideten. Es war verspielt, ausdrucksstark und machte einfach nur Spaß!", erzählt Jeen Low, Gründerin des in Berlin ansässigen Projekts Glitter. "Es war, als hätte ich die Magie des Spiels wiederentdeckt - etwas, das wir als Erwachsene oft vergessen", fügt Low hinzu. Ihr Unternehmen stellt biologisch abbaubaren Glitter her. Doch ist sie nicht die Einzige, die das glänzende Zeug liebt.

Alles, was glitzert, fasziniert die Menschen - und das schon lange. Der Begriff "Glitter", so wird vermutet, hat seinen Ursprung im altnordischen Wort "glitra", was nichts anderes als "glitzern" bedeutet.

Es glänzte schon in der Urzeit

Steinzeitmenschen zermalmten Glimmer - ein glänzendes Silikat -, um Höhlenmalereien zum Schimmern zu bringen. Die Ägypter mahlten grüne Malachit- oder blaue Lapislazuli-Steine und nutzten das Pulver für schimmernden Lidschatten und sakrale Kunst. Im Jahr 2008 fanden australische Forscher heraus, dass die alten Maya beim Bau ihrer Tempel einen mit Glimmer angereicherten Putz verwendeten, um die Wände im Sonnenlicht zum Glänzen zu bringen.

Der moderne Glitter verdankt seine Entstehung dem deutschstämmigen amerikanischen Viehzüchter und Maschinenbauer Henry Ruschmann. In den 1930er-Jahren entwickelte er eine Maschine, mit der er Plastik- und Metallabfälle in winzige, reflektierende Partikel zerschneiden konnte. Der industrielle Glitter war geboren. Später gründete Ruschmann das Unternehmen Meadowbrook Inventions, Inc.. Es ist noch heute am Markt ist und bezeichnet sich selbst als das weltweit führende Glitzerunternehmen. Es stellt unter anderem auch essbaren Glitter her.

Von Glamour...

Glitzer und Popkultur haben eine lange Tradition: Konzerte, Festivals oder Talentshows münden oft in ein glitzerndes Finale. Glitzer schmückte das Gesicht von David Bowies Glam-Rock-Avatar Ziggy Stardust aus den 1970er-Jahren und hat auch Popstars wie Lady Gaga und Lizzo zu Glanz verholfen.

Taylor Swift trug im Oktober 2024 bei einem Spiel der Kansas City Chiefs Glitzer-Sommersprossen. Die Mitbegründerin von Fazit Beauty, Aliett Buttelman, postete später ein TikTok-Video von sich, in dem sie vor Freude über Swifts Entscheidung, ihre Marke zu tragen, schluchzte.

In der Mode ist Glitzer ein fester Bestandteil der maximalistischen Couture - man denke nur an die Jumpsuits der Studio-54-Ära, die Rave-Kleidung der 1990er-Jahre oder die glitzernden Plateaustiefel, die man auf den Laufstegen von Modehäusern wie Gucci und Marc Jacobs sieht.

...und Glitzerbomben

Vielleicht ist die hartnäckige Klebrigkeit von Glitzer der Grund dafür, dass er als "Waffe" beim Glitterbombing eingesetzt wird - bei dem Aktivisten Personen des öffentlichen Lebens mit Glitzer bewerfen, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Zum ersten Mal machte dies in den frühen 2010er Jahren Schlagzeilen, als US-amerikanische Politiker wie Newt Gingrich und Rick Santorum wegen ihrer Haltung zu den Rechten von Homosexuellen mit Glitterbomben beworfen wurden.

In LGBTQ+-Kreisen ist Glitzer oft ein Symbol für Trotz, Freude und unverblümte Selbstdarstellung. Mexiko-Stadt war 2019 Schauplatz der Revolución diamantina oder der "Glitzerrevolution", bei der Aktivistinnen gegen die angebliche Vergewaltigung eines Teenagers durch vier Polizisten protestierten und den Sicherheitschef der Stadt mit rosa Glitter bewarfen.

Im Jahr 2023 unterbrach ein Demonstrant die Rede des britischen Premierministers Sir Keir Starmer auf einem Labour-Parteitag und überschüttete ihn mit Glitzer. Der Protest wurde später von People Demand Democracy, einer Gruppe, die sich für eine Wahlreform einsetzt, für sich beansprucht.

Die dunkle Seite des Glitzerns

Trotz seines verspielten Images hat Glitzer auch seine Schattenseiten. Der größte Teil des handelsüblichen Glitzers ist nichts anderes als Mikroplastik - hergestellt aus PET oder PVC, das mit Aluminium und Farbstoffen beschichtet ist. Diese winzigen Partikel sind zu klein, um bei der Abwasseraufbereitung gefiltert zu werden. Sie landen daher in Flüssen und Ozeanen, wo sie von Plankton, Fischen und sogar Vögeln aufgenommen werden. Sie wandern in der Nahrungskette nach oben - möglicherweise sogar auf unsere Teller.

Innovative Unternehmen haben an umweltfreundlichen Alternativen gearbeitet. So gibt es mittlerweile Glitter auf Zellulosebasis, das etwa aus Eukalyptus oder anderen pflanzlichen Materialien hergestellt wird, das sich natürlich abbaut und keine Gefahr für die Tierwelt darstellt.

Glitzer ohne Schuldgefühle

Diesen Weg beschritt auch die gebürtige Malaysierin Jeen Low, als sie ihr Projekt Glitter, ein in Berlin ansässiges Unternehmen für umweltfreundlichen Glitter, gründete. Dabei stand sie vor der Herausforderung, die Menschen darüber aufzuklären, warum diese Art von Glitter deutlich mehr kostet.

"Aber ich habe festgestellt, dass Menschen, denen Nachhaltigkeit am Herzen liegt, den Wert verstanden haben", sagt Low der DW. "Viele Kunden haben mir im Laufe der Jahre gesagt, dass sie wegen der Umweltauswirkungen gar keinen Glitzer mehr verwenden und sich freuen, eine Alternative zu finden." Nach dem EU-Verbot von Mikroplastik müsse sie sich eigentlich nicht mehr rechtfertigen. "Aber es überrascht mich immer noch, wie viele Leute nicht wissen, dass es biologisch abbaubaren Glitter überhaupt gibt."

Der Anteil an Plastik in ihren Produkten variiert. Ihr Hauptglitter 'Sparkle' sei zu 94 Prozent plastikfrei, sagt Low, während ihre Perlglitzerserie komplett ohne Plastik auskomme. Einziger Nachteil: "Er reflektiert etwas weniger, da er keine Aluminiumkomponente hat." Doch auch das soll sich noch ändern. Bis zum Jahresende will das Unternehmen komplett plastikfrei produzieren – ohne Abstriche beim Glanz.

Aus dem Englischen adaptiert von Stefan Dege

Item URL https://www.dw.com/de/protest-performance-popkultur-vom-glanz-und-schatten-des-glitzers/a-72180851?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/67043441_302.jpg
Image caption Magische Wirkung: Glitter bei der "African Fashion International" 2022
Image source MICHELE SPATARI/AFP/Getty Images
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/67043441_302.jpg&title=Protest%2C%20Performance%2C%20Popkultur%3A%20Vom%20Glanz%20und%20Schatten%20des%20Glitzers

Item 47
Id 72195965
Date 2025-04-10
Title Trumps Zoll-Pause lässt weltweit Aktienkurse emporschnellen
Short title Trumps Zoll-Pause lässt weltweit Aktienkurse emporschnellen
Teaser Das Hin und Her bei den US-Zöllen schüttelt die Märkte kräftig durch. Tagelang ging es abwärts. Dies ist vorbei, nachdem der US-Präsident die Zölle für 90 Tage ausgesetzt hat. Die EU reagierte inzwischen spiegelbildlich.
Short teaser Tagelang ging es an den Börsen abwärts. Nachdem der US-Präsident die Zölle ausgesetzt hat, gibt es eine neue Richtung.
Full text

Die Börsen in Europa haben sich nach dem Zurückrudern von US-Präsident Donald Trump bei seinen Zöllen für die meisten Länder der Welt deutlich erholt. Der Deutsche Leitindex DAX sprang zu Handelsbeginn um fast acht Prozent nach oben, die Börse in Paris legte um knapp 6,5 Prozent zu und in London kletterte die Kurse um fast sechs Prozent.

Zuvor hatten schon die asiatischen Börsen mit einem kräftigen Plus geschlossen. Der japanische Nikkei-Index notierte zum Handelsende mit einem Plus von 9,12 Prozent, der breiter gefasste Topix legte um 8,09 Prozent zu. In Südkorea stand der Kospi-Index an der Börse in Seoul zu Handelsschluss bei einem Plus von 6,60 Prozent, die Börse in Sydney lag bei Plus 4,54 Prozent.

Börsenerholung selbst in China

Der Effekt von Trumps Verkündung war sogar in China zu spüren, das als einziges Land von der Pause bei den Zöllen ausgenommen ist. In Hongkong kletterte der Index Hang Seng um 2,69 Prozent, der chinesische SSE Composite Index stieg um 1,29 Prozent.

Einen starken Kurssprung gab es bereits zuvor bei den Aktienkursen in den USA: An der New Yorker Wall Street schlossen die drei wichtigsten Indizes am Mittwoch deutlich im Plus: Der Dow Jones stieg um 7,9 Prozent. Der S&P500 erzielte Gewinne von 9,5 Prozent und der Technologie-Index Nasdaq gewann 12,2 Prozent. Die Ölpreise an der US-Börse stiegen um mehr als vier Prozent an.

Trump hatte mit der Ankündigung hoher Zölle auf fast alle Einfuhren in der vergangenen Woche weltweit eine Talfahrt bei den Aktienkursen ausgelöst. Nach heftigen Turbulenzen an Börsen und Finanzmärkten änderte der US-Präsident am Mittwoch seinen Kurs und setzte gerade erst in Kraft getretene Zusatzzölle für 90 Tage aus. Für die meisten Staaten soll aber weiter ein allgemeiner Importzoll von zehn Prozent gelten. Die Zölle für Waren aus China erhöhte Trump hingegen noch weiter - auf nun 125 Prozent.

EU setzt Gegenzölle aus

Die EU-Kommission setzte inzwischen auch ihre Gegenzölle auf US-Produkte aus. Die erst am Mittwoch von den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union abgesegneten Vergeltungszölle würden "für 90 Tage auf Eis gelegt", teilte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen mit. "Wir wollen Verhandlungen eine Chance geben", begründete sie das Vorgehen in Brüssel. Die Aussetzung der US-Zölle sei ein wichtiger Schritt, um die Weltwirtschaft zu stabilisieren. "Klare, vorhersehbare Bedingungen sind von elementarer Bedeutung, damit Handel und Lieferketten funktionieren." Von der Leyen wiederholte zugleich das Angebot der EU, gegenseitig alle Zölle auf bestimmte Industriegüter abzuschaffen.

Die EU-Staaten hatten erst am Mittwoch eine Liste von US-Waren abgesegnet, auf die in den kommenden Wochen nach und nach Zölle erhoben werden sollen. Damit reagierte die EU jedoch auf Trumps Zölle auf Stahl- und Aluminiumprodukte, die bereits seit Mitte März in Kraft sind und weiter gelten.

China verringert Import von US-Filmen

China greift im Zollstreit mit den USA auch zu ungewöhnlichen Maßnahmen: Die Pekinger Filmaufsichtsbehörde werde die Zahl der importierten US-Filme "moderat reduzieren", berichtete der Staatssender CCTV. Die "unrechtmäßige" Verhängung von Zöllen durch die US-Regierung gegenüber China werde "unweigerlich die Beliebtheit amerikanischer Filme beim heimischen Publikum weiter verringern", zitierte CCTV einen Sprecher der Behörde. Stattdessen sollen vermehrt Filme aus aller Welt gezeigt werden.

Am Dienstag waren die chinesischen Vergeltungszölle auf US-Importe offiziell in Kraft getreten. Für die Einfuhr von US-Produkten in die Volksrepublik gilt nun ein Zusatzzoll von 84 Prozent.

sti/AR (afp, dpa, rtr)

Item URL https://www.dw.com/de/trumps-zoll-pause-lässt-weltweit-aktienkurse-emporschnellen/a-72195965?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72197263_302.jpg
Image caption Wieder mit etwas optimistischerem Blick auf die Monitore: Ein Börsenhändler in Frankfurt am Main
Image source Arne Dedert/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72197263_302.jpg&title=Trumps%20Zoll-Pause%20l%C3%A4sst%20weltweit%20Aktienkurse%20emporschnellen

Item 48
Id 72182891
Date 2025-04-10
Title Solidarität mit Imamoglu: Jetzt trifft es die Kulturszene
Short title Ekrem Imamoglu: Jetzt trifft es die Kulturszene
Teaser Die Verhaftung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu zieht weiter Kreise: In der Türkei stehen nun auch Schauspieler unter Druck, weil sie sich öffentlich mit Boykottaufrufen gegen die Regierung solidarisieren.
Short teaser Türkische Schauspieler stehen wegen ihrer Solidarität mit dem Erdogan-Herausforderer Ekrem Imamoglu unter Druck.
Full text

Die Türkei erlebt derzeit eine neue Welle politischen Drucks auf Andersdenkende. Sie begann mit der Festnahme des Präsidentschaftskandidaten und Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu am 19. März. Nun hat die Repressionswelle auch die Kunst erreicht: Vor allem Schauspieler geraten zunehmend ins Visier der Behörden -weil sie die Boykottaufrufe der Opposition unterstützen.

Diese ruft zum Boykott von regierungsnahen Unternehmen, staatsnahen Medien und sogar Café-Ketten auf, die mit dem Umfeld von Präsident Erdogan in Verbindung gebracht werden. Die Strategie zeigt Wirkung: Mehrere Regierungsvertreter warfen der Opposition bereits vor, "nationalen und lokalen Marken" sowie der türkischen Wirtschaft zu schaden.

Viele Menschen erwarteten klare Solidaritätsbekundungen von Prominenten - vor allem in den sozialen Medien. Einige bekannte Namen kamen dieser Erwartung nach, andere schwiegen. "Normalerweise muss sich kein Schauspieler zu politischen Entwicklungen äußern. Aber da sich die Türkei gerade an einem Wendepunkt befindet, finde ich diese Erwartung nachvollziehbar", so der Politikwissenschaftler Berk Esen im Gespräch mit der DW.

Viele verlieren ihre Jobs

Offene Unterstützung kam von einigen Schauspielern, die sich klar zu den Boykottaufrufen bekannten. Sie alle wurden vom Erdogan-System auf die eine oder andere Weise bestraft. Drei von ihnen - Aybüke Pusat, Furkan Andic und Boran Kuzum - spielten in Serien mit, die vom öffentlich-rechtlichen Sender TRT produziert werden. Sie wurden entlassen, nachdem sie in sozialen Medien zum Boykott aufgerufen hatten. Auch die Schauspielerin Basak Gümülcinelioglu verlor ihren Job – weil sie sich öffentlich hinter Pusat gestellt hatte.

Zwei weitere Schauspieler - Rojda Demirer und Alican Yücesoy - dürfen sich nicht mehr auf der Plattform X äußern: Ihre Accounts wurden gesperrt. Der Schauspieler Cem Yigit Üzümoglu wurde sogar festgenommen – nur weil er Boykottaufrufe öffentlich unterstützt hatte. Zwar wurde er nach kurzer Zeit wieder freigelassen, doch der Einschüchterungsversuch war unübersehbar. Diese Schauspieler gehören zu den Hauptdarstellern populärer Serien, die täglich von einem Millionenpublikum gesehen werden.

"Zensur muss aufhören"

Klare Unterstützung erhielten die betroffenen Schauspieler von der türkischen Schauspielergewerkschaft. "Der Druck auf die Kunst verändert sich überall auf der Welt - auch in der Türkei. Er äußert sich häufig in Form von Zensur. Zensur ist ein Verstoß gegen demokratische Prinzipien. Kunst bringt die Gesellschaft zum Nachdenken und emanzipiert sie. Einschränkungen künstlerischer Ausdrucksformen müssen aufhören", erklärte die Gewerkschaft auf Anfrage der DW.

Auch nach 23 Jahren AKP-Herrschaft trauen sich junge Künstler, öffentlich gegen die Regierung Stellung zu beziehen – das sei respektabel, sagt Esen. "Die Regierung hat eine klare Botschaft gesendet. Sie hat es geschafft, die anfängliche Euphorie zu bremsen", analysiert er und ergänzt:

"Dass sich diese Künstler trotz möglicher Konsequenzen äußern, ist bemerkenswert. Das sind keine Leute, die sich regelmäßig zu politischen Themen äußern oder offen parteipolitisch auftreten. Sie sind jung – sie gehören zu einer neuen Generation. Ich denke, das ist eine gute Nachricht für die Türkei."

Kein Platz im Staatsfernsehen

Für besondere Empörung sorgt die Tatsache, dass die meisten Entlassungen im - von allen Bürgern finanzierten - öffentlich-rechtlichen Rundfunk stattfinden. "Es ist kein Geheimnis, es wird sogar offen gesagt, dass die Schauspieler wegen ihrer Haltung, die nicht mit der Regierung übereinstimmt, entlassen werden", heißt es von der Schauspielergewerkschaft.

Und weiter: "TRT ist ein Staatssender, der durch die Steuergelder der Bürger finanziert wird. Die Meinungsfreiheit ist in der Verfassung verankert. Es kann nicht sein, dass unsere Kollegen entlassen werden, nur weil sie ihr verfassungsmäßiges Recht wahrnehmen. Kein Bürger darf so behandelt werden."

Unter anderem forderte der regierungsnahe Kommentator Cem Kücük die Schauspieler öffentlich zum Rückzug auf. "Wer im Staatsfernsehen versucht, den Staat zu stürzen, wird einen Preis dafür zahlen", schrieb Kücük auf X. Ein anderer regierungstreuer Nutzer kommentierte: "Vom Staat bezahlt werden und gleichzeitig zum Boykott des Staates aufrufen - das geht gar nicht."

"Dass der TRT diese Schauspieler entlassen hat, überrascht mich nicht. Es zeigt einmal mehr, wie parteiisch und regierungstreu der Sender ist", kritisiert Esen. Auch die Sozialwissenschaftlerin Asli Daldal Evren hält diese Entwicklung für nicht überraschend. "Da die gesamte Gesellschaft politischer Polarisierung und Druck ausgesetzt ist, war diese neue Repressionswelle zu erwarten", sagt die Expertin für das Verhältnis von Politik und Film. "Unsere Filmgeschichte ist voll von verbrannten Werken und unterdrückten Künstlern", ergänzt sie.

"Schulterschluss – mehr denn je"

Daldal Evren weist auf strukturellen Missstände in der türkischen Serienbranche hin. "Unabhängig von der Politisierung ist die Branche problematisch. Die Schauspieler müssen extrem lange arbeiten und werden oft nicht fair bezahlt", sagt sie. Besonders frustrierend sei, dass einige wichtige Rollen nicht nach Talent, sondern nach politischer Nähe besetzt würden.

Während viele Regierungsanhänger fordern, Schauspieler sollten sich nicht in die Politik einmischen, sehen die Künstler das anders: "Man kann von keinem Beruf außer Polizei, Justiz und Militär verlangen, sich aus der Politik herauszuhalten. Jeder Bürger muss das Recht haben, sich politisch zu äußern", so die Schauspielergewerkschaft. Gemeinsam mit den Künstlern ruft sie zur Solidarität auf: "Gerade jetzt brauchen wir einen Schulterschluss – mehr denn je."

Berk Esen sieht auch die Oppositionsparteien in der Verantwortung: "Wenn es der Opposition gelingt, neue, kreative Protestformen zu entwickeln, werden die Künstler sie weiterhin unterstützen."

Item URL https://www.dw.com/de/solidarität-mit-imamoglu-jetzt-trifft-es-die-kulturszene/a-72182891?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72099034_302.jpg
Image caption Ihr könnt doch nicht alle verhaften“ - mit diesem Plakat zeigten Studierende in Rom Solidarität mit den Protesten in der Türkei
Image source Marco Di Gianvito/Zumapress/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72099034_302.jpg&title=Solidarit%C3%A4t%20mit%20Imamoglu%3A%20Jetzt%20trifft%20es%20die%20Kulturszene

Item 49
Id 72189885
Date 2025-04-09
Title US-Zölle: Deutschland vor Zeitenwende in der Wirtschaft
Short title US-Zölle: Deutschland vor Zeitenwende in der Wirtschaft
Teaser Eine Woche nachdem Donald Trump die Staaten benannt hat, denen er mit drastischen Strafzöllen droht, ist klar: Der Welt wird eine neue Handelsordnung aufgezwungen - auch Deutschland.
Short teaser Der Welt wird eine neue Handelsordnung aufgezwungen - auch Deutschland.
Full text

Protektionismus ist nichts Neues. Auch in Deutschland nicht: 1885 etwa erließ der Reichstag unter Reichskanzler Otto von Bismarck Schutzzölle für Weizen. Die erstarkte Bauernvertretung im Parlament hatte das durchgesetzt, um gegen billigere Importe bestehen zu können. Damals hatte das nicht funktioniert.

Der jetzige US-Präsident hat bekanntermaßen seinen ganz eigenen Blick auf die Geschichte. Er läutet eine neue Ära des Protektionismus ein und will die größte Volkswirtschaft der Welt durch eine aggressive Zollpolitik abschotten und beschützen. Ob es diesmal funktioniert?

Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der ING-Bank, konstatiert ernüchtert: "Die meisten westlichen Volkswirtschaften haben ihren Wohlstand zu einem großen Teil dem freien Handel zu verdanken. Das wird jetzt zurückgedreht und es dauert eine Zeit, bis wir ein neues Gleichgewicht sehen."

Spontane Reaktionen sind sinnlos

Dazu kommt: Wer genau und in welcher Höhe mit welchen Zöllen konfrontiert wird, ist auch nach einer Woche noch nicht ganz klar. Sofort Gegenzölle anzudrohen hält Brzeski für gar keine gute Idee. Der DW sagte er: "Auf Trump zu reagieren hat aktuell wenig Sinn. Dafür ist die Politik zu erratisch."

Die Europäische Union hat das aber schon mal angetestet und ganz konkret mit Gegenzöllen gedroht, etwa auf Motorräder und Bourbon-Whiskey. Letzteren hat man aber wieder von der Liste gestrichen, nachdem es aus Washington hieß, man könne ja auch italienischen Rotwein ins Visier nehmen.

China ist das (Haupt-)ziel

Ein Blick auf die Zoll-Liste des Präsidenten verrät, auf wen es Trump besonders abgesehen hat, weil er im Handel mit diesen Ländern ein "ungerechtes" Handelsbilanzdefizit sieht. Nach Carsten Brzeski sind das vor allem jene Länder, die besonders viel in die USA liefern: "Das sind China, Kanada, Mexiko und Deutschland."

Dabei ist die EU, die Donald Trump geradezu zu verabscheuen scheint, nicht einmal der Hauptadressat seiner Drohungen. Das ist nämlich China - jenes Land, das die USA noch in dieser Dekade als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen könnte. Am Mittwoch (09.04.2025) wurde bekannt, dass chinesische Importe mit kumulierten Zöllen in Höhe von 84 Prozent belegt werden sollen.

Berlin bremst Brüssel

Doch Deutschland kann nicht abseits stehen. Die Ökonomen Marc Schattenberg und Robin Winkler von Deutsche Bank Research schrieben am vergangenen Montag, jetzt sei die deutsche Politik gefordert: Der Zoll-Schock habe "den Druck auf die kommende Bundesregierung erhöht, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft in einem immer schwierigeren globalen Umfeld zu verteidigen."

Damit legen sie den Finger in die Wunde, ist doch noch kein Kanzler gewählt und kein Minister ernannt. Und da soll Europas stärkste Volkswirtschaft in den Verhandlungen mit den USA den Kurs der EU mitbestimmen. Schlechtes Timing also. Ein Glück, dass sich die EU-Kommission darauf verständigt hat, nicht schnell zu schießen und lieber zu verhandeln.

Gefahr für Deutschland

Die deutsche Wirtschaft ist traditionell exportabhängig, der Binnenmarkt ist für die hiesige Konjunktur längst nicht so ausschlaggebend. Zu den Branchen, die besonders viel in die USA liefern, gehören neben dem Maschinenbau und der Chemieindustrie die Autobauer. Sie haben am meisten zu verlieren.

Sollten ihnen das US-Geschäft wegbrechen, wäre das auf den ersten Blick gar nicht so schlimm, denn, so Brzeski: "Von den EU-Ländern gehen im Schnitt etwa drei Prozent vom BIP als Exporte in die USA." Nur drei Prozent, klingt nicht dramatisch - auf den ersten Blick.

Doch hängen in Deutschland hunderttausende Jobs an der Produktion von Autos: Bei den Autoschmieden selbst, bei ihren Zulieferern und bei den Händlern im ganzen Land. Dazu kommen noch Kommunen, die im schlimmsten Fall hohe Arbeitslosenquoten zu verkraften hätten und lokale Einzelhändler, denen von jetzt auf gleich die Kundschaft wegbleiben würde.

Und es träfe ja nicht nur die Autoindustrie mit ihren Standorten in Wolfsburg oder Ingolstadt - Städte, die in ganz hohem Maße von VW bzw. Audi abhängen. Bei der Chemieindustrie wäre es ähnlich. Da würden Leverkusen oder Ludwigshafen leiden, von kleineren Gemeinden wie dem rheinischen Wesseling nicht zu reden.

Und es droht noch eine Gefahr: Sollte es Donald Trump gelingen, chinesische Anbieter so weit wie möglich vom US-Markt zu verdrängen, müsste Peking andere Märkte suchen - in Deutschland etwa. Dann könnten sie mit ihren subventionierten Waren der heimischen Wirtschaft nachhaltig schaden.

Könnten deutsche Firmen auch profitieren?

"Erst einmal nicht", findet ING-Ökonom Brzesik. Mit etwas Verzögerung würden zwar Branchen, die vor allem im Inland aktiv sind, profitieren. Allerdings würden auch sie dem "Tanz erst einmal nicht entkommen, da Einschläge in der Exportindustrie natürlich auch Auswirkungen haben auf den Rest der Wirtschaft."

Schaut man auf die mutmaßlichen Motive Trumps, stößt man darauf, dass es ihm auch darum geht, ausländische Firmen ins Land zu locken. Die sollen dort Arbeitsplätze schaffen und für ein Trump-gemachtes Job-Wunder sorgen. Werden europäische Konzerne nun plötzlich ihr Geschäft nach Übersee verlegen?

Carsten Brzeski hält das für ein interessantes Gedankenspiel: "In den letzten Jahren der Biden-Regierung und dem "Inflation Reduction Act" gab es schon etliche europäische Unternehmen, die sich in die USA orientierten. Dieser Trend schien direkt nach der Wahl im November stärker zu werden. Die Idee von Deregulierung, niedrigen Energiepreisen und Steuersenkungen machte die USA noch attraktiver."

Aber gegenwärtig? Eher nein, meint der Ökonom: "Mittlerweile hat die erratische Wirtschaftspolitik Trumps und das Zollchaos zu großen Zweifeln an der amerikanischen Rechtssicherheit geführt, dass aktuell wohl kaum ein Unternehmer schnell in die USA ziehen wird."

Digitalsteuer und Ausfuhrzölle

Da bleibt die Frage, was man denn nun tun kann gegen die Zolldrohungen. Eine Möglichkeit: Nach genauem Blick auf die Handelsbilanz Deutschlands mit den USA sticht der Dienstleistungssektor ins Auge - dort sind die Europäer deutlich im Hintertreffen.

Doch Obacht! Sogar der IT-Branchenverband Bitkom warnt die Europäische Union davor, mit einer europäischen Digitalsteuer zu reagieren. "Eine europäische Digitalsteuer einzuführen, wäre die denkbar schlechteste Reaktion auf amerikanische Zölle", so Bitkom-Geschäftsleiter Fabian Zacharias zum Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Schon der Ansatz, eine zollpolitische Frage mit neuen Steuern zu beantworten, ist grundfalsch". Stattdessen setzt er "mittelfristig auf Deeskalation".

Eine weitere Möglichkeit hält der deutsche Staat bereit. Für die Ausfuhr von Waren aus dem Zollgebiet der EU können grundsätzlich Ausfuhrzölle erhoben werden, so der deutsche Zoll auf seinem Web-Auftritt. Da es aber üblicherweise im Interesse der EU läge, Waren zu exportieren, um Einnahmen zu erzielen, würden diese nur selten festgesetzt.

Dennoch könnte das im aktuellen Fall praktikabel sein für Waren, die die USA in Europa kaufen müssen. Das schlägt der Ökonom Gabriel Felbermayr, Chef des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Wifo), vor. Das träfe beispielsweise für moderne Maschinen zur Herstellung von Computerchips zu, die derzeit nahezu ausschließlich in Europa produziert werden. Eine hohe Exportsteuer auf diese Maschinen würde US-Firmen viel Geld kosten und die Regierung vielleicht zu Kompromissen veranlassen. Aber das ist bislang nur ein Gedankenspiel.

Doch von Gegenzöllen oder Ausfuhrabgaben hält Carsten Brzeski DW gegenüber nicht viel: "Besser wäre es, wenn die Politik jetzt alle Anstrengungen darauf richtet, Europa stärker zu machen. Mit Investitionen, Strukturreformen, Bürokratieabbau und weitergehender Integration, wie eine Kapitalmarkt- und eine Verteidigungsunion wäre jetzt mehr zu erreichen als mit langen Listen mit Gegenzöllen."

Item URL https://www.dw.com/de/us-zölle-deutschland-vor-zeitenwende-in-der-wirtschaft/a-72189885?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72187314_302.jpg
Image caption Stillstehende Hafenkräne in Long Beach, Kalifornien - ein aktuelles Symbol für den aktuellen US-Außenhandel
Image source Mark Ralston/AFP
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72187314_302.jpg&title=US-Z%C3%B6lle%3A%20Deutschland%20vor%20Zeitenwende%20in%20der%20Wirtschaft

Item 50
Id 72168468
Date 2025-04-09
Title Susan Sontag und das Amerika unter Trump
Short title Susan Sontag und das Amerika unter Trump
Teaser Donald Trumps Kulturkampf hat gerade erst begonnen. Was hätte die US-amerikanische Ikone Susan Sontag wohl dazu gesagt? Die 2004 verstorbene Denkerin hatte sich stets scharfzüngig in politische Debatten eingemischt.
Short teaser Für ihren Scharfsinn wurde sie bewundert und gefürchtet. Was hätte US-Ikone Susan Sontag wohl zu Donald Trump gesagt?
Full text

Sie wäre vermutlich eine Hassfigur für den amtierenden US-Präsidenten Donald Trump. Als Susan Sontag 2004 verstarb, war sie eine prominente Schriftstellerin. Die Kulturwelt in den USA wie in Europa schätzte sie für ihre scharfsinnige Gesellschaftskritik. Sie mischte sich in politische Debatten ein, viele ihrer Gedanken sind aktueller denn je. "Zweifellos hätte Sontag eine gewichtige Stimme", sagt der Kulturhistoriker Bernd Hüppauf, der lange an der New York University forschte. "Aber würde sich Trump davon beeindrucken lassen? Wohl kaum."

In Deutschland beschäftigen sich aktuell zwei Ausstellungen mit der Gedankenwelt der US-Intellektuellen: "Sehen und gesehen werden" in der Bundeskunsthalle in Bonn (bis 28. September) und "Everything matters" ab 23. Mai im Literaturhaus München (bis 30.11.2025). An beiden hat die Susan Sontag-Biographin Anna-Lisa Dieter mitgewirkt. "Viele Menschen fragen sich oft, was würde Susan Sontag zu unserer Gegenwart sagen", so Dieter im DW-Gespräch, "und ich glaube, sie hätte ganz viel zu sagen gehabt."

Susan Sontags europäische Sicht auf die USA

Susan Sontags lebte Kultur. Wie nur wenige Intellektuelle beschäftigte sie sich umfassend mit Film, Theater, Literatur, Medien und politischen Fragen. In vielen Sparten publizierte sie Aufsätze, Essays, Bücher und Filme. Sie war Kulturkritikerin und Regisseurin, eine Allrounderin, die jeweils klar Position bezog. Sontag entstammte einer jüdischen Familie in New York City. Sie studierte Literatur, Philosophie und Theologie an namhaften US-Universitäten und lebte einige Jahre in Paris, was ihr eine europäische Sicht auf ihre US-Heimat bescherte. Intellektuelle Brillanz, ihr Gespür für den Zeitgeist und ein unstillbarer Hunger nach Kultur, Reisen und Begegnungen - all das ließ sie als Denkerin und Autorin zur Ikone werden, diesseits wie jenseits des Atlantiks.

Die Präsidentschaften von Donald Trump erlebte Sontag nicht mehr. Dass sie heute zu seinen schärfsten Kritikerinnen zählen würde, liegt jedoch nahe.

Gegen Trumps Kettensägen-Politik

Es mag spekulativ klingen, aber die "Kettensägen"-Politik Trumps (den Begriff prägte der Trump-Berater und Tesla-Chef Elon Musk, Anm.d.Red.) dürfte Susan Sontag nicht gefallen haben. Zweieinhalb Monate nach seinem neuerlichen Amtsantritt hat Trump einen Feldzug gegen die Wissenschaft begonnen: Er streicht staatliche Forschungsgelder und entlässt Tausende Bundesangestellte im Wissenschaftsbereich. Erste Forschende verlassen jetzt das Land, darunter die namhaften Historiker Timothy Snyder, Marci Shore und Jason Stanley, die nach Kanada gehen.

Sontags Missfallen erregt hätten wohl auch Trumps Dekrete gegen Forschung in den Bereichen Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion (DEI) oder die Maßnahmen der Trump-Regierung gegen Einwanderung - nicht zu vergessen Trumps Versuch, Universitäten durch den Entzug staatlicher Gelder auf Linie zu zwingen. Hüppauf glaubt allerdings nicht, dass Susan Sontag konkret dazu öffentlich Stellung genommen hätte. "Einen Essay von ihr über die neuen Autokraten der Welt im 'New Yorker' kann ich mir vorstellen", so Hüppauf zur Deutschen Welle, "aber keinen Protest gegen Trump".

Eine öffentliche moralische Instanz

"Intellektuelle mit öffentlicher Wirkung", so konstatierte der Kulturhistoriker Hüppauf schon zu Beginn von Trumps erster Amtszeit 2016 in einem Zeitungsbeitrag, "gibt es in den Vereinigten Staaten nicht". Selbst solche wie Susan Sontag, Noam Chomsky oder Hannah Arendt, hätten keine gesellschaftliche Relevanz gehabt und ihr Ruf nicht den Experten-Status überwunden. "Der Triumph des Donald Trump geht nicht auf das Scheitern der Intellektuellen zurück, sondern ist das Symptom des Scheiterns der Demokratie", so Hüppauf.

Ganz anders sieht das Susan-Sontag-Biographin Anna-Lisa Dieter: "Sie war eine öffentliche moralische Instanz", so Dieter im DW-Gespräch. Als solche hätte Sontag, die sich kulturpolitisch engagierte und von 1987 bis 1989 Präsidentin des PEN Amerika war, womöglich auch daran Anstoß genommen - den Attacken Trumps auf US-Museen, die Ausstellungen etwa über Rassismus, Kolonialismus und Sexismus zeigen. Diese hätten die bisexuell lebende Intellektuelle, die sich mit afroamerikanischen Freunden umgab, ganz persönlich getroffen.

Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin kritisierte die Ankündigung Trumps scharf. Der US-Präsident kämpfe einen "antiintellektuellen Kampf, der auf alles zielt, was den Menschen frei macht" und wolle so die Vermittlung konservativer amerikanischer Werte durchsetzen. Diese Kritik hätte auch von Susan Sontag stammen können.

Vermittlerin zwischen Amerika und Europa

Susan Sontag verstand sich als Grenzgängerin zwischen Europa und den USA. "Sie hat sich immer wieder politisch eingemischt", sagt Kristina Jaspers, Kuratorin der aktuellen Ausstellung über Susan Sontag in der Bundeskunsthalle in Bonn. Gelegentlich brach Sontag dabei mit den Erwartungen ihres Publikums, so auch 2003 - das Jahr, in dem US-Truppen im Irak einmarschierten. Susan Sontag erhielt in der Frankfurter Paulskirche den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, als "Vermittlerin zwischen Europa und den Vereinigten Staaten". Erwartet wurde, dass sie in ihrer Dankesrede die US-Regierung scharf kritisieren würde. US-Botschafter Dan Coats, ein Republikaner, war der Zeremonie daher demonstrativ ferngeblieben. Sontag aber legte den Fokus ihrer Rede auf das transatlantische Verhältnis und appellierte an ihre Schriftstellerkolleginnen und -kollegen, ihr Augenmerk auf die Welt zu richten.

Immer wieder jedoch kritisierte sie ihr eigenes Land. Sontag protestierte gegen den Vietnamkrieg, nahm an Demonstrationen und Happenings teil. Sie reiste, sie schrieb, sie drehte. Von ihr gibt es einen Dokumentarfilm über den Jom-Kippur-Krieg. Sontag überwand zwei Krebserkrankungen, die sie auch essayistisch verarbeitete und ordnete die Immunschwächekrankheit Aids, an der Menschen in ihrem Umfeld starben, gesellschaftspolitisch ein. Während des Bosnien-Krieges fuhr sie in das von serbischen Milizen belagerte Sarajewo. Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 wetterte sie, im Widerspruch zur herrschenden Meinung in der US-Politik und in den US-Medien, gegen den vom damaligen US-Präsident Georg W. Bush ausgerufenen "Krieg gegen den Terror".

Man kann sich ausmalen, was sie zu Donald Trumps Populismus gesagt hätte. "Meiner Ansicht nach verdient nur eine kritische, dialektische, skeptische, jeder Vereinfachung entgegenwirkende Intelligenz, verteidigt zu werden", schrieb sie Anfang der 1970er-Jahre in einem Essayband. Und über die Wirkung von Bildern notierte sie, lange vor dem Aufkommen von Instagram, TikTok, Truth Social und Co.: "Heute existiert alles, um fotografiert zu werden." Bei bestimmten Themen sei sie "geradezu prophetisch" gewesen, sagt Sontag-Biographin Anna-Lisa Dieter, "in jedem Fall aber war sie das moralische Gewissen, was uns gerade jetzt fehlt."

Item URL https://www.dw.com/de/susan-sontag-und-das-amerika-unter-trump/a-72168468?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/50665884_302.jpg
Image caption Gefürchtet für ihren Scharfsinn: Die US-amerikanische Intellektuelle Susan Sontag (1999 in New York)
Image source picture-alliance/Gattoni/leemage
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/50665884_302.jpg&title=Susan%20Sontag%20und%20das%20Amerika%20unter%20Trump

Item 51
Id 72184581
Date 2025-04-09
Title Warum Trumps "gegenseitige Zölle" nicht auf Gegenseitigkeit beruhen
Short title Was sich wirklich hinter Trumps "reziproken Zöllen" verbirgt
Teaser Der US-Präsident behauptet, seine Zölle seien "reziprok". Aber der Blick auf die Zahlen zeigt, wie unverhältnismäßig sie für einige Länder sind und welche Motivation wirklich dahinter steckt.
Short teaser Laut Donald Trump sind seine Zölle "wechselseitig". Aber der Blick auf die Zahlen zeigt, wie unverhältnismäßig sie sind.
Full text

Als Donald Trump am 2. April im überfüllten Rosengarten vor dem Weißen Haus die Details seiner Zollkampagne bekannt gab, lies sich der US-Präsident erneut über die Bedeutung des Wortes "reziprok" aus. "Gegenseitige Zölle auf Länder auf der ganzen Welt", sagte er. "Reziprok. Das heißt: Sie tun es uns an und wir tun es ihnen an. Sehr einfach. Einfacher geht es nicht."

Trump kündigte an diesem Tag zwei Hauptzölle an: eine Abgabe von zehn Prozent auf praktisch alle US-Importe aus allen Ländern und dann eine zusätzliche Reihe von "reziproken Zöllen" auf ausgewählte Länder, deren Höhe nach einer vielfach belächelten Formel der US-Regierung berechnet wurde, die sich fast ausschließlich auf Handelsdefizite konzentriert.

Der US-Präsident und sein Wirtschaftsteam haben wiederholt darauf bestanden, dass die gegenseitigen Zölle nur die gleichen Handelsbarrieren errichten, mit denen US-Exporteure konfrontiert sind, wenn sie Waren in diese Länder verkaufen.

Fehlerhafte Formel

Eine Reihe von Ökonomen, Banken und Finanzinstituten haben jedoch darauf hingewiesen, dass die Zölle nicht auf Gegenseitigkeit beruhen und dass die Formel, mit der Trumps Team sie berechnet hat, wirtschaftlich wenig Sinn ergibt.

"Die Formel, die er verwendet hat, ist Unsinn", sagt Bill Reinsch, leitender Wirtschaftsberater am Center for Strategic and International Studies (CSIS), der DW. "Jeder weiß, dass es Unsinn ist und in keinem Verhältnis zu dem steht, was sie versprochen haben, nämlich auf Gegenseitigkeit zu achten und tatsächliche Handelshemmnisse zu berücksichtigen, also Zölle und nicht-tarifäre Handelshemmnisse. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass sie die geringste Anstrengung unternommen haben, das zu tun."

Doug Irwin vom Peterson Institute for International Economics und Experte für globalen Handel, sagt ebenfalls, dass die Zölle aus einer Reihe von Gründen eindeutig nicht auf Gegenseitigkeit beruhen. Im Gespräch mit der DW weist er auf den Punkt hin, dass die vom Weißen Haus verwendete Formel nicht einmal die Höhe der von anderen Ländern verhängten Zölle berücksichtigte. Man habe stattdessen einfach das Handelsdefizit der USA mit dem betreffenden Land beim Warenaustausch zugrunde gelegt und es dann durch die Menge der Waren dividiert, die aus diesem Land in die USA importiert wurden.

Außerdem, so Irwin, seien gegenseitige Zölle auf Länder angewendet worden, mit denen die USA bereits Freihandelsabkommen haben, wie Chile, Australien, Peru und Südkorea.

"Diese sind bereits wechselseitig in dem Sinne, dass wir sie nicht belasten und sie uns nicht belasten", sagte er. "Tatsächlich geht es nicht um Außenhandelsbarrieren, sondern um das Handelsdefizit. Darauf haben sie sich konzentriert. Das ist die Kennzahl, die sie verwenden, um Handelsbarrieren zu unterstellen", betont Irwin.

Alles andere als gegenseitig

Daten der Welthandelsorganisation (WTO) untermauern die Argumente von Ökonomen, dass Trumps angeblich gegenseitige Zölle in Wirklichkeit weit höher sind als die der jeweiligen Handelspartner. Das vielleicht prominenteste Beispiel ist China. Peking stand in Trumps erster Amtszeit von 2017 bis 2021 im Mittelpunkt seiner Zollpolitik - und das mit einigem Recht. China erhob damals durchweg höhere Zölle auf US-Waren als umgekehrt. Die jüngsten weitreichenden Zölle aus Washington führen jedoch dazu, dass die US-Zölle auf chinesische Waren inzwischen deutlich höher sind als umgekehrt.

Schätzungen zufolge lagen die US-Zölle auf chinesische Waren bislang bei rund 75 Prozent, verglichen mit 56 Prozent in der Gegenrichtung. In der Zwischenzeit hat Trump jedoch die bestehenden Zölle um weitere 50 Prozent erhöht, nachdem China US-Waren mit einem zusätzlichen Zoll in Höhe von 34 Prozent belegt hatte. China antwortete mittlerweile mit der Erhöhung seiner Zölle auf US-Waren auf 84 Prozent.

Ein weiteres klares Beispiel ist Vietnam. Washington wird Vietnam nun einen Zoll von 46 Prozent auferlegen, aber das WTO-Portal Tariff & Trade Data zeigt, dass Vietnam den USA einen einfachen Durchschnittszoll von 9,4 Prozent und einen gewichteten Durchschnittszoll von 5,1 Prozent berechnet, der den Anteil der Produkte mit unterschiedlichen Zollsätzen berücksichtigt.

Das Beispiel Vietnam zeigt jedoch, dass es eindeutig nicht um Gegenseitigkeit geht. Hanoi bot sofort an, alle Zölle auf US-Importe fallen zu lassen, aber Trumps Handelsberater Peter Navarro antwortete in einem Interview mit CNBC, dass das Angebot nicht ausreichen würde, "weil es auf den nicht-tarifären Betrug ankommt". Er nannte den Verkauf chinesischer Waren über Vietnam und die Mehrwertsteuer als Beispiele für einen solchen "Betrug".

Bill Reinsch sagt, die Tatsache, dass das Weiße Haus keine tarifären Handelshemmnisse zugrunde gelegt hat, geschweige denn nicht-tarifäre Handelshemmnisse, wie Navarro bei seinen Berechnungen behauptet, deutet darauf hin, dass die US-Regierung "nicht wirklich an der Idee der Gegenseitigkeit interessiert ist, so Reinsch. "Es ist nur ein Spiel. Und so wird es Verhandlungen geben."

Verhandlungen mit Ländern wie Vietnam werden sich zweifellos auf die Handelsbilanzen der Länder konzentrieren, aber Doug Irwin hält es für "unwahrscheinlich", dass die USA beim Blick auf ihre unterschiedlichen Volkswirtschaften zu einen ausgeglichenen Handel oder einem Handelsüberschuss mit Vietnam kommen können. "Vietnam hat viele ausländische Investitionen erhalten. Wir liefern Komponenten nach Vietnam und die Vietnamesen liefern uns Endprodukte", erklärt Irwin und fügt hinzu, dass dies "natürlich bedeutet, dass es ein Handelsdefizit geben wird".

Was Trump wirklich will

Trump spreche seit mehr als 40 Jahren darüber, dass die USA beim Welthandel "abgezockt" würden, bemerkt Bill Reinsch. Er glaubt, Trump wolle den Welthandel wirklich umstrukturieren, befinde sich aber mittlerweile auf einem regelrechten Rachefeldzug. "Das Problem dabei ist, dass er wirklich nur eine Kennzahl hat, nämlich das bilaterale Handelsdefizit, und dass er wirklich nur ein Instrument hat, nämlich die Zölle."

Für den CSIS-Ökonomen ist die Trump-Regierung grundsätzlich der Ansicht, dass Handelsdefizite unfair sind und Washington nur dann zufrieden ist, wenn diese Defizite beseitigt werden - so unrealistisch und wirtschaftlich unwahrscheinlich dieses Ziel auch sein mag.

"Wenn man Navarro zuhört, und manchmal auch Trump, dann wird so getan, als ob ein Handelsdefizit mit Land A nur daran liegen kann, dass sie etwas Unfaires tun, und der Handel ausgewogen sein sollte", sagt Reinsch und fügt hinzu, eine solche Argumentation "ergibt keinen Sinn".

Irwin stimmt dem zu und sagt, Trumps größte Sorge seien die Handelsdefizite. "Nicht so sehr die Einnahmen, es geht nicht so sehr um Gleichheit oder Fairness oder Gegenseitigkeit. Er mag keine Handelsdefizite. Und da ist er seit 40 Jahren unbeirrbar."

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert

Item URL https://www.dw.com/de/warum-trumps-gegenseitige-zölle-nicht-auf-gegenseitigkeit-beruhen/a-72184581?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72148631_302.jpg
Image caption Trump hat mit seinen Zollverordnungen den regelbasierten Welthandel ins Wanken gebracht
Image source Jim Lo Scalzo/UPI Photo/Newscom/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72148631_302.jpg&title=Warum%20Trumps%20%22gegenseitige%20Z%C3%B6lle%22%20nicht%20auf%20Gegenseitigkeit%20beruhen

Item 52
Id 71593691
Date 2025-04-09
Title Nach Berlinale-Erfolg: Regie-Duo im Iran verurteilt
Short title Nach Berlinale-Erfolg: Regie-Duo im Iran verurteilt
Teaser Ihr Film "Ein kleines Stück vom Kuchen" wurde auf der Berlinale 2024 bejubelt. Nun hat Irans Justiz das Regie-Duo Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam zu Haftstrafen verurteilt - wegen Propaganda gegen das System.
Short teaser "Ein kleines Stück vom Kuchen" wurde auf der Berlinale 2024 bejubelt. Nun hat Irans Justiz das Regie-Duo verurteilt.
Full text

Das teilten die Filmemachenden in einer gemeinsamen Erklärung auf Instagram mit. Danach habe sie ein Revolutionsgericht in Teheran zu 14 Monaten Haft verurteilt. Die Haftstrafe sei zur Bewährung für fünf Jahre ausgesetzt worden. Auch sei eine Geldstrafe verhängt worden. Irans Justiz äußerte sich zunächst nicht.

In einem früheren Post hatten Behtash Sanaeeha und Maryam Moghaddam Vorwürfe der Staatsanwaltschaft öffentlich gemacht. Aus Sicht der Justiz habe ihr Film "Keyke mahboobe man" (Ein kleines Stück vom Kuchen) gegen "Sittlichkeit und Moral" verstoßen. Außerdem hätten die Filmemacher keine Vorführgenehmigung und Vertriebslizenz eingeholt. Die Staatsanwaltschaft habe das Regie-Duo mehrfach verhört.

Offenbar muss sich auch Lily Farhadpour, die Hauptdarstellerin des Films, vor dem Revolutionsgericht verantworten. Der Vorwurf hier: Sie habe "Bänder und Disketten mit vulgären Shows und Darbietungen produziert, verbreitet und vervielfältigt sowie an der Produktion vulgärer Inhalte teilgenommen". Auch die Schauspielerin musste vor dem Revolutionsgerichts erscheinen.

Der Film bricht mit vielen Tabus des iranischen Gottesstaats. "Ein kleines Stück vom Kuchen" erzählt die Geschichte einer 70-jährigen, alleinlebenden Wittwe, die ihre Lust auf die Liebe wiederentdeckt. Auf der Suche nach einem Partner lernt sie einen Taxifahrer kennen. Er besucht sie - unbemerkt von den Nachbarn - in ihrem Haus. Zwischen beiden ergibt sich eine kurze, intensive, zärtliche Begegnung, bevor der Mann einem Herzinfarkt erliegt und sie ihn im Garten verscharrt.

Große Risiken beim Filmdreh

Es ist ein ruhig erzählter, vermeintlich unscheinbarer Film voller kleiner Glücksmomente, gespickt mit Humor und der Hoffnung auf ein menschliches Dasein in Freiheit. Doch spielt die Handlung hinter einem Vorhang des Privaten, hinter den sich viele Menschen im Iran zurückziehen müssen, um sich der Diktatur der Mullahs zu entziehen.

In ihrer Wohnung trinken die Protagonistin Mahin (Lily Farhadpour) und ihr Auserwählter Faramarz (Esmail Mehrabi) Wein, sie berühren sich beim Tanzen, sie duschen zusammen und beschließen, dass die Nacht gemeinsam in Mahins Bett enden soll. Szenen wie diese unterliegen seit der Islamischen Revolution im Iran strenger Zensur. Wer sie missachtet, geht große Risiken ein – wie das Regie-Duo Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha. "Wir kannten die Konsequenzen", sagte Maryam Moghaddam 2024 in einem Interview mit der Plattform T-Online. Aber sie haben es riskieren wollen, "um die Realität im Iran zu zeigen". Wir wollen nicht lügen, wir wollen ehrlich sein, egal ob es um das Leben der Frauen oder die Menschen im Allgemeinen geht. Darauf sind wir stolz."

Jubel für den stillen Kinofilm

Wenige Tage nach Drehbeginn des Films wurde der Tod von Jina Mahsa Amini publik, die in der Haft der Sittenpolizei starb. Noch während die Iranerinnen und Iraner zu Tausenden auf die Straße gingen, drehte das Filmteam im Verborgenen weiter. In einer gestellten Szene des Films nimmt die Sittenpolizei eine junge Frau fest, weil sie ihr Kopftuch angeblich nicht richtig trägt, ganz wie bei Mahsa Amini, deren Tod landesweite Proteste auslöste. "Diese Szene haben wir geschrieben, bevor Mahsa Amini ermordet wurde", berichtet Moghaddam. "Es passiert jeden Tag auf den Straßen im Iran, in jeder Stadt. Wir Frauen müssen vorgeben, etwas zu sein, das wir nicht sind. Wir müssen so tun, als seien wir religiös. Das gilt auch für Frauen in Filmen und Serien. Aber so sind wir nicht."

Filmemacher durften nicht ausreisen

Auf der Leinwand eine Frau ohne Hijab zu zeigen, ist in der Islamischen Republik Iran verboten. Noch bevor sie zur Postproduktion aus dem Iran ausreisen konnten, mussten die Filmemacher Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha ihre Pässe abgeben. Eine Ausreise war somit nicht mehr möglich. Ihren Film konnten sie mit dem Produktionsteam, das im Ausland saß, nur aus der Ferne fertigstellen. Auch zur Uraufführung von "Ein kleines Stück vom Kuchen" auf der Berlinale 2024 durften die Filmemacher, anders als ihre Hauptdarsteller, nicht nach Deutschland reisen. Ihr Film aber wurde vom Publikum bejubelt und mit einem Kritikerpreis ausgezeichnet.

Seit der Islamischen Revolution von 1979 unterliegt auch Irans Film-und Kulturszene der strengen Beobachtung durch die Behörden. Filmschaffende etwa müssen offiziell ihre Drehgenehmigungen und Kinovorführungen durch das Ministerium für Kultur und islamische Führung beantragen. Irans lebendige Kunst- und Filmszene war jedoch schon immer ein Ort subtiler oder auch ganz offensichtlicher Kritik am System. Das belegt nicht zuletzt Mohammad Rasoulofs Kinofilm "Die Saat des heiligen Feigenbaums", der von Deutschland für den Auslands-Oscar eingereicht worden ist.

Dieser Artikel wurde am 09.04.2025 aktualisiert.

Item URL https://www.dw.com/de/nach-berlinale-erfolg-regie-duo-im-iran-verurteilt/a-71593691?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/69638140_302.jpg
Image caption Müssen im Iran vor Gericht: Die Filmemacher Behtash Sanaeeha und Maryam Moghadam
Image source DW
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/69638140_302.jpg&title=Nach%20Berlinale-Erfolg%3A%20Regie-Duo%20im%20Iran%20verurteilt

Item 53
Id 72163968
Date 2025-04-09
Title Expo 2025 in Osaka – faszinierend überflüssig
Short title Expo 2025 in Osaka – faszinierend überflüssig
Teaser Weltausstellungen wollen spannende Innovationen vorstellen und Lösungen für drängende Zukunftsfragen liefern. Das Spektakel ist faszinierend, aber ist das Konzept noch zeitgemäß?
Short teaser Innovationen und Lösungen will die Expo präsentieren. Das Spektakel ist faszinierend, aber ist das Konzept zeitgemäß?
Full text

Bei der ersten Weltausstellung in London 1851 ging es noch darum, technische Neuheiten und bis dato Ungesehenes zu präsentieren. Der für die Weltausstellung in Paris gebaute Eiffelturm war 1889 für viele Bewohner ein Ärgernis, für die meisten Besucher aber war er eine Sensation. Wie auch das Atomium 1958 in Brüssel. Noch heute ziehen diese Wahrzeichen Besucher aus aller Welt an.

Aber diese Zeiten sind lange vorbei. Die weltweit spannendsten Innovationen sind heute nur einen Mausklick entfernt. In unserer digitalisierten Gegenwart muss niemand mehr um die halbe Welt reisen, um die neusten Errungenschaften von Technik und Wissenschaft zu bestaunen.

Die letzten Weltausstellungen in Hannover, Mailand, Shanghai und Dubai wollten mehr sein als nur ein faszinierendes Spektakel, sie wollten auch zum Denken anregen. Neben viel Glanz und Glitter wollen Weltausstellungen seit den 1990er Jahren vor allem Antworten für die wichtigsten Fragen der Gegenwart liefern: Wie leben wir in Zukunft zusammen? Wie wird das städtischen Leben lebenswerter? Wie überwinden wir soziale Ungerechtigkeiten? Welche alternativen Verkehrs-, Energie- und Wirtschaftssysteme gibt es? Wie schützen wir unsere Umwelt effektiver?

Fragen, für die es internationale Antworten braucht.

Extravagantes Vergnügen: unnötig, aber beeindruckend

Auch wenn sich diese Fragen wie ein roter Faden durch die Expos ziehen, waren die letzten Weltausstellungen vor allem ein immer pompöseres Werben um Aufmerksamkeit.

Kein Land will oder kann sich dieses internationale Schaulaufen entgehen lassen. Und so nehmen an der diesjährigen Weltausstellung in Osaka im Westen Japans rund 160 Länder und internationale Organisationen teil, die sechs Monate lang ihre technologischen und kulturellen Fähigkeiten präsentieren.

Ein etwa zwei Kilometer langer Dachring als eine der größten Holzkonstruktionen der Welt, fliegende Autos, durchsichtige Solarzellen, Mars-Gestein, extravagante Gebäude, spektakuläre Shows - für umgerechnet 25 bis 42 Euro Eintritt hat die Expo 2025 viel zu bieten. Rund zehn Kilometer außerhalb des Stadtzentrums von Osaka wurde eigens eine künstliche Insel, Yumeshima Island, als Expo-Gelände angelegt.

Deutschland präsentiert Konzept für nachhaltiges Wirtschaften

"Designing the society of the future and imagining our life of tomorrow" lautet das diesjährige Motto in Osaka. Es werden Ideen für ein zukünftiges Zusammenleben und Alternativen für eine nachhaltigere, gerechtere und vernetztere Zukunft präsentiert. Sowie Innovationen in den Bereichen Gesundheits- und Ernährungsversorgung, Künstliche Intelligenz, Robotik und erneuerbare Energien .

Ausdrücklich soll dem Umweltschutz ein besonderes Augenmerk gelten, der angesichts der Krisen und Kriege weltweit immer weniger Beachtung findet.

Schwerpunkthema des Deutschen Pavillons ist 2025 die zirkuläre Kreislaufwirtschaft. Klingt nicht sehr sexy, ist aber sehr wichtig. Eine klimaneutrale Kreislaufwirtschaft ohne Müll ist entscheidend für nachhaltiges Wirtschaften.

Wettstreit der Pavillons

Bei den Expos bekommen traditionell die jeweiligen Pavillons der Länder die meiste Aufmerksamkeit. Damit die Besucher staunen und das Gebäude möglichst lang in Erinnerung behalten, braucht es einen möglichst auffälligen Pavillon. Staaten, die es sich leisten können, investieren hier sehr viel Geld.

Trotzdem ähneln viele Pavillons eher begehbaren Reiseprospekten, in denen die Sehenswürdigkeiten (oder auch die Regierung) des Landes gepriesen werden oder freundlich lächelnde Hostessen landestypische Spezialitäten verteilen.

Oftmals spiegelt sich in den Ständen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Staates wider. Ärmere Länder werden zwar vom Veranstalter mit günstigen Flächen und Ausstattung unterstützt. Trotzdem haben ökonomisch schwächere Länder keine oder eher bescheidene Pavillons mit Postern statt mit aufwändigen Videoprojektionen. Entsprechend geringer ist die Aufmerksamkeit der Besucher.

Expos sind ein finanzieller Kraftakt

Lange galt die Ausrichtung einer Weltausstellung als lukratives Prestigeprojekt. Sie versprach wirtschaftliches Wachstum, massive Investitionen in die Infrastruktur, große Bekanntheit und Ansehen.

Inzwischen aber sind Expos selbst für reiche Austragungsländer ein gewaltiger finanzieller Kraftakt, den die jeweilige Bevölkerung meist sehr kritisch sieht. Die durch die Corona-Pandemie verzögerte Expo 2020 in Dubai wurde 2021/22 abgehalten und kostete geschätzt sieben Milliarden US-Dollar, es kamen rund 24 Millionen Besucher.

Bei der Expo 2025 in Osaka werden von April bis Oktober 28 Millionen Besucher erwartet. Lange hielt sich in Japan die Begeisterung in Grenzen, der Ticketverkauf stagnierte. Außerdem haben steigende Kosten, Inflation und Arbeitskräftemangel dazu geführt, dass das Gesamtbudget für den Bau der Expo gegenüber den Schätzungen von 2020 um 27 Prozent auf umgerechnet rund 1,5 Milliarden Euro gestiegen ist.

Wie nachhaltig sind Expos?

Bei Weltausstellungen wird sehr viel über Umweltschutz und Nachhaltigkeit gesprochen, vor allem von den Veranstaltern. Gleichzeitig sind Expos selbst alles andere als nachhaltig, wenn alle fünf Jahre Millionen Menschen anreisen, die meisten davon mit dem Flugzeug.

Viele Pavillons werden nach der Weltausstellung abgerissen, auf den Expo-Geländen wird im Idealfall ein neues Stadtviertel, ein Park oder eine Wirtschaftszone errichtet. Ökologisch betrachtet könnten die verbauten Millionen sicherlich sinnvoller eingesetzt werden.

Es ist eine Illusion, dass Weltausstellungen einen echten Beitrag dazu leisten können, die Probleme der Zukunft zu lösen. Wer nicht nur einen amüsanten Tag in einer futuristischen Glitzerwelt erleben will, kann im besten Fall Denkanstöße bekommen. Und sich daran erinnern, dass die Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft auch in Zeiten der Abschottung und globalen Zerwürfnisse nur gemeinsam bewältigt werden können.

Item URL https://www.dw.com/de/expo-2025-in-osaka-faszinierend-überflüssig/a-72163968?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72164878_302.jpg
Image caption Für die Expo in Osaka wurde eigens eine künstliche Insel im Meer angelegt, im Zentrum eine gigantische Ringkonstruktion aus Holz
Image source Takumi Harada/AP/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72164878_302.jpg&title=Expo%202025%20in%20Osaka%20%E2%80%93%20faszinierend%20%C3%BCberfl%C3%BCssig

Item 54
Id 72164966
Date 2025-04-08
Title Propaganda-Vorwürfe gegen World Press Photo Award
Short title Propaganda-Vorwürfe gegen World Press Photo Award
Teaser Die Jury des World Press Photo Award fördere russische Propaganda, so der Vorwurf. Außerdem stellte sie das Bild eines traumatisierten Kindes neben das eines verletzten Soldaten. Was ist dran an der Kritik?
Short teaser Die Jury des World Press Photo Award fördere russische Propaganda, so der Vorwurf. Was ist dran an der Kritik?
Full text

Als die Liste der ersten, regionalen Gewinner des World Press Photo Award (WPPA) 2025 am 27. März veröffentlicht wurde, war die Empörung groß. Der Grund: Unter den Preisträgern des wohl renommiertesten Preises im Bereich Fotojournalismus befand sich Mikhail Tereshchenko, seit 2017 Reporter bei Russlands staatlicher Nachrichtenagentur TASS.

Im Auftrag seines Arbeitgebers fotografierte Tereshchenko Massenproteste in Georgien. Sie richten sich gegen die prorussische Regierung, vermeintlichen Wahlbetrug und fordern einen pro-europäischen Kurs. Dass ausgerechnet ein TASS-Fotograf ausgezeichnet wurde, während Fotografen aus Georgien unter Repressionen leiden, sorgt für Unverständnis. Zumal Tereshchenko in einem Interview die Erstürmung der ukrainischen Stadt Mariupol als "Befreiung" bezeichnete - ganz im Sinne der russischen Propaganda.

Der Jury wurde Verantwortungslosigkeit und fehlende Sensibilität vorgeworfen.

Die Welt in Bildern

Der World Press Photo Award wird seit 1955 von der gleichnamigen Stiftung mit Sitz in Amsterdam vergeben. 2025 wurden genau 59.320 Bilder von 3778 Fotografinnen und Fotografen aus 141 Ländern eingereicht.

Auch aus Russland und anderen unfreien Ländern und von Fotojournalisten, die für staatliche Medien arbeiten: "Wir schließen keine Fotografen aus irgendeinem Land aus", heißt es auf der Homepage der Amsterdamer Stiftung. "Wir sind uns der Realität staatlicher Propaganda bewusst, glauben aber, dass auch Fotografen, die in Ländern mit wenig Pressefreiheit arbeiten, sinnvolle Werke schaffen können."

Die Bilderflut wird von den Fachjurys aus sechs Regionen gesichtet. In der ersten Runde anonym: "Damit soll sichergestellt werden, dass die Beiträge, die in die nächste Runde kommen, ausschließlich nach ihrer visuellen Qualität ausgewählt werden", so die Idee. "Da jede Fachjury ihre Region gut kennt, fließen in ihre Entscheidungen auch ihre politischen, sozialen und kulturellen Kenntnisse ein", heißt es auf der Website des Preises.

Ab der zweiten Runde weiß man aber mehr - etwa die Namen der Urheber und Urheberinnen, und in der vierten, finalen Runde gibt es auch Angaben zur "Motivation, Art des Projekts (ob Auftrag oder persönliches Projekt) und Finanzierung".

Pro Region werden sieben Preisträger bestimmt - je drei in den Kategorien "Einzelfoto", "Story" und eins für "Long Term Project (Langzeit-Projekt)". Insgesamt sind es also 42 Gewinner. Es sind, wie jedes Jahr, einige lyrische, intime Bilder dabei. Vor allem aber sind es die Konflikte und Tragödien dieser Welt, auf die die Fotojournalistinnen und-Journalisten ihre Kameras richten.

Der Fall Tereshchenko

Man kann wohl ausschließen, dass die Juroren nicht darüber im Bilde waren, wen sie in der Kategorie "Story" für die Region Europa ausgezeichnet haben: eben den Moskauer Fotografen Mikhail Tereshchenko, tätig für die TASS und nicht nur in Russland für seine expressive, drastische Bildsprache bekannt. Die "Telegrafenagentur der Sowjetunion", so der volle Name der "TASS", beliefert die Welt seit nunmehr über 100 Jahren mit hochqualitativem Bildmaterial, das allerdings oft alles andere als journalistisch neutral ist.

"Ich fotografiere gerne Sport, politische Ereignisse und sogar die Fashion Week", gibt er bei der TASS zu Protokoll. "Aber am interessantesten sind für mich komplexe Herausforderungen und Drehs - Notfälle, militärische Konflikte."

Bereits seit 2015 berichtet Tereshchenko aus der Ostukraine, auch als "embedded" Korrespondent der russischen Streifkräfte (ein "embedded" Journalist ist einer militärischen Einheit zugeordnet und begleitet die Truppe, Anm. d. Red.). Bei der Erstürmung von Mariupol war Tereshchenko dabei und reichte schon damals seine Bilder für den World Press Photo Award ein.

Diesmal war Tereshchenko aber nicht an der ukrainisch-russischen Front, sondern in Georgien unterwegs. Hier dokumentierte er im Auftrag von TASS die Zusammenstöße vor allem junger, pro-europäisch gesinnter Georgier mit der Polizei.

Bei den Protesten sei es auf beiden Seiten zu Gewalt gekommen, und genau das habe er fotografisch eingefangen, sagte Tereshchenko der TASS. "Es war ziemlich hartes Filmmaterial. Sowohl die Regierung als auch die Polizei und die Demonstranten selbst griffen häufig zu verschiedenen Mitteln." Bei dem Auftrag in Tiflis handelte es sich um eine Dienstreise, vorab musste der Korrespondent ein Sicherheitstraining absolvieren.

Seine düsteren, nächtlichen Bilder lesen sich nicht eindeutig, sie lassen eine Bandbreite von Interpretationen zu. Angesichts der Tatsache, dass Russland mit allen Mitteln versucht, Georgien als ehemalige Teilrepublik der Sowjetunion an sich zu binden, stellt sich allerdings die Frage, ob ein TASS-Korrespondent die ideale Besetzung für einen Bericht über den Konflikt in Georgien ist.

"Für mich sind es vor allem starke Bilder", so ein angesehener bayerischer Landschaftsfotograf gegenüber der DW, der seinerzeit in der Jury des WPPA tätig war und hier nicht namentlich genannt werden möchte. "Die Besonderheit von guten Bildern ist eben dies: Sie emanzipieren sich vom Autor uns sprechen für sich." Die ukrainische Kunsthistorikerin Lyudmila Bereznitsky, die als eine der ersten das Werk des renommierten ukrainischen Fotografen Boris Mikhailov im westlichen Ausland präsentierte, sieht das anders.

"Es ist, als ob man mitten im Zweiten Weltkrieg Leni Riefenstahl für ihre tolle Olympia-Bilder auszeichnen würde", zieht sie den gewagten Vergleich.

In einem Statement lässt die Jury des WPPA wissen, man nehme Kritik und die Beschwerden über die journalistische Unabhängigkeit von Mikhail Tereshchenko ernst und würde diese "nach dem in unseren Verfahren dargelegten Prozess prüfen. Bis diese Prüfung abgeschlossen ist, bleiben wir bei der Entscheidung der Jury, sein Projekt 'Proteste in Georgien' auszuzeichnen, und ermutigen jeden, sich diese Arbeit selbst anzusehen." Auf weitere Anfragen der DW ist die WPPA nicht eingegangen.

"Nicht als Paar präsentieren"

Nicht nur die Auszeichnung des Fotografen im Dienst der TASS sorgte für Kritik, sondern auch die Gegenüberstellung von zwei Bildern, die in der Kategorie "Einzelfoto" in der Region Europa ausgezeichnet wurden: Das eine zeigt ein vom Krieg traumatisiertes Kind, das andere einen verwundeten Soldaten. Die Arbeiten stammen von der deutschen Fotografin Nanna Heitmann und ihrem Foto-Kollegen Florian Bachmeier.

Beide arbeiten eigenständig; keiner von beiden ahnte, dass man ihre Fotos nebeneinander stellen würde. Die Jury hingegen sah in der Kombination ei­nen "tieferen, nuancierteren Blick auf ei­nen Konflikt mit weitreichenden globalen Auswirkungen".

Bachmeier, der zwischen dem Schliersee in Bayern, Madrid und dem Rest der Welt pendelt, hat in der Ukraine in unmittelbarer Frontnähe eine Organisation freiwilliger Helfer begleitet. Im Dorf Borschivka fotografierte er die sechsjährige Anhelina. Das Mädchen reagiert mit Panikattacken und Apathie auf die Kriegserlebnisse. Von der renommierten Auszeichnung erhofft er sich die Möglichkeit, weitere Projekte dieser Art umsetzen zu können, um gerade vergessenen Opfern zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen.

Nanna Heitmann, Magnum-Fotografin und Finalistin des Pulitzer-Preises für Fotografie 2024, arbeitet u.a. in Moskau für Medien auf der ganzen Welt. Ihre prämierte Aufnahme zeigt einen schwer verwundeten Soldaten in einem improvisierten Untergrund-Lazarett. Sie ziehe eine visuelle Analogie zum sterbenden Christus, lautete der Vorwurf - in dem geschundenen Körper glaubte man einen russischen Soldaten zu erkennen.

Diese Kritik war der "New York Times", in dessen Auftrag Heitmann das Bild geschossen hat, eine Erklärung zur Verteidigung der Fotografin wert: Der Soldat auf dem Bild sei nicht russisch, sondern ukrainisch, präzisiert die US-amerikanische Zeitung. "Nanna Heitmanns Arbeit in Russland seit Beginn des Ukraine-Krieges war ein wichtiges Fenster in ein Land, in dem die Berichterstattung immer gefährlicher geworden ist."

Der DW liegt auch eine Erklärung der Fotografin selbst vor. Mit ihren Arbeiten auf beiden Seiten der Front versuche sie, "Historie aufzuzeichnen, indem sie die brutalen Realitäten des Krieges in der Ukraine mit den verzerrten Wahrnehmungen in der russischen Gesellschaft kontrastiert". Sie fange Themen wie Verlust, nationalistische Inbrunst, Trauer und Wahnvorstellungen ein und porträtiere eine Gesellschaft, die durch fast 25 Jahre Herrschaft Putins geprägt wurde.

Die Juryvorsitzende des WPPA, Lucy Conticello, erklärte später in einem Pressestatement: "Wir hätten diese beiden Fotos nicht als Paar präsentieren sollen, da dies suggeriert, sie sollten nur im Dialog miteinander betrachtet und verstanden werden."

"Irgendwann bleiben nur Stereotypen"

Auch die Prämierung der aus Sibirien stammenden und seit 2017 in Deutschland lebenden Fotokünstlerin Aliona Kardash ist in die Kritik geraten. Die 34-Jährige liefert mit Ihrer Serie "It smells of smoke at home" eine Langzeitbeobachtung über ihre eigene Familie im russischen Hinterland, ein präzises wie dystopisches Portrait ihrer Heimat. Die ukrainische Fotojournalistin Oksana Parafeniuk fragte allerdings in der "FAZ", wie Aliona vom Verlust des Zuhauses sprechen könne. Hier lebe man einfach weiter, während Russland die Ukraine zerstöre.

Die Serie sei als ihre persönliche Reflexion auf den Überfall Russlands auf Ukraine entstanden, sagte Aliona Kardash im DW-Gespräch. Der Titel wäre sowohl eine Hommage an den süßen Geruch der Holzöfen im sibirischen Winter, als auch ein Warnsignal: Ja, es brennt da was an in Russland.

Besonders mit Blick auf die Unterdrückung der freien Presse und die immer geringere Anzahl westlicher Journalisten, die aus dem Land berichten können, sieht Kardash in der Fotografie eine Chance: "Sonst verliert man jedes Gefühl für das Land. Irgendwann bleiben nur Stereotypen."

Am 17. April wird der Hauptgewinner des World Press Photo Award bekanntgegeben.

Item URL https://www.dw.com/de/propaganda-vorwürfe-gegen-world-press-photo-award/a-72164966?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72165592_302.jpg
Image caption Eine georgische Demonstrantin hat Tränengas abbekommen - das Foto stammt von TASS-Fotograf Mikhail Tereshchenko
Image source Mikhail Tereshchenko, TASS Agency
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72165592_302.jpg&title=Propaganda-Vorw%C3%BCrfe%20gegen%20World%20Press%20Photo%20Award

Item 55
Id 72162748
Date 2025-04-07
Title "Ein beängstigender Ort": Jason Stanley verlässt Trumps USA
Short title "Ein beängstigender Ort": Jason Stanley verlässt Trumps USA
Teaser Der bekannte Yale-Professor kritisiert die Politik der Regierung Trump. Er sieht klare Ansätze von Faschismus. Jetzt dreht er der USA den Rücken zu, um in Kanada zu arbeiten. Und er ist nicht der Einzige.
Short teaser Der Philosoph Jason Stanley dreht den USA den Rücken zu und geht nach Kanada. Trumps Regierung praktiziere Faschismus.
Full text

Der US-amerikanische Wissenschaftler Jason Stanley hat bereits zwei hochgelobte Bücher zum Faschismus im 20. Jahrhundert geschrieben - und er zieht direkte Parallelen zur zweiten Amtszeit von Donald Trump. "Das, was die Trump Regierung gerade macht, ist Faschismus", sagte er gegenüber der DW.

Ende März gab Stanley seine Entscheidung bekannt, die renommierte Universität Yale zu verlassen und nach Kanada zu ziehen, um an der "Munk School of Global Affairs and Public Policy", die zur Universität von Toronto gehört, zu arbeiten. Er folgt damit dem Ehepaar Timothy Snyder und Marci Shore, die beide in Yale Geschichte unterrichten. Doch nach den US-Präsidentschaftswahlen entschieden sie sich, nach Toronto zu ziehen. "Ich habe Angst, dass mich die Regierung ins Visier nimmt", begründet Stanley seine Entscheidung, Yale zu verlassen.

Er kritisiert auch die Gefährdung eingewanderter Akademikerinnen und Akademiker, die abgeschoben werden könnten, wenn sie sich in vermeintlich negativer Weise über Trump äußern: "Ich gehe, weil meine Kollegen, die keine Staatsbürger sind, in den sozialen Medien nicht über Politik sprechen können ... sonst könnte ihnen das Visum entzogen werden."

Werden die USA unter Trump autoritär?

In Stanleys 2018 erschienenem Buch "How Fascism Works: The Politics of Us and Them" (deutscher Titel: "Wie Faschismus funktioniert") beschreibt er, wie der Faschismus "Teile der Bevölkerung entmenschlicht", um die "unmenschliche Behandlung - von der Unterdrückung der Freiheit über Masseninhaftierungen bis hin zur Ausweisung" zu rechtfertigen.

Stanley sagt, die Trump-Regierung, der vorgeworfen wird, Einwanderer entgegen gerichtlicher Anordnungen abzuschieben, könne nicht länger nur als "populistisch" bezeichnet werden. Zumal unter Trump die freie Meinungsäußerung eingeschränkt werde, etwa indem sie Universitäten oder Bundesbehörden, die die sogenannte "DEI"-Politik (Diversität, Gleichheit und Inklusion) fördern, die Finanzierung verweigere.

Das Wort "populistisch" beschönige die Bedrohung, meint Stanley. Dass Donald Trumps Intoleranz von Natur aus faschistisch sei, beschreibt er auch in seinem 2024 erschienenen Buch "Erasing History: How Fascists Rewrite the Past to Control the Future" (etwa: "Geschichte auslöschen: Wie Faschisten die Vergangenheit umschreiben, um die Zukunft zu kontrollieren").

Setzt Trump Antisemitismus als Waffe ein, um Universitäten unter Druck zu setzen?

Die Trump-Administration geht auch gegen Universitäten vor und hält für sie vorgesehene Gelder zurück, wenn sie Schauplatz von Anti-Kriegs-Protesten im Israel-Hamas-Konflikt waren. Sie behauptet, die Einrichtungen würden Antisemitismus fördern. Stanley weist jedoch darauf hin, dass "jüdische Studierende in Yale eine der größten Gruppen waren, die an den Lagern und Protesten teilnahmen".

Stanley ist selbst Jude, ein Teil seiner Familie kam im Holocaust um. Die Trump-Regierung mache einen Unterschied zwischen guten und schlechten Juden, sagt er. Die Unterscheidung zwischen rechtsgerichteten "Pro-Israel-Juden" und "Juden wie mir und vielen meiner Studierenden hier in Yale, die Israels Vorgehen in Gaza kritisieren", greife "ein sehr gefährliches antisemitisches Stereotyp" auf, das fälschlicherweise behaupte, "dass wir amerikanischen Juden die Institutionen kontrollieren", so Stanley.

Die Universität Yale, so der Professor, sei den Forderungen der Trump-Regierung, gegen die Protestierenden vorzugehen, nicht nachgekommen und habe "ihre Wissenschaftler geschützt". Stanley ist jedoch besorgt, dass Universitäten dem Druck nachgeben - wie die Columbia University. Die New Yorker Universität hat zugesagt, gegen pro-palästinensische Demonstranten zu ermitteln, um Finanzierungskürzungen in Milliardenhöhe abzuwenden.

"Wenn man diesen Forderungen zustimmt, ist man keine Universität mehr", stellt Stanley klar. "Eine Universität ist ein Ort der freien Forschung und der kritischen Auseinandersetzung. Und in den Vereinigten Staaten ist es angesichts unserer Beziehung zu Israel völlig legitim, eine Protestbewegung zu haben, die den Verzicht auf militärische Unterstützung Israels fordert."

Warum nicht in den USA bleiben und kämpfen?

Jason Stanley sowie Timothy Snyder und Marci Shore, die alle an die Universität von Toronto gewechselt sind, sind oft gefragt worden, warum sie die USA in einer Zeit der Not verlassen haben. "Es ist einfacher, Kanada zu verteidigen als Yale", antwortete Stanley der DW.

"Die Vereinigten Staaten werden in immer stärkerem Maße zu einem beängstigenden Ort", meint er. "Die Universität von Toronto kann ein Zufluchtsort sein; wir können Wissenschaftler und Journalisten dorthin bringen, um sie besser zu schützen, als wir es in den Vereinigten Staaten könnten."

Stanley möchte in seiner neuen Position dazu beitragen, ein integrativeres akademisches Umfeld zu schaffen. Die Monk School wolle "das weltweit führende Zentrum für die Verteidigung der Demokratie schaffen", sagt er. Sie werde Journalisten sowohl aus demokratischen als auch aus autoritären Ländern wie Russland und den USA willkommen heißen.

Stanley möchte auch seine Kinder schützen, die schwarz und schwarz-jüdisch sind. Für Stanley sind Angriffe auf DEI und auf die "Schwarze Geschichte" auch ein Angriff auf schwarze Menschen. "Ich möchte, dass meine Kinder in Freiheit aufwachsen", sagt er.

Marci Shore und ihr Ehemann Timothy Snyder haben sich in ihrer Arbeit mit faschistischen Regimen in Osteuropa fokussiert - ein Blickwinkel, bei dem sie Parallelen zur Trump-Regierung ziehen.

"Ich konnte spüren, wie sich die Schreckensherrschaft zuspitzte", sagte Shore dem ukrainischen Online-Medium "Kyiv Independent" über ihre Entscheidung, die USA zu verlassen. "Mein Impuls war, meine Kinder zu nehmen und der Situation zu entkommen, die mir sehr dunkel und beängstigend erschien."

Jason Stanley betont, dass er trotz seines Umzugs den Kampf zu Hause nicht aufgibt. "Ich werde für die amerikanische Demokratie kämpfen, wo immer ich bin."

Adaption aus dem Englischen: Gaby Reucher

Item URL https://www.dw.com/de/ein-beängstigender-ort-jason-stanley-verlässt-trumps-usa/a-72162748?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/46592249_302.jpg
Image caption Der US-amerikanische Professor Jason Stanley sieht die Demokratie in seiner Heimat in Gefahr
Image source Privat
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/46592249_302.jpg&title=%22Ein%20be%C3%A4ngstigender%20Ort%22%3A%20Jason%20Stanley%20verl%C3%A4sst%20Trumps%20USA

Item 56
Id 72031352
Date 2025-04-07
Title Kunst mit Baby: Museen als Safe Space
Short title Kunst mit Baby: Museen als Safe Space
Teaser Der Düsseldorfer Kunstpalast bietet Führungen für Eltern mit Babys an. In vielen Museen heutzutage ein gängiges Konzept - aber auch ein Hinweis auf eine Gesellschaft, in der Kinder nicht immer willkommen sind.
Short teaser Viele Museen bieten heutzutage Führungen für Eltern mit Babys an. Warum aber ist ein solches Format überhaupt notwendig?
Full text

Es ist ein sonniger Frühlingstag in Düsseldorf und nach dem langen Winter zieht es die Menschen nach draußen. Die Führung im Düsseldorfer Kunstpalast aber ist trotzdem ausgebucht. "MAMA. Von Maria bis Merkel" heißt die Ausstellung, in der sich heute viele Eltern mit ihren Babys tummeln.

Sie sollen eine "Kunstpause von ihrem Alltag" machen dürfen, so das Konzept der Führung "Kunst mit Baby". Die Teilnehmenden sind leicht zu erkennen: Sie schieben Kinderwagen, tragen Babytragetücher oder stillen zwischendrin. In ihrer Gegenwart riecht es blumig, nach frisch gewaschener Wäsche.

Babys in Museen sonst unerwünscht?

"Waren Sie schon mal bei dem Format?", fragt die Kunsthistorikerin Bettina Zippel, die die Gruppe heute durch die Ausstellung führt. "Nein, es war immer ausgebucht", antwortet eine Mutter. Die anderen pflichten ihr sofort bei. Es könne solche Führungen ruhig öfter geben, sagen sie. Viele hier haben den Termin Monate im Voraus gebucht, einige sind sogar aus anderen Städten angereist.

Das Konzept "Kunst mit Baby" gibt es am Kunstpalast Düsseldorf schon seit zehn Jahren. Eingeführt hat es die Kunsthistorikerin Dr. Carola Werhahn. Die gebürtige Kölnerin kannte es diese Art von Führung aus ihrer Heimatstadt, sie selbst hat damals mit ihrer neugeborenen Tochter daran teilgenommen - im Museum Ludwig und im Wallraf-Richartz-Museum. Als sie nach Düsseldorf umzog, etablierte sie das Format auch dort. "Ich finde es großartig, wenn man als frisch gebackene Mutter mal wieder etwas für den Geist tun kann", sagt Werhahn.

Formate wie diese gibt es nicht nur in deutschen Städten, sondern auf der ganzen Welt - im Orange County in den USA über São Paulo bis nach Wien. Eigentlich sollten sie gar nicht notwendig sein, aber vielleicht sind sie gerade deshalb für viele Mütter eine Art Safe Space.

Das Thema der Ausstellung in Düsseldorf ist passenderweise Mutterschaft. "MAMA" leuchtet in orangenen Großbuchstaben auf einem pinkfarbenen Hintergrund über dem Eingang. Der Titel "Von Maria bis Merkel" deutet die Vielfältigkeit der 120 Exponate an - Mama geht jeden etwas an, schließlich hat jeder Mensch eine Mutter. Kuratiert wird die Ausstellung von Linda Conze, Westrey Page und Anna Christina Schütz. Es geht um Care-Arbeit, Abtreibung, unerfüllte Kinderwünsche, Mutter-Kinder-Beziehungen, Stereotype und Klischees.

Barbies schwangere Freundin Midge

Ein Beispiel für ein solches Klischee: 2002 brachte Barbie-Hersteller Mattel als Teil der "Happy Family"-Serie Barbies schwangere Freundin Midge auf den US-amerikanischen Markt. Doch plötzlich verschwand Midge wieder aus den Regalen. Kundinnen und Kunden hatten sich empört, denn Midge sah aus, als wäre sie alleinerziehend, fanden sie. Sie könne Teenagerschwangerschaften verherrlichen - so die Befürchtung.

Daraufhin brachte Mattel eine neue Version von Midge auf den Markt: Sie trug nun einen Ring am Finger. Mit in der Packung waren Ehemann Allan und Sohn Ryan. Die "Happy Family"-Packung ist jetzt im Kunstpalast Düsseldorf zu sehen und erinnert daran, wie schwer es Gesellschaften auch in diesen Zeiten noch fällt, sich von traditionellen Familienmodellen zu lösen.

Das zeigt sich auch an den ausschließlich weiblichen Teilnehmerinnen der Führung. Von Vätern keine Spur. Die anwesenden Mütter wiederum können sich vor allem für die weniger traditionellen Exponate begeistern. Zum Beispiel die, die Abtreibung, queere und diverse Familienkonstellationen oder das Stillen im öffentlichen Raum thematisieren.

Und apropos Stillen: Die Führung macht ebenso deutlich, wie ambivalent die Gesellschaft mit Müttern und Kindern im öffentlichen Raum umgeht. "Es ist entspannt, weil man weiß, man stört nicht", sagt beispielsweise Julia, ihr Neugeborenes mit den roten Haaren auf dem Arm. Eine andere Mutter stimmt ihr zu, auch sie gehe nicht einfach so mit Baby in eine Ausstellung, aus Angst, die Kunstinteressierten zu stören.

Stillen als Indikator für gesellschaftliche Akzeptanz

Es gibt noch keine wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber, inwiefern sich Mütter mit Babys im öffentlichen Raum unwillkommen fühlen. Doch Umfragen über das Stillen in der Öffentlichkeit geben Aufschluss. Zwar stillen in Deutschland mittlerweile immer mehr Mütter im öffentlichen Raum, doch rund 40 Prozent der befragten Frauen berichten von gemischten Reaktionen, darunter vor allem missbilligende Blicke.

Stillen in der Öffentlichkeit ist in Deutschland, anders als zum Beispiel in Großbritannien oder Australien, gesetzlich nicht ausdrücklich erlaubt. Es ist ein Beispiel von vielen, die zeigen, dass Mütter nach wie vor unzähligen Erwartungshaltungen der Gesellschaft ausgeliefert sind. Darauf weist auch ein weiteres Ausstellungstück hin: ein drei Meter hohes Bücherregal mit "Handbüchern für Mütter" und Ratgebern zur Mutterschaft. Vielleicht schaut ja der ein oder andere Vater auch mal rein.

Item URL https://www.dw.com/de/kunst-mit-baby-museen-als-safe-space/a-72031352?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72035013_302.jpg
Image caption Mütter besuchen mit ihren Babys die "MAMA"-Ausstellung im Kunstpalast Düsseldorf
Image source Djamilia Prange de Oliveira/DW
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72035013_302.jpg&title=Kunst%20mit%20Baby%3A%20Museen%20als%20Safe%20Space

Item 57
Id 72127319
Date 2025-04-07
Title Was eine Schwangerschaft den Körper wirklich kostet
Short title Was eine Schwangerschaft den Körper wirklich kostet
Teaser Das Austragen und die Geburt eines Kindes haben enorme körperlich Auswirkungen, das ist klar. Wie groß sie tatsächlich sind und wie lange der Körper der Mutter zur Erholung braucht, zeigt nun eine Studie.
Short teaser Wie lange der Körper der Mutter vom Austragen und der Geburt eines Kindes zur Erholung braucht, zeigt nun eine Studie.
Full text

Die Zahlen sind beeindruckend: Mehr als 300.000 Geburten haben Forschende aus Israel und den USA in den Fokus genommen und insgesamt rund 44 Millionen Messungen ausgewertet. Herausgekommen ist ein sehr genaues Bild über die Veränderungen im weiblichen Körper vor und während der Schwangerschaft sowie nach der Geburt.

Für ihre Studie analysierten die Forschenden anonymisiert Blut-, Urin- und andere Untersuchungen. Darunter waren Messungen von Cholesterinwerten, der Anzahl von Immunzellen und roten Blutkörperchen, von Entzündungsprozessen sowie Daten über den Zustand von Leber, Nieren und des Stoffwechsels. Insgesamt wurden 76 Parameter betrachtet.

Die anonymisierte Daten aus dem Zeitraum von 2003 bis 2020 stammen aus Patientinnenakten von Israels größtem Gesundheitsdienstleister. Für die Studie wurden nur Testergebnisse von Frauen im Alter von 20 bis 35 Jahren ausgewertet, die keine Medikamente einnahmen und an keiner chronischen Krankheit litten.

Die Ergebnisse zeigten verschiedene Effekte von Schwangerschaft und Geburt in noch nie dagewesener Ausführlichkeit, so Uri Alon, Systembiologe am Weizmann Institute for Science in Rehovot in Israel, der die Studie leitete. Sie wurde zunächst auf der Wissenschaftsplattform Science Advances und danach im Fachmagazin Nature veröffentlicht. Die Studie wurde vom Europäischen Forschungsrat für Grundlagenforschung unterstützt.

Schwangerschaft und Geburt beeinflussen den Köper länger als gedacht

Die Ergebnisse deuteten darauf hin, dass die Auswirkungen von Schwangerschaft und Geburt den Körper viel länger beschäftigten, als man gemeinhin annehme, sagt Jennifer Hall, die am University College London über reproduktive Gesundheit forscht. Es gebe die gesellschaftliche Erwartung, dass man sich nach der Geburt eines Kindes schnell wieder erhole. "Dies ist so etwas wie der biologische Beweis, dass dem nicht so ist", so Hall.

So zeigte sich, dass sich rund die Hälfte (47 Prozent) der 76 untersuchten körperlichen Parameter im ersten Monat nach der Geburt wieder stabilisierten. Bei der andere Hälfte (41 Prozent) dauerte es aber drei Monate bis zu einem Jahr, bis sie wieder den Ausgangswert erreichten.

Werte, die den Cholesterinspiegel oder die Leberfunktion betrafen, stabilisierten sich erst wieder nach etwa sechs Monaten. Der für die Leber wichtige ALP-Wert brauchte sogar ein ganzes Jahr. Das verdeutliche klar die körperliche Belastung durch eine Geburt, schreiben die Forschenden.

Einige Werte waren selbst 80 Wochen nach der Geburt noch deutlich verändert. Erhöht blieben etwa Marker, die im körpereigenen Abwehrsystem bei Entzündungen ansteigen. Niedriger blieben der Wert für Eisen und die durchschnittliche Konzentration von Hämoglobin in den roten Blutkörperchen.

Unklar sei jedoch, ob diese Unterschiede auf Verhaltensänderungen nach der Geburt oder auf dauerhafte physiologische Auswirkungen der Schwangerschaft zurückzuführen sein, heißt es in der Studie. Dies sei eine wichtige Frage für weitere Forschungen.

Enorme körperliche Veränderungen in der Schwangerschaft

Während der Schwangerschaft durchläuft die Mutter gravierende körperliche Veränderungen, die das Wachstum und die Entwicklung des Embryos unterstützen.

Der erhöhte Bedarf an Sauerstoff und Nährstoffen für den Fötus führt zu einem Anstieg ihres Herzzeitvolumens, ihr Blutvolumen erhöht sich um bis zu 50 Prozent. Ihre Atmung verändert sich, ebenso der gesamte Hormonhaushalt. Ihre Nieren filtern mehr Blut in kürzerer Zeit, ihr Immunsystem wird umgebaut, um die Abstoßung des Fötus zu verhindern.

Das Skelett der Mutter wird ebenso beeinflusst wie ihr Magen-Darm-System und ihr Stoffwechsel.

Während der Schwangerschaft und nach der Geburt besteht ein erhöhtes Risiko für Depressionen, Schwangerschaftsdiabetes, Anämie (weniger rote Blutkörperchen oder weniger roten Blutfarbstoff) sowie Gerinnungsstörungen. Blutungen nach der Geburt sind nach wie vor weltweit die Hauptursache für Müttersterblichkeit.

Auch ohne Komplikationen stellt die Entbindung eine tiefgreifende Veränderung dar. Denn wenn der Fötus und die Plazenta den Körper verlassen, hören ihre Wirkungen auf den Stoffwechsel und die Hormone der Mutter abrupt auf.

Neue Frühdiagnose gegen Schwangerschaftsrisken möglich?

Durch die Grundlagenforschung könnte es in Zukunft möglich sein, schon vor einer Schwangerschaft zu erkennen, ob eine Frau ein erhöhtes Risiko für bestimmte Komplikationen hat. Dazu zählen vor allem ein lebensgefährlich erhöhter Blutdruck, die sogenannte Präeklampsie, oder Schwangerschaftsdiabetes. Derzeit werden diese Krankheiten erst während der Schwangerschaft diagnostiziert.

Die Forschenden fanden nun heraus, dass Frauen mit Komplikationen in der Schwangerschaft andere Marker aufwiesen als Frauen, die keine Probleme in der Schwangerschaft hatten.

Das biete die Möglichkeit, Frauen mit einem Risiko zu helfen, bevor sie schwanger werden, so Hall.

"Die Ergebnisse zeigen, dass anonymisierte biomedizinische Informationen viele neue Erkenntnisse bringen können", sagt Studienleiter Alon. Auch andere zeitliche Übergänge wie Wachstum und Entwicklung in der Kindheit, Pubertät oder der Menopause sowie der Verlauf spezifischer Krankheiten und deren Heilungsprozesse könnten so besser verstanden werden, so Studienleiter Alon.

Quelle: https://www.science.org/doi/10.1126/sciadv.adr7922

Item URL https://www.dw.com/de/was-eine-schwangerschaft-den-körper-wirklich-kostet/a-72127319?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70063184_302.jpg
Image caption Damit ein neuer Mensch auf die Welt kommen kann, muss der weibliche Körper Enormes leisten
Image source Addictive Stock/Shotshop/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/fit/fit20221230_plazenta_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/70063184_302.jpg&title=Was%20eine%20Schwangerschaft%20den%20K%C3%B6rper%20wirklich%20kostet

Item 58
Id 72158109
Date 2025-04-07
Title Urlaub: Mallorca rüstet sich für den Ansturm der Touristen
Short title Urlaub: Mallorca rüstet sich für den Ansturm der Touristen
Teaser Kurz vor Beginn der Hauptsaison wächst auf der spanischen Insel der Unmut über die negativen Folgen des Massentourismus. Eine Lösung ist nicht in Sicht.
Short teaser Auf der spanischen Insel wächst der Unmut über die negativen Folgen des Massentourismus. Eine Lösung ist nicht in Sicht.
Full text

Noch haben die Möwen den Strand an der Playa de Palma fast ganz für sich alleine. Träge blinzeln die Vögel in die Frühlingssonne und nur hin und wieder heben sie kreischend ab, wenn ihnen einer der wenigen Strandbesucher zu nahe gekommen ist. Die wichtigste Urlaubermeile der spanischen Mittelmeerinsel erwacht erst ganz allmählich aus dem Winterschlaf.

Ein paar Kilometer weiter im Zentrum Palmas aber geht es hoch her. Tausende Demonstranten zogen am vergangenen Wochenende durch die Straßen der Inselhauptstadt. Ihre Hauptforderung: bezahlbarer Wohnraum. Mehr als 60 Organisationen hatten zu dem Protestmarsch aufgerufen, bei dem auch das aktuelle Tourismusmodell in der Kritik stand. Ferienvermietung und ausländische Immobilienkäufer hätten eine Mitschuld daran, dass immer mehr Einheimische Schwierigkeiten haben, die Preise auf dem Wohnungsmarkt zu bezahlen. In den vergangenen Tagen tauchten an mehreren Immobilienbüros der Insel Graffiti auf, die Unbekannte dort hinterlassen hatten. "Ihr seid schuld!", stand dort in großen Buchstaben zu lesen.

Mietwohnungen erst ab 1200 Euro

"Wohnraum ist zum Spekulationsobjekt geworden", sagt Carme Reynés, eine der Mitorganisatorinnen der Demonstration. Sie stammt aus dem kleinen Ort Sencelles, wo man derzeit keine einzige Mietwohnung für weniger als 1200 Euro finde. Da das für die meisten Normalverdiener nicht zu bezahlen ist, teilten sich immer mehr Menschen eine Wohnung. "Ich weiß von ganzen Familien, die in einem einzigen Zimmer leben." Gleichzeitig gebe es in Sencelles 180 Wohnungen und Häuser, die zur Ferienvermietung genutzt werden. "Immer mehr Leute verlassen die Insel, weil sie sich das Leben hier nicht mehr leisten können", sagt Reynés.

Bereits vor einigen Wochen hatte ein offener Brief einer Reihe von Bürgervereinigungen für Wirbel gesorgt, in dem sich die Unterzeichner ganz direkt an die Urlauber richteten: "Die Einheimischen sind wütend und nicht mehr gastfreundlich, weil man die Insel, die wir lieben, zerstört – und weil viele gezwungen sind, wegzuziehen, weil Mallorca unbewohnbar wird", heißt es darin. "Wir brauchen keine weiteren Touristen – Ihr seid die Ursache unseres Problems. Bleibt zu Hause!"


Die Insel steuert auf einen Touristenrekord zu

Mallorca ist seit Jahren eines der gefragtesten Reiseziele in Spanien und ganz Europa, insbesondere unter Deutschen und Briten, die dort Sonne, Strand und Meer genießen. Mehr als 13 Millionen Touristen kamen im vergangenen Jahr auf die Insel – so viele wie noch nie. In diesem Jahr werden es wohl noch mehr sein. Dabei reichen die natürlichen Ressourcen der Insel schon längst nicht mehr aus: Ohne die Entsalzungsanlagen etwa gäbe es schon seit vielen Jahren nicht genügend Trinkwasser. In den Sommermonaten sind viele Strände, Straßen und Städte hoffnungslos überfüllt. Auch die Regionalregierung hat mittlerweile erkannt, dass es so nicht weitergehen kann. "Der Moment ist gekommen, Grenzen zu setzen", sagte Ministerpräsidentin Marga Prohens bereits vor einem Jahr. "Wir können nicht endlos weiterwachsen."

Drastische Maßnahmen aber scheut die konservative Regierung. Zuletzt kündigte sie zwar eine moderate Anhebung der Übernachtungssteuer an, eine Sonderabgabe für Mietwagen und strengere Regeln für die Ferienvermietung, aufgrund fehlender Mehrheiten im Parlament aber kann davon zumindest kurzfristig wohl nichts umgesetzt werden. Stattdessen reisten balearische Spitzenpolitiker auch diesmal wieder zu den einschlägigen Tourismusmessen, um die Inseln zu bewerben und neue Märkte zu erschließen. So baut etwa die Fluggesellschaft United Airlines ihre seit 2022 bestehende Direktverbindung zwischen New York und Mallorca in diesem Jahr weiter aus.

Hoffen auf die US-Amerikaner

Während das für die Demonstranten in Palma nur ein weiterer Hinweis ist, dass es den Politikern keineswegs ernst ist mit der Begrenzung des Massentourismus, hofft Mika Ferrer auf mehr zahlungskräftige Kundschaft aus den USA. Ferrer ist Gastronom und Vorsitzender der Qualitätsoffensive Palma Beach. Er will aus der Playa de Palma, die wegen des Party- und Sauftourismus immer wieder Negativschlagzeilen produziert, eine schicke Destination machen. "US-Amerikaner konsumieren viel und geben im Urlaub reichlich Geld aus", sagt er. Solche Touristen sind ihm lieber, als die übliche Klientel, die nur zum Party machen kommt, sich im Supermarkt mit billigem Alkohol eindeckt und dann betrunken daneben benimmt.

Die Stadt Palma versucht seit vielen Jahren, ihre wichtigste Urlaubermeile aufzuwerten. Bislang waren alle Bemühungen vergeblich. Das soll in diesem Sommer anders sein. Bürgermeister Jaime Martínez kündigte in der vergangenen Woche ein umfassendes Sicherheitskonzept an, das Exzesse wie in der Vergangenheit künftig verhindern soll. Die Zahl der Polizisten an der Playa de Palma wird massiv aufgestockt, es gibt Videoüberwachung und Drohnen, die die Beamten bei der Strafverfolgung unterstützen. Die Einhaltung der Benimmregeln, die es bereits seit Jahren gibt, soll nun tatsächlich kontrolliert werden. Unter anderem sind Besäufnisse in der Öffentlichkeit nicht gestattet.

Zumindest an der Playa de Palma will man dem Tourismus künftig also klare Grenzen setzen.

Von all dem bekommen die Möwen an dem kilometerlangen Sandstrand nichts mit. Sie genießen weiterhin die Ruhe – es ist die Ruhe vor dem Sturm.

Item URL https://www.dw.com/de/urlaub-mallorca-rüstet-sich-für-den-ansturm-der-touristen/a-72158109?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72158297_302.jpg
Image caption Tausende zogen am Samstag durch Palmas Innenstadt, um gegen Wohnungsnot auf Mallorca zu demonstrieren
Image source Clara Margais/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72158297_302.jpg&title=Urlaub%3A%20Mallorca%20r%C3%BCstet%20sich%20f%C3%BCr%20den%20Ansturm%20der%20Touristen

Item 59
Id 72135897
Date 2025-04-04
Title Omega-Wetterlage sorgt für Dürre und Überschwemmungen
Short title Omega-Wetterlage sorgt für Dürre und Überschwemmungen
Teaser Verheerende Überschwemmungen in Südwest- und Südosteuropa, extreme Trockenheit in Mitteleuropa. Grund dafür ist die stabile Omega-Lage. Je länger sie anhält, desto extremer wird das Wetter.
Short teaser Wie hängen verheerende Überschwemmungen in Südwest- und Südosteuropa mit extremer Trockenheit in Mitteleuropa zusammen?
Full text

Erst extreme Starkregen in Spanien, dann zerstörerische Überschwemmungen in Griechenland. Und in Mitteleuropa wochenlang strahlender Sonnenschein. In die Freude über viel Sonne nach dem Winter mischen sich allmählich auch Sorgen. Denn Mitteleuropa muss sich auf einige extrem trockene Wochen mit Dürre einstellen.

In Deutschland etwa fielen laut Deutschem Wetterdienst (DWD) im März 2025 nur 21 Prozent des sonst üblichen Niederschlags, es war der sechsttrockenste März seit 1881.

Der Landwirtschaft setzt die Trockenheit bereits massiv zu, die oberen Bodenschichten sind viel zu trocken, das Wachstum der frischen Aussaat verzögert sich. Flüsse und Seen haben sehr niedrige Pegel, die Binnenschifffahrt muss reduziert oder eingestellt werden, die Waldbrandgefahr nimmt bedrohlich zu.

Von der extremen Trockenheit könnte vor allem auch die "Kornkammer Europas" betroffen sein, also Länder wie Polen, Belarus und die Ukraine, die zu den wichtigsten Getreideproduzenten Europas zählen. Dagegen sind auf dem Balkan, in Griechenland und der Türkei weiterhin extrem starke Niederschläge und Überschwemmungen möglich.

Was ist eine Omega-Wetterlage?

Verantwortlich für die aktuellen Wetter-Extreme ist die so genannte Omega-Wetterlage. Wenn Meteorologinnen und Meteorologen diesen Begriff hören, ahnen sie nichts Gutes. Denn die Omega-Wetterlage ist besonders stabil und deshalb so zerstörerisch.

Über Mitteleuropa etwa setzt sich dann ein riesiges Hochdruckgebiet fest, das von zwei Tiefdruckgebieten über dem Nordatlantik und Osteuropa flankiert wird.

Die Wetterkarte ähnelt dann stark dem letzten Buchstabe des griechischen Alphabets. Omega steht zwar eigentlich auch für das Ende. Aber diese sehr spezielle Wetterlage scheint nicht enden zu wollen.

Omega-Wetterlagen treten vor allem in der Übergangszeit zwischen Sommer und Winter auf, und sorgen dann für einen Temperaturausgleich der Luft zwischen den tropischen und polaren Regionen. Eher selten treten sie im Sommer oder Winter auf.

Das Phänomen kann in verschiedenen Teilen der Welt vorkommen, nicht nur in Europa. Auch in Nord- und Südamerika, in Asien und in Australien bilden sich Omega-Hochdrucksysteme.

Extreme Gegensätze durch Omega

Die Folgen könnten unterschiedlicher nicht sein: Im Zentrum von Mitteleuropa gibt es dann für lange Zeit außergewöhnlich viel Sonne, weil die Tiefdruckgebiete weit entfernt über das Mittelmeer ziehen.

Wenn die kühlere Luft aus dem Norden dann auf die sehr warme Luft über dem Mittelmeer trifft, versorgt der aufsteigende Wasserdampf das Tiefdruckgebiet mit zusätzlicher Energie, gewaltige Sturmtiefs mit heftigen, sehr lokalen Starkregenfällen bilden sich.

Weil sich das Tief kaum bewegt, kann dies zu heftigen Überschwemmungen führen - in Südwesteuropa wie zunächst in Spanien - oder in Südosteuropa - wie zuletzt in Griechenland.

Wo die Böden sehr ausgetrocknet sind, können sie die plötzlichen Wassermassen nicht aufnehmen. Überflutungen, Erdrutsche und reißende Schlammfluten sind die Folge.

Blockade-Lagen sorgen für anhaltendes Wetter

Omega-Wetterlagen sind nicht unmittelbar auf den Klimawandel zurückzuführen, sondern basieren auf kurzfristigen atmosphärischen Bedingungen. Der Klimawandel betrifft hingegen langfristige Veränderungen im globalen Klimasystem. Einige Auswirkungen des Klimawandels können die Häufigkeit oder Intensität bestimmter Wetterphänomene beeinflussen, wie etwa die Regenintensität.

Durch die Schwächung des Jetstreams beobachten Meteorologen solche Blockade-Lagen, auch Blockings genannt, immer häufiger. Diese Lagen sorgen dafür, dass regenreiche Westwinde beispielsweise nicht mehr nach Mitteleuropa vordringen können.

Normalerweise strömen Hochdruckgebiete durch die Erdrotation vom West nach Ost. Der sogenannte Westwinddrift sorgt für den typischen Wechsel von Sonne und Regen bei gemäßigten Temperaturen in Mitteleuropa.

Wie lange sich eine Omega-Wetterlage hält, lässt sich nur schwer vorhersagen. Wahrscheinlich aber werden die nächsten Wochen in Mitteleuropa viel zu trocken und zu warm und in Südwest- und Südosteuropa viel zu feucht.

Item URL https://www.dw.com/de/omega-wetterlage-sorgt-für-dürre-und-überschwemmungen/a-72135897?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/65942678_302.jpg
Image caption Gerade im Frühjahr braucht die Aussaat viel Wasser, sonst fällt die Ernte geringer oder sogar ganz aus
Image source picture alliance/ANP
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/65942678_302.jpg&title=Omega-Wetterlage%20sorgt%20f%C3%BCr%20D%C3%BCrre%20und%20%C3%9Cberschwemmungen

Item 60
Id 72096594
Date 2025-04-04
Title Was Trumps Politik für den US-Tourismus bedeutet
Short title Was Trumps Politik für den US-Tourismus bedeutet
Teaser Streit mit den Nachbarn, erschwerte Einreise, mehr Abschiebungen: Die derzeitige US-Politik bleibt nicht ohne Folgen für die Tourismusbranche.
Short teaser Streit mit den Nachbarn, erschwerte Einreise, Abschiebungen – das bleibt nicht ohne Folgen für die US-Tourismusbranche.
Full text

Herbert Bopp will erst einmal nicht wieder in die USA reisen. "Wir gehörten jahrzehntelang zu denen, die liebend gerne das Nachbarland im Süden besuchten", schreibt der gebürtige Deutsche, der seit vielen Jahren in Kanada lebt, in seinem Blog. Seit Trumps "Attacken" sei er aus Protest nicht mehr in den USA gewesen. "Er will Kanada zum 51. Bundesstaat machen, beleidigt unseren Premierminister und macht sich lächerlich über alles, was nach Ahornsirup riecht", so Bopp. "So jemanden sollen wir mit unseren feinen kanadischen Dollars unterstützen? Ganz sicher nicht."

Ein Einzelfall ist der 76-Jährige damit nicht. Daten der kanadischen Statistikbehörde zufolge lag die Zahl der Kanadier, die von einem USA-Trip zurückkehrten, im Februar um 23 Prozent unter dem Wert desselben Vorjahresmonats. Der Unternehmerverband der US-Tourismusbranche, die US Travel Association, sah sich schon vor Wochen genötigt, angesichts des sich zuspitzenden Konflikts auf die Bedeutung der kanadischen Reisenden für die US-Wirtschaft hinzuweisen. "Kanada ist das wichtigste Herkunftsland der internationalen Besucher in den Vereinigten Staaten", heißt es in der Pressemitteilung. 20,4 Millionen Reisende aus dem Nachbarland hätten im vergangenen Jahr während ihres Aufenthalts insgesamt 20,5 Milliarden US-Dollar ausgegeben und so den Erhalt von 140.000 Jobs garantiert. Eingehender will man sich bei dem Verband nicht zu den aktuellen Entwicklungen äußern. Das gilt auch für die Hoteliervereinigung AHLA (American Hotel & Lodging Association).

Die USA wollten sich von ihrer besten Seite zeigen

Eigentlich hofft die US-Tourismuswirtschaft auf einen Boom, finden doch in den kommenden Jahren nacheinander Fußball-Weltmeisterschaft (2026), Olympische Spiele (2028), Rugby World Cup (2031) und Olympische Winterspiele (2034) im Land statt. Zuletzt, vor dem Amtsantritt von Donald Trump, hatte der US-Tourismus im internationalen Vergleich nachgelassen. Laut offizieller Statistik der US-Tourismusbehörde National Travel and Tourism Office kamen 2024 etwas mehr als 72 Millionen internationale Besucher in den USA an. In den Jahren 2018 und 2019 waren es noch fast 80 Millionen. Frankreich und Spanien haben die USA als beliebteste Reiseländer überholt. Hinter den Kanadiern stellen die Mexikaner mit knapp 17 Millionen die zweitgrößte Gruppe der Gäste in den USA, gefolgt von Briten (vier Millionen), Indern (2,2 Millionen) und Deutschen (2 Millionen). Angesichts der bevorstehenden Sport-Großereignisse wollten sich die USA der Welt von ihrer besten Seite präsentieren, um die verlorenen Marktanteile zurückzugewinnen.

Stattdessen gibt es nun zunächst einmal einen Reisebann für Staatsangehörige mehrerer überwiegend muslimischer Staaten, eine restriktivere Visavergabe, verschärfte Einreisekontrollen und eine strengere Abschiebepolitik. Nachdem zuletzt mehrere deutsche Staatsbürger bei der Ankunft in den USA festgenommen worden waren, weist das Auswärtige Amt in Berlin nun ausdrücklich auf die gestiegenen Anforderungen hin: Vorstrafen, falsche Angaben zum Aufenthaltszweck oder eine Überschreitung der Aufenthaltsdauer könnten zu Festnahme und Abschiebung führen, heißt es auf der entsprechenden Internetseite. Schon Ende Februar hatte es eine Aktualisierung der Reisehinweise gegeben: Steht im Pass der Geschlechtseintrag "X" oder weicht der Geschlechtseintrag vom Geschlechtseintrag bei der Geburt ab, solle man unbedingt vor der Reise eine US-Auslandsvertretung kontaktieren. Als eine seiner ersten Amtshandlungen hatte US-Präsident Donald Trump im Januar einen Erlass unterzeichnet, demzufolge in den USA nur zwei Geschlechter anerkannt werden, männlich und weiblich.

US-Reiseveranstalter verzeichnet Rückgang der Nachfrage

Auch in Deutschland scheint derzeit der eine oder andere Urlauber seine US-Reisepläne zu hinterfragen. Das hat zumindest Timo Kohlenberg festgestellt, Geschäftsführer von America Unlimited, einem Veranstalter für Reisen in die USA und nach Kanada. "Seit März gibt es einen spürbaren Rückgang der Nachfrage", sagt er. Immer häufiger bekomme er von Kunden mit Verweis auf die derzeitige US-Politik zu hören, man wolle diesmal lieber nach Kanada fahren. Nicht für einen generellen Trend hält das allerdings Martin Lohmann von der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen, der sich seit vielen Jahren mit dem touristischen Reiseverhalten beschäftigt. Die Vergangenheit habe gezeigt, dass sich die Mehrheit nicht von politischen Ereignissen bei der Wahl des Urlaubsortes beeinflussen lasse. "Wir hatten schon einmal vier Jahre Trump", sagt Lohmann. "Das hatte auch keine großen Auswirkungen auf den Tourismus."

Zumindest in den Regionen der USA mit hohem Touristenaufkommen aus Kanada sieht das derzeit anders aus. In Vermont etwa, unweit der kanadischen Grenze, berichten lokale Medien seit Wochen von Stornierungen aus dem Nachbarland, ebenso in den angrenzenden Bundesstaaten Maine und New York. Dort fuhr auch Herbert Bopp immer wieder gerne hin. "Doch damit ist Schluss". Zwar täten ihm die US-Amerikaner leid, die Trumps Vorgehen nicht unterstützen und ebenfalls von einem Boykott betroffen seien: "Aber es geht um die Message." Ob die mittlerweile auch in Washington angekommen ist?

Item URL https://www.dw.com/de/was-trumps-politik-für-den-us-tourismus-bedeutet/a-72096594?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72097750_302.jpg
Image caption New York ist eines der gefragtesten Reiseziele in den USA
Image source picture alliance / Sipa USA
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72097750_302.jpg&title=Was%20Trumps%20Politik%20f%C3%BCr%20den%20US-Tourismus%20bedeutet

Item 61
Id 72106727
Date 2025-04-04
Title Hype um Vintage-Mode: Gen Z auf Schatzsuche
Short title Hype um Vintage-Mode: Gen Z auf Schatzsuche
Teaser Von der Nische zum Mainstream: Secondhand-Mode ist gefragt wie nie. Gerade der Online-Handel von Vintage-Kleidung boomt. Was aber macht die abgelegten Stücke für junge Menschen so attraktiv?
Short teaser Von der Nische zum Mainstream: Secondhand-Mode ist gefragt wie nie. Was aber macht die abgelegten Stücke so attraktiv?
Full text

Nach besonderen Klamotten zu stöbern, ist eines von Leonies liebsten Hobbys. Die 27-jährige Modedesign-Studentin richtet ihr Augenmerk dabei allerdings nicht auf die neuen Kollektionen der Modefirmen, sondern schaut ganz gezielt nach gebrauchten Stücken. Am liebsten online.

"Das ist wie eine digitale Schatzsuche, beschreibt Leonie ihr Vorgehen. Entscheidend sei es, die richtigen Schlagwörter einzugeben - und das in verschiedenen Sprachen. Dann stoße man am ehesten auch mal auf einen außergewöhnlichen Fund - für Leonie ein Hochgefühl.

Secondhand Kleidung im neuen Gewand

Leonie ist mit ihrer Faszination für Vintage nicht allein. Besonders unter den 15 bis 30-Jährigen, der sogenannten Generation Z, hat sich Vintage zu einem Mainstream-Trend entwickelt. Secondhand sei zwar schon immer ein Teil der Jugendmode gewesen, sagt Elke Gaugele, Professorin für Moden und Styles an der Akademie der Bildenden Künste in Wien, neu aber sei die mediale Aufbereitung.

Während Vintage-Shopping früher hieß, sich durch teils muffige, vollgestopfte Läden zu wühlen, boomt seit Jahren vor allem der Online-Handel von Secondhandprodukten. Der Imagewandel zeigt sich auch im neuen sprachlichen Gewand: Statt "aus zweiter Hand" ist nun häufig von "Preloved" oder "Vintage" die Rede.

Per Definition bedeutet Vintage, dass ein Kleidungsstück mindestens 20 Jahre alt ist - im Netz aber wird das nicht so genau genommen. Unter dem Hashtag "Vintage" finden sich auch sehr viel jüngere Teile, darunter oft gebrauchte Fast Fashion-Mode. Die Bezeichnung Vintage verleiht ihnen ein Gefühl von Exklusivität und nicht selten auch einen Preisaufschlag.

Was macht Vintage so attraktiv?

"Vintage zu kaufen ist unglaublich eng mit der Selbstwahrnehmung verbunden", sagt Modejournalistin und Social Media Beraterin Valentina Herbort. Sie betreibt einen Instagram-Kanal über "Das Wichtigste aus Mode und (Pop-)Kultur" – mit knapp 70 tausend Followern. Ihr Fokus: die Gen Z.

Valentina Herbort sieht den Vintage-Trend in erster Linie als Antwort auf den Wunsch nach Individualität. "Die Gen Z hat durch die Globalisierung eine deutlich größere modische Auswahl als die Generationen zuvor. Daraus erwächst der Anspruch, den eigenen individuellen Stil zu finden."

Im digitalen Zeitalter, in dem sich Trends in Echtzeit verbreiten, ist das allerdings gar nicht so einfach. "Wir schauen alle die gleichen Serien, haben die gleiche Inspiration. Deswegen kaufen dann auch alle die gleichen 23 Sachen bei Zara, auch wenn 100 in der Auswahl sind. Das findet die Gen Z noch schlimmer als andere Generationen."

Wunsch nach Wertigkeit

Neben dem Wunsch nach Einzigartigkeit betont Valentina Herbort aber auch das Interesse am Produkt selbst. Mehr noch als die Generationen zuvor, lege die Gen Z viel Wert auf qualitative Materialien. Neue Jeans zum Beispiel seien schlechter verarbeitet. "Wenn man eine von früher und eine von heute anhat, dann merkt man den Unterschied direkt. Das ist ein starkes Verkaufsargument: etwas Besseres für günstiger zu kaufen."

Auch Nachhaltigkeit und faire Produktionsbedingungen spielen für die junge Generation häufig eine wichtige Rolle beim Kleidungskauf. Die Fast Fashion Industrie steht seit Jahren wegen schlechter Arbeitsbedingungen, Unterbezahlung und Umweltverschmutzung in der Kritik. Der Vintage-Trend sei "eine reflektierte Antwort der Gen Z", meint Elke Gaugele.

Vintage als Konsumgut

Kleidungsstücken ein zweites Leben zu bieten und somit Ressourcen zu schonen, ist zwar grundsätzlich nachhaltig, Trendforscher Eike Wenzel bezweifelt allerdings, dass durch den Vintage-Trend tatsächlich weniger Fast Fashion gekauft werde. "Vintage ist kein Ausweg aus der Konsumgesellschaft", so Wenzel.

Das scheint sich zu bestätigen, wenn man den Vintage-Trend auf Social Media verfolgt: Mit Bewusstheit hat es eher wenig zu tun, wenn Vintage-Begeisterte Stapel von Online-Bestellungen in sogenannten "Thrift Hauls" auspacken. Zudem ist Vintage auch nicht länger ein zeitloses Konzept, sondern unterliegt, so wie die übrige Modewelt, Trendzyklen. Sprich: Angesagt ist nicht einfach, was alt ist, sondern es gibt wechselnde Schwerpunkte. Derzeit "in" ist beispielsweise "Y2K", eine Mode, die die 2000er feiert – mit tiefsitzenden Hosen, viel Glitzer und einer bewusst billigen Optik. "Fast Vintage" sozusagen? Eike Wenzel stimmt zu.

Mehr als ein Trend?

Valentina Herbort sieht die Begeisterung für Vintage dennoch als eine positive Entwicklung in Sachen Nachhaltigkeit. Sicherlich gebe es Menschen, die Vintage zusätzlich kaufen würden, aber das sei nicht die Mehrheit. "Ich glaube, wir sind in einer gesellschaftlichen Umkehr. Menschen merken die Vorteile qualitativer Secondhand-Kleidung und entscheiden sich langfristig für Vintage statt Fast Fashion."

Das wünscht sich auch Sandra Calderon aus Kolumbien, die über ihr Instagram-Profil, "Revancha Vintage", besondere Einzelstücke verkauft. Auch in ihrem Heimatland wandelt sich das Bild von Vintage - weg von gebrauchten Klamotten hin zu einzigartigen Teilen, die eine Geschichte erzählen. Mit Blick auf den Vintage-Markt in Europa, sagt sie:

"Es gibt ein großes Angebot an sehr qualitativem Vintage, aber die Preise sind teilweise inflationär - weil es im Trend ist. Manchmal kostet ein Vintage-Teil mehr als etwas Neues. Das widerspricht der Idee, dass Vintage eine erschwingliche Option sein soll."

Ihre Vision für die Zukunft: "Vintage und Secondhand-Mode sollten nicht bloß ein Trend, sondern erste Wahl sein." Ein Blick in Leonies Kleiderschrank würde sie wahrscheinlich freuen: Der ist schon jetzt zu 90 Prozent mit Vintage-Teilen gefüllt.

Item URL https://www.dw.com/de/hype-um-vintage-mode-gen-z-auf-schatzsuche/a-72106727?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72108732_302.jpg
Image caption Schätze an der Stange: Auf der Suche nach dem perfekten Vintage-Piece
Image source Laetitia Glück/DW
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/emd/emd20250214_beitrag1_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/72108732_302.jpg&title=Hype%20um%20Vintage-Mode%3A%20Gen%20Z%20auf%20Schatzsuche

Item 62
Id 72122493
Date 2025-04-03
Title Joseph Beuys und die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
Short title Joseph Beuys und der Nationalsozialismus
Teaser Joseph Beuys zählt zu den bekanntesten Künstlern der Nachkriegszeit, doch die Fassade scheint zu bröckeln: Seine Rolle im Nationalsozialismus wird kritisch hinterfragt.
Short teaser Joseph Beuys zählt zu den bekanntesten Künstlern der Nachkriegszeit, doch die Fassade scheint zu bröckeln.
Full text

Joseph Beuys' künstlerische Arbeiten und Aktionen wurden schon zu Lebzeiten gefeiert und waren gleichermaßen umstritten. Er nutzte oft Filz und Fett als Material für seine Kunstwerke, beschäftigte sich mit Naturheilkunde und den Riten der Schamanen. Seine spektakulären Aktionen und Ideen prägten die Kunstszene in den 1960er bis 1980er-Jahren.

Strittig ist seit geraumer Zeit die Haltung des Aktionskünstlers zum Nationalsozialismus, zu Themen wie Auschwitz oder zu seiner Zeit als Kampfflieger der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg. Im Alter von 20 Jahren hatte sich Beuys 1941 freiwillig zum Militärdienst gemeldet. Später habe er sich nicht eindeutig vom Nazi-Regime distanziert, werfen ihm Kritiker vor. Beim Forschungsprojekt "Joseph Beuys und der Nationalsozialismus" setzt sich das Museum Schloss Moyland (in Nordrhein-Westfalen) auf ganz eigene Art und Weise mit dem Thema auseinander.

Beuys und das NS-Regime

Die Stiftung Museum Schloss Moyland besitzt mit rund 6.000 Arbeiten die weltweit größte Sammlung an Werken von Joseph Beuys, darunter Zeichnungen und Entwürfe für ein Denkmal im NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. "Beuys hat sich immer wieder sehr intensiv mit den Themen Zweiter Weltkrieg und Auschwitz beschäftigt, das ist vielen gar nicht so bewusst", meint Kurator Alexander Grönert. Doch diese Meinung teilen nicht alle.

2021, als sich Beuys' Geburtstag zum 100. Mal jährte, hatte Grönert erlebt, dass es bei Podiumsdiskussionen zu diesem Thema beinahe zu Handgreiflichkeiten kam. Der Kunsthistoriker und ehemaliger stellvertretender Leiter des Museums Schloss Moyland Ron Manheim wirft Beuys in seinem Buch "Beim Wort genommen" vor, er habe sich nie kritisch mit dem NS-Regime und seiner Zeit als Soldat auseinandergesetzt. Der Autor und Beuys-Biograph Peter Riegel sieht Beuys als "ewigen Hitlerjungen", der sich auch nach dem Krieg noch in Kreisen ehemaliger Nazis bewegte.

"Wir haben gemerkt, dass das Thema hochkontrovers ist", sagt Grönert und fordert, dass man sich auch mit Beuys' Kunst auseinandersetzen sollte bevor man sich eine Meinung bildet. In der Ausstellung "Auschwitz und der Zweite Weltkrieg im Werk von Joseph Beuys" will Grönert die Kunst von Beuys sprechen lassen.

Beuys und seine Kunst zu Auschwitz

Zu sehen sind 90 Arbeiten aus der Stiftungs-Sammlung im niederrheinischen Museum Schloss Moyland: darunter gemalte Bilder von Kampffliegern und angreifende Kriegsschiffe sowie die Entwürfe zum Mahnmal in Auschwitz. "Beuys hat erst nach dem Krieg angefangen, sich mit künstlerischen Mitteln vom Nationalsozialismus zu distanzieren", interpretiert Grönert.

Nach dem Studium der Bildhauerei an der Düsseldorfer Kunstakademie hatte Joseph Beuys (1921 – 1986) in den 1950er-Jahren an vielen Wettbewerben und Ausschreibungen teilgenommen. Unter anderem bewarb er sich für die Errichtung eines Denkmals im NS-Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

Das Thema Auschwitz und Nationalsozialismus habe Beuys nach diesem Wettbewerb nicht mehr losgelassen, sagt Grönert. Im August 1981 hat sich der Aktionskünstler in einem Wohnwagen auf den Weg nach Łódź in Polen gemacht und einem Museum 700 eigene Arbeiten geschenkt. Das Ganze sei eine künstlerische Aktion gewesen, sagt Grönert. Die nennt Beuys "Polentransport 1981". Grönert sieht diese Aktion als eine Auseinandersetzung von Beuys mit den Deportationen der europäischen Juden und Jüdinnen in die Vernichtungslager der Nationalsozialisten, wie Auschwitz.

Zweiter Weltkrieg: Hommage an Lidice

Auch sein Bewusstsein für die Zerstörungswut der Nazis drückt Joseph Beuys in Kunstaktionen aus. 1942 hat Hitlers Armee den 20 Kilometer westlich von Prag gelegene Ort Lidice dem Erdboden gleichgemacht und nahezu alle Bewohner umgebracht. Für die Nazis eine Vergeltung nach dem Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor für Böhmen und Mähren.

1967 - da war Beuys als Professor bereits bekannt - folgte er einem Aufruf zum Wiederaufbau des Ortes Lidice, initiiert von einem englischen Arzt. 25 Jahre nach der Zerstörung rief dieser Arzt unter anderem dazu auf, mit der Spende eines Kunstwerks die Gründung eines Museums in Lidice zu unterstützen. Mit seiner Beteiligung an dem Aufruf und der Museumsgestaltung erkenne Beuys "die deutsche Schuld an den Gräueltaten der Nationalsozialisten, der Wehrmacht und der SS an", meint Grönert. Für ihn sind Beuys' Aktionen in Tschechien und Polen Beispiele dafür, dass sich der Künstler mit seiner Kunst vom Nationalsozialismus distanziert habe.

Beuys Haltung zur NS-Zeit bleibt kontrovers

Doch Beuys ist nicht eindeutig zu interpretieren. Neben künstlerischen Aktionen wie in Tschechien und Polen gibt es verbale Äußerungen, die irritieren und schockieren. "Da spricht Beuys in späterer Zeit in einer Schule mit Schülern und sagt ohne Anlass, dass er in seiner Jugend eine schöne Schulzeit hatte und die Schulbücher damals viel wert waren." Für Grönert ist das eine unreflektierte Aussage. "Da ist man fassungslos und muss überprüfen, wie Beuys wirklich tickt."

Im sogenannten Laborraum des Museums sollen sich die Besucher selbst ein Bild machen. Ein Tisch mit Tablets, Büchern und Dokumenten lädt zur eigenen Recherche ein. In Videos hat Forschungsvolontärin Angela Steffen Wissenschaftler aber auch ehemalige Studierende zu Beuys befragt, um die kontroversen Meinungen abzubilden. "Schüler von ihm haben gesagt, wir wussten das, aber es ist für uns kein Thema. Für uns war Beuys ein hervorragender großartiger Lehrer in den 1960er und 1970er-Jahren an der Kunstakademie", so Kurator Alexander Grönert.

Der "Laborraum" wird auch über die Ausstellung hinaus im Museum bleiben. "Er steht mitten in der Ausstellung. Das ist wie der Stachel im Fleisch, der die Auseinandersetzung mit dem Thema anregen soll."

Item URL https://www.dw.com/de/joseph-beuys-und-die-auseinandersetzung-mit-dem-nationalsozialismus/a-72122493?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72123024_302.jpg
Image caption Wie stand Beuys zum Nationalsozialismus: War er Mitläufer? War er Nazi? Hat er sich von der NS-Zeit klar distanziert?
Image source Niklaus Stauss/akg-images/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72123024_302.jpg&title=Joseph%20Beuys%20und%20die%20Auseinandersetzung%20mit%20dem%20Nationalsozialismus

Item 63
Id 72106702
Date 2025-04-02
Title Gürtelrose-Impfung schützt Frauen vor Demenz
Short title Gürtelrose-Impfung schützt Frauen vor Demenz
Teaser Menschen über 50 Jahre oder mit geschwächtem Immunsystem erkranken häufig an einer Gürtelrose. Durch eine Impfung sinkt nicht nur das Risiko einer Erkrankung. Auch das Demenz-Risiko wird geringer - vor allem bei Frauen.
Short teaser Eine Impfung schützt vor allem ältere Menschen nicht nur vor Gürtelrose, auch das Demenz-Risiko ist bei Frauen geringer.
Full text

Ein Zusammenhang zwischen Gürtelrose und Demenz wurde schon länger vermutet. Jetzt liefert eine britische Studie ziemlich überzeugende Belege: Eine Gürtelrose-Impfung gegen das Varizella-Zoster-Virus schützt vor allem Frauen vor Demenz.

"Die hier vorgelegte Analyse ist die beste bisher veröffentliche Arbeit über den Zusammenhang einer Virusinfektion mit einem erhöhten Demenz-Risiko. Sie liefert einen überzeugenden Beleg, warum die Gürtelrosen-Impfung nicht nur gegen eine sehr schmerzhafte Erkrankung schützt, sondern zusätzlich auch noch das Demenz-Risiko signifikant reduziert", urteilt Prof. Dr. Martin Korte, Dekan der Fakultät für Lebenswissenschaften an der Technischen Universität in Braunschweig.

Die im Fachjournal Nature veröffentlichte Studie zeigt, dass die Einführung der Gürtelrose-Impfung bei Personen ab 80 Jahren wahrscheinlich der Grund dafür war, dass seltener Demenz diagnostiziert wurde. Sieben Jahre lang wurde zwei Gruppen in Wales beobachtet. Das Ergebnis ist eindeutig: Mit Impfung war das Demenz-Risiko bei Frauen um ein Fünftel geringer. Bei Männern konnte statistisch keine eindeutige Wirkung festgestellt werden.

Allerdings gelten die Studienergebnisse nur für den nicht mehr gebräuchlichen Lebendimpfstoff Zostavax. Ein Lebendimpfstoff enthält einе geringe Menge abgeschwächter, aber lebendiger, also reproduktionsfähiger Krankheitserreger.

Da Zostavax laut einer US-amerikanischen Studie jedoch eine schwächere Schutzwirkung hat, wird heutzutage meistens der Herpes-Zoster-Totimpfstoff mit dem Handelsname Shingrix verimpft.

Was ist das Varizella-Zoster-Virus?

Das Varizella-Zoster-Virus gehört zur Gruppe der Herpesviren, die mit der Entwicklung von Demenz in Verbindung gebracht werden. Dieses Varizella-Zoster-Virus löst Windpocken aus. An dieser sehr ansteckenden Virusinfektion erkranken vor allem Kinder, die Folge sind Fieber und ein juckender Hausausschlag.

Nach einer Windpocken-Infektion verbleiben die Viren in einem inaktiven Zustand in den Nervenzellen des Rückenmarks. Sie können aber nach vielen Jahren wieder aktiv werden und sich vermehren, wenn das Immunsystem geschwächt ist. Dann verursachen sie eine Gürtelrose.

Wie zeigt sich eine Gürtelrose?

Frühe Symptome einer Gürtelrose (Herpes zoster) sind Abgeschlagenheit und Fieber. Dann kommt es in einem bestimmten Bereich zu Nervenentzündungen mit Brennen und starken Schmerzen.

Eine Gürtelrose kann überall am Körper entstehen, meistens aber sind Brustkorb oder Rücken betroffen. Auch Hals, Arme oder Beine sowie Gesicht, Augen oder Ohren können betroffen sein.

Oft breitet sich ein Hautausschlag von der Wirbelsäule gürtelförmig halbseitig um den Körper herum aus - daher der Name. Aus dem Hautausschlag bilden sich juckende Bläschen, die mit klarer Flüssigkeit gefüllt sind und die nach etwa fünf Tagen wieder verschwinden.

Wieso wirkt die Gürtelrose-Impfung bei Frauen anders?

Die Studie liefert zwar den Beleg, dass eine Gürtelrosen-Impfung vor der Weiterentwicklung oder dem Auftreten einer Demenz schützt. Aber wie dieser Schutzmechanismus funktioniert, muss noch weiter erforscht werden.

Zu klären ist auch, warum sich der Effekt der Gürtelrose-Impfung auf das Demenzrisiko zwischen Frauen und Männern so stark unterscheidet, so Neurobiologe Korte: "Frauen bekommen häufiger Demenz und reagieren stärker über Autoimmunmechanismen. Zwei Drittel aller Autoimmunerkrankungen treffen Frauen. Entsprechend gibt die Studie vielleicht sogar einen Fingerzeig auf den Mechanismus: Neuroinflammatorische autoimmun-getriggerte Prozesse werden möglicherweise durch die Impfung reduziert, was vor allem die Frauen besser schützt."

Neuroinflammation bedeutet, dass das Gehirn entzündet ist, weil das Immunsystem, das normalerweise den Körper schützt, das eigene Gehirn oder Gewebe angreift, anstatt nur Fremdstoffe wie Bakterien oder Viren zu bekämpfen.

Wer sollte sich gegen Gürtelrose impfen lassen?

Etwa drei von zehn Personen erkranken im Laufe des Lebens an einer Gürtelrose. Grundsätzlich kann die Krankheit in jedem Alter auftreten, aber meistens sind Menschen über 50 Jahren oder Menschen mit einem geschwächten Immunsystem betroffen. Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko weiter an, zudem treten Zostererkrankungen bei Frauen häufiger und früher auf als bei Männern.

Bislang werden Gürtelrose-Impfungen zum Beispiel in Deutschland für alle ab 60 und Risikogruppen ab 50 Jahren empfohlen. Dabei wird der Impfstoff zweimal intramuskulär in den Oberarm injiziert. Damit sich der Impfschutz aufbauen kann, müssen zwischen den beiden Immunisierungen mindestens zwei und maximal sechs Monate liegen. Allerdings: Eine Impfung kostet mehr als 500 Euro.

Angesichts der neuen Studienergebnisse sollten die Impfempfehlungen auch in Deutschland überdacht werden, meint Peter Berlit, Generalsekretär der Deutsche Gesellschaft für Neurologie: "Die Effektstärke der Impfung auf das Verhindern oder Verzögern einer Demenz ist so groß, dass dies ein Argument für die Impfung über den Schutz vor einer Gürtelrose hinaus ist. Es ist zu diskutieren, ob nicht generell die Impfung ab 50 Jahren zumindest für Frauen empfohlen werden sollte."

Neurobiologe Korte, der auch die Arbeitsgruppe Neuroinflammation und Neurodegeneration am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung leitet, geht noch einen Schritt weiter: "Ganz klar wäre meine Empfehlung, die Impfung weiter auszudehnen. Alle Altersgruppen profitieren, was die Gürtelrose selbst angeht – es gibt kaum etwas schmerzlicheres als eine schwere Gürtelrose. Man kann davon ausgehen, dass je früher man impft, umso eher das Demenz-Risiko gesenkt wird", so Korte.

Quelle: A natural experiment on the effect of herpes zoster vaccination on dementia. Nature. DOI: 10.1038/s41586-025-08800-x

Item URL https://www.dw.com/de/gürtelrose-impfung-schützt-frauen-vor-demenz/a-72106702?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72107154_302.jpg
Image caption Grundsätzlich kann die Gürtelrose in jedem Alter auftreten, aber meistens sind Menschen über 50 Jahre oder mit geschwächtem Immunsystem betroffen
Image source Christian Ohde/CHROMORANGE/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/igs/igs20231103_Guertelrose_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/72107154_302.jpg&title=G%C3%BCrtelrose-Impfung%20sch%C3%BCtzt%20Frauen%20vor%20Demenz

Item 64
Id 72072905
Date 2025-04-02
Title Netflix-Serie "Adolescence": Männlichkeit in der Krise
Short title Netflix-Serie "Adolescence": Männlichkeit in der Krise
Teaser Im britischen Parlament diskutiert und millionenfach aufgerufen: Die Netflix-Serie "Adolescence" trifft einen Nerv. Es geht um toxische Männlichkeit, den Druck, den Social Media auf Jugendliche ausüben - und einen Mord.
Short teaser Die Serie über Jugendliche in Großbritannien trifft einen Nerv. Es geht um toxische Männlichkeit, Social Media und Mord.
Full text

Im Untersuchungsraum der Polizeistation wartet eine sterile medizinische Liege auf Jamie Miller. Dem Verdächtigen soll Blut abgenommen werden. "Jamie, würdest du dich bitte auf die Liege legen?", fragt die Schwester. "Ähm, ich mag Nadeln nicht so gerne...", stammelt der Junge.

Er ist erst 13 Jahre alt, ein Kind. Der Vater nimmt seinen Sohn in Schutz: "Er kann nicht so gut mit Nadeln." Was Jamies Vater nicht weiß: Sein Kind hat zwar Angst vor Nadeln, nicht aber vor Messern. Keine 24 Stunden vorher tötete Jamie seine Mitschülerin Katie Leonard auf einem Parkplatz mit sieben Messerstichen.

Die Szene stammt aus der ersten Folge der britischen Netflix-Miniserie "Adolescence", die mit 66 Millionen Aufrufen innerhalb der ersten zehn Tage Rekorde gebrochen hat. Sie wurde sogar im britischen Parlament diskutiert.

Jeder Junge könnte Jamie sein?

Die vier Folgen wurden in einem Take gedreht, es gibt keine Schnitte. Es ist, als wäre man ganz nah dran, als Jamie sich bei seiner Verhaftung im Pyjama einnässt, in Polizeigewahrsam Tränen der Angst heult oder bei der psychologischen Untersuchung einen Wutanfall bekommt.

Dass Jamie schuldig ist, erfahren die Zuschauenden gleich am Anfang. Die Ermittelnden zeigen ihm ein Überwachungsvideo, auf dem zu sehen ist, wie er von hinten mit einem Messer auf Katie einsticht. Die Serie fragt nicht danach, ob er es getan hat, sondern warum.

Radikalisierung im Netz

Die Antwort findet sich in den Kämpfen, die im Inneren des Teenagers toben. Zwischen dem permanenten gesellschaftlichen Druck, männlich zu sein, der Unsicherheit, nicht attraktiv genug zu erscheinen und dem Wunsch nach weiblicher Anerkennung radikalisiert er sich.

Jeder Junge könnte heute Jamie sein – das will die Serie deutlich machen. Nach der Schule ging er nicht an zwielichtige Orte oder begab sich in dubiose Gesellschaft; er ging in sein Zimmer, machte die Tür zu und saß bis spät in der Nacht am Computer, wo er in den Sog der Incel-Ideologie gerät.

Selbst- und Frauenhass an der Tagesordnung

Incel ist eine Abkürzung für "involuntary celibate", also unfreiwillig enthaltsam, und beschreibt eine frauenfeindliche Online-Community von jungen heterosexuellen Männern, die Frauen die Schuld für ihre Enthaltsamkeit geben und ihren Frust - nicht selten Hass - in menschenverachtenden Videos und Kommentaren ausdrücken.

Die Incel-Community ist Teil der "Manosphäre" - einem losen Netzwerk antifeministischer Internetforen, Bücher, Content Creators und Blogs zur männlichen Selbstoptimierung. Sie vermitteln Jungen und Männern, wie man stark, erfolgreich und körperlich fit wird, um von Frauen begehrt zu werden. Sie tauschen aber auch Gewaltfantasien, Demütigungen und Tipps zur Manipulation von Frauen aus. Der prominenteste Vertreter dieser Subkultur ist der selbsternannte Misogyn Andrew Tate.

"Adolescence" suggeriert, dass nicht nur Jamie mit eben dieser Subkultur vertraut ist, sondern die Jugend von heute per se. Das wird deutlich, als der Sohn des Kommissars seinem Vater die Bedeutung von verschiedenen Emojis in den sozialen Medien erklärt. Und auch Katie ist im Bild, denn sie selbst nennt Jamie einen Incel.

Panikmache oder reale Gefahr?

"Vieles, was im Mainstream-Diskurs über Incels gesagt wird, ist Panikmache", findet Shane Satterley, der an der Griffith University zu männlicher Gewalt forscht. Die Subkultur sei nicht primär frauenfeindlich, sondern selbsthassend und suizidal. Frauenfeindlichkeit, so Satterley, sei nur eine "oberflächliche" Interpretation dieses Phänomens.

Dahinter steckten Isolation, ein Mangel an männlichen Vorbildern, Vaterlosigkeit – und eben Sexlosigkeit, erklärt Satterley. Außerdem habe die Gesellschaft Männern sukzessive immer mehr "männliche Räume" genommen, weshalb sie nun Räume im Internet für sich beanspruchten.

Die sexuell frustrierten jungen Männer seien aber nicht für andere, sondern primär für sich selbst gefährlich, so Satterley. Laut einer Studie der britischen Regierung leiden Incels tatsächlich typischerweise an Depressionen und Suizidgedanken und brauchen Hilfe statt Stigmatisierung. Die Suizidraten von Männern steigen weltweit an, alleine in den USA um 37 Prozent seit 2000.

"Die Manosphäre ist nicht gefährlich, im Gegenteil", sagt Satterley. Dem widerspricht Lisa Sugiura, Professorin für Cyberkriminalität und Gender an der Universität Portsmouth. "Laut der Weltgesundheitsorganisation wird eine von drei Frauen mindestens einmal im Leben sexuell missbraucht. Das passiert nicht einfach in einem Vakuum", sagt Sugiura.

Männer in der Opferrolle

In den Incel-Foren finden sich Männer die darüber diskutierten, warum sie Vergewaltigung "ethisch" finden. "Vergewaltigung ist einfach nur das Recht auf Sex, was Incels verwehrt wird", schreibt ein User in einem Thread. Um auf diese Art von Content zu stoßen, müsse man nicht lange suchen, sagt Lisa Sugiura. "Es ist nicht so, dass man ins Darknet gehen muss, um diese Inhalte zu finden. Sie sind überall auffindbar, nicht nur in Incel-Foren, auch auf TikTok und Instagram."

Dass Männer ein Recht auf Sex hätten und Frauen ihnen das verwehren, ist in der Manosphäre eine verbreitete Ansicht. Fraglich ist, ob diese Männer nun bemitleidenswert sind, weil sie sexuell frustriert sind und sich nach weiblicher Bestätigung sehnen. Ist Frauenhass okay, wenn er "nur" ein oberflächliches Symptom von Männlichkeit in der Krise ist?

Laut einer Studie des Londoner King's College glaubt heute jeder vierte Mann zwischen 16 und 29 Jahren, es sei schwieriger, ein Mann zu sein als eine Frau. "In der Manosphäre dreht sich alles um die Opferrhetorik, dass Männer diejenigen sind, die in unserer Gesellschaft von Frauen missbraucht werden, und dass sie sich wehren müssen, um zu überleben", erklärt Sugiura.

Das Problem an der Opferrolle: Mit ihr wird Hass gegen Frauen gerechtfertigt. Katie musste sterben, weil sie Jamie nicht die Bestätigung gab, nach der er sich so sehnte.

Frauenhass ist ein institutionelles Problem

Die Incel-Community und die Manosphäre sind aber nur ein Teil eines größeren misogynen Puzzles, erklärt Sugiura. Die eigentlichen Probleme liegen tiefer. Neben der Desillusion junger Männer und ihrer Mental Health Probleme ist da auch ein tiefes Misstrauen zwischen den Geschlechtern. Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Whitestone Insight kam zu dem Ergebnis, dass fast zwei Drittel der Frauen zwischen 18 und 24 Jahren Angst vor Männern haben.

Einfach Social Media für Jugendliche verbieten, wie von "Adolescence"-Drehbuchautor Jack Thorne gefordert (und in Australien bereits als Gesetz verabschiedet), wäre keine nachhaltige Lösung, findet Sugiura. Es brauche einen ganzheitlichen institutionellen und kulturellen Wandel. "Jamie ist erst 13 Jahre alt. Bevor wir die Incel-Community diskutieren, sollten wir uns mit dem sozialen Druck auf heteronormativen Sex und geschlechtsspezifischen Erwartungen von Erfolg und Beliebtheit befassen. Denn wenn diese Erwartungen nicht schon so früh an unsere Kinder gestellt würden, könnte die Manosphäre daraus auch kein Kapital schlagen", sagt Sugiura.

Laut den Machern soll "Adolescence" vor allem ein Weckruf sein. Gegenüber der BBC sagte Thorne: "Wir müssen darüber sprechen, und ich hoffe, dass die Serie dazu beitragen kann."

Item URL https://www.dw.com/de/netflix-serie-adolescence-männlichkeit-in-der-krise/a-72072905?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72120004_302.jpg
Image caption Jamie Miller - gespielt von Owen Cooper - ermordet in "Adolescence" eine Mitschülerin
Image source Netflix/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/shd/shd20230303_WomenHaters_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/72120004_302.jpg&title=Netflix-Serie%20%22Adolescence%22%3A%20M%C3%A4nnlichkeit%20in%20der%20Krise

Item 65
Id 72099232
Date 2025-04-01
Title Wer mit der Hand schreibt, lernt intensiver
Short title Wer mit der Hand schreibt, lernt intensiver
Teaser Verlernen wir die Handschrift, weil wir nur noch tippen? Im digitalen Alltag schreiben wir nur noch wenig mit der Hand. Dabei lernen wir durch Handschrift besser und können uns auch Erlerntes leichter merken.
Short teaser Im digitalen Alltag schreiben wir nur wenig mit der Hand. Dabei lernen wir durch Handschrift schneller und besser.
Full text

"Was steht da? Krtzls…. Verdammt, ich kann meine eigene Handschrift nicht entziffern". Traurig, aber wahr: Wir verlernen die Handschrift!

Im heutigen digitalen Alltag tippen wir nur noch auf Computern und Smartphones herum und schreiben höchsten mal ein paar Notizen oder einen Einkaufzettel mit der Hand. Wir kommunizieren nur noch selten oder ungern mit Stiften und Briefen, sondern mit E-Mails, Textnachrichten oder - vor allem die Jüngeren - mit Sprachnachrichten.

Im digitalen Zeitalter empfinden wir das handschriftliche Verfassen eines längeren Textes inzwischen als äußerst mühsam. Wenn eine Geburtstagskarte oder ein Brief besonders schön geschrieben sein soll, erfordert dies unsere ganze Konzentration.

Handschrift will gelernt sein

Bereits als Kleinkinder lernen wir, mit der Hand möglichst korrekt und ordentlich zu schreiben. Obwohl alle Kinder die gleichen Buchstaben lernen, sieht das Schriftbild dabei häufig sehr unterschiedlich aus.

In der Jugend und zu Beginn des Erwachsenalters ändert sich unsere Schrift in der Regel stark, danach aber bleibt sie bei den meisten Menschen weitgehend gleich, jeder hat seine unverwechselbare Handschrift.

Aber ohne Routine und Kontrolle wird die Handschrift immer schlechter. Probleme mit der Handschrift sind längst ein gesamtgesellschaftliches Problem, nicht nur eines von Schülerinnen und Schülern, wie es gerne behauptet wird. Denn in der Schule wird die korrekte und leserliche Handschrift noch kontrolliert.

Trotzdem beklagt der deutsche Verband Bildung und Erziehung seit Jahren eine abnehmende Schreibkompetenz und zunehmende motorische Defizite bei Schulkindern. Laut einer "Studie über die Entwicklung, Probleme und Interventionen zum Thema Handschreiben"(STEP 2022) haben immer mehr Kinder Probleme damit, leserlich und schnell zu schreiben. Und durch die Lockdowns und Homeschooling während der Corona-Pandemie hat sich diese Entwicklung weiter verschlimmert.

Mit zunehmendem Alter, in der Jugend und bei jungen Erwachsenen wird die Handschrift bei vielen dann immer unleserlicher - auch weil Routine und Kontrolle fehlen.

Die Handschrift hilft beim Denken und Lernen

Tippen auf einer Tastatur ist gerade bei längeren Texten unschlagbar, zumal sich die Textstruktur beliebig verändern lässt. Die Autokorrektur beseitigt einfache Fehler, das Schreiben ist so schneller, leserlicher und weniger anstrengend.

Handschrift fordert das Gehirn stärker als Tippen und fördert so auch das Lernen. Eine norwegische Studie von 2024 fand heraus, dass bei Schreiben mit der Hand eine erhöhte Hirnaktivität genau in den Gehirnregionen auftritt, die fürs Lernen wichtig sind.

Messbar war eine stärkere Interaktion in den Hirnarealen, die für die Gedächtnisleistung und die motorische und visuelle Informationsverarbeitung verantwortlich sind.

Zudem vergleicht das Gehirn beim Schreiben die entstehende Schrift mit erlernten Modellen der Buchstaben und Wörter und passt die Fingerhaltung in Echtzeit an. Auge und Gehirn überwachen ständig, ob die Finger den Stift richtig führen, dabei den richtigen Druck ausüben, und ob klare Linien beim Schreiben entstehen. Dafür braucht es eine sehr genaue Koordination zwischen visuellen und motorischen Abläufen. Es sei diese Kombination aus visueller Information und Informationsverarbeitung, die das Lernen fördert, heißt es in der Studie.

Handschrift ist zwar langsamer als Tippen, aber das ist nicht unbedingt ein Nachteil. Die naturgemäße Langsamkeit zwingt uns, die Informationen stärker zu verarbeiten.

Wir fassen das Gehörte oder Gedankengänge stärker zusammen, markieren Schlüsselworte oder prägnante Zitate, stellen zuweilen mit Pfeilen oder Markierungen Zusammenhänge her, setzen uns insgesamt intensiver mit dem Inhalt auseinander und behalten ihn so auch länger im Gedächtnis.

Verlernen wir eine jahrtausendealte Fähigkeit?

Das Schreiben mit der Hand ist eine der wichtigsten Kulturtechniken. Schon vor Tauenden von Jahren haben Menschen Informationen in Ton oder Stein geritzt oder mit Tinte auf Palmblätter, Pergamente oder Papyrus niedergeschrieben. Handschrift war bis zur Erfindung des Buchdrucks die einzige Möglichkeit, Sprache auf einem Medium festzuhalten.

Die älteste Schrift ist etwa 5000 bis 6000 Jahre alt: Die Sumerer entwickelten im heutige Irak eine Keilschrift, mit der sie ihren Handel verwalteten. Diese Bilderschrift bestand aus rund 900 Piktogrammen und Ideogrammen, also aus Symbolen und Zeichen, die mit Holzstäbchen in feuchte Lehmplatten geritzt wurden. Aus dieser “Handschrift“ entwickelte sich im Laufe der Zeit verschieden Schriftarten und auch unser heutiges Alphabet.

Im Gegensatz zum Sprechen war Schreiben früher nur einer Minderheit, den Adeligen, Geistigen und Händlern vorbehalten. Dass heute so viele Menschen lesen und schreiben können, änderte sich erst mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht im 20. Jahrhundert.

1820 konnten weltweit nur zwölf Prozent der Menschheit lesen und schreiben. Heutzutage hat sich der Anteil umgekehrt: Weltweit können laut UNESCO nur rund 13 Prozent der Menschen nicht lesen und schreiben. Die Hälfte der rund 765 Millionen Analphabeten lebt in Südasien, mehr als ein Viertel in Afrika südlich der Sahara. Zwei Drittel der Analphabeten weltweit sind Frauen.

Item URL https://www.dw.com/de/wer-mit-der-hand-schreibt-lernt-intensiver/a-72099232?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71255973_302.jpg
Image caption Nicht nur Kinder haben Probleme, leserlich und schnell zu schreiben
Image source Udo Herrmann/CHROMORANGE/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/71255973_302.jpg&title=Wer%20mit%20der%20Hand%20schreibt%2C%20lernt%20intensiver

Item 66
Id 72031237
Date 2025-03-31
Title Klimaschutz oder mehr Ölbohrungen? Brasiliens Dilemma
Short title Lässt Brasilien seine Klimaversprechen fallen?
Teaser Früher setzte er sich für den Klimaschutz ein, jetzt will der brasilianische Präsident Lula da Silva mehr Ölbohrungen im Land. Dabei ist Brasilien Gastgeber der diesjährigen UN-Klimakonferenz. Wie passt das zusammen?
Short teaser Präsident Lula da Silva will mehr Öl fördern lassen - obwohl Brasilien Gastgeber des diesjährigen UN-Klimagipfels ist.
Full text

Als Präsident Luiz Inacio Lula da Silva Anfang 2023 sein Amt antrat, atmeten viele auf, die sich für Klima- und Umweltschutz einsetzen. Nach vier Jahren der Umweltzerstörung unter seinem rechtsextremen Vorgänger Jair Bolsonaro trat Lula mit dem Versprechen an, das Klima zu schützen.

Zwei Jahre später hat sich diese Erwartung in Enttäuschung verwandelt. Nur wenige Monate bevor Brasilien im November die UN-Klimakonferenz (COP30) ausrichtet, drängt Lula auf die Erschließung von Ölvorkommen in der Nähe der Mündung des Amazonas. Und seine Regierung hat den Beitritt zur Organisation erdölexportierender Länder (OPEC+) beschlossen.

"Die Welt hat Brasilien das Mandat erteilt, die Klimadebatte im Jahr 2025 anzuführen", sagt Claudio Angelo, Koordinator für Kommunikation bei der brasilianischen gemeinnützigen Organisation Observatorio do Clima. "Die Verdoppelung der Ölförderung ist ein Verrat an diesem Mandat."

Öl-Einnahmen für den Klimaschutz?

Brasilien verfügt über riesige Ölreserven und ist weltweit der achtgrößte Exporteur - hinter Ländern wie Saudi-Arabien, Russland und den USA. Doch die Regierung will ihren Anteil an der Öl-Produktion erhöhen und auf den vierten Platz vorrücken.

"Wir sollten uns nicht schämen, Ölproduzent zu sein", erklärte der brasilianische Energieminister Alexandre Silveira, als das Land bekanntgab, der OPEC+ beizutreten. "Brasilien muss wachsen, sich entwickeln und Einkommen und Arbeitsplätze schaffen."

In der OPEC haben sich die wichtigsten Erdöl produzierenden Länder, darunter Iran, Irak, Nigeria und Saudi-Arabien, zusammengeschlossen, um die Erdölproduktion zu koordinieren und einen stabilen Markt aufrechtzuerhalten. Andere wichtige erdölproduzierende Länder, darunter Russland als größtes, sind keine Vollmitglieder, erklären sich aber bereit, im Rahmen der OPEC+ mit anderen Staaten zusammenzuarbeiten. Diesen Status wird künftig auch Brasilien haben.

Auf einer Pressekonferenz äußerte sich Andre Correa do Lago, der designierte Präsident des bevorstehenden Klimagipfels COP30, zu den Plänen. Er sagte, der Beitritt zur OPEC+ biete Brasilien die Möglichkeit, sich an den Gesprächen über die Abkehr vom Öl zu beteiligen.

Umweltorganisationen kritisieren dagegen den Schritt und fürchten, dass damit die Ölambitionen des Landes für die Zukunft zementiert würden.

Brasiliens Präsident argumentiert dagegen, dass die Öleinnahmen zur Finanzierung einer grünen Energiewende benötigt würden. Auch der COP30-Vorsitzende Correa do Lago sagt, es sei einfacher und billiger, Geld für Ölprojekte zu leihen als für nachhaltigere Projekte. "Der Gewinn aus der Ölförderung kann dann intern für Projekte verwendet werden, die für einen Übergang zu sauberer Energie förderlich sind", so Correa.

Brasilien - tatsächlich auf dem Weg zur Energiewende?

Ilan Zugman, lateinamerikanischer Geschäftsführer der Umweltorganisation 350.org, weist das Argument der Regierung zurück. Brasilien betreibt seiner Meinung nach derzeit keine Politik, die den Umstieg auf erneuerbare Energien fördert. Und selbst wenn es eine solche Energiepolitik gäbe, so Zugman, könnte die Finanzierung für die Energiewende aus anderen Quellen statt aus dem Öl-Geschäft kommen.

"Brasilien gibt jedes Jahr Milliarden und Abermilliarden von Dollar zur Subventionierung der Fossil-Industrie aus. Wir würden lieber sehen, wenn Brasilien einen Teil dieser Subventionen weg von fossilen Brennstoffen hin zu erneuerbare Energien verlagern würde", sagte Zugman der DW.

Die staatlichen Subventionen für die Produktion und den Verbrauch von Öl, Gas und Kohle stiegen im Jahr 2022 auf rund 14,56 Milliarden Dollar (13,4 Milliarden Euro). Das ist fünfmal mehr, als in erneuerbare Energien investiert wird. Das zeigt ein Bericht der gemeinnützigen wissenschaftlich-technischen Einrichtung INESC P&D Brazil.

"Das Geld ist da, es wird nur nicht an den richtigen Stellen eingesetzt", so Zugman. "Und natürlich fehlt uns immer noch der politische Wille, mutige Entscheidungen zu treffen und diese Ressourcen in die Art von Energie zu verlagern, die die CO2-Emissionen in der Welt verringern kann."

Ist Präsident Lula da Silva wirklich Vorreiter in Sachen Klimaschutz?

Brasilien ist weltweit der sechstgrößte Emittent von Treibhausgasen. Die Abholzung und die veränderte Landnutzung im Amazonasgebiet sind für einen Großteil dieser Emissionen verantwortlich. Der Amazonas ist der größte tropische Regenwald der Welt. Er fungiert als eine bedeutende Kohlenstoffsenke, denn er nimmt viel CO2 aus der Atmosphäre auf. Doch in Teilen des Waldes funktioniert dieses System jetzt nicht mehr - hier gibt der Wald mehr CO2 ab als er aufnimmt.

Nach seinem Wahlsieg im Jahr 2022 versprach Lula, die illegale Abholzung, den Bergbau und die Rodung von Land für Rinderfarmen oder Sojafelder einzudämmen, die unter seinem Vorgänger gang und gäbe geworden waren.

In den ersten sechs Monaten von Lulas Amtszeit ging die Entwaldung tatsächlich um etwa ein Drittel zurück, und dieser Rückgang hält an. Der Präsident verpflichtete sich, die Abholzung im Amazonasgebiet bis zum Ende des Jahrzehnts zu beenden.

Die Bewerbung Brasiliens um die Ausrichtung des Weltklimagipfels in der Amazonasstadt Belem wurde als weiterer Beweis für das Klima-Engagement der Regierung gewertet. Ebenso die Tatsache, das Brasilien als eines von wenigen Ländern die eigenen nationalen Klimaziele rechtzeitig eingereicht hatte, die alle Unterzeichnerstaaten des Pariser Klimaabkommens regelmäßig abgeben müssen. Ziel des Abkommens ist es, den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf 1,5 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen.

Die brasilianischen nationalen Klimaziele versprechen eine Senkung der Emissionen bis 2035 um 59 bis 67 Prozent gegenüber dem Stand von 2005. "Das ist offen gesagt nicht sehr ehrgeizig", sagt Angelo von Observatorio do Clima. "Es ist nicht annähernd mit dem 1,5-Grad-Ziel vereinbar." Die brasilianischen Ziele enthalten auch keine Vorgaben für den Export von Öl. Dessen Verbrennung wird zwar nicht auf die brasilianischen Emissionen angerechnet, wirkt sich aber weltweit aus.

Forschende der Internetplattform SEEG, die den Ausstoß von Treibhausgasen in Lateinamerika überwacht, warnen: Würde Brasilien seine prognostizierten Öl-Reserven ausbeuten, würden die Emissionen, die bei der Verbrennung dieses Öls entstehen, alle CO2-Einsparungen zunichte machen, die durch den Stopp der Abholzung des Amazonaswalds erreicht würden.

Brasilien spürt die Auswirkungen des Klimawandels

Brasilien ist bereits jetzt mit verheerenden Folgen des Klimawandels konfrontiert. Allein im vergangenen Jahr erlebte das Land die schlimmste Dürre seit Beginn der Aufzeichnungen. Waldbrände verwüsteten rund 30,86 Millionen Hektar Land - eine Fläche größer als Italien.

Die World Weather Attribution, ein Zusammenschluss von Forschenden, die den Zusammenhang zwischen extremen Wetterereignissen und der Erderwärmung untersuchen, stellte fest: Waldbrände, wie die im Juni 2024, die das brasilianische Feuchtgebiet Pantanal verwüsteten, sind durch den Menschen gemachten Klimawandel mindestens viermal wahrscheinlicher sowie um 40 Prozent intensiver geworden.

In Brasilien "spüren die Menschen buchstäblich die Hitze", sagt Angelo. "Das ist der Regierung nicht entgangen. Sie wissen, was auf dem Spiel steht. Aber im Moment macht die Mischung aus innen- und geopolitischen Themen die Agenda sehr unübersichtlich."

Redaktion: Tamsin Walker / Adapation aus dem Englischen: Jeannette Cwienk

Item URL https://www.dw.com/de/klimaschutz-oder-mehr-ölbohrungen-brasiliens-dilemma/a-72031237?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/69883069_302.jpg
Image caption Der Amazonas-Regenwald, der zu einem großen Teil in Brasilien liegt, wird oft als die "grüne Lunge des Planeten" bezeichnet
Image source AP
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/69883069_302.jpg&title=Klimaschutz%20oder%20mehr%20%C3%96lbohrungen%3F%20Brasiliens%20Dilemma

Item 67
Id 66765542
Date 2025-03-28
Title Myanmar und Thailand: Wie entstehen Erdbeben?
Short title Myanmar und Thailand: Wie entstehen Erdbeben?
Teaser Ein starkes Erdbeben hat Myanmar und Thailand erschüttert. Auch in China und Indien waren starke Erschütterungen zu spüren. Was passiert in diesen Regionen?
Short teaser Ein starkes Erdbeben hat Myanmar und Thailand erschüttert. Was passiert in diesen Regionen?
Full text

Minutenlang bebte die Erde: Ein starkes Erdbeben mit Epizentrum in Myanmar hat mehrere Länder Südostasiens erschüttert. Gebäude und Brücken stürzten ein, zahlreiche Menschen wurden verschüttet oder kamen ums Leben.

Laut Deutschem Geoforschungsinstitut (GFZ) in Potsdam hatte das erste Beben eine Stärke von 7,6 auf der Richterskala und ereignete sich in einer Tiefe von circa 20 Kilometern. Ein Nachbeben der Stärke 6,4 folgte dicht darauf.

Auch in Teilen von Indien und China sowie in Vietnam und Thailand waren starke Erschütterungen zu spüren. Thailand wird in der Regel nicht von Erdbeben heimgesucht, viele Gebäude sind deshalb nicht so gebaut, dass sie starken Erdbeben standhalten.

Wie entstehen Erdbeben?

Die Erdkruste ist wie eine Art Puzzle aufgebaut, das aus vielen Einzelteilen besteht: aus ein paar gigantischen ozeanischen Platten und mehreren kleinen kontinentalen Krustenplatten. Wie viele kleine und kleinste Erdplatten es tatsächlich gibt, ist in der Wissenschaft umstritten.

Die verschiedenen Platten "schwimmen" auf dem flüssigen Erdinneren. Durch aufquellendes Magma aus dem Erdkern an einigen Bruchstellen verschieben sie sich und wandern einige Zentimeter pro Jahr.

Das passiert seit Milliarden Jahren, ist also ganz normal. Sie bewegen sich entweder voneinander weg, reiben aneinander oder schieben sich untereinander. Dann bewegt sich der darüber liegende Kontinent. Diese Bewegungen heißen Plattentektonik.

Die Plattentektonik führt immer wieder dazu, dass sich Platten verhaken. Die Spannungen im Gestein wachsen dann und können sich, wenn sie zu groß werden, ruckartig lösen. Von diesem Epizentrum aus verbreiten sich dann Druckwellen bis an die Erdoberfläche und werden als Erdbeben spürbar.

Besonders gefährdet sind deshalb Regionen, die über sogenannten Verwerfungslinien liegen, also wo zwei tektonische Platten der Erdkruste aufeinandertreffen. Ab 5,0 auf der sogenannten Richterskala, mit deren Hilfe Seismologen die Stärke eines Erdbebens angeben, kann es zu sichtbaren Schäden beispielsweise an Gebäuden kommen.

Kommt es zu einem Beben unterhalb eines Ozeans, können Tsunamis entstehen. Diese sich mit hoher Geschwindigkeit verbreitenden Wellen können zu verheerende Überflutungen führen, wenn sie auf Festland treffen. Aufgrund der ständigen seismischen Aktivität in Regionen an den Plattenrändern sei es sehr schwierig, schwerere Beben vorauszusagen, sagt Fabrice Cotton, Professor für Seismologie am Geoforschungsinstitut (GFZ) in Potsdam.

Was sind Nachbeben?

Starke Erdbeben ziehen so gut wie immer eine Serie kleinerer Erschütterungen nach sich. Diese Nachbeben entstehen, weil sich die tektonischen Platten am Epizentrum noch hin und her bewegen und erst langsam wieder zur Ruhe kommen. Doch auch die schwächeren Nachbeben können großen Schaden anrichten: Gebäude, die durch das eigentliche Erdbeben nur beschädigt wurden, stürzen schließlich doch zusammen und sorgen für noch mehr tote, verletzte und obdachlose Menschen.

"Die einzige Möglichkeit, Menschen vor Erdbeben zu schützen, ist durch erdbebensicheres Bauen", sagt Cotton.

Der ursprüngliche Artikel wurde am 28.03.2025 zuletzt aktualisiert

Item URL https://www.dw.com/de/myanmar-und-thailand-wie-entstehen-erdbeben/a-66765542?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/68727486_302.jpg
Image caption Der einzige Schutz vor katastrophalen Schäden ist eine erdbebensichere Bauweise
Image source picture alliance/AP
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/md/md230418_Erdbeben_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/68727486_302.jpg&title=Myanmar%20und%20Thailand%3A%20Wie%20entstehen%20Erdbeben%3F

Item 68
Id 72042739
Date 2025-03-26
Title Liebe Forschende aus den USA: Willkommen in Deutschland!
Short title Liebe US-Forschende: Willkommen in Deutschland!
Teaser Trumps massiver Angriff auf die Wissenschaft schlägt Forschende aus den USA in die Flucht. Deutsche Forschungsinstitute könnten profitieren, sind aber gleichzeitig in großer Sorge.
Short teaser Trumps Angriff auf die Wissenschaft schlägt Forschende in die Flucht. Deutsche Forschungsinstitute könnten profitieren.
Full text

Massenentlassungen, eingefrorene oder gestrichene Forschungsgelder, politische Vorgaben – Trumps massiver Angriff auf die Wissenschaft trifft nicht nur ihm unliebsame Bereiche wie die Klima- und, Energie-, Gesundheits-, Sozial- oder Genderwissenschaften. Selbst besonders zukunftsweisende Felder wie Künstliche Intelligenz oder mRNA-Technologie sind betroffen.

Es geht längst nicht nur um die Arbeitsplätze von einigen schlauen Menschen in weißen Kitteln, denn Trumps Attacke hat nicht nur finanzielle Gründe. Kritiker werten Trumps Angriff auf die Freiheit der Forschung, die Behauptungen und Mythen mit Fakten und Analysen widerlegt, als einen politisch motivierten Angriff auf das pluralistische System und die freiheitlich-demokratische Grundordnung.

Die Verunsicherung ist so groß, dass zahlreiche Forschende die USA verlassen wollen - in Richtung Kanada und Asien, vor allem aber nach Europa.

Globaler Schaden durch Trumps Angriff auf die Forschung

Europa und vor allem Deutschland würden von einem "Brain Drain" massiv profitieren. Aber für Häme ist kein Platz, denn Trumps beispielloser Angriff auf die Wissenschaft schadet der ganzen Welt, weil Forschung vom internationalen Austausch lebt.

Stagniert zum Beispiel die Medikamentenentwicklung in den USA, so verlangsamt sich weltweit der medizinische Fortschritt. Fehlen Daten etwa über hochansteckende Infektionskrankheiten oder die gerade in den USA grassierende Vogelgrippe, dann ist die Welt schlechter für eine neue potentielle Pandemie gerüstet.

"Wir müssen nun solidarisch mit unseren Partnern in den USA sein, denn letztendlich brauchen wir eine starke Wissenschaft in den Vereinigten Staaten. Lücken, die hier nun in der Klimaforschung, in der globalen Gesundheitsforschung oder mit Blick auf die Energietransformation entstehen, lassen sich später nicht einfach wieder schließen", so Otmar Wiestler, der Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft, gegenüber der DW. "Je größer die Eingriffe in die Wissenschaft sind, desto intensiver werden die Folgen global, aber auch für die USA selbst ausfallen."

Großes Interesse am Forschungsstandort Deutschland

Trumps Vorgehen bietet ungeahnte Möglichkeiten, Spitzenforscher für Europa und vor allem Deutschland zu gewinnen. Die Europäischen Forschungseinrichtungen wollen sich diese Chance nicht entgehen lassen. Gleichzeitig möchten sie die traditionell gute Zusammenarbeit mit US-Partnern nicht belasten und die Sorgen der Forschenden nicht ausnutzen.

Wirklich belastbare Zahlen über wechselinteressierte Forschende aus den USA gibt es bislang nicht, weil dies natürlich eine ebenso private wie sensible Entscheidung ist.

Aber 75 Prozent der US-Forschenden, die an einer “Nature“-Umfrage teilgenommen haben, denken darüber nach, die USA zu verlassen. Von den 1.600 Teilnehmern erwägen mehr als 1.200 Wissenschaftler einen Umzug nach Kanada oder Europa. Besonders ausgeprägt war der Trend bei Forschern, die noch am Anfang ihrer Karriere stehen. Von den 690 postgraduierten Forschern, die geantwortet haben, erwägen 548 einen Weggang; 255 von 340 Doktoranden sagten das Gleiche.

Auch bei den führenden deutschen Forschungseinrichtungen gehen bereits vermehrt Bewerbungen aus den USA ein, darunter auch von einigen Spitzenforschenden, die man nur zu gerne für sich gewinnen würde.

Bereits Anfang Februar 2025 berichtete der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, Patrick Cramer, dass sich die Bewerbungen aus den USA mindestens verdoppelt, in einigen Fällen sogar verdreifacht haben. Im April wird Cramer erneut zu Gesprächen in die USA reisen. Viele der begehrten PostDoc-Studierenden vor allem aus Indien, Südkorea und China sehen Deutschland ebenfalls als interessante Alternative zu den USA, so Dr. Christina Beck von der Max-Planck-Gesellschaft.

"Der Forschungsstandort Deutschland ist grundsätzlich und unabhängig von aktuellen Entwicklungen eine attraktive Alternative zu den USA," so Helmholtz-Präsident Wiestler. Die Helmholtz-Gemeinschaft ist mit über 46.000 Mitarbeitern und einem jährlichen Budget von rund 6,3 Milliarden Euro die größte deutsche Organisation zur Förderung und Finanzierung der Forschung.

"Wir können deshalb davon ausgehen, dass international Forschende zunehmend Karrieren auch hierzulande in Erwägung ziehen. Dies betrifft übrigens nicht nur Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die derzeit in den USA beschäftigt sind. Sondern auch talentierte Forschende aus aller Welt, die nun Alternativen zu einem angestrebten oder bereits geplanten Aufenthalt in den USA suchen. Eine ähnliche Tendenz haben wir im Übrigen nach dem Brexit gesehen", so Wiestler.

Sollte Deutschland Forschende aus den USA aktiv anwerben?

Aus Sicht der Max-Planck-Gesellschaft spreche nichts dagegen, wenn sich Deutschland aktiv um die führenden Köpfe aus den USA bemüht. Diese Gelegenheit dürfe man sich auf keinen Fall entgehen lassen, so Dr. Christina Beck.

Helmholtz-Präsident Wiestler ist anderer Meinung: "Die Stimmen, die nun eine aktive Anwerbung von Spitzenforschern aus den USA fordern, halte ich für kurzsichtig. Für uns sind die USA ein besonders wertvoller wissenschaftlicher Partner und wir setzen darauf, dass dies auch in Zukunft der Fall sein wird."

Ähnlich sieht es auch die Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung. Fraunhofer "ist immer bemüht die besten Köpfe zu gewinnen", so Sprecher Dr. Patrick Dieckhoff gegenüber der DW. Aber: "Eine besonderes Programm zur Anwerbung von US-Forschenden als Reaktion auf die derzeitigen Entwicklungen besteht aktuell nicht."

Auch die Leibniz-Gemeinschaft mit ihren 96 eigenständigen Forschungseinrichtungen will nicht aktiv Forschende aus den USA anlocken. "Von vorrangiger Bedeutung ist es, dass wir gerade jetzt unsere Kooperation intensivieren und so unsere amerikanischen Kolleginnen und Kollegen unterstützen. Eine gezielte Abwerbung von amerikanischen Kolleginnen und Kollegen birgt das Risiko, die amerikanische Wissenschaft nur noch mehr zu schwächen", so Leibniz-Präsidentin Martina Brockmeier gegenüber der DW.

Bei einer Eskalation in besonders angefeindeten Forschungsbereichen sei eine kurzfristige Zwischenfinanzierung denkbar. "Wenn es tatsächlich zu einem substanziellen Abbau von US-Forschung auf einzelnen Gebieten wie etwa der Klima- oder Infektionsforschung kommen sollte, wäre es im Interesse der globalen Wissenschaft - und damit auch Deutschlands - diese Expertise zu bewahren." Sollten betroffene Forschende einen Wechsel wünschen, "werden wir diesen sehr gern unterstützen", sagt Leibniz-Präsidentin Brockmeier.

Können deutsche Forschungseinrichtungen Spitzenforschung?

Wissen zählt im wirtschaftlich starken, aber rohstoffarmen Europa als wichtigste Ressource. Denn Forschung ermöglicht Innovationen, generiert Wachstum und hilft bei der Bewältigung der großen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft. So hat Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten bereits massiv in Wissenschaft und Forschung investiert und will künftig mehr als 3,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukt (BIP) für Forschung und Entwicklung ausgeben.

Die Politik sorgt zwar über den Bund und die Länder für eine verlässliche finanzielle Förderung, um der Wissenschaft einen sicheren Rahmen zu bieten. Gleichzeitig aber gewährleistet eine grundgesetzlich garantierte Wissenschaftsautonomie, dass Forschung in Deutschland frei und unabhängig ist.

Die Stärke der deutschen Spitzenforschung spiegelt sich auch in wissenschaftlichen Publikationszahlen wider: Deutschland erreicht im "Nature Index" des Jahres 2023, der die naturwissenschaftliche Publikationsleistung von Forschungseinrichtungen und Hochschulen auswertet, die beste Wertung in Europa und liegt im weltweiten Vergleich auf Platz drei nach den Spitzenreitern USA und China.

"Es gibt also zahlreiche Gründe, zu uns zu kommen, auch unabhängig von aktuellen Entwicklungen", so Helmholtz-Präsident Wiestler. "Der Forschungsstandort Deutschland ist dafür sehr gut aufgestellt."

Bürokratische Hürden und ausbaufähige Willkommenskultur

"Der Forschungsstandort Deutschland ist im internationalen Vergleich durchaus wettbewerbsfähig", ist auch die Ansicht von Leibniz-Präsidentin Brockmeier. Dringenden Handlungs- und Reformbedarf sieht Brockmeier dennoch: "Dazu gehören ein Abbau der überbordenden Bürokratie und die Ermöglichung von mehr Eigeninitiative, eine langfristig verlässliche Finanzierung, die Steigerung der Attraktivität akademischer Karrieren sowie die Erleichterung von Technologietransfer und Kooperationen mit der Wirtschaft."

Auch Helmholtz-Präsident Wiestler fordert "eine stärkere Willkommenskultur und einen entschlossenen Abbau von Bürokratie in der Wissenschaft", hier müsse die neue Bunderegierung schnell aktiv werden. "Wichtiger als eine gezielte Kampagne zur Anwerbung von Forschenden aus den USA ist die konsequente Weiterentwicklung unseres Forschungsstandorts in Deutschland", so Wiestler gegenüber der DW. "Nur so können wir ein Umfeld schaffen, in dem wir nachhaltig die besten Talente aus aller Welt gewinnen."

Mit Blick auf US-Forschende brauche es schnelle und unkomplizierte Lösungen, wie etwa beschleunigte Visa- und Berufungsverfahren, so Max-Planck-Sprecherin Beck. Die neue Bundesregierung dürfe die bestehende Doppelpass-Regelung nicht wieder abschaffen. Diese Regelung zur doppelten Staatsbürgerschaft sei bereits nach dem Brexit für internationale Forschende sehr interessant gewesen.

Der Artikel wurde am 28.03.25 um die Ergebnisse der Nature-Umfrage ergänzt.

Item URL https://www.dw.com/de/liebe-forschende-aus-den-usa-willkommen-in-deutschland/a-72042739?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72043229_302.jpg
Image caption Tausende demonstrierten in Washington für die Freiheit der Wissenschaft
Image source Robyn Stevens Brody/Sipa USA/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/pz/pz241108_Rethinking_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/72043229_302.jpg&title=Liebe%20Forschende%20aus%20den%20USA%3A%20Willkommen%20in%20Deutschland%21

Item 69
Id 72001443
Date 2025-03-24
Title Trumps Budgetkürzungen: Angst um mRNA-Forschung gegen Krebs
Short title Trumps Budgetkürzungen: Angst um mRNA-Forschung gegen Krebs
Teaser Wissenschaftler, die in den USA an mRNA-Technologien forschen, fürchten unter Präsident Trump um ihre Gelder. mRNA ist die Grundlage für viele Corona-Impfungen und könnte im Kampf gegen Krebs helfen.
Short teaser Könnte die US-Regierung unter Trump der für Impfungen entscheidenden mRNA-Forschung die Gelder streichen?
Full text

Außen- und innenpolitisch hat sich viel geändert in den USA seit Präsident Donald Trump im Januar sein Amt angetreten hat. Zu denen, die von neuen Regulierungen und harten Kürzungen am meisten betroffen sind, gehören Forschende, die bei ihrer Arbeit auf Regierungsgelder angewiesen sind.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Feldern wie beispielsweise LGBTQ+- Gesundheit und Gender Identität, Klimawandel sowie in verschiedensten medizinischen Disziplinen wurden bereits Gelder gekürzt oder gestrichen. Erst vor kurzem wurden laut US-Medien mehr als 30 Forschungsprojekten, die sich mit Gründen für und Maßnahmen gegen Impfskepsis befassen, die Finanzierung entzogen.

Bei den Kürzungen spielt wohl Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. eine große Rolle – der Republikaner ist lautstarker Impfskeptiker. Das ist auch ein Grund dafür, dass Forschung, die sich mit der mRNA-Technologie befasst, ebenfalls Kürzungen drohen könnte.

Laut der Nachrichtenseite KFF Health News hat Matthew Memoli, der kommissarische Direktor der National Institutes of Health (NIH), eine Auflistung aller NIH-finanzierten Forschungsprojekte verlangt, die sich mit der mRNA-Technologie befassen. Diese sollten an Kennedy und ans Weiße Haus weitergeleitet werden.

Eine solche Anfrage hatte es auch über die Forschungsprojekte zu Impf-Misstrauen gegeben – bevor ihnen die Gelder gestrichen wurden. Die NIH sind eine Behörde des US-Gesundheitsministeriums, die zuständig für biomedizinische Forschung ist.

Forschende, die anonym bleiben wollten, sagten US-Medien gegenüber, NIH-Angestellte hätten ihnen empfohlen, jegliche Erwähnungen von mRNA aus ihren Bewerbungen für Forschungszuschüsse zu streichen. Dabei spielt die Technologie eine entscheidende Rolle bei vielen Entwicklungen in der medizinischen Forschung.

mRNA, die Basis zweier Coronaimpfstoffe

mRNA kam zu großer Berühmtheit während der Coronavirus-Pandemie. Zwei der Impfstoffe, von BioNTech und Moderna, wurden auf Basis der Technologie entwickelt. Viele Impfstoffe enthalten eine inaktive Version des Virus. Die Mittel von BioNTech-Pfizer und Moderna hingegen nutzen sogenannte messenger RNA (mRNA). Dabei handelt es sich um eine Art genetisches Skript, auf dessen Grundlage der Körper Proteine produziert, die spezielle Funktionen haben.

COVID-19 Impfstoffe, die ein solches mRNA-Skript beinhalten, weisen Zellen im Körper an, Proteine zu produzieren, die identisch zu den Spike-Proteinen sind, die auf dem Coronavirus sitzen. Das Immunsystem bildet daraufhin Antikörper gegen diese Spike-Proteine. Im Falle einer Infektion erkennt das Immunsystem der geimpften Person das Virus sofort wieder und kann es besser und zügiger bekämpfen.

Die Impfstoffe waren hocheffektiv darin, Menschen vor schweren COVID-19-Symptomen zu schützen und haben höchstwahrscheinlich unzählige Leben gerettet. Trotzdem waren einige Menschen der Immunisierung gegenüber misstrauisch. Verschwörungserzählende behaupteten, der Impfstoff würde die DNA der Geimpften verändern – dabei gelangen mRNA Impfstoffe gar nicht in den Nukleus unserer Zellen, wo sich unser genetisches Material befindet.

Malaria-Impfung mit mRNA in der Entwicklung

Die einzige aktuell großflächig eingesetzte Malaria-Impfung, RTS,S oder Mosquirix, ist keine mRNA-basierte Impfung. Die befinden sich noch in der Entwicklung. Sie sollen dabei helfen, die von Mücken übertragene Krankheit zu bekämpfen, die jedes Jahr rund 600.000 Menschen tötet. Bis zu drei Viertel davon sind Kinder unter fünf Jahren.

2023 gab ein Forschungsteam aus Neuseeland und Australien bekannt, dass sie eine mRNA-Impfung gegen Malaria entwickelt haben, die sich bei Tieren als wirksam gezeigt hatte. Der Impfstoff stimuliert Immunzellen in der Leber, dort, wo der Malaria-Parasit Plasmodium zu finden ist, nachdem er in den Blutkreislauf eingedrungen ist.

Natürlich ist es vom Tier noch ein langer Weg bis zu medizinischen Studien beim Menschen, und letztlich einer fertigen Impfung. Der Prozess kann Jahre dauern. Aber Forschende sind sich einig, dass mRNA-Impfungen besonders für den Kampf gegen Malaria geeignet sind, weil sie schnell an mögliche Mutationen des Erregers angepasst werden können.

Die deutsche Firma BioNTech ist schon einen Schritt weiter. Ihr in der Entwicklung befindlicher mRNA-Malaria-Impfstoff wurde bereits an Menschen getestet. Aber am 5. März 2025 stoppte die "Food and Drug Administration" (FDA) in den USA die Tests. Die FDA forderte BioNTech auf, Änderungen vorzunehmen – welche genau, wurde nicht öffentlich bekanntgegeben.

Krebsimpfung dank mRNA?

Auch bei der Krebsbehandlung könnte die mRNA-Technologie eine Rolle spielen. Darmkrebs hat eine hohe Sterblichkeitsrate – neun von zehn Erkrankten überleben nicht. Aber Forschende in den USA entwickeln eine Art Impfstoff, der verhindern soll, dass der Krebs zurückkehrt, nachdem der ursprüngliche Tumor operativ entfernt wurde.

Eine klinische Testreihe zeigte, dass der Impfstoff bei einigen der Teilnehmenden Tumor-spezifische Immunzellen aktivierte, die bis zu mehr als drei Jahren nach der Behandlung noch im Körper zu finden waren.

Der Darmkrebsimpfstoff, der von BioNTech und der US-Firma Genentech entwickelt wird, muss für jede und jeden Teilnehmenden personalisiert werden. Er sorgt dafür, dass körpereigene Zellen sogenannte Neoantigene produzieren, ein bestimmtes Protein, das nur auf dem Tumor des jeweiligen Patienten oder der jeweiligen Patientin existiert. So wird das Immunsystem trainiert, die Krebszellen als einen Fremdkörper zu erkennen, der bekämpft werden muss. Der Impfstoff befindet sich noch in der Entwicklung; die Ergebnisse der Versuchsreihe wurden im Februar 2025 in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Dieser Artikel wurde ursprünglich auf Englisch veröffentlicht.

Item URL https://www.dw.com/de/trumps-budgetkürzungen-angst-um-mrna-forschung-gegen-krebs/a-72001443?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71865331_302.jpg
Image caption Laut US-Medien wurden mehr als 30 Forschungsprojekten, die sich mit Gründen für und Maßnahmen gegen Impfskepsis befassen, die Finanzierung entzogen.
Image source Allison Bailey/NurPhoto/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/Events/mp4/jd/jd20211007_malaria19d_sd.mp4&image=https://static.dw.com/image/71865331_302.jpg&title=Trumps%20Budgetk%C3%BCrzungen%3A%20Angst%20um%20mRNA-Forschung%20gegen%20Krebs

Item 70
Id 71939778
Date 2025-03-24
Title Sind Noise-Canceling-Kopfhörer schädlich?
Short title Sind Noise-Canceling-Kopfhörer schädlich?
Teaser Wer sich zu lang und zu oft mit Noise-Canceling Kopfhörern vor dem lauten Alltag abschottet, kann massive Hörprobleme bekommen. Das Gehirn verlernt, zwischen wichtigen und unwichtigen Geräuschen zu unterscheiden.
Short teaser Durch häufiges Noise-Canceling kann das Gehirn verlernen, wichtige von unwichtigen Geräuschen zu unterscheiden.
Full text

Wer in der Uni, im Büro oder beim Pendeln in Bus und Bahn keine störenden Nebengeräusche hören will, setzt geräuschreduzierende Kopfhörer auf, sogenannte Noise-Canceling-Kopfhörer. Vor allem solche mit aktivem Noise-Canceling unterdrücken Störgeräusche effektiv und blenden die Umgebung aus, so dass man sich auf die Musik konzentrieren oder in Ruhe arbeiten kann.

Im lauten Alltag schnell zu Kopfhörern zu greifen kann allerdings kontraproduktiv sein: Noise-Canceling-Kopfhörer stehen im Verdacht, massive Hörprobleme zu verursachen.

Vor allem jüngere Menschen können bei einer sehr häufigen und langen Nutzung von Noise-Canceling-Kopfhörern eine sogenannte "Auditive Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen (AVWS)" entwickeln.

Was passiert bei einer AVWS?

Bei einer AVWS oder Auditory Processing Disorder (APD) funktioniert zwar das Gehör, selbst leise Geräusche und Töne werden gehört. Allerdings wird das Gehörte und vor allem Gesagte nicht richtig verstanden.

Besonders schlimm ist das Stimmwirrwarr, wenn viele durcheinander reden oder es lärmende Nebengeräusche gibt. Eine Störung der synaptischen Verknüpfung führe dann dazu, dass das Gehirn die akustischen Informationen nicht richtig verarbeiten könne, erklärt Dr. Christine Schmitz-Salue. Sie ist Fachärztin für Phoniatrie & Pädaudiologie.

Bei der Entwicklung einer AVWS spielen verschiedene Faktoren eine Rolle - vor allem die unzureichende und nicht altersentsprechende Entwicklung synaptischer Verschaltungen im Gehirn für die Hör- und Sprachverarbeitung, so die 2.Vorsitzende vom Deutschen Berufsverband der Fachärzte für Phoniatrie und Pädaudiologie e.V.

Mögliche Entwicklungshemmnisse können - wie Sprachentwicklungsstörungen auch - genetischen Ursprungs sein. Häufige Mittelohrentzündungen können die Hör- und Sprachverarbeitung ebenfalls hemmen. Auch eine Reizüberflutung oder eben unzureichende akustische Lernangebote werden als Ursache genannt.

Hören will gelernt sein

Für unser Gehirn ist es eine große Herausforderung, zwischen relevanten Geräuschen und störenden Nebengeräuschen zu unterscheiden. Die Entwicklung der Fähigkeit, sinnvolle von sinnlosen Reizen zu unterscheiden, beginnt etwa im Alter von 5 Jahren. Bei Jungs setzt sie oft etwas später ein. Bis zum Ende der Pubertät sei sie abgeschlossen, so Schmitz-Salue. "Fehlen in dieser Phase die akustischen Angebote, die die Unterscheidung zwischen Stör- und Nutzschall notwendig machen, kann unser Gehirn dies nicht lernen."

Vor allem bei Heranwachsenden kann dies zu Konzentrationsproblemen führen. Ihr Gehirn weiß schlichtweg nicht, wie es mit Störgeräuschen umgehen soll.

"Betroffene werden unaufmerksam, sie kaspern herum, konzentrieren sich nicht mehr, sind ständig abgelenkt. Manche Kinder werden ungehalten, zeigen Überforderungszeichen", so Schmitz-Salue, die auch als Psychotherapeutin arbeitet.

Beim Lockdown das Hören verlernt

Als Spätfolge der Lockdowns während der COVID-Pandemie reagieren viele junge Menschen auf Lärm besonders gestresst. "Wenn die Kinder zu dieser Zeit nur in der ruhigen, häuslichen Umgebung waren, dann gab es für das Gehirn auch nichts Neues dazuzulernen. Wenn die Kinder dann plötzlich wieder in den lauten Klassen sitzen, sind sie an den Lärm gar nicht mehr gewöhnt, weil das Gehirn nicht gelernt hat, diese Störgeräusche auszublenden", so Schmitz-Salue.

Betroffenen in solchen Stresssituationen Kopfhörer mit Noise-Canceling zu geben, sei aus ihrer Sicht ein großes Problem. "Was das Gehirn dabei lernt ist: Ich kann mich nur in Ruhe konzentrieren. Und wenn da irgendwelche Störgeräusche sind, dann müssen die ausgeblendet werden. Aber selber kann ich die Störgeräusche nicht ausblenden."

Noise-Canceling kann kontraproduktiv sein

Vor allem aktives Noise-Canceling ist deutlich effektiver als etwa Ohrstöpsel oder einfache Kopfhörer. Werden aber alle Nebengeräusche über einen langen Zeitraum herausgefiltert, muss das Gehirn nur noch eine akustische Quelle verarbeiten - zum Beispiel die Musik. Eine Weile lang ist das überhaupt kein Problem. Das Gehirn darf nur nicht die Fähigkeit verlernen, relevante Geräusche aus dem Hintergrundlärm herauszufiltern.

Auch wenn der finale Beweis für einen Zusammenhang zwischen Noise-Canceling und AVWS noch fehlt, hält Pädaudiologin Schmitz-Salue einen kausalen Zusammenhang für durchaus möglich: "Ich halte es wirklich für absolut nachvollziehbar. Durch dieses Noise Canceling wird ja dem Gehirn praktisch jede Möglichkeit genommen, 'Hören im Störgeräusch' zu lernen. Wenn das Gehirn keine Notwendigkeit dazu hat, ihn zu entwickeln, wird es den eben nicht entwickeln."

Lernen, sich den Störgeräuschen zu stellen

Wenn Kinder oder Heranwachsende extrem gestresst oder ängstlich auf eine geräuschvolle Umgebung reagieren, sei es nach Ansicht der Audiologin Schmitz-Salue wenig hilfreich, wenn die Kinder oder auch die ganze Familie laute Veranstaltungen, Volksfest oder Weihnachtsmärkte komplett meiden. "Damit wird das Kind praktisch genau in der falschen Richtung bestärkt", so die Audiologin.

"Stattdessen wäre es in jedem Fall sinnvoller, das Kind liebevoll und behutsam daran zu gewöhnen, dass die Welt einfach laut ist und dass es eben andere Geräusche gibt", rät die Fachärztin. Statt also gleich vor einer lauteren Umgebung zu fliehen oder Kopfhörer aufzusetzen, sollte "das Kind trainieren, mit der lauten Umgebung umzugehen und sich trotz Störgeräuschen zu konzentrieren."

Lieber auf Noise-Canceling verzichten?

Noise-Canceling ist nicht grundsätzlich schlimm oder schädlich, aber die Geräuschunterdrückung sollte nicht immer angestellt sein. Audiologin Schmitz-Salue rät, Noise-Canceling-Kopfhörer eher "in Situationen zu tragen, wo es wirklich tierisch nervt, also wenn man zum Beispiel in der U-Bahn sitzt". Ansonsten aber sollte vor allem Jugendliche bevorzugt den Modus beim Noise Canceling wählen, der Störgeräusche teilweise durchlässt. Schmitz-Salue rät: "Noise-Canceling in Situationen, in denen sie die Kopfhörer eigentlich am liebsten tragen, weil sie sich konzentrieren wollen, einfach mal bewusst wegzulassen."

Quelle:

Do active noise-cancelling headphones’ influence performance, stress, or experience in office context? https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0360132324009442

Item URL https://www.dw.com/de/sind-noise-canceling-kopfhörer-schädlich/a-71939778?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71941522_302.jpg
Image caption Noise-Canceling könnte bei Heranwachsenden zu Konzentrationsproblemen führen, weil das Gehirn nicht lernt, mit Störgeräuschen umzugehen
Image source Channel Partners/Zoonar/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/pz/pz241129_Laerm_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/71941522_302.jpg&title=Sind%20Noise-Canceling-Kopfh%C3%B6rer%20sch%C3%A4dlich%3F