DW

Item 1
Id 69775531
Date 2024-07-27
Title Faktencheck: Hamas-Video zu Olympia gefälscht
Short title Faktencheck: Hamas-Video zu Olympia gefälscht
Teaser In einem Video bedroht ein angeblicher Hamas-Kämpfer die Olympischen Spiele in Paris. "Flüsse aus Blut werden durch die Straßen von Paris fließen", heißt es darin. Doch das Video ist offenbar ein Fake.
Short teaser Ein angeblicher Hamas-Kämpfer bedroht darin die Olympischen Spiele in Paris. Doch es handelt sich offenbar um ein Fake.
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Behauptung: Ein vermeintlicher Kämpfer der militant-islamistischen Hamas bedroht in einem Video Frankreich und die Olympischen Spiele: "Flüsse aus Blut werden durch die Straßen von Paris fließen", heißt es darin. Das angebliche Droh-Video wurde auf verschiedenen Accounts in unterschiedlichen Sprachen millionenfach angesehen.

DW-Faktencheck: Fake

Bei dem Video handelt es sich laut Experten sehr wahrscheinlich um eine Fälschung, die nicht von der Hamas selbst, sondern von anderen ausländischen Akteuren stammt. "Da das Video bei identifizierten und bekannten russischen Propagandanetzwerken aufgetaucht ist, bestätigt das die Tatsache, dass es kein echtes Video ist", sagt Lou Osborn, Beraterin und Forscherin am "Centre for Information Resilience (CIR)", die sich den Clip für die Deutsche Welle angesehen hat.

Das Video sei zwar später auch von diversen anderen Accounts - unter anderem von französischen Politikern - geteilt worden, doch entscheidend sei, wo es zuerst aufgetaucht ist. In diesem Fall stammt es laut Osborn von einem russischen Propaganda-Netzwerk.

Forschende des "Microsoft Threat Analysis Center" kamen im Auftrag des US-Senders "NBC"zu dem Schluss, dass offenbar die russische Fälschergruppe "Storm-1516" hinter der Verbreitung des Videos steht. Diese Gruppe hatte schon zuvor die Taktik verfolgt, gefälschte Videos erst über Konten mit wenigen Followern zu verbreiten, damit später gefälschte Nachrichtenwebsites sie aufgreifen. So berichtete etwa die pro-russische Propaganda-Seite "Pravda" über das Video.

Doch nicht nur die Art der Verbreitung deutet auf eine Fälschung hin, sondern auch die inszenierte und unauthentische Art der Person, die zu sehen ist. Unter anderem trägt der vermeintliche Hamas-Kämpfer etwa kein grünes Band um den Kopf. Dieses Band ist ein Kennzeichen, das bisher oft von der Hamas-Brigade "Al-Kassam" in Statement-Videos getragen wurde. Ein weiterer Hinweis ist die Sprache: In diesem Fall der Akzent des vermeintlichen Hamas-Kämpfers. Er spricht Arabisch, doch die Aussprache einzelner Wörter ist falsch. Es handelt sich also offenbar nicht um einen arabischen Muttersprachler. Dies hat dem Faktencheck-Team ein arabisch-sprachiger Journalist der Deutschen Welle bestätigt.

Russland hat viele Gründe, um Frankreich zu diskreditieren

Das Video passt zu einer Reihe diverser Desinformationskampagnen, die in den vergangenen Monaten rund um die Olympischen Spiele auftauchten. Besonders häuften sich neben der Kritik am Internationalen Olympischen Komitee, kurz IOC, Spekulationen über die Sicherheitslage in Frankreich. Immer wieder haben russische Propaganda-Netzwerke sich zum Beispiel als militante Organisation ausgegeben, um Drohungen gegen die Spiele auszusprechen. Die Olympischen Spiele scheinen für Russland eine willkommene Gelegenheit zu sein, Frankreich zu diskreditieren, welches die Ukraine unterstützt und auch in mehreren afrikanischen Ländern mit Russland konkurriert.

Darüber hinaus dürfen Sportler aus Russland in Paris nur unter neutraler Flagge starten und müssen spezielle Richtlinien befolgen. Für Russland ein Affront. Der aktuelle Bericht von Microsoft fasst zusammen: Weil Russland nicht an den Spielen teilnehmen kann, will es sie "untergraben, diffamieren und entwürdigen".

Terrorgefahr vor Olympia

Tatsächlich besteht in Frankreich bei einem Großereignis wie Olympia eine erhöhte Terrorgefahr. Doch viele kursierende Behauptungen und Videos sind manipuliert oder irreführend.

So war in der Vergangenheit bereits ein vermeintliches Video des US-amerikanischen Sicherheitsdiensts "CIA" aufgetaucht, in dem US-amerikanischen Bürgern empfohlen wird, wegen der erhöhten Terrorgefahr nicht zu den Olympischen Spielen zu gehen. Auch dies eine Fälschung, es gibt auf keiner offiziellen Seite der CIA ein solches Video oder eine solche Warnung.

Darüber hinaus gab es immer wieder sogenannte "Spoofing"-Artikel, bei denen angesehene europäische Medien imitiert werden, sodass sie aussehen wie echte Artikel. "Sie wollen ein Publikum aufbauen und versuchen sich anzupassen, indem sie Quellen nachahmen, die viele Menschen eigentlich nicht hinterfragen würden", sagt Craig im Gespräch mit der DW. "Sobald sie dieses Publikum aufgebaut haben, nutzen sie es, um ihre eigenen Argumente zu verbreiten."

Ein Ziel der Olympia-Desinformation: der Öffentlichkeit Angst einjagen und Zuschauer am Ende davon abhalten, zu den Spielen zu gehen. "Letztendlich geht es aber auch darum, Misstrauen in die Fähigkeit der Regierung zu säen, die Situation händeln zu können", erklärt Forscherin Osborn.

Ereignisse wie die Olympischen Spiele sind laut Experten eine passende Gelegenheit, um westliche Demokratien und Regierungen zu diskreditieren - und aktuell steht Frankreich als Austragungsort der Spiele besonders im Fokus.

Item URL https://www.dw.com/de/faktencheck-hamas-video-zu-olympia-gefälscht/a-69775531?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Vor Olympia: Ein vermeintlicher Hamas-Kämpfer bedroht die Olympischen Spiele
Image source X/@Data_Statistica
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Item 2
Id 69710463
Date 2024-07-27
Title Wandel in Spaniens Landwirtschaft
Short title Wandel in Spaniens Landwirtschaft
Teaser Viele spanische Bauern haben noch gar nicht realisiert, was der Klimawandel für sie bedeutet. Derweil schreitet die Industrialisierung des landwirtschaftlichen Sektors weiter fort - doch das Hauptproblem bleibt.
Short teaser Digitalisierung und KI sollen Spaniens Bauern helfen, unter erschwerten Bedingungen Landwirtschaft zu betreiben.
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LED-Lampen simulieren das Sonnenlicht und scheinen in bunten Farben auf die sieben Meter in die Höhe gewachsenen Hopfen-Pflanzen. Nach einigen Stunden erlöschen sie und es ist stockdunkel, obwohl es draußen noch hell ist. Alle Gewächse stehen ordentlich nebeneinander in einer alten Fabrikhalle in Chantada im Norden Spaniens.

Keine Pilze oder Keime, weder Hitze, Sturm, Hagel oder Starkregen können dem sensiblen Hanfgewächs hier etwas anhaben. Ab 2025 kann hier jede Woche geerntet werden und nicht nur einmal im Jahr wie auf dem Feld. Eine Nährlösung sorgt für die optimale Versorgung, eine Klimaanlage für die richtige Temperatur.

Das spanische Startup Ekonoke glaubt, dass diese Art von Indoor-Farming für bestimmte Agrarprodukte die einzige Überlebenschance ist. "Dazu gehört der Hopfen als wesentlicher Bestandteil des Bieres," sagt Inés Sagrario, die das Projekt vorstellt.

Die 50-Jährige gehört zu den vier Gründern des 1000-Quadratmeter groβen Pilotprojektes, auf das derzeit viele internationale Brauereien schauen, auch deutsche Hopfenpflanzer. Für das besonders unter dem Klimawandel leidende Spanien könnte der viel geringere Wasserverbrauch beim Indoor-Farming überlebenswichtig werden.

Die Konzentration nimmt zu

Sagrario hat viele Jahre in der Unternehmensberatung gearbeitet und glaubt, dass die globalen Lieferketten nie wieder so funktionieren werden wie vor der Pandemie: "Das hat mit dem Ende der fossilen Energien, aber auch mit neuen geopolitischen Konflikten sowie mit dem Klimawandel selbst zu tun. Deswegen muss der landwirtschaftliche Anbau immer näher an der Produktion liegen und alles in Kreislaufwirtschaft funktionieren", erklärt sie.

Da Spanien nicht auf seine Rolle als Garten Europas verzichten will, wird auch an Orten wie El Ejido in Andalusien schon jetzt mithilfe von Firmen wie Syngenta an Lösungen gearbeitet, wie zukünftig unter Plastikfolien, in Gewächshäusern und mit Hydroponik (Pflanzenzucht ohne Boden), Gurken, Tomaten und Salat angebaut werden könnten. Die Pflanzen sollen vor dem immer wechselhafteren und wärmeren Wetter geschützt sein. Syngenta richtete dafür dort ein Entwicklungs-Zentrum ein.

Technologisierung der Landwirtschaft

In Spanien ist Indoor-Farming noch eine Neuheit, obwohl es gerade hier sinnvoll sein könnte. "Überall gibt es Probleme mit schädlichen Umwelteinflüssen und sinkenden Erntevolumen, was die Preise verschiedener Basis-Produkte immer wieder kurzfristig in die Höhe treibt", erklärt Sagrario. Der Preis für Olivenöl liegt derzeit bei rund zehn Euro die Literflasche. Bei Orangen gab es in diesem Jahr ebenfalls Ausschläge.

Zwar habe es im ersten Halbjahr 2024 mehr geregnet als im Vorjahr, "aber es haben noch nicht alle Konsumenten und Bauern verstanden, dass die Vorhersehbarkeit des Wetters und klare Jahreszeiten zur Vergangenheit gehören. Wir müssen uns auf konstante Schwankungen einstellen und unseren Anbau dementsprechend anpassen", sagt Juan Antonio Polo, Technologieexperte des in Madrid ansässigen International Olive Council (IOC).

Schweinezucht der Zukunft

Der katalanische Lebensmittelproduzent Vall Companys versucht, aus der Not eine Tugend zu machen. Die Katalanen sind mit einem Umsatz von über vier Miliarden Euro in 2023 inzwischen europaweit Branchenprimus. Sie haben sich schon vor 20 Jahren für ein integratives Modell entschieden, bei dem der Bauer nur noch ein Angestellter des Konzerns ist.

Wie bei Ekonoke ist der Besuch ihres sogenannten Hofes 5.0 in Lleida wie ein Blick in die Zukunft. 3300 Schweine liegen hier in Gruppen von neun Tieren pro Stalleinheit auf Stroh, umgeben von sehr viel Technik: "Viel Platz haben sie nicht", gibt der Technologie-Verantwortliche Joaquín Terés zu.

Ihr Gewicht wird beim Fressen automatisch gemessen, ihre Atmung per Sensor kontrolliert. "Von der Besamung bis zum Verkauf haben wir bei der Schweinefleischproduktion alles in der Hand. Der Bauer bekommt unsere Technik und arbeitet gegen Gehalt für uns", erklärt Terés im Gespräch mit DW.

Das eigens hergestellte Futter sorge dafür, dass die Schweine weniger Nitrate ausscheiden würden, die giftig für den Boden und das Grundwasser sind. Auf den ersten Blick ist hier alles sauber auf dem "Hof 5.0". Nicht alle Höfe der Gruppe sind wie dieser in Lleida, aber alle sollen irgendwann dort hinkommen.

Was Vall Companys macht, machen andere spanische Wettbewerber wie Campofrío oder El Pozo längst. Auch deswegen ist Spanien innerhalb weniger Jahre zu einem der weltweit führenden Schweinefleisch-Produzenten geworden und kann Fleisch durch die Effizienz der kontrollierten Produktionsketten billiger anbieten.

Wasser - das ewige Problem

Auch wenn der spanische Agrar-Ökonom Francesc Reguant glaubt, dass neue Bewässerungstechniken, unter anderem mit wiederaufbereitetem Wasser, sich für fast alle Anbauarten durchsetzen wird, werde Wasser ein Problem für die Spanier bleiben, wie er in einer Studie schreibt. Denn wo es herkommen soll, ist nicht klar, da Entsalzungsanlagen immer noch zu teuer sind, Regenfälle immer unvorhersehbarer werden und gleichzeitig der Grundwasserspiegel sinkt.

Nachhaltiges Indoor-Farming hält der spanische Agronom Rafael Álvarez in großem Umfang nicht für wirtschaftlich: "Es macht derzeit nur Sinn bei knappen Produkten wie Hopfen oder Kakao. Es muss dahinter eine Industrie stehen, welche die Anfangsinvestitionen trägt, sonst kann es sich nicht amortisieren", sagt er im Gespräch mit der DW.

Ekonoke hat es geschafft. Denn mit der Brauerei Hijos de Rivera, die auch das Bier Estrella Galicia braut, haben sie bereits einen finanzkräftigen Kunden an der Seite: "Sie haben von Anfang an an uns geglaubt," sagt Inés Sagrario. Auf die Zukunft des Agrarsektors im Allgemeinen sieht sie aber mit einiger Skepsis: "Die spanische Landwirtschaft und die Konsumenten haben noch gar nicht verstanden, was da auf uns zukommt mit dem Klimawandel."

Item URL https://www.dw.com/de/wandel-in-spaniens-landwirtschaft/a-69710463?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/69689415_302.jpg
Image caption Hopfenblüten in einem Gewächshaus im galizischen Chantada
Image source Ekonoke
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Item 3
Id 69381312
Date 2024-07-27
Title Kleine Geschichte des Stelzenlaufens
Short title Kleine Geschichte des Stelzenlaufens
Teaser Zum Tag des Stelzenlaufens: Warum eine uralte Tradition bis heute die Menschen begeistert - in allen Teilen der Welt.
Short teaser Zum Tag des Stelzenlaufens: Warum eine uralte Tradition bis heute die Menschen begeistert - in allen Teilen der Welt.
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Das Stelzenlaufen gehört zu einer wenig beachteten Tradition, obwohl Menschen weltweit seit Jahrhunderten auf Stelzen unterwegs sind. Wohl auch, weil die Herstellung von Stelzen keine speziellen Materialen oder tieferes Wissen erfordert. Schon Kinder können sich eigene Stelzen schnitzen und damit über sich hinauswachsen. In der einfachsten Variante bestehen sie nur aus zwei stabilen Stöcken mit einer Astgabel, auf der die Füße abgestellt werden.

Wer hat's erfunden?

Eine bestimmte Epoche oder Region, aus der das Stelzenlaufen hervorgegangen ist, gibt es nicht. Verschiedene Volksgruppen sind unabhängig voneinander auf die Idee gekommen, sich größer zu machen und vom Boden abzuheben. Ihre Gründe variierten. Manche wollten besser durch unwegsames Gelände kommen, andere trugen Stelzen bei rituellen Tänzen.

In der römischen Antike etwa war das Stelzenlaufen ein beliebtes Kinderspiel. Jugendliche Maori aus Neuseeland lieferten sich Rennen und Kämpfe auf Stelzen, noch bevor die Europäer die Insel zum ersten Mal betraten. Die Maya, eine Gruppe indigener Völker Südamerikas, verwendeten Stelzen vermutlich im Kontext ritueller Zeremonien. In China wurden Stelzen ursprünglich in der Landwirtschaft genutzt. Die Menschen pflückten auf Stelzen Obst von den Bäumen und stellten sich zum Fischen ins Wasser. Inzwischen hat sich der Stelzentanz in China zu einer Kunstform entwickelt und ist fester Bestandteil von Frühjahrsvolksfesten.


Indische Stelzenläufer halten einen Weltrekord

Auch das Volk der Karbi, das im ostindischen Assam in sehr einfachen Verhältnissen lebt, hat eine lange Stelzentradition, die ihm im Februar 2024 zu einem Eintrag im Guinnessbuch der Rekorde verhalf. 721 Menschen liefen in Trachten in einer zwei Kilometer langen Schlange im Gleichschritt zehn Minuten lang auf Stelzen.

UNESCO-Weltkulturerbe: Stelzenkampf in Belgien

Seit mehr als 600 Jahren findet in der belgischen Stadt Namur alljährlich im September ein Wettkampf statt, bei dem zwei Teams auf Stelzen gegeneinander antreten. Ziel ist es, alle Mitspieler der gegnerischen Mannschaft zu Fall zu bringen. Anschließend kämpft jeder gegen jeden. Wer am längsten durchhält, erhält den Preis: eine Goldene Stelze. Bei diesem kuriosen Wettkampf haben schon solch illustre Persönlichkeiten wie Kaiser Karl V., Ludwig XIV. und Napoleon zugeschaut. Seit 2021 steht das Stelzenturnier von Namur auf der UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes der Menschheit.

Seit dem 17. Jahrhundert tanzen Männer Ende Juli im spanischen Dorf Anguiano auf 50 Zentimeter hohen Stelzen eine steile Gasse hinunter. Beim Stelzentanz, dem Danza de los Zancos, tragen sie weite Röcke und drehen sich unermüdlich um sich selbst. Wer das Gleichgewicht verliert fällt in die jubelnde Menge am Wegesrand. Der Stelzentanz ist Maria Magdalena gewidmet, der Schutzpatronin der Gemeinde, und sollte ursprünglich zu einer guten Ernte führen.

Noch zur Jahrhundertwende arbeiteten die Schäfer im Südwesten Frankreichs auf rund zwei Meter hohen Stelzen, wie die Zeitschrift "Die Woche" im Jahr 1900 berichtete. Für die Landbevölkerungen waren sie das beste Fortbewegungsmittel auf den holprigen und sumpfigen Strecken. Außerdem hatte der Hirte seine Schafe so besser im Blick und schützte sich selbst vor Schlangen, Zecken und Wölfen. Ein hoher Stock diente als Hirtenstab und, gegen den Rücken gelehnt, als Stuhl.

Doch nicht nur Hirten und Briefträger nutzten die Stelzen. Ganze Familien, von den Großeltern bis zum Enkel, sollen sonntags, mit dem Gebetbuch in der Hand, auf Stelzen über die Heide zur Kirche gegangen sein. Der Bäcker Sylvain Dornon lief 1891 sogar auf Stelzen von Paris über Berlin nach Moskau. Er war es auch, der im ausgehenden 19. Jahrhundert eine der ersten französischen Stelzentanzgruppen gründete. Einige dieser Folklorevereine sind bis heute aktiv.

Stärke zeigen: Jugendliche Stelzenläufer in Äthiopien

Im Südwesten Äthiopiens, wo das Volk der Banna Zuhause ist, waren die Böden sumpfig und die Vegetation dicht. Die Stelzen hatten daher zunächst einen praktischen Nutzen: Die Banna hüteten auf Stelzen das Vieh und waren besser geschützt vor Schlangen und anderen wilden Tieren. Im Laufe der Zeit erhielt das Stelzenlaufen eine gesellschaftliche Bedeutung, die bis heute Bestand hat. Junge, unverheiratete Männer tanzen bei Festen auf Stelzen und vermitteln dadurch dem Stamm, dass sie verantwortungsbewusst, unabhängig und willensstark sind - und es im Ernstfall mit einem Löwen aufnehmen könnten.

Ritueller Stelzentanz in Togo

Tchébé heißt der spektakuläre Tanz aus Togo, der auf bis zu fünf meterhohen Stelzen aufgeführt wird. Er erfordert jahrelanges Training und wird von Gesang und Musik begleitet. Der Tanz ist eng mit der Voodoo-Religion verknüpft. Deshalb sind die Tänzer maskiert und müssen sich spirituell vorbereiten. Sie dürfen vor ihren Auftritten beispielsweise nur bestimmte Speisen zu sich nehmen.

Über den Ursprung des Tanzes gibt es verschiedene Erzählungen. Die populärste geht so: Der Legende nach soll ein Mann namens Itché während der Jagd Feen mit nur einem Arm und einem Bein im Wald entdeckt haben, die auf Stöcken hüpften. Nachdem er einen Warnschuss abgab, entschwanden die Feen, ließen aber ihre Stöcke liegen. Itché nahm die Beute mit und lehrte fortan die Kunst des Stelzentanzes.

Stelzentänzer wehren böse Geister ab

In vielen Ländern Afrikas tanzen Menschen seit Jahrhunderten auf Stelzen. Dass sich die Tradition in der Karibik unter dem Begriff "Moko Jumbie" fortsetzte, ist eine Folge des Sklavenhandels im 19. Jahrhundert. "Moko" ist ein Orisha, ein Gott der Vergeltung, "Jumbie" bezeichnet einen Geist oder Dämon. "Moko Jumbies" sind Stelzenakrobaten, die bei Karnevalsumzügen und anderen festlichen Anlässen auf drei bis viereinhalb meterhohen Stelzen in schillernden Kostümen durch die Straßen ziehen. Sie haben auch eine spirituelle Bedeutung: Durch ihre Größe gelten sie als Beschützer und sollen böse Geister abwehren.

Den Tag des Stelzenlaufens hat übrigens vor rund 20 Jahren ein US-Amerikaner ins Leben gerufen. Bill "Stretch" Coleman ist selbst Stelzenläufer und will Menschen jeden Alters dazu ermutigen, sich am 27. Juli dem Kinderspaß hinzugeben. Na dann, rauf auf die Stelzen!

Item URL https://www.dw.com/de/kleine-geschichte-des-stelzenlaufens/a-69381312?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/69381823_302.jpg
Image caption Stelzenlaufen reizt nicht nur Kinder: Auch viele Erwachsene schwingen sich bei besonderen Anlässen gerne auf Stelzen
Image source Bruna Prado/AP/picture-alliance
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Item 4
Id 69774596
Date 2024-07-26
Title Bayreuther Festspiele: Die Sehnsucht nach Erlösung
Short title Bayreuth: Die Sehnsucht nach Erlösung
Teaser Es ist eine der berühmtesten Opern der Musikgeschichte. Mit Tristan und Isolde schuf Richard Wagner Liebenden ein Denkmal. Die Neuinszenierung der Bayreuther Festspiele betont jedoch die düstere Seite.
Short teaser Mit Tristan und Isolde schuf Wagner Liebenden ein Denkmal. Die Inszenierung in Bayreuth betont die düstere Seite.
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Keine Anspielungen auf die Kriege der Welt, keine Klimakatastrophen: In diesem Jahr ist die politische Weltlage bei der Premiere der Bayreuther Festspiele kein Thema. Das Publikum taucht ein in die Welt von Wagners Oper "Tristan und Isolde", die Geschichte zweier Liebenden, die nicht zusammenkommen dürfen.

Großen Applaus gab es für die Protagonisten, allen voran für Camilla Nylund als Isolde und Tenor Andreas Schager als Tristan sowie für Christa Mayer als Brangäne, Isoldes Kammerzofe. Applaus auch für den russischen Dirigenten Semyon Bychkov, der auch die dezenten Töne bei Wagner nicht scheute und den Sängern den nötigen Raum gab. Der isländische Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson und Dramaturg Andri Hardmeier wurden dagegen mit eher mäßigem Applaus bedacht. Was szenisch und musikalisch stimmungsvoll begann, wurde mit der Zeit etwas langatmig. Auf der durchweg düsteren Bühne passierte nicht viel, die Bühnenbilder in sich blieben statisch.

Claudia Roth und die Debatte um Bayreuth

Mit verhaltenen Buhrufen war zuvor Kulturstaatsministerin Claudia Roth von Schaulustigen beim roten Teppich empfangen worden. Die Bayreuther Festspiele sind mit 60.000 internationalen Besuchern jedes Jahr das bedeutendste Opernfestival Deutschlands. Zu den Premieren kommt viel Prominenz aus Politik, Kultur und Gesellschaft. Es werden ausschließlich Richard Wagner Opern gespielt.

Genau das hatte Claudia Roth im Vorfeld der Festspiele kritisiert. Sie wollte das Programm attraktiver für ein jüngeres Publikum gestalten und auch andere Opernkomponisten in den Kanon aufnehmen. Doch der lange Arm von Richard Wagner reicht weit. Bis heute ist vertraglich festgehalten, dass ausschließlich seine Opern gespielt werden dürfen. Mittlerweile hat Claudia Roth wieder eingelenkt. "In Bayreuth Wagner zur Aufführung zu bringen, ist natürlich der grundlegende Markenkern dieses einzigartigen Festivals", sagte sie der Deutschen Presseagentur.

Die Oper Tristan und Isolde galt als unspielbar

Eine Handlung in drei Akten nannte Wagner sein Liebesdrama, in dem es um die inneren Seelenzustände zweier Verliebter geht, die zwischen glückseliger Verzückung und inneren Qualen hin und her gerissen werden.

Die Oper ist schon an sich keine leichte Kost. Sie galt zunächst als unspielbar. "Die Uraufführung war erst 1865 in München, sechs Jahre nach der Vollendung", erläutert Wagnerexperte und Leiter des Richard Wagner Museums in Bayreuth, Sven Friedrich im DW-Gespräch. Kompositorisch hat Wagner alle Grenzen der damaligen Tonalität und Harmonielehre gesprengt. "Es ist Musik, die einen packt und der man nicht entkommen kann", meint Dirigent Semyon Bychkov. "Wagner geht dabei an die Ränder der Tonalität, wobei die Musik aber immer tonal bleibt", sagt er im Interview mit den Festspielen.

Eine große Herausforderung für den Tenor ist der dritte Akt, wo Tristan nahezu im Alleingang fast vierzig Minuten über sein Leid, seine Qualen und die Sehnsucht nach Isolde singt. Es ist wohl der längste Opernpart, der je für einen Tenor geschrieben wurde.

Eine Geschichte von Liebe und Verrat

Die Vorgeschichte der Oper ist verzwickt: Zum einen, weil Ritter Tristan aus England den Verlobten der irischen Königstochter Isolde ermordet hat und sich die beiden trotzdem ineinander verliebt haben. Zum anderen, weil Tristan Isolde später seinem Onkel König Marke als Frau verspricht. Die Handlung der Oper beginnt, als Tristan Isolde auf dem Seeweg zu Marke bringen will. Die Zwangsheirat ist für Isolde ein Verrat an ihrer Liebe, der immer wieder zwischen den beiden steht.

In der Inszenierung von Thorleifur Örn Arnarsson sitzt Isolde auf dem Schiffsdeck in einem überwallenden weißen Hochzeitskleid, auf das sie fortwährend schreibt, was sie bewegt. Worte wie Nacht, Sehnen oder Treue. "Sie ist gefangen in ihrem Brautkleid, dieser brutale Schmerz ist unbegreiflich", sagte Arnarsson vor der Presse.

Tristan und Isolde gefesselt in ihren Rollen

Im zweiten Akt ist vom Schiff nur noch der Rumpf übrig - vollgestellt mit Dingen aus der Vergangenheit. Ein mit Liebe zum Detail ausgestattetes Bühnenbild von Vytautas Narbutas. "Es ist ein Raum der Erinnerungen und gleichzeitig ein Alptraum, den Tristan und Isolde durchlaufen", erläutert Arnarsson. Denn Tristan und Isolde werden hier mit ihrer Vergangenheit und symbolisch auch mit ihren Rollen konfrontiert. Sie - die unmündige Prinzessin, er - der tragische Held, auf der Suche nach Anerkennung.

Im dritten Akt ist das Schiffswrack in Einzelteile zerlegt und Tristan liegt wie im Delirium auf den zu einem Haufen zusammengekehrten Erinnerungsstücken. "Und dann zerfällt der Traum, denn der Verrat ist ja da und auf dem Scheiterhaufen der Hoffnungen liegt Tristan im Sterben", sagt Thorleifur Örn Arnarsson.

Am Ende suchen die beiden mit Hilfe eines Gifttranks die Erlösung von ihren Qualen im Tod. Dass König Marke derweil eingesehen hat, dass die beiden zueinander gehören, und darauf verzichten will, Isolde zu heiraten, bekommen die Liebenden nicht mehr mit.

Das Besondere an Wagners Lebenssituation

Wagner hat sich gerne der Mythen- und Sagenwelt anderer Kulturen bedient. Die Geschichte von Tristan ("der Traurige") und Isolde basiert auf einer keltischen Sage. Bis an sein Lebensende war der Komponist auch von Indien und dem Buddhismus begeistert. Das Mitgefühl und die Erlösung im Nirwana sind im Buddhismus zentrale Punkte, die auch die Komposition von Tristan und Isolde beeinflusst haben.

Zu jener Zeit hatte Wagner ein Verhältnis mit Mathilde Wesendonck, der Frau seines Gönners Otto Wesendonck. Wagner und Mathilde waren beide verheiratet, auch das eine "verbotene Liebe".

Zum Buddhismus kam Wagner über Schopenhauers Philosophie. "Das Leben ist Leiden, weil es von einem Willen beherrscht wird, einer Triebkraft entspringt, die den Menschen gefangen hält", erläutert Sven Friedrich. Überwinden könne man diesen Willen und diese Triebkraft, zu der auch der Sexualtrieb gehört, nur durch Askese und Entsagung, um dann ins Nirwana zu gelangen. In jenen Zustand des Buddhismus, in dem es kein Leid mehr gibt.

Wagner hat das für sich etwas abgewandelt. Für ihn wird der Wille nicht nur durch Entsagung, sondern auch durch die Kraft der Liebe überwunden, eine Liebe, die bis in den Tod geht.

Frauen geben in dieser Saison den Ton an

Bei Wagneropern spielt das Thema der Erlösung generell eine große Rolle. Sei es durch den Tod, die Liebe einer Frau oder einen Helden. So ein Held ist "Parsifal". In der Inszenierung von Jay Scheib, die im vergangenen Jahr Premiere hatte, ging es dabei auch um Themen wie Klimakatastrophe, Krieg und die Digitale Welt. Zuschauer können mit Augmented Reality Brillen auch in dieser Saison wieder in eine Parallelwelt eintauchen.

War die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv vor vier Jahren noch die erste Frau, die je bei den Richard Wagner Festspielen am Dirigentenpult gestanden hat, so sind es in diesem Jahr bereits drei Dirigentinnen in Bayreuth vertreten und damit in der Überzahl.

Oksana Lyniv dirigiert wieder Wagners Fliegenden Holländer. Die französische Dirigentin Nathalie Stutzmann dirigiert wie schon im vergangenen Jahr die vielgelobte "Tannhäuser"-Inszenierung von Tobias Kratzer. Und die australische Dirigentin Simone Young hat die Mammutaufgabe, den "Ring des Nibelungen", inszeniert von dem Österreichers Valentin Schwarz, musikalisch zu leiten.

Ein Ausblick auf das große Jubiläum

2025 ist eine Neuinszenierung der "Meistersinger von Nürnberg" vorgesehen. Wagnerfans fiebern bereits dem 150-jährigen Jubiläum der Festspiele 2026 entgegen, denn da werden alle 10 Wagner-Opern aus dem immer wiederkehrenden Festspiel-Kanon aufgeführt. Außerdem soll – obwohl Wagner auch das seinerzeit untersagt hat – erstmals seine frühe Oper "Rienzi" im Festspielhaus szenisch dargeboten werden.

Item URL https://www.dw.com/de/bayreuther-festspiele-die-sehnsucht-nach-erlösung/a-69774596?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/69770328_302.jpg
Image caption Sopranistin Camilla Nylund beindruckte das Publikum zum Auftakt der Bayreuther Festspiele
Image source Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele
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Item 5
Id 69744792
Date 2024-07-26
Title Krieg in Gaza: Eine alternative Friedensstimme aus Israel
Short title Krieg in Gaza: Eine alternative Friedensstimme aus Israel
Teaser Weder "Pro-Israel" noch "Pro-Palästina": Mit einem Podcast suchen zwei junge Aktivisten, die sich als palästinensische Israelis verstehen, einen Weg aus Gewalt und Polarisierung - und fordern Anerkennung ihrer Identität.
Short teaser Amira Mohammed und Ibrahim Abu Ahmad wollen mittels eines Podcasts mögliche Wege aus Gewalt und Polarisierung aufzeigen.
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Maoz Inons Eltern waren unter den ersten Opfern der Angriffe der Hamas auf Israel am Morgen des 7. Oktober. Trotz des Schmerzes war ihm zwei Tage nach der Tragödie klar: Er will keine Rache.

"Rache wird meine Eltern nicht zurückbringen. Sie wird auch andere getötete Israelis und Palästinenser nicht zurückbringen", wird er wenig später dazu schreiben.

In derselben Nacht hatte der israelische Unternehmer und Friedensaktivist einen Traum. Er sah blutgetränkte Straßen und weinte. "Ich habe nicht allein geweint, sondern mit allen, die von diesem Krieg verwundet sind. Unsere Tränen haben das Blut von den Straßen gewaschen."

So schildert er es im Podcast "Unapologetic: The Third Narrative". Was Maoz sah, war für ihn kein Albtraum, sondern die Vision einer besseren Zukunft, ohne Blutvergießen.

"Hoffnung ist etwas, das man tut"

Auch Hamze Awawde träumt. Der palästinensische Autor und Friedensaktivist erzählt in demselben Podcast, wie er im Traum Bilder von israelischen Soldaten sieht. Sie kommen, um ihn und seine Familie zu töten, so wie sie seinen Cousin getötet hätten.

Hamze ist Friedensaktivist geworden, weil für ihn Hoffnung kein Gefühl ist, sondern etwas, was man tut, sagt er. "Auf zwei Staaten zu warten, fühlt sich so an, wie auf den Messias zu warten", schreibt er in einem seiner jüngsten Essays.

Jenseits von Feindbildern

Was Hamze und Maoz gemeinsam haben, ist ihre Hoffnung auf ein Ende des Kriegs. Deshalb sind sie Gäste in dem Podcast. Das Format wurde noch im Oktober 2023 gegründet, unmittelbar nach den Angriffen der Hamas, die von den USA, der EU und anderen als Terrororganisation eingestuft wird.

Die beiden Gründer, Amira Mohammed und Ibrahim Abu Ahmad, gehören zu den Arabern in Israel, die eine israelische Staatsangehörigkeit besitzen. Das sind laut der israelischen Statistikbehörde etwa 17 Prozent. Insgesamt sind gut 21 Prozent der Bevölkerung auf israelischem Staatsgebiet Araber.

Amira und Ibrahim definieren sich – so wie laut Umfragen der Großteil ihrer Community – als palästinensische Israelis. Eine Identität, für die sie politisch kämpfen müssen, denn der israelische Staat lehnt eine palästinensische Identität bei Staatsbürgern ab und versteht sie als "arabische Israelis".

Amira ist überzeugt, dass Bürger wie sie genau wegen ihrer Identität eine Schlüsselrolle im Nahost-Konflikt spielen könnten – und sollten. "Wir werden uns nicht einigen", sagt Amira im DW-Gespräch. "Egal, ob es darum geht, was genau am 7. Oktober passiert ist, ob wir es einen Krieg oder einen Genozid nennen, oder wie viele Menschen in Gaza gestorben sind. Aber wir müssen uns auf eine Zukunft einigen."

Gegen Schwarz-Weiß-Denken

Eine Zukunft sehen Amira und Ibrahim jenseits von Polarisierung. "Was wir mit diesem Podcast erreichen wollen, ist ein drittes Narrativ im Westen", erklärt Ibrahim.

Deshalb wenden sich die beiden auch in erster Linie an ein westliches Publikum. "Im Westen gibt es oft ein Schwarz-Weiß-Denken. Man ist entweder pro-palästinensisch oder pro-israelisch", sagt er in der ersten Folge.

"Anstatt wie in einem Fußballspiel für Messi oder Ronaldo zu jubeln, sollten Menschen im Westen ihre Plattformen dafür nutzen, alle Parteien gleichermaßen zu kritisieren", meint Amira. Der Erfolg gibt ihnen Recht: Bis zu 180.000 Menschen hören jede Episode des Podcasts, fast 30.000 folgen auf Instagram.

"Zu israelisch" oder "schlechte Araberin"?

Trotz allem Erfolg kämpfen die beiden Aktivisten täglich mit Rückschlägen. Es komme Widerstand von allen Seiten, berichtet Amira. Spricht sie in der Öffentlichkeit Arabisch, schauen Israelis sie verängstigt an. Spricht sie Hebräisch ohne arabischen Akzent, trauen viele Palästinenser ihr nicht, erzählt sie.

"Wir werden von allen Seiten delegitimiert. Wenn ich ‘zu israelisch' bin, stelle ich mich auf die Seite des Unterdrückers. Wenn ich eine ‘zu stolze Palästinenserin bin', legitimiere ich Terror oder werde als ‘schlechte Araberin' hingestellt", so Amira.

Sie ist überzeugt, dass die duale Identität von ihr und vielen anderen ein ungenutztes Potenzial in diesem Konflikt sei: "Wir kennen beide Kulturen und fühlen den Schmerz beider Seiten. Aber solange wir nicht als palästinensische Israelis anerkannt werden, können wir unserer Rolle als Vermittler auch nicht gerecht werden. Wir sind eine Minderheit, aber wir wollen als das repräsentiert werden, was wir sind", sagt Amira.

Zwiespältige Gefühle

Am 7. Oktober spürte sie ihre eigene duale Identität besonders stark. "Es war ein Desaster. Ich wusste nicht, was ich fühlen soll", erinnert sie sich. Während Amira in einem Treppenhaus im Süden Israels, unweit von Gaza, Schutz vor den Bomben suchte, klebte sie an ihrem Handy und konsumierte die Bilder der Geschehnisse in Echtzeit.

Sie sah, wie Palästinenser den Grenzzaun durchbrachen, der sie seit dreißig Jahren auf 365 Quadratkilometern in Gaza abriegelt. Eine Fläche, nicht mal halb so groß wie Hamburg, mit über zwei Millionen Menschen. "Zu sehen, wie die Menschen aus Gaza herauskönnen, hat mich auch ein bisschen erleichtert. Sie verdienen es, frei zu sein", sagt Amira. Doch die Menschen, die den Zaun durchbrachen, suchten nicht die Freiheit – sie ermordeten mindestens 1200 Menschen, setzten Häuser in Brand, vergewaltigten Frauen und nahmen hunderte Geiseln mit nach Gaza.

Immer noch im Treppenhaus, sah Amira die Bilder von Leichen junger Frauen und Geiseln, die auf Pickup-Trucks in den Gazastreifen verschleppt wurden, während sie spürte, wie das Gebäude um sie herum bebte. Bombe um Bombe.

"Das hätte genauso gut ich gewesen sein können. Für mich war das der Moment, in dem ich meine israelische Seite gefühlt habe", erinnert sie sich.

"Wir alle haben Besseres verdient"

Mehr als neun Monate nach dem Überfall der Hamas auf Israel geht der Krieg weiter. Die Bilanz ist blutig: Mehr als 39.000 Menschen sind laut UN-Angaben bei israelischen Angriffen im Gazastreifen getötet worden, 120 israelische und weitere Geiseln befinden sich immer noch in Hamas-Gefangenschaft. Frieden scheint nicht in Sicht.

Die beiden Podcaster machen dennoch weiter. Sie wollen sich mit Palästinensern und Israelis solidarisieren - und beide kritisieren dürfen, ohne sich rechtfertigen zu müssen, sagt Amira. "Wir wollen das Blutvergießen und den Krieg stoppen. Palästinenser, Israelis, Christen, Juden, Muslime – wir alle haben etwas Besseres verdient."

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Image caption Ibrahim Abu Ahmad und Amira Mohammed setzen sich für Frieden und einen Diskurs jenseits von Polarisierung im Nahostkonflikt ein
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Item 6
Id 69767564
Date 2024-07-26
Title Ungarn droht der Ukraine im Streit um Öl
Short title Ungarn droht der Ukraine im Streit um Öl
Teaser Der amtierende EU-Ratspräsident, Ungarns Premier Viktor Orban, streitet sich mit der Ukraine und ruft dabei die Europäische Union zu Hilfe. Es geht um ukrainische Sanktionen gegen russisches Öl. Was steckt dahinter?
Short teaser Der amtierende EU-Ratspräsident, Ungarns Premier Orban, erhebt heftige Vorwürfe gegen die Ukraine. Was steckt dahinter?
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Ungarn und die Slowakei beschweren sich bei der EU-Kommission in Brüssel über die Ukraine. Die Kommission solle bitte einen Streit mit dem Land über die Lieferung von russischem Erdöl beilegen, so die ungarisch-slowakische Forderung.

Ausgerechnet der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban, derzeit amtierender EU-Ratspräsident, der mit seiner selbsterklärten "Friedensmission" im russischen Krieg gegen die Ukraine für Unmut in der EU gesorgt hat, möchte also, dass die Union ihm jetzt hilft? Das hat in Brüssel bei der EU-Kommission für einige Verwunderung und recht kühle Reaktionen gesorgt.

Die Kommission, von Orban gern als Haufen inkompetenter, machthungriger Brüsseler Bürokraten beschimpft, prüft den Vorgang ohne große Eile und weist jegliche Ulitmaten aus Budapest zurück.

Was ist der Kern des Streits mit der Ukraine?

Die Ukraine verhindert seit Juni, dass die russische Ölgesellschaft Lukoil Erdöl durch die Druschba-Pipeline nach Ungarn und in die Slowakei pumpt. Die Pipeline mit dem schönen Namen "Freundschaft" stammt noch aus sowjetischen Zeiten und verläuft durch die Ukraine. Trotz des seit zweieinhalb Jahren tobenden russischen Angriffskrieges gegen das Land können staatliche russische Energieunternehmen weiter Öl und Erdgas durch Leitungen in der Ukraine schicken. Die Ukraine, seit rund einem Monat EU-Beitrittskandidat, begründet ihre neue Sanktion gegen Lukoil damit, dass mit den Einnahmen die russische Kriegsindustrie finanziert werde.

Über diese Sanktionen haben sich nun Ungarn und die Slowakei nun schriftlich bei der EU-Kommission beschwert. Der Vorgang verletze das Assoziationsabkommen mit der EU, so der ungarische Außenminister Peter Szijjarto. Die Kommission müsse daher gegen die Ukraine vorgehen.

Was sagt die EU-Kommission?

Der zuständige Sprecher der EU-Kommission in Brüssel, Olof Gill, teilte mit, dass man erst einmal mehr Fakten brauche, um die Lage zu beurteilen. Die zuständigen EU-Beamten hätten daher Ungarn und die Slowakei aufgefordert, zusätzliche Unterlagen einzureichen. Ob die Ukraine tatsächlich gegen das Assoziierungsabkommen, eine Art Freihandelsabkommen aus dem Jahr 2014, verstößt, entscheide die EU-Kommission - "und niemand sonst", betonte Gill.

Ungarn hatte gedroht, die Ukraine zu verklagen, sollte die Kommission nicht innerhalb von drei Tagen handeln. Aus der Kommission heißt es dazu, dass es noch keinen "Fall" gebe, es sei daher auch kein Gericht anzurufen.

Dass Ungarn nun ausgerechnet vor den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg ziehen könnte, stößt in der EU-Zentrale in Brüssel auf Erstaunen. Im Juni erst hatte Ministerpräsident Orban das höchste Gericht der EU als inkompetent bezeichnet und angekündigt, dessen Urteil nicht respektieren zu wollen. Dabei ging es um eine Strafe gegen Ungarn wegen unzureichender Asylverfahren.

Wieso bekommen Ungarn und andere EU-Mitglieder Öl aus Russland?

Seit Dezember 2022 ist in der EU ein allgemeines Importverbot für russisches Erdöl und seit Februar 2023 auch für Ölprodukte in Kraft. Es gilt sowohl für Pipelines als auch für Öl, das per Schiff angeliefert wird. Aber Ungarn, die Slowakei und Tschechien haben bei diesen Sanktionen vorläufige Ausnahmen vereinbart. Sie beziehen weiter einen großen Teil ihres Importöls aus Russland, weil sie wegen fehlender Infrastruktur keine anderen Lieferwege finden konnten.

"Um Öl bei anderen Quellen kaufen zu können, braucht man Leitungen. Wenn die nicht da sind und niemand uns hilft, sie zu bauen, können wir die Unabhängigkeit nicht genießen, die wir durch Diversifizierung hätten", sagte Ungarns Außenminister Szijjarto am Mittwoch in Budapest.

Aus der EU-Kommission in Brüssel hieß es dazu von EU-Beamten, Ungarn habe in den letzten zweieinhalb Jahren keine großen Anstrengungen unternommen, um sich von russischen Energielieferungen abzunabeln. Budapest könnte beispielsweise versuchen, mehr Lieferungen aus Kroatien zu erhalten oder mit anderen russischen Anbietern außer Lukoil zu verhandeln.

Bulgarien importierte bis März dieses Jahres per Schiff ebenfalls Öl aus Russland, um eine große Raffinerie zu betreiben. Auch diese Ausnahme wird von den übrigen EU-Staaten geduldet.

Droht Ungarn oder der Slowakei jetzt eine Öl-Krise?

Die staatliche ukrainische Energiefirma Naftogaz bestreitet eine ernsthafte Versorgungskrise. Die mit Sanktionen belegte Lukoil ist nicht die einzige russische Ölfirma, die die Pipeline befüllt. "Der Durchfluss im Juli ist ganz normal verglichen mit den Volumina der Vormonate, auch ohne Lukoil-Öl in der Leitung", sagte der Chef von Naftogaz, Oleksiy Chernysov, in Kiew. "Wir glauben nicht, dass es das Risiko einer Unterversorgung in Europa gibt. Es geht hier mehr um Politik."

Der ungarische Regierungssprecher Zoltan Kovacs führt dagegen an, dass "die Entscheidung der Ukraine die Ölversorgung zweier Mitgliedsstaaten fundamental einschränkt". Der slowakische Außenminister Juraj Blanar sagte, die Sanktionen der EU würden die Slowakei mehr schädigen als Russland. Sein Land wolle kein "politisches Werkzeug" in Händen der Ukraine sein.

Einige Experten kalkulieren, dass die Preise für Heizöl oder Benzin in beiden Ländern ansteigen könnten, falls der Streit andauert. Die Generaldirektion für Energie in der EU-Kommission weist darauf hin, dass Ungarn über eine strategische Ölreserve für 90 Tage verfüge, die angezapft werden könne, um Versorgungsengpässe zu vermeiden.

Die EU prüft, Ungarn droht der Ukraine - wie geht es weiter?

Wie lange die EU-Kommission brauchen wird, um den Fall zu prüfen, wollte ihr Sprecher nicht sagen. Ungarn hat damit gedroht, Zahlungen für Militärhilfen an die Ukraine aus einem gemeinsamen EU-Fonds weiter zu verhindern. Die ungarische Regierung blockiert seit mehr als einem Jahr die Auszahlung von sechs Milliarden Euro, mit denen Waffenlieferungen aus EU-Staaten in die Ukraine kompensiert werden. Diese Blockade ist also nicht neu.

Die jüngste ungarische Drohung allerdings, keinen Strom mehr durch das ungarische Leitungsnetz in die Ukraine zu liefern, könnte ein ernstes Problem für Kiew werden. Nach Einschätzung des Hohen Beauftragten der EU für Außenpolitik, Josep Borrell, sind 70 Prozent der Kraftwerke in der Ukraine durch russischen Beschuss zerstört.

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Image caption Russisches Öl wird durch die Druschba-Pipeline bis nach Budapest gepumpt
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Item 7
Id 69764460
Date 2024-07-26
Title Indien: Lösungen für wachsende Beschäftigungskrise gesucht
Short title Indien: Lösungen für wachsende Beschäftigungskrise gesucht
Teaser Die indische Wirtschaft wächst zwar, doch vor allem junge Arbeitskräfte bleiben bei der Jobsuche oft erfolglos. Mit einem neuen Haushaltsplan will die Regierung das Problem nun angehen.
Short teaser Die indische Wirtschaft wächst zwar, doch vor allem junge Arbeitskräfte bleiben bei der Jobsuche oft erfolglos.
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Indiens junge Arbeitskräfte haben zunehmend Schwierigkeiten, eine Beschäftigung zu finden. Innenpolitisch dürfte die dritte Amtszeit Narendra Modis nicht zuletzt deswegen vor der enormen Herausforderung stehen, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Denn über 40 Prozent der rund 1,4 Milliarden Einwohner sind jünger als 25 Jahre.

Die politischen Auswirkungen des angespannten Arbeitsmarktes bekamen Modi und seine Bharatiya Janata Party (BJP) bereits bei den jüngsten indischen Parlamentswahlen zu spüren: Die Arbeitslosigkeit war ein wesentlicher Grund dafür, dass das Ergebnis für den Premier und seine Partei hinter den Erwartungen zurückblieb und die BJP die absolute Mehrheit verlor.

In dieser Woche stellte die indische Regierung ihren Haushalt für das Jahr 2024 vor. Dieser umfasst auch 24 Milliarden Dollar, mit denen in den nächsten fünf Jahren die Schaffung neue Arbeitsplätze gefördert werden soll.

"In diesem Haushalt konzentrieren wir uns besonders auf Beschäftigung, Qualifizierung, kleine Unternehmen und die Mittelschicht", sagte Finanzministerin Nirmala Sitharaman. Die Regierung werde ein Programm auflegen, das zehn Millionen jungen Menschen über einen Zeitraum von fünf Jahren Praktikumsmöglichkeiten in 500 Top-Unternehmen bieten solle, kündigte Sitharaman an.

Die Opposition reagierte verhalten. "Nach zehn Jahren des Leugnens scheint die Unionsregierung endlich stillschweigend zuzugeben, dass die Massenarbeitslosigkeit eine nationale Krise ist und dringend Aufmerksamkeit erfordert", schrieb Jairam Ramesh von der Kongresspartei in einem Tweet. "Es ist viel zu spät, und wie sich herausstellt, viel zu wenig - die Haushaltsrede ist mehr auf Symbolik als auf konkrete Taten ausgerichtet", so Ramesh weiter.

Shrijay Sheth, Gründer des Beratungsunternehmens LegalWiz, erwartet hingegen größere Anreize für Unternehmen. Im DW-Interview sagte er: "Aufgrund von Kostenvorteilen und des Zugangs zu einer großen Zahl junger Arbeitskräfte könnten sich Firmen für Indien entscheiden - auch, weil sie damit einen bevorzugten Zugang zu den indischen Märkten erhalten." So etwa strebe Hyundai an, in Indien an die Börse zu gehen, während Tesla Gespräche über die Einrichtung einer Fertigungsanlage in Indien führe. "Das sind Beispiele für das, was möglich ist", so Sheth.

Wachsende Jobkrise

Wie dramatisch die Lage derzeit ist, zeigte sich vor wenigen Tagen: In der vergangenen Woche wurde in Mumbai eine Jobbörse der Air India Airport Services abgesagt. Der Grund: ein übergroßer Ansturm von Interessenten. Auf 2220 Wartungsjobs hatten sich 25.000 Arbeitssuchende beworben.

Im Februar meldeten sich fast 4,7 Millionen Bewerber zu einer Prüfung für den Polizeidienst im nördlichen Bundesstaat Uttar Pradesh an. 60.000 Stellen sollten vergeben werden. Solche Beispiele weisen auf die wachsende Arbeitslosigkeit in Indien hin.

"Sämtliche Berichte und Daten deuten darauf hin, dass junge Menschen enorm mit der Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben", sagt der Wirtschaftswissenschaftler Arun Kumar. "Die Regierung und alle ihre Behörden leugnen aber die Arbeitslosigkeit."

Der unabhängigen Denkfabrik Centre for Monitoring Indian Economy zufolge lag die Arbeitslosenquote in Indien im Juni bei 9,2 Prozent - ein starker Anstieg gegenüber den 7 Prozent noch im Mai dieses Jahres.

"All dies steht im Widerspruch zu der offiziellen Darstellung der Regierung, dass massiv Arbeitsplätze geschaffen würden. Warum spricht man das Problem nicht offen an und handelt, damit die wachsende Frustration der Jugend nicht überkocht?", so die Frage von Kumar.

Wirtschaftswachstum ohne zusätzliche Arbeitsplätze

Die indische Regierung prognostiziert für das Finanzjahr 2024 eine BIP-Wachstumsrate zwischen 6,5 und 7 Prozent. Im Vorjahr war bereits ein Wachstum von 8,2 Prozent verzeichnet worden.

Trotz dieser eindrucksvollen Zahlen hat Indien Schwierigkeiten, genügend Arbeitsplätze für die Millionen junger Menschen zu schaffen, die jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt drängen.

"Die Nachfrage nach Arbeitsplätzen lässt sich nur decken, wenn mehrere Faktoren zusammenkommen", so Santosh Mehrotra, derzeit Gastprofessor am Centre for Development Studies an der Universität Bath in England. So müsse die Bautätigkeit in ihrem derzeitigen Tempo weitergehen. "In den nächsten ein bis zwei Jahren braucht es zudem allerdings Investitionen des öffentlichen Sektors, da die privaten Investitionen nur schleppend vorankommen."

Nach Angaben der Weltbank entfallen auf das verarbeitende Gewerbe in Indien 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In China macht das verarbeitende Gewerbe mehr als ein Viertel des BIP aus.

Die arbeitsintensive verarbeitende Industrie in kleinen und mittleren Unternehmen benötige eine nachhaltige Unterstützung durch Entwicklungs- und Ausbildungsprogramme, sagt Mehrotra. "Ein Recht auf einen Ausbildungsplatz ist unerlässlich."

Es brauche insbesondere Ausbildungsprogramme, bekräftig auch die Ökonomin Lekha Chakraborty vom National Institute of Public Finance and Policy in Neu-Delhi. "Der Arbeitsmarkt ist dynamisch. Wenn wir die Jugend nicht mit den erforderlichen Fähigkeiten ausstatten, lassen sich die Probleme der Arbeitslosigkeit nicht lösen." Es komme darauf an, die Lücke zwischen formaler Bildung und den spezifischen Ausbildungsanforderungen in Landwirtschaft, Industrie und im Dienstleistungssektor zu schließen.

Formalisierung der Wirtschaft

In Indiens informellem Sektor, in dem die überwiegende Mehrheit der Arbeitsplätze angesiedelt ist, fielen in den vergangenen Jahren rund 16 Millionen Arbeitsplätze weg. Allein zwischen 2016 und 2023 wurden 6,3 Millionen Unternehmen des informellen Sektors geschlossen, wie aus einem Bericht der Ratingagentur India Ratings hervorgeht.

Zur informellen Wirtschaft gehören Unternehmen ohne eigene Rechtspersönlichkeit, die sich im Besitz privater Haushalte befinden. Ebenso zählen zu ihr auch Arbeitsplätze, die nicht offiziell besteuert oder überwacht werden. In diesen Sektor fallen etwa Hausangestellte, Straßenverkäufer und Tagelöhner.

"Dieser Zeitraum fiel mit der zunehmenden Formalisierung der Wirtschaft zusammen, die zu robusten Steuereinnahmen geführt hat. Zwar ist die Formalisierung der Wirtschaft der Weg in die Zukunft. Doch der Rückgang des informellen Sektors hat enorme Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt ", sagt Sunil Kumar Sinha, Chefökonom von India Ratings.

Der Regierungshaushalt sehe Programme für Beschäftigungsanreize vor, erklärte Finanzministerin Sitharaman. So soll Berufsanfängern in formellen Sektoren ein zusätzlicher Monatslohn gewährt werden.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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Image caption Herausforderung für die Modi-Regierung: Wachsende Arbeitslosigkeit, vor allem unter jungen Leuten
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Item 8
Id 69767463
Date 2024-07-26
Title Ukraine: Russland verfolgt Priester in besetzten Gebieten
Short title Ukraine: Russland verfolgt Priester in besetzten Gebieten
Teaser Zu den Opfern der russischen Invasion in die Ukraine gehören auch Geistliche. Sie werden laut Menschenrechtsorganisationen verfolgt und inhaftiert, manche auch getötet. Was freigelassene Priester berichten.
Short teaser Laut Menschenrechtsgruppen werden ukrainische Geistliche drangsaliert, inhaftiert und manche auch getötet.
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Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sind 20 Geistliche in den von Russland besetzten ukrainischen Gebieten verschwunden, wie die "Menschenrechtsgruppe Charkiw" berichtet. Sie dokumentiert Kriegsverbrechen, darunter auch die Verfolgung von Geistlichen. Sechs Priester seien inzwischen aus russischer Gefangenschaft entlassen worden. "Alle wurden gefoltert, man verlangte von ihnen das Geständnis, dass sie für den Sicherheitsdienst der Ukraine arbeiten", sagt Jewhen Sacharow, Leiter der Menschenrechtsgruppe, im Gespräch mit der DW.

Russland verfolgt demnach Vertreter verschiedener Kirchen in den besetzten Gebieten der Ukraine. Meist sind es Priester der Orthodoxen Kirche der Ukraine. Sie ist die eigenständige orthodoxe Landeskirche der Ukraine, gegründet aus zwei Kirchen, die sich bereits Anfang der 1990er-Jahre vom Moskauer Patriarchat losgelöst hatten.

Verfolgt von den russischen Besatzern werden aber auch pro-ukrainisch eingestellte Priester, die der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats angehören. Teile dieser Kirche, nicht aber ihre Führung, haben sich inzwischen vom Moskauer Patriarchen Kyrill I. distanziert, der von einem "heiligen Krieg aller Russen" gegen die Ukraine und den "satanischen" Westen spricht.

Verfolgt werden laut Sacharow zudem Geistliche der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. Sie sieht den Papst als geistiges Oberhaupt an. Es seien auch Fälle der Verfolgung von Protestanten und Muslimen bekannt.

Ukrainische Priester in russischer Gefangenschaft

Unter denjenigen, die aus der Gefangenschaft entlassen wurden, ist Wasyl Wyrosub. Der Priester gehört zur Orthodoxen Kirche der Ukraine und ist Vorsteher der Pfarrei der Heiligen Dreifaltigkeit in Odessa. Er wurde im Februar 2022 an Bord des zivilen Rettungsschiffs "Sapphire" festgenommen. Dessen Mission: Die zivilen Leuchtturmwärter auf der kleinen Schlangeninsel im Schwarzen Meer in Sicherheit zu bringen und die Leichen getöteter ukrainischer Grenzsoldaten zu bergen.

Die Russen durchsuchten das Schiff und verhörten die Besatzung, berichtet Wyrosub der DW. "Sie haben uns geschlagen und gefoltert, einfach weil sie Spaß daran hatten. Ich habe erlebt, wie Männern die Genitalien abgeschnitten oder die Köpfe abgehackt wurden. Es war die Hölle auf Erden."

Der Geistliche wurde im Rahmen eines Gefangenenaustauschs Anfang Mai 2022 freigelassen. Er sei während der Verhöre immer wieder gefragt worden, in welcher Abteilung des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU) er arbeite. Er habe beteuert, dass er in keiner Verbindung zum ukrainischen Geheimdienst stehe, so der Priester.

Ein weiterer Priester der Orthodoxen Kirche der Ukraine aus dem besetzten Teil der Region Cherson, der nicht namentlich genannt werden möchte, berichtet der DW, er habe acht Durchsuchungen erlebt. Ihm sei verboten worden, Gottesdienste zu feiern und er sei eine Woche lang in einer Folterkammer eingesperrt worden. "Sie kamen sie mit Minensuchgeräten und suchten bei mir nach Waffen und Sprengstoff. Bei den Verhören forderten sie, ich solle zum Moskauer Patriarchat wechseln, was ich immer kategorisch ablehnte", erzählt der Priester.

Zwei Priester der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, Iwan Lewyzkyj und Bohdan Heleta, waren laut der "Menschenrechtsgruppe Charkiw" mehr als eineinhalb Jahre in russischer Gefangenschaft, weil angeblich Waffen auf den Kirchengeländen gefunden wurden.

Berichte von Morden an ukrainischen Geistlichen

Ferner sind vier Fälle vorsätzlicher Tötung von Priestern der Orthodoxen Kirche der Ukraine in den besetzten Gebieten bekannt. Von einem Fall berichtet die norwegische Menschenrechtsorganisation "Forum 18". Ihren Informationen nach nahmen russische Militärs im Februar dieses Jahres den Priester Stepan Podoltschak im Dorf Kalantschak im besetzten Teil der Region Cherson fest. "Er wurde barfuß mit einem Sack über dem Kopf weggebracht, angeblich zu einem Verhör. Sein geschundener Körper, wahrscheinlich mit einer Schusswunde im Kopf, wurde am 15. Februar auf der Straße des Dorfes gefunden", schreibt "Forum 18" in einem Bericht.

Rund 400 zerstörte Kirchen in der Ukraine

Derzeit hielten ukrainische Kirchen in den besetzten Gebieten keine Gottesdienste ab, sagt Jewhen Sacharow, weil ihnen dafür die Räumlichkeiten fehlten. Die russischen Besatzer würden die Kirchengebäude entweder Priestern überlassen, die dem Moskauer Patriarchat gegenüber loyal seien oder würden sie für eigene Zwecke nutzen. Rund 400 zerstörte Kirchen hat die Menschenrechtsgruppe inzwischen dokumentiert.

Auch ukrainische Gläubige im Visier russischer Besatzer

Schon der Besuch von Kirchen in den besetzten Gebieten ist gefährlich. "Forum 18" berichtet von einer Protestantin, die Anfang dieses Jahres von den Besatzungsbehörden in der Region Saporischschja verhaftet wurde. Sie sei wegen Aussagen angeklagt worden, die sie angeblich im Juli 2023 bei einem Gebetstreffen in der besetzten Stadt Melitopol gemacht haben soll. Der Vorwurf: "Öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Angaben über den Einsatz der Streitkräfte der Russischen Föderation".

Darüber hinaus sind laut Sacharow auch muslimische Geistliche im Visier der Besatzungsbehörden. "Die Moscheegemeinden, die sich weigern, sich den von Russland kontrollierten islamischen Strukturen anzuschließen, werden unterdrückt", erzählt der Menschenrechtler.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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Image caption Eine durch russischen Beschuss beschädigte Kirche im Gebiet Donezk
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Item 9
Id 69757181
Date 2024-07-25
Title Nigers Junta: Ein Jahr planlos gegen Islamisten
Short title Nigers Junta: Ein Jahr planlos gegen Islamisten
Teaser Mit dem Putsch vor einem Jahr wollte Nigers Militärregierung die Sicherheit im Land wiederherstellen. Doch die Bedrohung durch Islamisten ist ungebrochen. Und ganz neue Herausforderungen sind hinzugekommen.
Short teaser Nigers Militärjunta wollte die Sicherheit wiederherstellen. Doch die Bedrohung durch Islamisten ist ungebrochen.
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Einen Tag lang herrschte große Verwirrung in Nigers Hauptstadt Niamey. Der amtierende Präsident Mohamed Bazoum in der Gewalt von Militärs, die Straßen zu seiner Residenz verriegelt - aber es werde verhandelt, hieß es. In den späten Abendstunden des 26. Juli 2023 gab es dann Gewissheit: "Wir, die Kräfte der Verteidigung und Sicherheit, vereint im Nationalen Rat zur Rettung des Vaterlandes, haben entschieden, dem Regime, das ihr kennt, ein Ende zu setzen", verkündete Oberst-Major Amadou Abdramane im nationalen Fernsehen. Als Grund nannte er die Verschlechterung der Sicherheitslage und eine schlechte Regierungsführung. Präsident Bazoum war nach zweieinhalb Jahren gestürzt.

Erst gab es Unklarheit, wer nun die Führung im Nationalrat CNSP innehatte, was zu Spekulationen um mögliche Rivalitäten führte. Erst zwei Tage später wurde der General Abdourahamane Tiani als Übergangspräsident gekürt. Ein Jahr später herrsche so etwas wie ein Gleichgewicht in der Junta, erklärt die Ornella Moderan, assoziierte Forscherin am niederländischen Institut für Internationale Beziehungen (Clingendael Institute), im Gespräch mit der DW. Interne Spannungen seien aber ein typisches Merkmal von Junta-Regierungen - und hätten bisweilen auch ihr Gutes: "In manchen Fällen ermöglichen sie ein gewisses Gleichgewicht. So wird vermieden, dass einzelne Juntavertreter sich zu sehr dem Größenwahn hingeben."

Was nach dem Putsch kam

Mit dem Putsch zog Niger gleich mit den Nachbarländern Mali und Burkina Faso, die bereits unter Militärregierungen standen. Für die internationale Gemeinschaft bedeutete das den Verlust eines weiteren Partners in der ohnehin fragilen Sahel-Region.

Es folgten weitere Debatten um den Verbleib von internationalen Truppen, meist aus dem globalen Norden, wie es sie schon in den Nachbarländern gegeben hatte - und teils erbitterte Auseinandersetzungen mit der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOWAS. Diese verhängte Sanktionen über die Putschisten - doch statt die Rückkehr zur Verfassungsmäßigkeit zu erwirken, musste der Staatenbund mit ansehen, wie die drei Sahel-Staaten der Reihe nach austraten und schließlich ihr eigenes Bündnis, die Allianz der Sahelstaaten AES, ins Leben riefen.

Waren die Putschisten erfolgreich?

Ein Jahr später gehen die Meinungen auseinander, was die Junta in Niamey tatsächlich erreicht hat. Fakt ist: Der islamistische Terrorismus stellt weiter eine große Bedrohung dar. Glaubt man dem nigrischen Sicherheitsanalysten Abdoul Moumouni Abass, so ist die Bilanz dennoch positiv. Ja, es gebe Bedrohungen, Soldaten würden überfallen, sagt Abdoulmoumouni der DW. "Aber wenn man bedenkt, dass die Feinde oft aus dem Hinterhalt agieren, zeigt das, dass ihre Stärke im offenen Kampf bezwungen ist. Ohne die Sanktionen wären die Ergebnisse im Anti-Terror-Kampf besser als in den vorangegangenen Jahren."

Ein Sicherheitsberater des ehemaligen Präsidenten Bazoum ist ganz anderer Meinung: Moussa Moumouni weist darauf hin, dass es viele Rückschläge gegeben habe. "In Bezug auf die Sicherheitslage hat sich die Situation verschlimmert. Seit dem 26. Juli 2023 haben wir mehr als 780 Sicherheitskräfte im Kampf verloren. In den zwei Jahren und vier Monaten unter Bazoum waren es 57 Sicherheitskräfte. Gott allein weiß, wie viele Menschen aus der Zivilbevölkerung getötet wurden."

Es fehlt an Strategien

Als Vertrauter des ehemaligen Präsidenten überrascht die Position Mounmounis nicht. Doch auch zahlreiche unabhängige Experten sehen die Bilanz der Militärregierung bedenklich. So Ornella Moderan, Forscherin beim Clingendael Institute für internationale Beziehungen in Den Haag.

Was es brauche, sei eine umfassende Strategie, sagt Moderan. "Niger hatte angefangen, so eine Strategie umzusetzen. Der Putsch hat dieser Strategie ein Ende bereitet, die neben dem militärischen Ansatz auch politische, entwicklungspolitische und wirtschaftliche Dimensionen hatte."

Niger stellt seine internationalen Beziehungen neu auf

"Die Beziehungen mit der ECOWAS sind sehr schlecht", sagt Ornella Moderan. Das gehe zurück auf die Zeit nach der Machtübernahme, als der Regionalblock nicht nur Sanktionen über das Land verhängte, sondern auch offen über eine militärische Intervention nachdachte. Tatsächlich hatte der Austritt aus der ECOWAS deutliche wirtschaftliche Folgen für das Binnenland - das zeigte sich zuletzt etwa, als das benachbarte Benin die Ausfuhr nigrischen Öls nach China blockierte.

Heute stütze sich das Land vor allem auf das Bündnis mit den beiden anderen abtrünnigen Sahel-Staaten Mali und Burkina Faso, führt Moderan aus. Im Rahmen dieses Bündnisses beobachtet sie eine "kollektive Dynamik" in Richtung Russland - die aber im Niger nicht ganz so stark ausgeprägt sei wie bei den Nachbarn. Auch eine private türkische Sicherheitsfirma mache zunehmend von sich reden. Alles in allem habe der Niger damit einen neuen, weniger traditionellen Kurs bei der Partnerwahl eingeschlagen - bei dem die Werte der ehemals wichtigen westlichen Partner in den Hintergrund rückten.

Übergang ohne Ende

Wie es weitergeht, darüber gibt es wenig Pläne. Gleich nach der Machtübernahme kündigte Abdourahamane Tiani eine Übergangszeit von drei Jahren an, um die Rückkehr zu einer demokratischen Regierung einzuleiten. Ein Jahr später ist davon keine Rede mehr. "Kein einziges Organ des Übergangs besitzt Macht. Es gibt nur den CNSP", sagt Expertin Moderan. "Das ist wirklich eine quasi-exklusive Militärverwaltung." Manche Gesprächspartner sagten der DW, sie hätten Angst, öffentlich über den Übergang zu reden.

Offen äußerte sich hingegen Maman Wada von Transparency International. "Die Frage nach den Wahlen stört die militärische Führung", sagt Wada der DW. "Sehr oft kommt es vor, dass diejenigen, die darüber reden, entführt oder gerichtlich verfolgt werden. Sie können nicht ungestraft über die Wahlen reden." Unterdessen ist der ehemalige Präsident Mohamed Bazoum weiter in Haft. Die Frage über seinen weiteren Verbleib, heißt es, sei ein weiterer Punkt, über den im Niger ein Jahr nach dem Putsch weiter Uneinigkeit bestehe.

Mitarbeit: Gazali Abdou (Niamey), Georges Ibrahim Tounkara

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Image caption In der Nachfolge der Nachbarn - doch die Zukunft bleibt offen: Nigers Juntaführer Abdourahamane Tiani (3.v.r., hinter den Amtskollegen aus Burkina Faso und Mali)
Image source Mahamadou Hamidou/REUTERS
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Item 10
Id 69768443
Date 2024-07-25
Title Migration in die USA: "Trump ist kein Panik-Faktor"
Short title Migration in die USA: "Trump ist kein Panik-Faktor"
Teaser Die Angst vor der Mauer ist weg. Feindliche Rhetorik gegenüber Latinos im US-Wahlkampf scheint Emigranten auf ihrem Weg in die USA nicht zu stoppen. Auch Ex-Präsident Trump konnte die Migration nicht aufhalten.
Short teaser In Lateinamerika ist es vielen Menschen egal, wer ins Weiße Haus einzieht. Auch Trump konnte Emigranten nicht stoppen.
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Wer hat Angst vor einem erneuten Einzug von Ex-Präsident Donald Trump ins Weiße Haus? Viele Menschen in Lateinamerika offenbar nicht. Auf die Migration hat der US-Wahlkampf offenbar geringen Einfluss.

"Es ist nicht zu 100 Prozent, aber weitestgehend egal, wer im Weißen Haus sitzt", meint Benjamin Schwab, Mexiko-Referent beim katholischen Hilfswerk Misereor, im DW-Gespräch. Die Organisation unterstützt in Mexiko mehrere lokale Partnerorganisationen, die Familien aus Lateinamerika auf der Flucht in sozialer und juristischer Hinsicht helfen.

Seine Erkenntnis: "Präsidentschaftskandidat Trump ist nicht der Panik-Faktor im Bezug auf Migration". Schließlich habe man bereits Erfahrungen mit Trump als US-Präsidenten gemacht. Trotz mehrfacher Ankündigungen sei die angekündigte Mauer an der Grenze zwischen den USA und Mexiko in der Regierungszeit von Trump von 2017 bis 2021 bekanntlich nicht fertig gebaut worden.

Zuwanderung in die USA auf Höchststand

"Auch Trump war es nicht möglich, die Grenze zu schließen", so Schwab. "Die Lektion, die wir gelernt haben, ist, dass es nicht möglich ist, die US-Grenze im Süden zu 100 Prozent dichtzumachen. Und dies, obwohl sie zu den am meisten militarisierten und mit am besten gesicherten Grenzen der Welt gehört."

Die jüngsten Zahlen sprechen für sich: Nach einer Erhebung des nichtstaatlichen US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center vom Juni lebten im Jahr 2022 rund 46 Millionen Zugewanderte in den USA. Dies entspricht einem Anteil von 13,8 Prozent der gesamten Bevölkerung.

Von den 46 Millionen Zugewanderten halten sich laut Pew Research 77 Prozent legal im Land auf. Die größte Gruppe unter den Zugewanderten stammt mit 10,6 Millionen Menschen aus dem US-Nachbarland Mexiko. Dies entspricht einem Anteil von 23 Prozent (siehe Grafik).

"Erschwerter Zugang zum US-Asylrecht"

Neueste Zahlen der US-Grenzbehörde U.S. Customs and Border Protection (CBP) zeigen, dass US-Präsident Joe Biden beim Thema Einwanderung zwar nicht verbal harsch, aber ebenfalls restriktiv vorgeht. Die jüngsten Sicherheitsmaßnahmen zur Grenzsicherung hätten im Juni zu einem Rückgang der Festnahmen bei illegalen Grenzübertritten um 29 Prozent gegenüber dem Vormonat geführt, heißt es im CBP-Bericht.

Mexiko-Expertin Indi-Carolina Kryg vom German Institute for Global and Area Studies (GIGA) bestätigt den harten Einwanderungskurs von US-Präsident Biden und Vize Kamala Harris. Es gebe eine hohe Zahl an Abschiebungen aus den USA und einen erschwerten Zugang zum Asylrecht.

"Es gibt eine Begrenzung der regulären Grenzübergänge zur Beantragung von Asyl pro Tag", erklärt sie. "Die Grenze soll für Asylsuchende geschlossen werden, wenn im Wochendurchschnitt 2500 unerlaubte Grenzübertritte pro Tag stattfinden."

Mexiko-Referent Benjamin Schwab betrachtet die restriktiven Maßnahmen als eine Botschaft der US-Demokraten im US-Wahlkampf, etwas gegen die steigende Zuwanderung ins Land zu unternehmen. Die sogenannten Pull-Faktoren, also die Gründe für die Migration in die USA, würden diese Maßnahmen aber nicht verändern.

Exodus aus Venezuela

Zu diesen "Pull-Faktoren" gehörten der Familiennachzug sowie Krisen in Venezuela oder Haiti. Auch Flüchtende aus asiatischen oder afrikanischen Ländern tauchten immer öfter in Mexiko auf, um von dort aus in die USA einzureisen.

Nach Angaben des jüngsten World Migration Report der Internationalen Organisation für Migration (IOM) stammten im Jahr 2022 zehn Prozent aller Menschen, die den sogenannten Darien Gap überquert haben, aus afrikanischen oder asiatischen Ländern. Beim "Darien Gap" handelt es sich um ein rund 100 Kilometer breites Dschungelgebiet im Grenzgebiet zwischen Panama und Kolumbien.

Allerdings findet laut IOM-Bericht die große Mehrheit der weltweit sieben Millionen Flüchtlinge aus Venezuela, nämlich sechs Millionen Menschen, Zuflucht in den lateinamerikanischen Nachbarländern Kolumbien, Peru, Chile, Brasilien und Ecuador - und nicht in den USA.

Mexiko-Experin Kryg geht davon aus, dass durch die Krisen in Lateinamerika die Migration in Richtung Norden weiterhin anhalten wird. "Solange Menschen vor Gewalt und Armut fliehen und nicht genügend legale Möglichkeiten existieren, um in die USA zu gelangen, sehe ich kein Ende dieser irregulären Grenzüberschreitungen".

Item URL https://www.dw.com/de/migration-in-die-usa-trump-ist-kein-panik-faktor/a-69768443?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Hoch, höher, Grenzzaun: Sechs Meter misst die Absperrung zwischen Ciudad Juarez in Mexiko und dem US-amerikanischen El Paso in Texas
Image source Justin Hamel/REUTERS
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Item 11
Id 69764356
Date 2024-07-25
Title Orban bringt Ungarns Museen unter Kontrolle
Short title Orban bringt Ungarns Museen unter Kontrolle
Teaser In Ungarn wurden vor kurzem die wichtigsten staatlichen Museen in eine zentrale Institution überführt. Geleitet wird sie von einem Orban-treuen Kulturfunktionär. Damit schreitet die Zentralisierung im Land weiter voran.
Short teaser In Ungarn schreitet die Zentralisierung von Staat und Gesellschaft weiter voran - jetzt sind die Museen an der Reihe.
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Mehrere tausend Teelichter flackern auf dem Asphalt, rund um das Gebäude herum. Etwa drei Dutzend Frauen und Männer, die meisten mittleren Alters, stehen vor dem Eingang in der Budapester Karolyi-Straße 16. Sie schweigen. Für ein Foto halten sie die Taschenlampen ihrer Telefone in die Höhe.

Im Gebäude befindet sich das mehr als 70 Jahre alte Petöfi-Literaturmuseum, die Anwesenden sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Hauses. Es gibt keine Ansprache, keine Pressestatements, aber soviel ist bei der Symbolik mit den Kerzen klar: Es soll eine Abschiedszeremonie und eine Trauerfeier sein.

Ein Abend in Budapest am 30. Juni 2024. Am nächsten Tag, dem 1. Juli, tritt in Ungarn eine Gesetzesänderung in Kraft, die einen weiteren Schritt in der Zentralisierung der Kulturlandschaft bedeutet: Fünf thematisch völlig unterschiedliche Institutionen werden mit dem Ungarischen Nationalmuseum vereint - das Naturkundemuseum, das Museum für Angewandte Kunst, das Museum für Handel und Gastgewerbe, das Petöfi-Literaturmuseum sowie die Nationalbibliothek Szechenyi. Sie gehören zu den bedeutendsten musealen Einrichtungen Ungarns.

Ultrazentralistisches System

Es ist ein weiterer Meilenstein auf dem Weg der totalen Zentralisierung Ungarns unter Viktor Orban. Seit er 2010 mit Zwei-Drittel-Mehrheit an die Macht kam, wurden unabhängige und autonome Strukturen in Staat und Gesellschaft immer mehr abgeschafft und ein teils ultrazentralistisches System errichtet, in dem nur noch Orban, sein Führungszirkel und Orban-treue Funktionäre die Entscheidungsgewalt haben. Betroffen sind die öffentlich-rechtlichen Medien und die lokalen Selbstverwaltungen ebenso wie die Bereiche Bildung, Gesundheit, Sport und Kultur - wie jetzt am Fall der sechs Museen sichtbar.

Die neue Mammutinstitution, die "Zentrale des Ungarischen Nationalmuseums für öffentliche Sammlungen", wird von Szilard Demeter geleitet. Er ist ehemaliger Redenschreiber des Ministerpräsidenten Viktor Orban. Demeter wurde 2018 zum Direktor des Petöfi-Literaturmuseums ernannt, im Jahr darauf zu Orbans Sonderbeauftragten für Literaturfragen. Seitdem gilt er in Ungarn als eine Art oberster Kulturbeamter.

Demeter ist selbst Schriftsteller, Publizist, außerdem Bassgitarrist in Rockgruppen und studierter Philosoph. Mehr als durch fachliche und Führungsqualitäten fiel er in der Vergangenheit mit umstrittenen Äußerungen auf. Er ist der Meinung, dass "80 Prozent der ungarischen literarischen Werke in den Mülleimer gehören, weil sie wertlos sind". Er sagte: "Theater und den ungarischen Film hasse ich ausdrücklich." Und er schrieb über den US-Börsenmilliardär und liberalen Philantropen George Soros, der ungarisch-jüdischer Abstammung ist und den Holocaust überlebte: "Europa ist seine Gaskammer." Eines stand bei Demeter jedoch nie zur Debatte: seine Loyalität zur Orban-Regierung.

Angst, zu sprechen

Tatsächlich gelten unter Orban einfache Regeln: Loyalität wird belohnt, Kritik bestraft. Mehrere ungarische Medien spotteten denn auch darüber, dass Szilard Demeter zu seinem 48. Geburtstag am 1. Juli ein seiner Treue würdiges Geschenk von der Regierung erhalten habe: sechs Museen. Die per Gesetz verfügte Zusammenlegung der sechs Einrichtungen löste in Museumskreisen Bestürzung aus. Wer privat mit Museumsfachleuten spricht, hört nahezu einhellig die Ansicht, dass die Maßnahme die Forschungs-, Gestaltungs- und Veröffentlichungsfreiheit gefährde.

Doch in ungarischen Medien findet sich kein einziger Artikel, in dem Mitarbeitende der betroffenen Institutionen ihre Bedenken geäußert hätten. Auch zahlreiche von der DW angefragte Museumsmitarbeiterinnen und -mitarbeiter lehnen es ab, sich öffentlich zu äußern, trotz Anonymitätsgarantie und der Zusicherung, keine Angaben zu veröffentlichen, die zu einer Identifizierung führen könnten. Eine Museologin, die ihrerseits Kollegen im Petöfi-Literaturmuseum gefragt hat, ob sie sprechen würden, sagt: "Lieber nicht. Allein schon unsere Aktion mit den Teelichtern hat genug Aufsehen erregt, obwohl sie nur als stilles Gedenken und Abschied gemeint war."

Zentralisierung hat keine ideologische Grundlage

Das zeigt deutlich, wie ausgeprägt das System der existenziellen Abhängigkeit und Einschüchterung in Ungarn ist. Doch während Ärzte, Lehrer, Schauspieler oder Journalisten mitunter irgendwo noch eine berufliche Nische finden, haben es Museumsmitarbeiter besonders schwer. Da es so gut wie keine privaten Museen gibt, laufen sie Gefahr, sich mit einem einzigen falschen Schritt aus dem System auszuschließen.

Dabei geht es Orban und seiner Partei Fidesz, so glauben Beobachter, nicht unbedingt um eine ideologische Gleichschaltung. "Ich habe immer mehr den Eindruck, dass diese Zentralisierung keine ideologische Grundlage hat. Wir sehen hier einfach ein weiteres Beispiel für den wohlbekannten 'Schaufenster'-Modus der Fidesz-Kulturpolitik", sagt die ungarische Stadthistorikerin und Museumsjournalistin Judit N. Kosa der DW.

Die Expertin meint damit vor allem, dass die Orban-Regierung weiterhin lautstark über die Wichtigkeit der nationalen Kultur predigt, in Wirklichkeit jedoch schwerwiegende Kürzungen vornimmt. Orban wird nachgesagt, dass er 2002 lernte, dass man mit Kultur keine Wahlen gewinnen könne. Denn obwohl er vor dem Votum mehrere Kultureinrichtungen bauen und renovieren ließ, wurde er damals abgewählt.

"Bulldozer-Methode" funktioniert nicht immer

"Dementsprechend könnte die jetzige Museumszusammenlegung sehr pragmatische Gründe haben", sagt Kosa. "Es geht einfach darum, dass der Ministerpräsident niemandem außer Szilard Demeter vertraut. Seine Loyalität ist unbestreitbar, und er beschwert sich nie. 'Halte den Museumssektor unter Kontrolle, damit wir uns nicht mehr damit befassen müssen', ist vermutlich Orbans Anliegen an Demeter."

Bislang ist die Zentralisierung im Museumssektor geräuschlos über die Bühne gegangen. Doch nicht immer funktioniert die "Bulldozer-Methode", wie Orbans Politik in Ungarn verbreitet genannt wird. Ein Beispiel dafür war der Führungsstreit um die Budapester Universität für Theater- und Filmkunst (SZFE). Im Herbst 2020 protestierten Dozenten und Studenten dagegen, dass ihre Hochschule in eine Stiftungskonstruktion überführt wurde, an deren Spitze Orbans Gefolgsmann Attila Vidnyanszky, der Direktor des Nationaltheaters, steht.

Obwohl es den Protestierenden letztlich nicht gelang, zu verhindern, dass die Regierungspartei schließlich ihren politischen Günstling an die Spitze der neuen Theaterakademie setzte, konnte die Bewegung "Free SZFE" Teilerfolge verzeichnen. Ihr Protest fand breite nationale und internationale Resonanz: Viele nicht direkt Betroffene schlossen sich dem Protest in Ungarn an. Aus dem Ausland kamen offene Solidaritätsbriefe, Berliner Gastspiele von Vidnyanszky wurden abgesagt, regierungskritische SZFE-Studierende erhielten Angebote für ausländische Studienplätze.

Eines hat die Zentralisierung im ungarischen Kulturbereich damit auch bewirkt: Staatliche ungarische Kultur trägt überall im Ausland inzwischen den Ruf, keine echte Kultur mehr, sondern ein Anhängsel der Orban-Ordnung zu sein.

Item URL https://www.dw.com/de/orban-bringt-ungarns-museen-unter-kontrolle/a-69764356?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Petöfi-Literaturmuseums in Budapest bei einer Gedenkzeremonie vor der geplanten Überführung ihrer Institution in eine zentrale Behörde am 30.06.2024
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Item 12
Id 69751730
Date 2024-07-25
Title Venezuela: Wahlen im ölreichsten Land der Welt
Short title Venezuela: Wahlen im ölreichsten Land der Welt
Teaser Am Sonntag wird in Venezuela der Präsident neu gewählt. Kann das Land nach mehr als 20 Jahren Sozialismus die schwere Wirtschaftskrise überwinden?
Short teaser Am Sonntag wird in Venezuela der Präsident neu gewählt. Kann das Land endlich die Krise überwinden?
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Rund acht Millionen Menschen haben Venezuela in den letzten zehn Jahren verlassen. Das entspricht etwa einem Viertel der Bevölkerung des südamerikanischen Landes.

Venezuela leidet unter einer enormen Versorgungskrise, unter einer hohen Inflation und einem Verlust von Fachkräften. Gleichzeitig haben die USA und europäische Länder Venezuela wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen mit Sanktionen belegt.

Mit Ölreserven von rund 300 Milliarden Barrel (à 159 Liter) hat Venezuela weltweit die größten Ölreserven, noch vor Saudi-Arabien mit rund 260 Milliarden Barrel. Doch selbst die Ölindustrie des Landes verzeichnete in den letzten Jahren einen dramatischen Niedergang.

Am Sonntag stehen nun die Präsidentschaftswahlen an. Dabei geht es auch um die wirtschaftliche Zukunft des Landes.

Maduro verspricht Wachstum

Der sozialistische Amtsinhaber Nicolas Maduro verspricht "eine gesegnete, wunderbare Zeit des Wachstums und des Wohlstands". Möglichen machen soll das unter anderem eine finanzielle Unterstützung für Unternehmensgründer. Bis zu eine Million Unternehmen will Maduro so fördern.

Wie realistisch die Umsetzung dieses Versprechen ist, bleibt abzuwarten. In den Umfragen liegt jedenfalls der Oppositionskandidat Edmundo Gonzales deutlich vorn.

Katastrophale Bilanz

Bei Maduros Amtsantritt im Jahr 2013 lag das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf nach Zahlen des Internationalen Währungsfonds noch bei fast 9.000 US-Dollar. Bis 2020 stürzte es auf gut 1.500 Dollar ab. In den letzten Jahren konnte sich die Wirtschaftsleistung zwar leicht erholen, liegt aber noch immer deutlich unter dem Niveau von 2013.

Eine ähnliche Entwicklung nahm die Erdölproduktion: von rund 138 Millionen Tonnen (2013) auf 34,5 Millionen Tonnen (2021), ehe es in den letzten Jahren wieder leicht aufwärts ging.

"Die venezolanische Wirtschaft ist in den Maduro-Jahren um fast 80 Prozent geschrumpft", sagt Ronal Rodriguez, Politikwissenschaftler an der Universität Rosario in Bogota, im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Hinzu kommt, dass das Land ein Viertel seiner Bevölkerung verloren hat."

Um aus der aktuellen Krisensituation wieder herauszukommen, bräuchte es laut Rodriguez ein jährliches Wirtschaftswachstum von mehr als 15 Prozent über mehrere Jahre hinweg.

Fachkräftemangel

Eines der größten Hindernisse für eine Erholung sei der Fachkräftemangel, sagt Rodriguez. "Leider hat ein Großteil der ausgebildeten Arbeitskräfte aufgrund der Krise das Land verlassen."

Begonnen habe dieser Exodus bereits unter Maduro-Vorgänger Hugo Chavez. Der hatte die Öl-Einnahmen lange benutzt, um Sozialprogramme zu finanzieren, aber kaum in die Öl-Industrie selbst investiert. Auch entließ er Fachpersonal und ersetzte es durch linientreue Parteisoldaten, denen aber das Know-how fehlte. Im Jahr 2012 produzierte das Land weniger Öl als 1998, obwohl die staatliche Erdölgesellschaft die Zahl der Mitarbeiter verdreifacht hatte. Chavez starb 2013.

Das verloren gegangene Fachwissen wieder herzustellen, sei äußert kompliziert. "Im Moment haben die Fakultäten, die sich dem Erdöl widmen, in Venezuela nicht mehr den Glanz, den sie früher hatten", so Rodriguez.

Unabhängig vom Ergebnis der Wahlen werde es für Venezuela ziemlich schwierig, die wirtschaftliche Dynamik wiederzuerlangen, glaubt der Politikwissenschaftler. Neben den demographischen Problemen leide der wichtigste Wirtschaftszweig auch unter der dort herrschenden politischen Kultur. Die Erdölindustrie werde von Vertretern des Chavismus kontrolliert, die auch nach einem möglichen Regierungswechsel auf ihren Positionen bleiben.

Chavismus ist eine links-populistische Ideologie, die auf den Ideen des früheren Präsidenten Hugo Chavez basiert und auch von dessen Nachfolger Maduro gepflegt wird.

Der frühere Diplomat Edmundo Gonzales gilt als politisch gemäßigt. Zum Kandidaten des Oppositionsbündnisses Plataforma Unitaria Democrática wurde er, nachdem einer anderen Kandidatin das passive Wahlrecht entzogen wurde. Maria Corina Machado hatte sich dafür eingesetzt, im Falle eines Wahlsiegs die Menschenrechtsverletzungen der Maduro-Regierung gerichtlich aufarbeiten zu lassen.

Erholung nur bei Machtwechsel denkbar

"Eine Erholung der venezolanischen Wirtschaft ist nur möglich, wenn Maduro die Macht abgibt und eine neue Regierung die Arbeit aufnimmt, die das Privateigentum und die Rechtsstaatlichkeit respektiert", sagt Enderson Sequera vom venezolanischen Institut Politiks, das Beratung und Analysen für Führungskräfte anbietet.

"Ein Sieg Maduros wäre ein unüberwindbares Hindernis für die wirtschaftliche Erholung Venezuelas. Sechs weitere Jahre Maduro bedeuten mehr Armut, eine Verschärfung der komplexen humanitären Notlage und mehr Venezolaner, die das Land verlassen", so Sequera zur DW.

Ein Sieg des Oppositionskandidaten Edmundo Gonzalez würde dagegen die Chance bieten, eine Erholung einzuleiten, internationale Investitionen insbesondere im Bereich Energie und Öl anzuziehen, Hilfsprogramme mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderen Organisationen zu verhandeln und eine Stabilisierung der Währung zu erreichen, ist Sequera überzeugt.

Chavismus will Macht nicht aufgeben

Sollte dagegen Maduro die Wahl gewinnen, bestehe zumindest die Möglichkeit, dass er eine größere Legitimation erlange als zuvor, sagt Vladimir Rouvinski von der Universität Icesi in Cali im DW-Gespräch. Das wiederum könnte dazu führen, dass die aktuellen Sanktionen gegen Venezuela gelockert würden.

Zuletzt hatte die US-Regierung Teile der Sanktionen gegen Venezuelas Ölindustrie aufgehoben. Der im Land aktive US-Konzern Chevron hat seine Produktion Ende 2023 um 70 Prozent gesteigert. Im Falle eines Wahlsieges von Maduro könne es sein, dass auch andere Länder beginnen, in Venezuela "eine größere wirtschaftliche Aktivität zu entfalten".

Einen Machtwechsel hält Rouvinski jedenfalls für unwahrscheinlich: "Der Chavismus will die Macht auf keinen Fall aufgeben."

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Image caption Herausforderer Edmundo Gonzalez und Amtsinhaber Nicolas Maduro (rechts)
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Item 13
Id 69676994
Date 2024-07-25
Title Massentourismus: Welche Maßnahmen ergreifen betroffene Reiseziele?
Short title Massentourismus: Was tun betroffene Reiseziele dagegen?
Teaser In vielen europäischen Destinationen häufen sich die Proteste gegen die Auswüchse der Urlaubswirtschaft. Forderungen nach einer Begrenzung werden lauter.
Short teaser Vielerorts häufen sich die Proteste gegen die Auswüchse der Urlaubswirtschaft. Der Ruf nach einer Begrenzung wird lauter
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Als Demonstranten mit Plastikpistolen kürzlich nichtsahnende Urlauber in Barcelona nassspritzten, war dies der vorläufige Höhepunkt der tourismuskritischen Proteste in Spanien. Zuvor hatte es bereits auf den kanarischen Inseln, auf den Balearen und in Andalusien Proteste mit jeweils mehreren tausend Teilnehmern gegeben. Spanien liegt mit mehr als 85 Millionen ausländischen Besuchern pro Jahr weltweit unter den gefragtesten Reiseländern hinter Frankreich auf Rang zwei. Der Unmut über die Folgen des Massentourismus wächst aber auch in anderen europäischen Destinationen. Überlegungen, wie der Urlauberandrang begrenzt werden kann, gibt es vielerorts - von Barcelona über Venedig und Paris bis nach Griechenland.

Barcelona: Das Ende der Ferienvermietung

Weil die Nutzung von Wohnraum zur touristischen Vermietung in der Hauptstadt der nordspanischen Region Katalonien besonders drastische Auswirkungen auf den regulären Mietmarkt hat, ist dort nun die Abschaffung des gesamten Angebots bis Ende des Jahres 2028 geplant. Mehr als 10.000 Wohnungen, die bislang legal an Urlauber vermietet werden, sollen dann wieder dem Langzeitmietmarkt zur Verfügung stehen, hofft die Stadtverwaltung. Bei den jüngsten tourismuskritischen Protesten in Barcelona hatten die Demonstranten unter anderem die seit Jahren steigenden Mietpreise kritisiert. Die Region Katalonien führte im vergangenen Jahr mit 18 Millionen Besuchern die spanische Tourismusstatistik an.

Mallorca: Grenzen für Immobilienkäufer?

Auch auf der spanischen Mittelmeerinsel Mallorca gab es in den vergangenen Wochen bereits tourismuskritische Demonstrationen. Dort ist der Mangel an Wohnraum ebenfalls eines der großen Themen. Debattiert wird auf der Insel unter anderem über eine Begrenzung der Immobilienverkäufe an nicht auf Mallorca ansässige Personen. Wie sich das jedoch mit EU-Recht vereinbaren lässt, ist unklar. Auch die Kontrollen des Ferienvermietungssektors wurden zuletzt verstärkt. In der Inselhauptstadt Palma etwa gibt es ein großes illegales Angebot an touristischen Unterkünften. Im vergangenen Jahr kamen fast 12,5 Millionen Touristen auf die Insel - so viele wie noch nie. Bereits seit einiger Zeit gibt es ein Limit für Kreuzfahrtschiffe im Hafen der Stadt.

Kanaren: Urlauberrekorde und niedrige Gehälter

Auch die Kanaren verzeichneten mit mehr als 16 Millionen Touristen im vergangenen Jahr einen Urlauberrekord. Dennoch wächst der Unmut auf der im Atlantik gelegenen Inselgruppe. Im April nahmen etwa 60.000 Menschen an einer Demonstration teil, die den Auftakt zu den tourismuskritischen Protesten in Spanien bildete. Unter anderem forderten die Teilnehmer eine gerechtere Verteilung des durch den Tourismus erwirtschafteten Reichtums. Obwohl das Geschäft mit den Urlaubern gut läuft, sind die Durchschnittsgehälter auf den Kanaren besonders niedrig. Dennoch existiert im Gegensatz zu den allermeisten massentouristischen Destinationen auf den Kanaren bis heute keine Touristensteuer.

Paris: Touristen müssen deutlich mehr zahlen

In der französischen Hauptstadt dagegen gibt es schon seit vielen Jahren eine solche Übernachtungsabgabe. Die Einkünfte werden für Investitionen genutzt, die den Einheimischen zugutekommen sollen. Seit Jahresbeginn werden Urlauber in Paris nun deutlich stärker zur Kasse gebeten: Die Tarife wurden mehr als verdoppelt. Je nach Hotelkategorie werden nun bis zu 14,95 Euro pro Tag fällig. Auch in Paris, wo man wegen der bevorstehenden Olympischen Spiele zehntausende zusätzliche Besucher erwartet, ist das Thema Wohnungsnot akut. Daher hat die Stadtverwaltung kürzlich die Vorschriften für die touristische Vermietung verschärft. Seitdem dürfen dort nur noch Hauptwohnungen an Urlauber vermietet werden, deren Eigentümer tatsächlich auch dort leben. Außerdem ist die Ferienvermietung nur an maximal 120 Tagen pro Jahr gestattet - nach vorheriger Registrierung.

Amsterdam: Keine neuen Hotels mehr

Eine Vorreiterrolle bei der Limitierung des Massentourismus spielt Amsterdam. Im Gegensatz zu anderen Destinationen hat die niederländische Hauptstadt bereits festgelegt, wo die Grenze der Aufnahmefähigkeit liegt. Die Stadtverwaltung hat beschlossen, dass es jährlich nicht mehr als 20 Millionen Übernachtungen in den touristischen Unterkünften geben soll. Das geht auf eine Bürgerinitiative zurück, die den Stadtrat aufgefordert hatte, die Besucherströme besser zu regulieren. Außerdem werden nun keine neuen Hotels mehr genehmigt - es sei denn, an anderer Stelle schließt eines. Künftig soll auch die Zahl der Kreuzfahrtschiffe im Hafen begrenzt werden.

Griechenland: Kreuzfahrt-Limit auf Mykonos

Eine solche Maßnahme könnte es demnächst auch in Griechenland geben. So kündigte die Regierung kürzlich an, die Zahl der Kreuzfahrtschiffe beschränken zu wollen, die einige der besonders beliebten Inseln wie etwa Santorin und Mykonos anlaufen. Laut Statistischem Bundesamt ist der Anteil der Urlauber pro Einwohner nirgendwo in der EU so hoch wie in der südlichen Ägäis. Dort kommen mehr als 100 touristische Übernachtungen auf jeden Einheimischen. Auch in Griechenland müssen Urlauber nun deutlich tiefer in die Tasche greifen. Seit diesem Jahr wird in der Hauptsaison eine sogenannte Klimakrisen-Abgabe fällig, die pro Nacht entrichtet werden muss und je nach Hotelkategorie bis zu zehn Euro beträgt.

Venedig: Eintrittskarte für Tagesbesucher

Wer nicht in der Altstadt Venedigs übernachtet, muss dort seit diesem Jahr an bestimmten Tagen Eintritt zahlen. Bislang wurden fünf Euro fällig, im kommenden Jahr könnte sich der Betrag an manchen Tagen verdoppeln, heißt es. Das Ziel der Maßnahme ist, den Tagestourismus einzudämmen, da die Ausflügler, die nur für ein paar Stunden kommen, wenig Geld in der Stadt ausgeben, aber dennoch zur Überfüllung beitragen. Jährlich besuchen etwa fünf Millionen Urlauber Venedig.

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Image caption Die Touristenzahlen liegen in Europa vielerorts auf Rekordniveau. Hier der Strand von Cala Santanyí auf Mallorca
Image source Chris Emil Janßen/dpa/picture alliance
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Item 14
Id 69761093
Date 2024-07-25
Title Wäre Harris als US-Präsidentin an der Seite der Iranierinnen?
Short title Harris und Iran: Probleme bei Menschenrechten und Atomdeal
Teaser US-Vizepräsidentin Kamala Harris wird höchstwahrscheinlich die neue Präsidentschaftskandidatin der Demokraten. Wie könnte ihre Iran-Politik aussehen?
Short teaser Kamala Harris könnte die neue Präsidentschaftskandidatin der Demokraten sein. Wie könnte ihre Iran-Politik aussehen?
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Nach dem Rückzug von US-Präsident Joe Biden wird vermutlich seine Vizepräsidentin Kamala Harris neue Kandidatin der Demokraten bei der nächsten Präsidentschaftswahl in den USA im November. Es wird erwartet, dass die 59-jährige Politikerin sich in zentralen außenpolitischen Themen weitgehend an Bidens außenpolitisches Drehbuch hält. Im Fall des Iran wird sie es nicht leicht haben.

"Kamala Harris wird versuchen, zumindest eine neue Vereinbarung oder eine Übereinkunft zu erreichen, mit der bei der Entwicklung von Atomwaffen im Iran eine Pause eingelegt werden würde", schreibt Arman Mahmoudian auf Anfrage der DW. Der Dozent für russische und Nahost-Studien an der University of South Florida betont weiter: "Andererseits ist sie daran interessiert, neue menschenrechtsorientierte Politiken gegenüber dem Iran zu entwickeln, insbesondere zur Verbesserung der Frauenrechte. Die Kombination dieser beiden Ansätze macht es für sie schwierig, eine effektive Iran-Politik zu verfolgen."

Deutlicher Einsatz für Frauenrechte schon als US-Vizepräsidentin

Als US-Vizepräsidentin traf sich Kamala Harris mehrmals mit bekannten Persönlichkeiten der iranischen Diaspora, wie im Oktober 2022 mit der iranisch-britischen Schauspielerin Nazanin Boniadi während der landesweiten Proteste im Iran unter dem Slogan "Frau, Leben, Freiheit". Sie verurteilte den brutalen Umgang der Behörden mit den Protestierenden und betonte: "Die Vereinigten Staaten stehen weiterhin an der Seite der mutigen Frauen des Iran, die friedlich für ihre Grundrechte und ihre grundlegende Menschenwürde protestieren."

Harris unterstützte auch die Forderung der iranischen Frauen, die Islamische Republik Iran aus der Frauenrechtskommission der Vereinten Nationen auszuschließen. Diese Kommission ist das höchste UN-Gremium zur Gleichstellung der Geschlechter. Die Wahl Irans in diese Kommission empörte Frauen- und Menschenrechtsaktivistinnen von Anfang an. "Die internationalen Organisationen müssen sich selbst ernst nehmen, wenn sie ernst genommen werden wollen", sagte die iranische Friedensnobelpreisträgerin Narges Mohammadi im April 2021 im Gespräch mit der DW.

"Kamala Harris könnte weitere Forderungen der iranischen Frauen unterstützen", sagt Narges Mohammadis Ehemann Taghi Rahmani im Gespräch mit der Deutschen Welle. Der Schriftsteller und politische Journalist hat wegen Repressalien das Land verlassen und lebt mit den gemeinsamen Kindern im Pariser Exil. Seine Frau sitzt wegen ihres friedlichen Einsatzes für Menschen- und Frauenrechte im Iran im Gefängnis – zum wiederholten Mal.

"Narges verlangt, dass Geschlechterdiskriminierung auf internationaler Ebene strafbar gemacht wird. Das heißt, die Verantwortlichen in den Staaten, in denen Frauen aufgrund ihres Geschlechts systematisch benachteiligt werden, sollen von internationalen Instanzen zur Rechenschaft gezogen werden" sagt Taghi Rahmani und ergänzt: "So eine Forderung könnte Frau Harris unterstützen, falls sie die erste Präsidentin der Vereinigten Staaten würde. Sie könnte die Frauenbewegung im Iran unterstützen."

Dauerproblem: Das Atomprogramm

Inwieweit Kamala Harris die Unterstützung der Zivilgesellschaft im Iran und die Eindämmung des iranischen Atomprogramms unter einen Hut bringen kann, bleibt abzuwarten.

"Die Islamische Republik Iran ist an Deeskalation und der Lockerung der Sanktionen interessiert. Sie ist jedoch strikt dagegen, in der Innenpolitik Kompromisse einzugehen, da sie befürchten, dass dies zu weiteren Forderungen und Herausforderungen für die Regierung führen könnte", betont Iran-Experte Mahmoudian.

Kamala Harris verteidigte in der Vergangenheit konsequent das 2015 unterzeichnete Atomabkommen mit dem Iran; sie betrachtete es als bedeutende Errungenschaft der Demokratischen Partei während der Präsidentschaft von Barack Obama. Aus diesem Abkommen, das nach mehr als zwölf Jahren internationaler Verhandlungen über das iranische Atomprogramm erzielt wurde, waren die USA unter Präsident Trump 2018 einseitig ausgestiegen. Trump gab sich überzeugt, einen "besseren Deal" aushandeln zu können als das, was sein Vorgänger Obama unterzeichnet hatte. Seine Politik des "maximalen Drucks" auf den Iran blieb jedoch erfolglos. Ein Jahr nach dem Ausstieg der USA aus der Vereinbarung begann der Iran, sich ebenfalls schrittweise von seinen darin enthaltenen Verpflichtungen loszusagen. Heute ist das Land näher als je daran , eine Atombombe bauen zu können.

In den letzten vier Jahren hatte Präsident Biden mehrfach versucht, das Atomabkommen mit dem Iran wiederzubeleben. All diese Versuche sind gescheitert. "Ich glaube, Harris hat eine Chance, ein neues Abkommen oder eine neue Übereinkunft mit dem Iran in Bezug auf die Atompolitik zu erzielen", sagt Arman Mahmoudian.

"Allerdings könnte ihr Weg aus mehreren Gründen noch schwieriger sein als der von Präsident Obama während der -Verhandlungen zum JCPOA (Joint Comprehensive Plan of Action, die offizielle Bezeichnung des Atomdeals). Erstens ist Vertrauen Teherans in die USA gering. Was es an Vertrauen gab, wurde durch den Ausstieg der USA aus dem JCPOA und die Tötung von General Soleimani zerstört. Zweitens steht der Kongress relativ stark unter republikanischer Kontrolle, und die Iraner könnten besorgt sein, dass die Republikaner ein weiteres Abkommen untergraben könnten. Drittens ist das iranische Atomprojekt heute viel weiter fortgeschritten als während der ursprünglichen Umsetzung des JCPOA."

Das würde bedeuten, dass für eine Vereinbarung die USA mehr verhandeln und den Iran zu mehr Kompromissen bewegen müssten. Die Zeit, die der Iran zum Bau einer Bombe braucht, ist nun kürzer. "Die Iraner könnten das Gefühl haben, sie hätten bessere Karten und könnten größere Zugeständnisse verlangen. Das würde die Verhandlungen deutlich schwieriger machen", befürchtet Mahmoudian.

Item URL https://www.dw.com/de/wäre-harris-als-us-präsidentin-an-der-seite-der-iranierinnen/a-69761093?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Item 15
Id 69574109
Date 2024-07-25
Title Ruth Weiss: Ein Leben für die Gerechtigkeit
Short title Ruth Weiss: Ein Leben für die Gerechtigkeit
Teaser Die jüdische Journalistin Ruth Weiss wird 100 Jahre alt. Die Apartheid erlebte sie teils in Südafrika, teils im Exil. Unermüdlich schrieb sie gegen Hass, Ausgrenzung und Rassismus an. Ein Porträt.
Short teaser Die jüdische Journalistin Ruth Weiss wird 100 Jahre alt - ein Porträt über ein Leben im Kampf gegen Rassismus.
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Auch in ihrem 100. Lebensjahr ist die jüdische Schriftstellerin und Journalistin Ruth Weiss noch eine gefragte Zeitzeugin. Sie warnt vor Judenhass und der Ausgrenzung Andersdenkender und gibt ihre Erfahrungen unermüdlich weiter. Und sie ist reich an Erfahrungen - ihr Leben war geprägt vom Engagement gegen Diskriminierung und Rassismus.

Sich immer einen kritischen Blick bewahren, so lautet ihr Ratschlag an die junge Journalisten-Generation. Man könne nicht journalistisch arbeiten, wenn man keine Vorstellung davon habe, wie die Welt sein soll, sagt Weiss im DW-Interview. "Sie haben jeden Tag Zugang zu dem, was passiert ist, und können beurteilen, wo ein bestimmtes Ereignis hineinpasst. Sie wollen Gleichheit - und dass die koloniale Haltung verschwindet." Dafür kämpfte sie selbst ein Leben lang.

Flucht ins südafrikanische Exil

Ruth Weiss wird am 26. Juli 1924 als Ruth Löwenthal als Kind jüdischer Eltern im fränkischen Fürth geboren. Ihre Familie lebt in Nürnberg, als die Nationalsozialisten die Herrschaft übernehmen. Schnell spüren sie den Hass gegen alles Jüdische, ihr Vater verliert seine Arbeit und emigriert 1933 zu Verwandten nach Südafrika. 1936 folgt die Mutter mit den beiden Töchtern nach. Das Schiff, mit dem sie von Hamburg ablegen, ist eines der letzten, das nach Südafrika fährt.

Doch Ruth merkt schnell, dass sie auch hier nicht willkommen ist: Vom ersten Tag ihrer Ankunft an habe sie gewusst, wie ihre Einstellung zu ihrer neuen Exil-Heimat sein würde, erzählt Weiss der DW. Bereits bei den ersten Begegnungen - sie wohnen in einem weißen Arbeiterwohngebiet in der Industriemetropole Johannesburg - ist die damals Zwölfjährige mit dem Antisemitismus weißer südafrikanischer Faschisten und dem brutalen Rassismus gegen Schwarze konfrontiert.

Diese Erlebnisse werden ihr Bewusstsein schärfen: Ihre Erfahrungen aus dem Leben in zwei Diktaturen bestimmen fortan ihren Einsatz für Menschenrechte.

Die "falsche Religion"

In Johannesburg betreibt die Familie Löwenthal ein Lebensmittelgeschäft. Täglich beobachtet die junge Ruth, wie weiße Polizisten schwarze Südafrikaner demütigen. Auch sie selbst erfährt Ablehnung im Alltag - in der Schule: In dem von Weißen dominierten Land "hatten wir die richtige Hautfarbe", erzählt sie, "aber die falsche Religion".

Nach ihrem High-School-Abschluss arbeitet Weiss zunächst als Angestellte in einer Rechtsanwaltskanzlei. Für die junge Jüdin ist die Apartheid inakzeptabel. Sie beginnt, sich mit Gleichgesinnten in einem Kulturverein zu treffen. Hier lernt sie auch Hans Weiss, ihren späteren Ehemann, kennen, der als Journalist arbeitet.

Unter seinem Namen beginnt sie zu schreiben und berichtet für europäische Medien über die Gräueltaten der Apartheid und den wachsenden Widerstand der schwarzen Südafrikaner. Sie übernimmt auch Recherchereisen für ihn, etwa nach Tanganjika, ins spätere Tansania. Das ist der Auftakt für zahlreiche Reisen auf dem afrikanischen Kontinent.

Kampf gegen die Apartheid

Als ihre Ehe scheitert, beginnt in den 1960er Jahren ihre eigentliche journalistische Karriere. Weiss emanzipiert sich als renommierte Finanzjournalistin, aber auch als politische Reporterin, die den Unabhängigkeitsbewegungen in Sambia und dem heutigen Simbabwe sowie den Anti-Apartheid-Bestrebungen in Südafrika viel Sympathie entgegenbringt.

Weiss nutzt ihre Position als anerkannte Journalistin, um gegen das Unrecht der Apartheidpolitik in Südafrika zu protestieren. Sie knüpft Kontakt zu zahlreichen Persönlichkeiten der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen, darunter Robert Mugabe, der spätere Diktator Simbabwes, Sambias Ex-Präsident Kenneth Kaunda und Südafrikas Befreiungsheld Nelson Mandela. Sie interviewt Mandela vor seiner Verhaftung 1963 und arbeitet für südafrikanische Zeitungen.

1966 verlässt sie schließlich den Kontinent und zieht nach London. Sehr lange darf sie anschließend weder nach Südafrika noch ins damalige Süd-Rhodesien einreisen. Sie bleibt in London und arbeitet für zahlreiche Zeitungen, darunter den Guardian.

Freiheit statt Kolonialismus

Von 1975 bis 1978 leben Ruth Weiss und ihr Sohn Sascha in Köln, Weiss arbeitet dort in der Afrika-Redaktion der DW. Es folgen Jahre als Freiberuflerin, erneut in London. 1980 zieht sie nach Harare und begleitet dort die Unabhängigkeit in Simbabwe. Erst im Jahr 2002 hält sie es wieder dauerhaft in Deutschland aus und zieht ins westfälische Lüdinghausen. Drei Jahre später wird sie für den Friedensnobelpreis nominiert.

Wenn sie heute zurückblicke, falle ihr ein besonderer Moment ein, erzählt Ruth Weiss der DW: Die Unabhängigkeitsfeier Kenias, an der sie 1963 teilnimmt, habe sie nachhaltig beeindruckt. Damals zogen die britischen Kolonialisten ab. "Es war einfach eine solche Freude, eine Erleichterung nach all den Jahren. Es war ein neuer Anfang, man hatte solche Hoffnung auf die Zeit der Entkolonialisierung", so die Journalistin.

Doch "die Enttäuschung war unvermeidlich", fügt sie an. "Viele Europäer denken immer noch, dass sie in kolonialen Verhältnissen leben und die afrikanischen Länder nur die Lieferanten des Reichtums sind. Das muss sich ändern." Auch Deutschland habe nicht genug gegen den Kolonialismus getan, sagt sie mit Blick auf die brutale Herrschaft im damaligen Deutsch-Südwestafrika, heute Namibia. Der Kolonialismus habe die Entwicklung Afrikas behindert.

"Afrika nie ganz verlassen"

Ihre Eindrücke und Erfahrungen gibt Ruth Weiss seit Jahrzehnten wieder, um aufzurütteln und zu sensibilisieren. Für ihr Engagement wurde sie vielfach ausgezeichnet, in Aschaffenburg ist seit 2010 auch eine Realschule nach ihr benannt, seit 2020 ist sie Ehrenpräsidentin des PEN-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

Heute lebt Weiss bei der Familie ihres Sohnes in Dänemark. Auch im hohen Alter schreibt sie noch Sachbücher sowie historische und politische Romane. Ihr Buch für Jugendliche, "Meine Schwester Sara" (2004), das sich mit der Apartheid in Südafrika beschäftigt, gehört in vielen Schulen zur Pflichtlektüre. Im Jahr 2014 erhält sie das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse, 2023 den prestigeträchtigen südafrikanischen Nationalorden "Companions of O.R. Tambo", benannt nach Oliver Reginald Tambo, dem früheren Präsident des Afrikanischen Nationalkongresses. Im April 2024 folgt der Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland.

All diese Ehrungen zeugen von ihrem unermüdlichen Streben nach Gerechtigkeit, das trotz ihres Alters anhält: Noch heute verfolgt Ruth Weiss die politischen Debatten im Süden Afrikas und weltweit. Ein turbulentes Leben zwischen den Kontinenten bringe auch die Frage nach der eigenen Heimat mit sich, schreibt sie in ihrer 2016 erschienen Biografie "Wege im harten Gras". Im DW-Gespräch sagt die Jubilarin dazu: "Ich habe Afrika nie ganz verlassen, aber wo ist mein Zuhause? Wo die Menschen mit mir gehen und schreiten, sich nicht nur auf ihre Karriere konzentrieren, sondern sich um andere Menschen kümmern. Ich bin froh, dass so viele Menschen das ernst genommen haben. Das ist meine Heimat."

Mitarbeit: Josephine Mahachi

Item URL https://www.dw.com/de/ruth-weiss-ein-leben-für-die-gerechtigkeit/a-69574109?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Ihr Leben war ein Kampf für Gerechtigkeit und gegen Rassismus: Die jüdische Journalistin Ruth Weiss
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Item 16
Id 69750479
Date 2024-07-25
Title Jemen: Huthi-Rebellen profitieren von Israels Vergeltungsschlägen
Short title Jemen: Huthi profitieren von Israels Vergeltungsschlägen
Teaser Die israelischen Vergeltungsangriffe im Jemen haben viel Schaden angerichtet. Innenpolitisch stärken sie jedoch die Huthi-Rebellen, die sich als Verteidiger palästinensischer Interessen profilieren möchten.
Short teaser Die vom Iran unterstützten Rebellen möchten sich als Verteidiger palästinensischer Interessen profilieren.
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Nachdem Israel am vergangenen Wochenende bei einem Vergeltungsangriff Einrichtungen der Huthi-Rebellen im Jemen attackiert hatte, meldeten sich umgehend jemenitische Organisationen und Bürger zu Wort.

"Was heute in Hodeida passiert ist, ist eine Katastrophe. Sie schadet nur der Zivilbevölkerung", schrieb der Journalist Basem Ganani in den sozialen Medien. Israelische Bomben hätten in der nördlichen Hafenstadt Kräne, Treibstoffdepots und ein Kraftwerk getroffen, berichtete er.

Gananis Kollegin Nahla al-Qudsi sagte der DW, der Strom sei abgeschaltet worden, Kommunikationsnetze hätten nicht mehr funktioniert. "Das hat uns wirklich Angst gemacht. Als wären die Brände und Hitze nicht schon genug", so die Journalistin.

Mit dem Angriff übte das israelische Militär Vergeltung für einen Angriff der Huthi-Miliz vom vergangenen Freitag. Am frühen Morgen war es der den Nordwesten Jemens kontrollierenden Rebellengruppe erstmals gelungen, eine Kampfdrohne ins Zentrum von Tel Aviv zu steuern. Durch ihre Explosion wurde ein Mensch getötet, acht erlitten Verletzungen. Bei den folgenden Luftangriffen Israels am Samstag auf die Hafenstadt Hodeida wurden sechs Menschen getötet und bis zu 80 verletzt.

"Die israelischen Luftangriffe auf Hodeida haben erhebliche Schäden angerichtet und wichtige Infrastrukturen wie Treibstofflager und Kraftwerke getroffen", sagt Fatima Abo Alasrar, Jemen-Expertin des in Washington ansässigen Middle East Institute (MEI), im DW-Interview. "Das hat zu erheblichen Engpässen geführt. Die Menschen in Hodeida leben in Angst und Sorge, weil sie nicht wissen, was als nächstes passieren wird."

"Die Menschen rechnen mit Engpässen. Darum gibt es im ganzen Land stundenlange Wartezeiten an den Tankstellen", sagt Arwa Mokdad, eine unabhängige Jemenforscherin mit Sitz in Großbritannien. Hodeida sei der wichtigste Hafen im Jemen. Ist der Betrieb gestört, werde es noch schwieriger, Hilfsgüter ins Land zu bringen. Laut Huthi-Angaben läuft der Hafenbetrieb nun aber langsam wieder an.

Die Huthi-Rebellen kämpfen seit über neun Jahren gegen die international anerkannte Regierung des Jemen. UN-Angaben zufolge ist über die Hälfte der jemenitischen Bevölkerung - schätzungsweise rund 21 Millionen Menschen - infolge des anhaltenden Bürgerkriegs auf humanitäre Hilfe angewiesen.

Gewinn an Popularität

Kritiker des Angriffs verweisen nicht nur auf dessen negativen Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung, sondern auch auf den Umstand, dass er dem Kalkül der Huthi zuspiele. In diesem Zusammenhang verweisen sie auf die Attacken der Huthi auf die internationale Schifffahrt im Roten Meer. Damit will die mit dem Iran verbündete Rebellengruppe eigenen Angaben zufolge gegen die israelischen Militärangriffe im Gazastreifen protestieren.

"Nach dem Angriff haben die Huthi das Gefühl, dass ihre feindselige Haltung gegenüber Israel gerechtfertigt war", sagt Expertin Abo Alasrar. "Ihr Engagement dürfte vor allem ein strategischer Schachzug sein, um ihre Darstellung des Konflikts zu stärken und interne Unterstützung zu gewinnen. Darum, die Palästinenser ernsthaft zu unterstützen, dürfte es ihnen weniger gehen."

Umfragen zeigen regelmäßig, dass fast alle Jemeniten den Wunsch der Palästinenser nach Eigenstaatlichkeit und gleichen Rechten entschieden unterstützen. Doch nicht alle stimmen mit den Huthi überein.

Viele Menschen im Jemen seien unzufrieden mit der Art und Weise, wie die Huthi die Dinge regelten, so Abo Alasrar. Die Milizengruppe habe auch Rekrutierungen verstärkt und sogar versucht, Kinder in ihre Reihen zu holen. "Das ist zutiefst alarmierend und beängstigend für die lokale Bevölkerung."

Allerdings führt die Bombardierung der Huthi dazu, dass ihr Ansehen in der Bevölkerung dennoch steige, meinen die Experten. "Wenn sich die Menschen einer externen Bedrohung gegenübersehen, wenden sie sich ihren Landsleuten zu", sagt Arwa Mokdad. "Der Angriff hat die Popularität der Huthi in die Höhe getrieben. Er ermöglicht ihnen, sich politisch noch extremer zu zeigen."

Womöglich könnte Israel den Jemen nochmals bombardieren. "Das israelische Militär bereitet sich auf die Möglichkeit vor, dass es einen weiteren Angriff auf Ziele der Huthi starten muss", berichtete die israelische Zeitung Haaretz am Montag.

Denkbar seien auch Attentate auf Huthi-Führer außerhalb des Jemens, sagt Farea al-Muslimi, Forschungsstipendiat bei der britischen Denkfabrik Chatham House.

Pattsituation im Jemen

Auch innenpolitisch könnte es zu destabilisierenden Auswirkungen kommen. Sollten sich die Huthi wieder auf näher an Israel liegende Ziele, etwa in Saudi-Arabien, Bahrain oder den Vereinigten Arabischen Emiraten, konzentrieren, könnte auch der ohnehin ins Stocken geratene Friedensprozess Schaden nehmen, sagt Al-Muslimi.

Je populärer sie würden, desto größere Forderungen würden die Huthi bei Verhandlungen stellen, sagt die Jemen-Expertin Mokdad aus London.

Der jüngste israelische Angriff auf den Jemen könnte aber auch eine Art Wendepunkt sein, ergänzt die in Washington ansässige Expertin Abo Alasrar. Denn er könnte den Bemühungen, den Huthi Finanzierung und Nachschub zu entziehen, mehr internationale Aufmerksamkeit verschaffen.

Dass weitere israelische Angriffe die Huthi zum Einlenken bewegen könnten, nimmt allerdings keiner der von der DW angesprochenen Experten an.

Die Huthi haben erklärt, dass sie ihre Angriffe auf den Seeverkehr im Roten Meer und auf Israel erst einstellen würden, wenn der Konflikt im Gazastreifen aufhöre. Es gebe keinen Grund, ihnen nicht zu glauben, sagen Analysten. Timothy Lenderking, der US-Sondergesandte für den Jemen, brachte es im März im US-Politiksender C-Span so auf den Punkt: "Der erste Schritt, der uns helfen wird, eine Einigung im Jemen zu erreichen, ist ein Waffenstillstand im Gazastreifen".

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Item URL https://www.dw.com/de/jemen-huthi-rebellen-profitieren-von-israels-vergeltungsschlägen/a-69750479?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Blick auf die Hafenstadt Hodeida nach dem israelischen Vergeltungsschlag
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Item 17
Id 69756106
Date 2024-07-24
Title EU-Kommissionsbericht: Wie geht es der Rechtsstaatlichkeit?
Short title EU-Kommissionsbericht: Wie geht es der Rechtsstaatlichkeit?
Teaser Die EU-Kommission hat ihren jährlichen Bericht zur Rechtsstaatlichkeit vorgelegt. Neben Mahnungen und Sorgen findet sie auch Grund zur Freude. Doch was bewirkt der Bericht?
Short teaser Neben Mahnungen und Sorgen findet die EU-Kommission auch Grund zur Freude. Doch was bewirkt der Bericht?
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Mehr als 1000 Seiten lang sei der jüngste Rechtsstaatlichkeitsbericht der Europäischen Union (EU) geworden, berichtet die Vizepräsidentin der EU-Kommission Vera Jourova bei dessen Vorstellung diesen Mittwoch in Brüssel. Bereits zum fünften Mal prüft die Europäische Kommission den Zustand der nationalen Justizsysteme, der Anti-Korruptionsregeln, der Medienfreiheit und andere institutionelle Kontrollmechanismen - und sie spricht Empfehlungen an die 27 Mitgliedstaaten aus. Zum ersten Mal dabei auch die Beitrittskandidaten Albanien, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien. Für den Bericht hätten mehr als 640 Online-Treffen stattgefunden, es sei mit mehr als 930 Beamten, Journalisten und Vertretern der Zivilgesellschaft gesprochen worden, so Jourova bei der Pressekonferenz

Ungarn: altbekanntes "Sorgenkind" der EU

Kein gutes Zeugnis stellt die EUUngarn - welches momentan dierotierende EU-Ratspräsidentschaft innehat - aus. In keinem der bereits 2023 angekreideten Bereiche habe das Land Fortschritte gemacht. Dies ist beispielsweise der Fall im Justizwesen oder bei der die Stärkung der Unabhängigkeit öffentlich-rechtlicher Medien.

Für Ungarn könnte dieser Bericht von Bedeutung sein, da die EU-Kommission nach wie vor Gelder zurückhält - wegen Bedenken über die Rechtsstaatlichkeit Ungarns. Nach einer Justizreform in dem Land wurde im letzten Jahr nur rund ein Drittel der eingefrorenen Gelder freigegeben.

EU-Kommission droht Slowakei mit möglichen Konsequenzen

Auch die Slowakei, die seit 2023 erneut von dem Russland-freundlichen Linkspopulisten Robert Fico regiert wird, kommt nicht gut weg. Lediglich in einem Bereich, der körperlichen Sicherheit von Journalisten, stellt die Kommission Fortschritte im Vergleich zum Vorjahr fest. Sorge äußert die Kommission auch mit Blick auf dem Umbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in dem Land. Die Slowakei solle Regeln zur Wiederherstellung und zum Schutz der öffentlich-rechtlichen Medien stärken. Ein neues Gesetz zu dem Thema werde derzeit noch durch die EU-Kommission geprüft, erläuterte Jourova vor der Presse.

Die EU-Kommission droht der Slowakei auch mit juristischen Schritten wegen ihres geplanten NGO-Gesetzes. Nichtregierungsorganisationen, die auch Gelder aus den Ausland erhalten, sollen sich als "Organisation mit ausländischer Unterstützung" bezeichnen. Die EU befürchtet, diese Etikettierung könne eine abschreckende Wirkung auf die Slowaken haben. Sollte das gegen EU-Gesetze verstoßen, wäre ein Vertragsverletzungsverfahren möglich.

Medienfreiheit bleibt in vielen EU-Staaten ein Thema

Rumänien, Polen und Malta mahnte die Kommission, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk im Hinblick auf dessen redaktionelle Unabhängigkeit und die Verwaltung zu stärken.

Italien fordert sie dazu auf, Regeln und Mechanismen sicherzustellen, die die Finanzierung der öffentlichen Medien gewährleisten und ihre Unabhängigkeit garantieren. Dies fordert die Kommission auch von Irland, Tschechien und Slowenien.

In Italien hatten Mitarbeiter des öffentlich-rechtlichen Senders RAI in diesem Jahr gestreikt - wegen Personalmangels, aber auch weil sie der Regierung Einmischung vorwarfen.

Trotz der Umsetzung einiger Reformen mache sich die Kommission um die Unabhängigkeit der Justiz der in einigen Mitgliedstaaten weiterhin Sorgen, sagte EU-Justizkommissar Didier Reynders auf der Pressekonferenz. Um den Beruf des Richters attraktiver zu machen, habe die Kommission den Mitgliedstaaten empfohlen, in das Personalwesen zu investieren.

Auch Deutschland muss bei der Rechtsstaatlichkeit nacharbeiten

Die Bezahlung von Richtern ist einer der Punkte, den die Kommission mit Blick auf Deutschland anmahnt. So solle das Land Maßnahmen ergreifen, um eine angemessene Bezahlung von Richtern und Staatsanwälten sicherzustellen.

Außerdem muss Deutschland aus Sicht der Kommission etwas gegen den sogenannten "Drehtüreffekt" tun – dem raschen Wechsel ehemaliger Politiker in die Wirtschaft. Sie schlägt vor, dass aus dem Amt scheidende Minister und Staatssekretäre länger warten müssen, bevor sie in die Wirtschaft wechseln. Deutschland müsse außerdem mit dem Plan vorankommen, ein Informationsrecht für Journalisten gegenüber Bundesbehörden einzuführen.

Kommission verbucht auch Erfolge

Insgesamt zieht die Kommission eine positive Bilanz über die fünf Jahre, seitdem sie den Rechtsstaatlichkeitsbericht veröffentlicht. Auf der Pressekonferenz freut sich Vizepräsidentin Jourova explizit über zwei Erfolge: einerseits über Polen. Im Anschluss an den Regierungswechsel wurde in diesem Frühjahr ein EU-Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Polen eingestellt. Außerdem nannte sie Spanien. Dort sei die Blockade des Generalrates der Justiz nun nach fünf Jahren überwunden. Der Generalrat ist zuständig für die Ernennung wichtiger Richterposten.

Was bewirkt der Rechtsstaatlichkeitsbericht?

Der Rechtsstaatlichkeitsbericht sei ein "präventives Mittel" erklärt Jourova. "Es geht darum, Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit frühzeitig zu erkennen", so die EU-Vizekommissionspräsidentin. Nach ihren Angaben wurden 68 Prozent der Empfehlungen aus dem letzten Jahr umgesetzt.

Die Wirkung des Berichts könne nicht isoliert bewertet werden, meint John Morijn, Juraprofessor an der Universität Groningen. Vielmehr hänge diese von anderen, schlagkräftigeren Verfahren ab, wie etwa dem Einfrieren von EU- Fördergeldern.

Seine Kritik: Im Detail gebe es zwischen den EU-Staaten deutliche Unterschiede. Wenn man aber alle 27 sehr unterschiedliche Länder in einem gemeinsamen Bericht behandele, gingen die besonders problematischen Fälle in der Masse unter.

Item URL https://www.dw.com/de/eu-kommissionsbericht-wie-geht-es-der-rechtsstaatlichkeit/a-69756106?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Die Rechtstaatlichkeitsbericht ist ein Grundwert in der EU
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Item 18
Id 69721056
Date 2024-07-24
Title Netanjahus umstrittener Besuch in Washington
Short title Netanjahus umstrittener Besuch in Washington
Teaser Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu wird am Mittwoch vor dem US-Kongress in Washington sprechen: Mitten im Gaza-Krieg, begleitet von Protesten in den USA und Israel und dem Boykott einiger demokratischer Politiker.
Short teaser Israels Premier Netanjahu wird vor dem US-Kongress sprechen - begleitet von Protesten in den USA und Israel.
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Als Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu das bisher letzte Mal vor dem US-Kongress sprach, schimpfte er über eines der wichtigsten diplomatischen Projekte der Obama-Regierung, das Atomabkommen mit dem Iran - und belastete damit die Beziehungen zum Weißen Haus. Neun Jahre später wird Netanjahu wieder im Kapitol der Vereinigten Staaten erwartet - die Spitzen beider Parteien im US-amerikanischen Parlament hatten ihn dazu eingeladen. Und dieses Mal sind die Begleitumstände sogar noch angespannter.

Das Timing könnte nicht schlechter sein, sagt Barbara Slavin, Journalistin und Expertin für den Nahen Osten und Nordafrika beim Stimson Center, einem Thinktank in Washington. Es sei einfach nicht der richtige Zeitpunkt. "Vielleicht wäre es anders, wenn er in Gaza vor Monaten einen Waffenstillstand akzeptiert und den Wiederaufbau begonnen hätte. So wird er viele Amerikaner sehr wütend machen, die ohnehin schon aufgebracht sind wegen der Ereignisse im Nahen Osten."

Vieles anders in Washington

Doch auch für Netanjahu ist der aktuelle Zeitpunkt nicht sehr günstig. Denn seine Reise fällt zusammen mit der Entscheidung von Präsident Biden, nicht zur Wiederwahl anzutreten und seinem Vorschlag, seine Stellvertreterin, US-Vizepräsidentin Kamala Harris als Kandidatin der Demokraten in das Rennen um das Weiße Haus zu schicken.

Diese neue innenpolitische Situation könnte die Aufmerksamkeit von Netanjahus Besuch ablenken. Zudem ist die Unsicherheit über Israels künftigen Partner im Weißen Haus noch einmal gewachsen.

Der amtierende Präsident wird sich mit Israels Premier erst nach Netanjahus geplanter Rede vor den beiden Kammern des US-Kongresses treffen. Zu Beginn der Woche kurierte sich Biden von seiner Corona-Erkrankung.

Auch der Termin für eine Unterredung mit seiner Stellvertreterin und möglichen neuen US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris ist für Donnerstag geplant. Sie wird bei Netanjahus Rede nicht anwesend sein. Harris, die als Senatspräsidentin normalerweise hinter den ausländischen Staatsoberhäuptern sitzt, wird zu einer länger geplanten Reise nach Indianapolis aufbrechen.

Statt Harris würde normalerweise dann die Senatsvorsitzende und Washingtoner Demokratin Patty Murray den Platz besetzen. Murray aber gehört zu den demokratischen Kongressmitglieder, die Netanjahus Rede aus Kritik am Vorgehen Israels im Gazastreifen boykottieren könnten.

Rund um Netanjahus Besuch sind zudem massive Proteste auf der Straße angekündigt.

Netanjahu: Die "Wahrheit über unseren gerechten Krieg"

Im Israel-Hamas-Krieg wird die Biden-Regierung sowohl im In- wie im Ausland kritisiert, weil sie einen Mittelweg versucht: Einerseits unterstützt sie mit Israel einen ihrer wichtigsten Verbündeten. Andererseits ermöglicht sie es, dass Netanjahu einen Krieg führt, der eine schwere humanitäre Krise verursacht sowie - nach Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums - 39.000 Tote im Gazastreifen gefordert hat. Israel und die militante Hamas befinden sich im Krieg, seit die islamistische Terrororganisation am 7. Oktober 2023 Israel angegriffen und nach israelischen Angaben rund 1200 Israelis getötet und 251 Geiseln genommen hat. Die Hamas wird von Israel, den USA, Deutschland, der Europäischen Union und einigen arabischen Staaten als terroristische Organisation eingestuft.

Als er eingeladen wurde vor dem Kongress zu sprechen, sagte Netanjahu, er werde versuchen, "den Vertretern des amerikanischen Volkes und der gesamten Welt die Wahrheit zu präsentieren über unseren gerechten Krieg gegen jene, die uns zerstören wollen".

Netanjahu wolle seine Botschaft allerdings nicht nur an den Kongress richten, sagt Jon Alterman, Direktor des Nahostprogramms beim Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington. Neben dem amerikanischen habe er vor allem sein israelisches Publikum im Sinn. Viele Israelis seien verärgert darüber, wie der Krieg verläuft und sorgten sich um die Geiseln. "Ihnen will er demonstrieren, dass er die Beziehungen mit den USA nicht zerstört hat, wie es ihm Kritiker vorwerfen. Was das Weiße Haus denkt, interessiert Netanjahu viel weniger."

USA-Israel-Beziehungen: Die Basis bröckelt

Mehrere Schlüsselereignisse haben die Kluft zwischen den Regierungen in Washington und Jerusalem in den vergangenen Monaten vertieft. Etwa die Weigerung des Weißen Hauses, angesichts von Israels Offensive in Rafah, bestimmte Waffen zu liefern. Oder die Behauptung Netanjahus in einem Video, dass Washington viel mehr Unterstützung vorhalte, als man öffentlich zugebe - ebenso wie seine Weigerung, einer von den USA unterstützten Feuerpause zuzustimmen.

Als die Spitzen von Senat und Repräsentantenhaus Netanjahu einluden, so vermutet Barbara Slavin, erwarteten sie wohl, dass sich die Rahmenbedingungen verbessert haben würden - was nicht der Fall ist. "Die Erwartung war offenbar, dass es Ende Juli - nach neun Monaten Krieg - einen Waffenstillstand gäbe und Pläne für die Zeit danach", erläutert Slavin. Das sei nicht passiert. Netanjahus Rechtsaußen-Koalition führe "nicht nur diesen abscheulichen Krieg in Gaza weiter, sondern verschlingt auch immer größere Teile des Westjordanlandes, damit dort niemals ein palästinensischer Staat entstehen kann."

Und die anhaltenden Feuergefechte zwischen Israel und der von Iran unterstützten Hisbollah-Milizen an der israelisch-libanesischen Grenze schüren weiter die Sorge der US-Regierung vor einer Ausweitung des Krieges.

Enttäuschung und Proteste in Israel

Netanjahus Reise nach Washington wird auch in seiner Heimat sehr genau beobachtet. Ein von 500 israelischen Akademikerinnen und Akademikern unterschriebener Brief drängt den US-Kongress, Netanjahu wieder auszuladen. Wenn er auftreten dürfe, vermindere das "den öffentlichen Druck der internationalen Gemeinschaft auf Netanjahu, den Geisel-Deal anzunehmen, der auf dem Tisch liegt". Seit Monaten laufen indirekte Gespräche zwischen Israel und der Hamas, bei denen Ägypten, Katar und die USA vermitteln. In der israelischen Knesset forderten Oppositionspolitiker, Netanjahu solle im US-Kongress dem Geisel-Deal zustimmen - oder gar nicht erst nach Washington reisen.

Maya Roman, die eine Angehörige in Gefangenschaft der Hamas hat, will, dass der Geisel-Deal im Rampenlicht bleibt und ist deshalb für Netanjahus Rede bis nach Washington gereist. "Er nimmt unseren Schmerz und nutzt ihn für seinen Vorteil, nicht für unser Ziel, unsere Lieben zurückzubringen. Alles, was wir seit dem 7. Oktober durchgemacht haben, diese furchtbare Tortur, sollte er nur dafür einsetzen dürfen, um unsere geliebten Menschen nach Hause zu holen."

Netanjahu spielt auf Zeit

Jon Alterman vom CSIS erklärt, dass Netanjahu mit seiner Reise auch ein ganz praktisches Ziel verbinde. Er kämpfe um sein politisches Überleben und wolle jede Bedrohung seiner Führungsrolle in der Heimat hinauszögern. Darum liege der Besuch auch kurz vor der dreimonatigen Parlamentspause: Die Knesset gehe in die Sommerferien und dann in die jüdische Feiertagszeit. Und sie werde erst kurz vor den Präsidentschaftswahlen in den USA wieder zusammenkommen. Es sei sehr schwer, eine Regierung zu stürzen, wenn die Knesset nicht tage, so Alterman.

Nicht erst seit den Diskussionen um Netanjahus Washington-Besuch sehen Expertinnen und Experten Hinweise, dass die jahrzehntelange solide Basis der US-amerikanisch-israelischen Beziehungen ins Rutschen gerät. Die Proteste an den Universitäten gegen den Krieg in Gaza gelten manchen als Vorboten eines generationsbedingten und ideologischen Wandels in der Wahrnehmung Israels.

"Junge Leute erinnern sich nicht an ein mutiges kleines Israel, das um seine Existenz kämpft. Sie kennen nur ein Israel, das Palästinenser tötet. Darum sehen sie keinen demokratischen Verbündeten, kein Land, mit dem wir Werte teilen", erklärt Barbara Slavin. Israel laufe Gefahr, eine ganze Generation in den USA zu verlieren. "Wir sehen die Auswirkungen vielleicht nicht sofort, aber in fünf, zehn oder 20 Jahren."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert. Er wurde erstmals am 21. Juli 2024 veröffentlicht und zuletzt am 24. Juli aktualisiert.

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Image caption Israels Premierminister Benjamin Netanjahu
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Item 19
Id 69755124
Date 2024-07-24
Title Ukraine: Frieden durch Gebietsabtretungen an Russland?
Short title Ukraine: Frieden durch Gebietsabtretungen an Russland?
Teaser Die Gedankenspiele des Kiewer Bürgermeisters Vitali Klitschko über ein Kriegsende haben viele überrascht. Welche Ziele verfolgt er damit - und was denken die Menschen in der Ukraine über Zugeständnisse an Russland?
Short teaser Die Gedankenspiele von Kiews Bürgermeister Klitschko über ein Kriegsende überraschten. Was denkt man in der Ukraine?
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In den letzten Wochen wird wieder vermehrt darüber diskutiert, Russlands Krieg gegen die Ukraine am Verhandlungstisch zu beenden. Unter anderem gab es die sogenannte "Friedensmission", die der ungarische Premierminister Viktor Orban auf eigene Faust durchführte, und der US-Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Partei, Donald Trump, erklärt in seinem Wahlkampf gerne mal, er würde den Krieg "innerhalb von 24 Stunden" beenden, wenn er US-Präsident wäre. Ferner erwähnte der ehemalige britische Premierminister Boris Johnson im Zusammenhang mit einem Friedensplan die territorialen Realitäten vor der russischen Invasion im Februar 2022. Zu dem Zeitpunkt war die ukrainische Halbinsel Krim bereits von Russland annektiert und Teile der Regionen Donezk und Luhansk besetzt.

Wirklich überraschend aber kam für viele Beobachter eine Äußerung des ukrainischen Politikers und Bürgermeisters von Kiew, Vitali Klitschko, über einen möglichen territorialen Kompromiss. Bislang hatten ukrainische Staatsvertreter Kompromisse oder Zugeständnisse zur Beendigung des Krieges meist gemieden. Kiew bestand immer auf der Staatsgrenze von 1991.

"Wird der Präsident der Ukraine den Krieg mit weiteren Toten und Zerstörungen fortsetzen oder einen möglichen territorialen Kompromiss mit Putin in Betracht ziehen müssen? Wenn ja, welchen Druck wird es in diesem Fall aus Amerika im Falle eines Sieges von Trump geben? Wie wird man der eigenen Bevölkerung erklären, dass man Teile des Territoriums aufgeben muss, für die tausende unserer kämpfenden Helden ihr Leben gegeben haben?", sagte Klitschko in einem Interview mit der Zeitung "Corriere della Sera". Er schloss zudem nicht aus, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj in diesem Fall "wahrscheinlich ein Referendum" über mögliche territoriale Kompromisse abhalten müsste.

Bedeuten solche Äußerungen über Friedensinitiativen, die territoriale Zugeständnisse seitens der Ukraine vorsehen, dass sich die Ukraine einer diplomatischen Lösung zur Beendigung des Krieges öffnet? Und wäre das für die Menschen in dem Land und die westlichen Partner der Ukraine überhaupt akzeptabel?

"Fehlstart und politische Abrechnung Klitschkos"

Im Gespräch mit der DW bezeichnet der Direktor des Kiewer Zentrums für Politikforschung "Penta", Wolodymyr Fesenko, Klitschkos Aussagen als einen "Fehlstart". Denn es gebe derzeit gar keine echten Friedensgespräche, sondern lediglich Initiativen und Pläne, die nicht unbedingt eine Grundlage für Verhandlungen bilden würden. Klitschko betreibe vielmehr eine politische Abrechnung mit Präsident Selenskyj, mit dem er seit Jahren in einem persönlichen Konflikt stehe, glaubt der Politikwissenschaftler.

"Klitschko schürt in der Gesellschaft bestehende Ängste vor einem geheimen Abkommen. Aber es gibt keine Geheimabsprachen, es gibt überhaupt noch keine Friedensgespräche", betont Fesenko. Außerdem sei es unmöglich, ein Geheimabkommen zu schließen, weil man es sowieso mit der Gesellschaft umsetzen müsste. "Gerade dann wäre eine Zustimmung mittels eines Referendums, wie Klitschko angedeutet hat, nötig, damit Selenskyj nichts alleine preisgibt", so Fesenko.

Roger Hilton von der internationalen Denkfabrik GLOBSEC in Bratislava meint, die vergangenen zwei sehr schwierigen Kriegsjahre hätten einige ukrainische Politiker dazu gebracht, über mögliche territoriale Zugeständnisse zu sprechen. "Dass dies von einer Person wie Bürgermeister Klitschko öffentlich geäußert wird, ist ein Eingeständnis, dass das Land vor sehr schwierigen politischen Entscheidungen steht", sagt der Experte. Er meint, dass "solche Äußerungen des Kiewer Bürgermeisters ein innenpolitischer Testlauf sein könnten, inwieweit diese Position von der ukrainischen Gesellschaft getragen wird".

Klitschko, der bisher keinen Hehl aus seinen Ambitionen auf das Präsidentenamt gemacht hat, nutzt nach Ansicht von Hilton die Lage aus, um mit der Frage einer friedlichen Lösung eine "politische Dividende" für sich zu erzielen. Da in der Ukraine die Präsidentschaftswahlen 2024 turnusmäßig aufgrund des Kriegs nicht stattfinden konnten, könnte man Klitschkos Äußerungen, so Hilton, als Kampagne werten, die auf künftige Wahlen abzielt.

Hilton glaubt, dass territoriale Zugeständnisse nicht nur für die Ukraine selbst schmerzhaft, sondern auch für Europa von Nachteil wären. "Ich denke, dass die meisten westlichen Verbündeten der Ukraine einen Verzicht auf einen Teil des ukrainischen Territoriums nicht akzeptieren würden, weil dies für Europa eine ganze Reihe unlösbarer Probleme bringen würde. Zudem würde es in globaler Hinsicht einen Präzedenzfall für andere autoritäre Regime darstellen, die sich unrechtmäßig Gebiete aneignen wollen", so der Experte.

Welche Zugeständnisse würde die ukrainische Gesellschaft mittragen?

Aber wie werden mögliche territoriale Zugeständnisse von Ukrainerinnen und Ukrainern gesehen? Laut Umfragen ist seit Frühjahr 2023 ein allmählicher Anstieg des Anteils derjenigen zu beobachten, die zu solchen Zugeständnisse bereit sind, um so schnell wie möglich Frieden zu erreichen.

Im Mai dieses Jahres zeigten sich 32 Prozent der Befragten zu Zugeständnissen bereit, verglichen mit etwa zehn Prozent im Mai 2023. Gleichzeitig ist eine Mehrheit der Befragten (55 Prozent) ​​gegen jegliche territoriale Zugeständnisse an Russland, wie aus einer am 23. Juli veröffentlichten Studie des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) hervorgeht. Zum Vergleich: Im Zeitraum Mai 2022 bis Mai 2023 waren nur etwa acht bis zehn Prozent der Befragten zu territorialen Kompromissen bereit, die absolute Mehrheit von 82 bis 87 Prozent ​​war gegen jegliche Zugeständnisse.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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Image caption Die ukrainische Flagge vor einem durch russische Angriffe zerstörten Wohnhaus in Torezk
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Item 20
Id 69748965
Date 2024-07-24
Title Erdogan-Regierung will Straßenhunde einschläfern lassen
Short title Erdogan-Regierung will Straßenhunde einschläfern lassen
Teaser Nach einem neuen Gesetzesentwurf der regierenden AKP sollen in der Türkei herrenlose Hunde künftig eingeschläfert werden. Tierschützer und Experten sind empört, die Gesellschaft ist gespalten.
Short teaser Streit um Pläne zum Umgang mit Straßenhunden in der Türkei: Tierschützer sind empört, die Gesellschaft ist gespalten.
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Etwa vier Millionen Straßenhunde leben in der Türkei. Die machen vielen Bürgern Angst. Aus ihrer Sicht sind die Streuner ein Problem. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan möchte nun mit einer Änderung des Tierschutzgesetzes die Zahl der Streuner verringern: Bisherige Schutzvorschriften sollen fallen, damit herrenlose Straßenhunde eingeschläfert werden können. Tierfreunde im ganzen Land protestieren gegen den Gesetzentwurf und fordern, dass er zurückgezogen wird.

In der zuständigen parlamentarischen Kommission debattierten die Abgeordneten zwei Wochen lang in harschem Ton über den Gesetzentwurf. Er sorgte für heftigen Streit in dem Konferenzraum des Parlaments in Ankara – aber auch davor. Bürger und Tierschützer verfolgten auf dem Flur die Debatte auf einem Monitor und verbreiteten Äußerungen der Kommissionsmitglieder im Internet. Die Folge: Die Parlamentsverwaltung ließ den Monitor abmontieren. Außerdem wurden die Sicherheitsvorkehrungen vorm Parlamentsgebäude erhöht, die Zahl der Polizeikräfte vor Ort erhöht.

In der Nacht zum Mittwoch nahm die Kommissionsmehrheit alle 17 Artikel des neuen Tierschutzgesetzes an. Nun wird das Parlament darüber abstimmen - dort haben Erdogans AKP und ihre ultranationalistischer Verbündete MHP die Mehrheit. Der geplanten Änderung des Gesetzes scheint also nichts im Wege zu stehen.

"Sterbehilfe" für Tiere?

Doch der Protest von Tierrechtlern und der Opposition reist nicht ab. Das Töten der vielen Streuner dürfe nicht die Lösung sein. Die französische Schauspielerin Brigitte Bardot rief in einem Brief Erdogan dazu auf, das Gesetz zurückzuziehen. Ein türkischer Nationalschwimmer kündigte sogar an, aus Protest in den Hungerstreik zu treten, bis der Gesetzentwurf zurückgezogen wird. Kritisiert wird die Novelle auch deswegen, weil bei der Reform offenbar weder Bedenken aus der Zivilgesellschaft, noch von Tierärzte oder Oppositionsparteien berücksichtigt wurden.

Bisher stellt das geltende Gesetz alle Haustiere unter einen hohen Schutz: Sie müssen die Möglichkeit haben, artgerecht zu leben. Und das gilt auch für herrenlose Hunde.

Ziel des neuen Gesetzes ist, dass keine pflegebedürftigen Tiere mehr frei herumlaufen. Hunde, die an einer unheilbaren Krankheit leiden und die niemand bei sich aufnehmen will, sollen eingeschläfert werden. Die Regierung bezeichnete dies ursprünglich als "Sterbehilfe". Nach heftigen Verhandlungen wurde der Begriff aus dem Entwurf gestrichen und dieser umgeschrieben – an der praktischen Handhabung wird dies nichts ändern: "In Situationen, in denen die negative Verhaltensweise eines Tiers nicht kontrollierbar ist", könne sich ein Tierarzt für eine Tötung entscheiden, heißt es jetzt.

"Kein Land hat damit etwas erreicht"

Nach Ansicht von Tierärzten und Tierrechtlern ist das eine "Ausrede", um alle herrenlosen Tiere endgültig aus dem Straßenbild zu verbannen. Der Präsident des türkischen Tierarztverbandes, Murat Arslan, meint, dass die Tötung der Straßenhunde keine endgültige Lösung ist. Er plädiert dafür, die Tiere zu durch medizinische Eingriffe unfruchtbar zu machen. Gut ein Viertel der geschätzt vier Millionen Straßentiere sei bereits sterilisiert. "Auf der Welt gibt es kein einziges Land, das mit dem Töten ihre Probleme löste", so Arslan. Wenn der Staat die Möglichkeit geben würde, könne eine Tierärztin oder ein Tierarzt täglich zehn Tiere sterilisieren.

Güliz Gündüz von der Tierschutzorganisation "Gesetz fürs Leben" beklagt, das Töten sei eigentlich nichts Neues, es liefe bislang nur anders: "Die Tiere lebten ganz normal in ihren Nachbarschaften. Dann wurden sie von den Stadtverwaltungen an Stadtränder gedrängt. Man lässt sie dort hungern und dehydrieren", so Gündüz.

Sie warnt die Politik mit emotionalen Worten: "Wenn ihr in unsere Nachbarschaft kommt, um unsere Tiere wegzunehmen, werden wir wie eine Mauer vor euch stehen. Ihr könnt diese Tiere nicht töten, ohne uns zu töten."

"Die Türkei hat ein Problem mit herrenlosen Hunden"

Neşe Özkanoğlu, Stellvertretende Präsidentin des Zentrums für Tierrechte der Anwaltskammer Ankara, warnt, dass der Gesetzesentwurf ein "Potenzial" habe, um Hunde anlasslos zu töten. Und sie sieht ein weiteres Problem: "Was wir hier haben ist auf keinen Fall ein Gesetz, dass die Tierpopulation unter Kontrolle bringt, sondern eins, dass die gesellschaftliche Spaltung weiter vertiefen wird", so Özkanoğlu.

Erdogan verteidigte den Gesetzesentwurf mit den Worten: "Die Türkei hat ein Problem mit den herrenlosen Hunden. Unser Volk verlangt von uns, dass wir dieses Problem lösen. Wir können nicht tatenlos zuschauen."

Opposition will beim Hundetöten nicht mitmachen

Vorgesehen ist, dass Städte und Kommunen das neue Gesetz umsetzen. Die größte Oppositionspartei, die sozialdemokratische CHP, hat allerdings angekündigt, in den von ihr regierten Städten, die neuen Regelungen nicht anzuwenden - das würde derzeit für die Hälfte aller türkischen Städte gelten, unter anderem in der Millionenmetropole Istanbul und auch in der Hauptstadt Ankara. Letztendlich würden aber einfache kommunale Mitarbeiter das Risiko tragen: Der Gesetzesentwurf sieht Haftstrafen für Beamte vor, die das Gesetz nicht umsetzen.

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Image caption Ein Straßenhund in der U-Bahn-Station in Istanbul
Image source Istanbuler Stadtverwaltung/dpa/picture alliance
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Item 21
Id 69751710
Date 2024-07-24
Title Viele US-Prominente stellen sich hinter Kamala Harris
Short title Viele US-Prominente stellen sich hinter Kamala Harris
Teaser Hollywood-Stars und Popmusik-Ikonen von Cardi B bis Charli XCX haben sich hinter Kamala Harris versammelt. Für viele hat sie die besten Chancen, Donald Trump zu schlagen.
Short teaser Hollywood- und Musikstars von Cardi B bis Charli XCX versammeln sich hinter der Frau, die Donald Trump schlagen will.
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Bereits am 10. Juli forderte Schauspieler-Ikone George Clooney den angeschlagenen Joe Biden auf, sich aus demPräsidentschaftsrennen mit Donald Trump zurückzuziehen - und Platz für ein neues Gesicht zu machen. Inzwischen steht fest, dass der Amtsinhaber auf die Kandidatur verzichtet und seine Vizepräsidentin unterstützt. Umgehend bekannten sich zahlreiche Hollywood-Größen, von Robert De Niro bis Jamie Lee Curtis, zu Kamala Harris.

Curtis, Star von Horrorklassikern wie "Halloween", unterstützte die ehemalige Generalstaatsanwältin von Kalifornien und US-Senatorin bereits kurz nach der Bekanntgabe, obwohl Harris von der Demokratischen Partei noch gar nicht offiziell nominiert ist. Auf Instagram schrieb er: "Sie ist eine glühende Verfechterin der Rechte von Frauen und People of Color. Ihr Botschaft ist die von Hoffnung. Sie steht für die Einheit Amerikas in einer Zeit der großen nationalen Spaltung". Schon wenige Stunden später, am Montagmorgen Ortszeit, hatte Curtis' Post beinahe 250.000 Likes.

Popmusik soll die Jugend zum Wählen bringen

Schon am Tag, nachdem Biden sich für seine Vizepräsidentin ausgesprochen hatte, wurde Harris in Delaware von jubelnden Wahlkampfmitarbeitern zu Beyonces Hit "Freedom" (Freiheit) begrüßt. Der Song mit dem Rapper Kendrick Lamar stammt aus dem Beyonce-Album "Lemonade" von 2016.

Mehr noch: Die Pop-Ikone erlaubt Harris' Team, wie der US-Sender CNN berichtet, den Song während der gesamten Präsidentschaftskampagne zu verwenden, obwohl Beyonce die mutmaßliche demokratische Kandidatin noch gar nicht offiziell unterstützt.

Die vielleicht folgenreichste Unterstützung einer Prominenten kam jedoch von der anderen Seite des Atlantiks. Die britische Sängerin Charli XCX verkündete auf X (vormals Twitter): "Kamala IS brat" (Kamala ist eine Göre) - eine Anspielung auf das Album "Brat", mit dem die Sängerin die Charts stürmte. Mehr als 50 Millionen Menschen haben sich den Beitrag seitdem angesehen.

Die Verbindung zwischen Harris und der eher respektlosen Popmusik von Charli XCX dürfte bei der Generation Z gut ankommen. Die Altersgruppe der zwischen den Jahren 1995 und 2010 Geborenen könnte die Wahl zu Harris' Gunsten beeinflussen.

Das Wahlkampfteam der wahrscheinlichen Präsidentschaftskandidatin änderte sein Profil auf X kurzerhand in Limettengrün, es ist die Farbe der "Brat"-Platte, und verwendete dieselbe Schriftart für den Schriftzug "kamala hq".

Die Musik von Charlie XCX gehört zu den endlosen TikTok- und Social-Media-Memes, die eine tanzende und lachende Harris feiern, ein Thema, das ihre wachsende Affinität zu jüngeren Wählern ergänzt, wie die Social-Media-Persönlichkeit Ed Krassenstein auf X feststellte.

Hollywood steht eilig zu Harris

Elizabeth Wagmeister, Unterhaltungskorrespondentin bei CNN, schrieb auf X, die rasend schnelle Unterstützung von Prominenten für Harris in dieser Phase des Wahlkampfes sei "beispiellos". "Hollywood hat sich in den letzten 3 Stunden mehr um Kamala Harris versammelt als in diesem gesamten Wahlzyklus um Biden", schrieb sie am Sonntagabend.

Der Oskar-prämierte Schauspieler Robert De Niro hatte öffentlich wissen lassen, es sei wichtig, dass Biden zurücktrete, "weil es für unser Land nichts Wichtigeres gibt, als Donald Trump an der Wahlurne zu besiegen". "Mit Respekt, Bewunderung und Zuneigung danke ich Ihnen, Herr Präsident", fügte De Niro an die Adresse Joe Bidens hinzu.

Hollywood-Ikonen wie Barbra Streisand reagierten ebenfalls zügig auf die Nachricht. Die Sängerin kommentierte auf X die "bedeutenden Errungenschaften Bidens in seiner vierjährigen Amtszeit" und fügte hinzu, dass die Amerikaner "dankbar dafür sein sollten, dass er unsere Demokratie aufrechterhalten hat."

Cardi B: "Biden hätte die 'Fackel' früher weitergeben sollen"

"Ahahahaha let's gooooo i told yalll Kamala was supposed to be the 2024 candidate", schrieb die Rapperin Cardi B auf X und wies darauf hin, dass sie Harris schon Wochen zuvor als Bidens Nachfolgerin auserkoren hatte. "Es war sehr egoistisch von Biden und der gesamten Demokratischen Partei", sagte die Sängerin in einem Video. Sie hätte sich gewünscht, Harris wäre schon zu Beginn der Wiederwahlkampagne zur Kandidatin nominiert worden. "Ich finde, sie hätten die Fackel früher an Kamala weitergeben sollen, es wäre der perfekte Zeitpunkt für sie gewesen, um zu glänzen."

Zu erwarten steht, dass nun auch der aktuell größte Star der Popmusik, Taylor Swift, die wahrscheinliche Kandidatin Kamala Harris unterstützt. Schon bei den Wahlen vor vier Jahren hatte sich Swift für das Duo Biden/Harris stark gemacht. Nur wenige Stunden nach der Ankündigung, dass die Vizepräsidentin die Demokraten im November wahrscheinlich anführen wird, tauchten in den sozialen Medien Accounts wie "Swifties for Harris" auf. Die inoffizielle Swift-Fanseite auf X zielt darauf ab, "Taylor Swift-Fans zu mobilisieren, um demokratische Kandidaten auf dem Wahlzettel zu unterstützen".

Obama zögert noch mit seiner Unterstützung für Harris

Barack Obama, der seit dem Ende seiner Präsidentschaft 2017 vor allem durch seine Arbeit für Netflix und als Podcaster bekannt ist, lobte seinen ehemaligen Vizepräsidenten für das Ausscheiden aus dem Rennen. "Joe Biden war einer der bedeutendsten Präsidenten Amerikas und ein guter Freund und Partner für mich", schrieb er auf X. "Heute wurden wir auch - wieder einmal - daran erinnert, dass er ein Patriot von höchstem Rang ist." Im Gegensatz zu vielen hochrangigen demokratischen Politikern und einer Reihe von Popstars und Hollywood-Prominenten hat Obama Harris jedoch noch nicht unterstützt.

Unterdessen kritisieren Trump-Unterstützende wie der britische Schauspieler und Komiker Russell Brand in den sozialen Medien, Harris sei keine gute öffentliche Rednerin. Auch kommentierte er ihr Lachen. Die Republikaner haben begonnen, die potenzielle Kandidatin als "gackernde Kamala" abzuwerten. Wer allerdings zuletzt lacht, das wird der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen am 5. November zeigen.

Aus dem Englischen adaptiert von Stefan Dege.

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Image caption Kamala Harris findet viel Zuspruch von US-amerikanischen Prominenten
Image source Erin Schaff via REUTERS
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Item 22
Id 69749481
Date 2024-07-24
Title Afghanistan: Frauen werden in Taliban-Gefängnissen gefoltert und vergewaltigt
Short title Frauen in Taliban-Gefängnissen gefoltert und vergewaltigt
Teaser Es ist unklar, wie viele Frauen in Afghanistan inhaftiert sind. Es häufen sich Berichte über Vergewaltigung und schwerer Folter durch die Taliban.
Short teaser Es ist unklar, wie viele Frauen in Afghanistan inhaftiert sind. Es häufen sich Berichte über Vergewaltigung und Folter.
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Seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan werden Frauen- und Menschenrechtsaktivistinnen verfolgt. In den letzten knapp drei Jahren gab es zahlreiche Berichte über Folter und sexuelle Misshandlung von inhaftierten Frauen durch die Taliban. Anfang Juli berichtete die britische Tageszeitung The Guardian über die Vergewaltigung einer afghanischen Menschenrechtsaktivistin in einem Taliban-Gefängnis. Der Zeitung lag ein Video vor, das zeigte, wie diese Frau von bewaffneten Männern vergewaltigt und gefoltert wurde. Die Taliban hatten das Video aufgenommen und es nach deren Freilassung an die Menschenrechtsaktivistin geschickt. Damit wollten sie sie erpressen und zum Schweigen bringen. Sie floh aus Afghanistan und schickte das Video an afghanische Journalisten.

"Wir hatten eine Woche vor The Guardian über die Vergewaltigung und Folter inhaftierter Frauen durch die Taliban berichtet," sagte Zahra Nader im Gespräch mit der DW. Die 34-jährige afghanisch-kanadische Journalistin ist Chefredakteurin des Online-Magazins "Zan Times". Sie hat das Magazin im August 2022 ins Leben gerufen, um Mädchen und Frauen in ihrem Heimatland eine Stimme zu geben. Eine kleine Gruppe von Journalistinnen in Afghanistan sowie afghanische Journalistinnen außerhalb des Landes arbeiten für dieses Magazin und berichten auf Dari und Englisch.

Afghanische Journalistinnen recherchieren Fälle von Folter und Vergewaltigung

Ihr Netzwerk vor Ort recherchiert seit langem über die inhaftierten Frauen in Afghanistan, die in den Gefängnissen gefoltert und oft sexuell misshandelt oder vergewaltigt werden. "Wie viele Frauen in afghanischen Gefängnissen inhaftiert sind, weiß niemand ganz genau," sagt Nader und fügt hinzu: "Die Taliban weigern sich, viele Festnahmen zu bestätigen. Wir wissen nicht, in welchem Zustand die inhaftierten Frauen sich befinden. Viele von ihnen wurden willkürlich verhaftet. Augenzeugen berichten uns, dass die Taliban oft junge Frauen verhaften, die ohne männliche Begleitung unterwegs sind, auch wenn sie Hijab tragen."

Die Frauen verschwinden in den überfüllten Zellen der Frauengefängnisse und sind den Männern ausgeliefert, die diese nach Belieben behandeln. "Gerechtigkeit und Justiz existieren nicht in Afghanistan" betont Nader weiter und fügt hinzu: "Es gibt keine Justiz. Keine Verwaltung. Die Taliban sind sich nicht einmal einig, was genau die Hijab-Vorschriften für Frauen bedeuten. Je nach Ort und Gruppierung wird entschieden, was richtig und was falsch ist."

Nach Vergewaltigung töten sich manche Frauen selbst

Seit ihrer Machtergreifung haben die Taliban die Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan massiv eingeschränkt. Sie werden aus dem öffentlichen Leben verbannt, von Bildungseinrichtungen und dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen und in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Frauen dürfen in der Öffentlichkeit nur unterwegs sein, wenn sie von einem männlichen Verwandten, einem Mahram, begleitet werden.

Wenn sie sich gegen die Unterdrückung wehren, werden sie verhaftet. Manche verschwinden spurlos. "Einige bringen sich selbst um, nachdem sie freigelassen werden", sagt Zahra Nader. Letzten Monat berichtete Zan Times darüber, wie einige junge Frauen, die wegen der "schlechten Hijab"-Regeln der Taliban verhaftet wurden, in Gefängnissen sexuell missbraucht und vergewaltigt wurden und danach Suizid begangen haben. Vergewaltigung sei für viele Frauen in Afghanistan immer noch der schlimmste Albtraum.

Lilma Dawlatzai weiß, wie schwer es ist, mit ihrem Gefängnistrauma zu leben. Sie wurde im Gefängnis nicht vergewaltigt, aber schwer gefoltert. Die ehemalige Vorsitzende des Frauenrats im Distrikt Chaharbulak in der Provinz Balkh versteckte sich nach der Machtübernahme der Taliban bei Bekannten. "Sie haben mich aber gefunden" sagt Lilma Dawlatzai im Gespräch mit der DW. "Ich landete in einem Gefängnis, wo sie mich schlugen und mit Messern auf mich losgingen. Auf meine Wunden streuten sie Salz." Lilma Dawlatzai versuchte, mit einem der Taliban zu verhandeln. Sie übergab ihm alles, was sie in Afghanistan hatte, und konnte mit seiner Hilfe das Gefängnis verlassen. Sie floh aus dem Land und lebt heute in Deutschland. "Die Taliban haben kein Erbarmen. Sie erlaubten mir nicht einmal, nach religiösen Ritualen meine Hände und mein Gesicht zu waschen, um zu beten. Sie behandeln die Gefangenen, wie sie wollen".

Taliban wollen öffentliche Steinigung von Frauen wieder einführen

Nach all den Maßnahmen und Verboten, die die Taliban gegen Frauen durchgesetzt haben, planen sie nun, die öffentliche Steinigung von Frauen wieder einzuführen. Seit ihrer zweiten Machtübernahme bestrafen die Taliban Menschen öffentlich durch Auspeitschen, Erschießen und Erhängen. Die Steinigung von Frauen wegen Ehebruchs soll demnach wieder eingeführt werden, kündigte der Taliban-Führer Hibatullah Akhundzada Ende März in einer Audiobotschaft an. Gleichzeitig richtete er sich direkt an westliche Regierungen: "Ihr mögt es als Verletzung der Frauenrechte betrachten, wenn wir Frauen wegen Ehebruchs öffentlich steinigen oder auspeitschen", heißt es in der Aufnahme, die über die Kanäle des Staatsrundfunks verbreitet wurde. "Genauso wie ihr behauptet, euch für die Befreiung der Menschheit einzusetzen, repräsentiere ich Allah, während ihr den Satan repräsentiert."

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Image caption Protestierende Frauen in Afghanistan. Taliban schießen in die Luft, um eine Kundgebung aufzulösen. Viele Frauenrechtsaktivistinnen werden in Gefängnissen festgehalten.
Image source Wakil Kohsar/AFP
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Item 23
Id 69743625
Date 2024-07-24
Title Tschechischer Ex-Premier und Milliardär Andrej Babis wechselt zu Europas Rechtsextremen
Short title Tschechischer Ex-Premier wechselt zu Europas Rechtsextremen
Teaser Die stärkste tschechische Partei ANO schließt sich unter ihrem Chef, Ex-Premier Babis, den rechtsextremen EU-skeptischen "Patrioten für Europa" um Viktor Orban an. Steht nun Tschechiens europäische Ausrichtung in Frage?
Short teaser Die Partei von Tschechiens Ex-Premier Babis schließt sich den rechtsextremen "Patrioten für Europa" um Viktor Orban an.
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Bisher gehörte Tschechiens größte Parlamentspartei, die derzeit oppositionelle ANO-Bewegung des Milliardärs und Ex-Premiers Andrej Babis, nominell zu den Liberalen in Europa. Im Europäischen Parlament war sie Mitglied der liberalen Fraktion Renew Europe - obwohl Babis seit Jahren vor allem mit Stammtisch-Sprüchen gegen Migranten auffällt und viele Beobachter ANO als rechtspopulistische Kraft einstufen.

Nun änderte Babis auch formal seinen Kurs - noch vor der ersten Sitzung des neuen Europäischen Parlaments schloss sich ANO der neu gegründeten EU-skeptischen Rechtsaußen-Fraktion "Patrioten für Europa" an. Ihre Gründung hatte Babis selbst mit ausgerufen - Ende Juni 2024 in Wien zusammen mit dem ungarischen Premier Viktor Orban und dem Chef der rechtsextremen österreichischen FPÖ, Herbert Kickl. Inzwischen sind die "Patrioten für Europa" die drittstärkste Fraktion im Europaparlament.

Lange Zeit hatten Babis und ANO nur bedingt mit Rechtspopulisten und Rechtsextremen zu tun. Während seiner Regierungszeit 2017 bis 2021 als Premier fiel Babis eher mit Kritik an der mangelnden Effizienz der EU auf, weniger durch Positionen wie beispielsweise die Orbans. In der ANO gab es so manche Politiker, die für klassischen politischen Liberalismus und rechtsliberale Wirtschaftspolitik standen.

Alleingang

Doch seit einigen Jahren rückt Babis selbst politisch immer weiter nach Rechtsaußen. Der Beitritt zu den "Patrioten für Europa" ist das vorläufige Ende dieses Schwenks - und laut Beobachtern in Tschechien eine einsame Entscheidung von Babis. "Er hat das offensichtlich allein entschieden, ohne das Wissen seiner Abgeordneten", so der Brünner Politikwissenschaftler Stanislav Balik gegenüber der DW.

Bei seinem Treffen mit Orban und Kickl Ende Juni in Wien schlug Babis ähnliche Töne an wie seine beiden Verbündeten: "Wir werden die europäische Politik so verändern, dass sie wieder den Nationen und unserem Volk dient", sagte er. "Wir werden die nationale Souveränität über den Föderalismus, die Freiheit über die Befehle und den Frieden über den Krieg stellen."

Zahlreiche Affären

Es ist ein kurvenreicher politischer Weg, den Babis bis hierher zurückgelegt hat. Ursprünglich war er in Tschechien nur als einer der reichsten Männer des Landes bekannt. Der gebürtige Slowake wurde mit seiner Agrofert-Holding zum Milliardär, zu ihr gehören Firmen im Agrar-, Lebensmittel- und Chemiebereich. 2011 stieg Babis mit seiner Protestbewegung ANO (Aktion unzufriedener Bürger) in die Politik ein. Obwohl Babis selbst zum Establishment gehört, gibt er sich den Anstrich eines Kämpfers gegen das Establishment und für die Interessen der kleinen Leute. Deshalb wird er bisweilen als tschechischer Trump tituliert.

In den vergangenen Jahren fiel er durch zahlreiche Affären auf. So etwa übergab er seine Agrofert-Holding vor Jahren einer Treuhand-Gesellschaft, um als Politiker dem Vorwurf von Interessenkonflikten zu entgehen. Faktisch behielt er die Kontrolle über das Management der Holding. Vom Verdacht des Betrugs mit EU-Subventionen wurde er nach jahrelangen Prozessen jedoch freigesprochen. Nicht freigesprochen wurde er vom Vorwurf, einst Agent der tschechoslowakischen Staatssicherheit gewesen zu sein.

Intensivierte rechte Rhetorik

Parallel zum Wirbel um seine Affären intensivierte Babis auch seine rechte Rhetorik. Vor allem hetzte er in den vergangenen Jahren zunehmend gegen Migranten, obwohl er zumindest zeitweise selbst illegal eingereiste Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Ländern beschäftigte. Vor wenigen Wochen forderte er im tschechischen Parlament, dass man zur Lösung der Migrationskrise in Europa "bewaffnete Truppen an südeuropäischen Stränden aufstellen" solle.

Die Mitgliedschaft bei den Patrioten macht Babis nun den Weg frei für uneingeschränkte demagogische Kritik an der Europäischen Union. Beobachter befürchten, dass diese Politik in der Tschechischen Republik zu einem Anstieg der Anti-EU-Stimmung führen könnte, ähnlich wie in Großbritannien vor dem Austritt aus der EU. Laut einer im April 2024 durchgeführten Umfrage der Agentur STEM sind nur 51 Prozent der Tschechen mit der EU-Mitgliedschaft des Landes zufrieden.

"Babis ist braun geworden"

Die ANO-Bewegung sieht in ihrem Beitritt zu den Patrioten für Europa jedoch keine Vorbereitung auf einen Austritt Tschechiens aus der Europäischen Union. "Wir sind nicht destruktiv in dem Sinne, dass wir Europa auflösen wollen", sagte der stellvertretende ANO-Vorsitzende Karel Havlicek kürzlich gegenüber tschechischen Medien.

Vertreter der tschechischen Regierung kritisierten den Beitritt der ANO zu den Patrioten für Europa indessen scharf. "Nennen wir das Kind beim Namen", schrieb Ministerpräsident Petr Fiala auf X. "Die Patrioten für Europa dienen den Interessen Russlands. Ob bewusst oder unbewusst. Und damit bedrohen sie die Sicherheit und Freiheit Europas."

Durch ihre Mitgliedschaft bei den Patrioten für Europa sei ANO in den rechtsextremen Bereich gerückt, kritisiert seinerseits Ivan Bartos, stellvertretender Ministerpräsident und Chef der Piratenpartei auf X. "Andrej Babis ist braun geworden. Er schaut zu Orban auf und hat sich mit nationalistischen Parteien aus anderen europäischen Ländern zusammengetan."

Weder extrem rechts, noch extrem links

Stanislav Balik sieht im europapolitischen Kurswechsel von Babis in erster Linie ein innenpolitisches Ziel. Er werbe damit um die Stimmen der Wähler der extremen Rechten. "Er hat beschlossen, die nationalistische, sogenannte patriotische Szene an sich zu ziehen. Um dies zu erreichen, ist die Betonung seiner Freundschaft mit Viktor Orban sehr hilfreich", sagte er der DW.

Gleichzeitig glaubt Balik aber nicht, dass ein Beitritt zu den Patrioten eine klare Verschiebung der ANO nach extrem rechts bedeute. "Sie ist weder extrem rechts noch extrem links. Die ANO-Bewegung holt sich die Wähler dort ab, wo sie kann", so der Politologe.

Item URL https://www.dw.com/de/tschechischer-ex-premier-und-milliardär-andrej-babis-wechselt-zu-europas-rechtsextremen/a-69743625?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/69517728_302.jpg
Image caption Der tschechische Ex-Premier Andrej Babis (li.), der österreichische FPÖ-Chef Herbert Kickl (Mi.) und Ungarns Premier Viktor Orban (re.) am 30.06.2024 in Wien bei der Vorstellung der neuen Parteienallianz "Patrioten für Europa"
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Item 24
Id 69734273
Date 2024-07-24
Title 50 Jahre Demokratie in Griechenland - Eine positive Bilanz, trotz Krisen und Rückschlägen
Short title Griechenland feiert 50 Jahre Demokratie
Teaser Am 24. Juli 1974 ging die Militärdiktatur in Griechenland zu Ende. Seither durchlebt das Land Höhen und Tiefen. Doch die Demokratie ist gefestigt und wehrhaft.
Short teaser Am 24. Juli 1974 endete die Militärdiktatur in Griechenland. Trotz Tiefen ist die Demokratie seitdem gefestigt.
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Mitten in einer endlosen Hitzewelle feiert Griechenland den 50. Jahrestag der Wiederherstellung seiner Demokratie: mit Staatsakten, Ausstellungen, Konzerten und mit der Prägung einer Zwei-Euro-Gedenkmünze.

Es herrscht Freude, weil sich die Demokratie zum ersten Mal in der modernen Geschichte des Landes so lange als widerstandsfähig erwiesen hat. Aber es herrscht auch Nachdenklichkeit, weil ihre Wiederherstellung 1974 auf einer Tragödie beruhte, die immer noch andauert. Denn der Zusammenbruch der Militärjunta hängt eng mit der Spaltung Zyperns zusammen.

Die Spaltung Zyperns und das Ende der Junta

Rückblick: Am 15. Juli 1974 hatten die Athener Obristen, die 1967 die Macht an sich gerissen hatten, einen Putsch gegen die legale Regierung des zypriotischen Präsidenten, Erzbischof Makarios III., inszeniert. Die Türkei fürchtete, dass Griechenland seine Herrschaft über Zypern ausdehnen wollte und schickte Truppen auf die Insel. Denen konnte das griechische Militär nicht standhalten. Seitdem ist ein Teil Zyperns von türkischem Militär besetzt und Nikosia die letzte geteilte Hauptstadt Europas.

Das militärische Scheitern auf Zypern führte zum Zusammenbruch der Junta in Griechenland. Regime-kritische Teile der Marine setzten Machthaber Dimitrios Ioannidis ab. Am 23. Juli 1974 übergaben die Obristen die Macht an eine zivile Regierung. Einen Tag später, am 24. Juli, kehrte der frühere Ministerpräsident Konstantin Karamanlis aus dem französischen Exil zurück und stellte kurz danach sein neues Kabinett vor. Auch bekannte Persönlichkeiten aus dem Kulturleben wie Mikis Theodorakis und Melina Mercouri kehrten aus der Verbannung in die Heimat zurück.

Natürlich hatte es schon zuvor Widerstand gegen die Diktatur gegeben. Der Höhepunkt der Revolten war der Aufstand der Studenten am Polytechnikum Athen, der am 17. November 1973 von der Militärdiktatur blutig niedergeschlagen wurde. Tausende Griechen verließen ihre Heimat und gingen ins Exil. Die griechische Redaktion der Deutschen Welle wurde zum Sprachrohr des Widerstands gegen die Junta. Doch der Auslöser für den Sturz der Diktatur waren die Geschehnisse auf Zypern.

Die erste wehrhafte Demokratie

In diesen Tagen erinnert sich Griechenland an das Ende der Diktatur und schaut stolz auf 50 Jahre Demokratie zurück. Seit Wochen präsentieren Politikerinnen, Juristen, Historikerinnen, Politikwissenschaftler, Künstlerinnen und Journalisten ihre Sicht auf Erfolge und Misserfolge des Landes in den zurückliegenden fünf Jahrzehnten. Dabei spricht man immer noch von der "Metapolitefsi", der Transformationsperiode, als ob man noch nicht sicher wäre, dass die Demokratie auch tatsächlich hält.

Doch die Dritte Hellenische Republik ist stabil und wehrhaft, trotz zahlreicher politischer und ökonomischer Krisen. Das Militär wurde endgültig aus der Politik verdrängt. Der König war schon im Dezember 1967 durch die Junta abgesetzt worden und kehrte auch nach deren Sturz nicht zurück. Der Widerstand gegen die deutsche Besatzung während der Nazizeit wurde vom Staat anerkannt, die kommunistische Partei legalisiert. Die meisten Wunden des Bürgerkriegs 1944-1949 sind überwunden. Und auch der Parlamentarismus funktioniert seit 50 Jahren mehr oder weniger gut.

Regierungswechsel als Normalität

Auch Regierungswechsel gehören in der dritten griechischen Republik inzwischen zum Alltag. Das wurde zum ersten Mal im Jahr 1981 deutlich, als die Sozialisten von PASOK die Wahlen gewannen und die Konservativen der Nea Dimokratia (ND) ihre Niederlage akzeptierten.

Auch nach dem Fast-Staatsbankrott 2010 blieb die Demokratie stabil. Zum ersten Mal wurde das Land damals von einer großen Koalition aus den Erzfeinden ND und PASOK regiert, und als diese Regierung es nicht schaffte, die Schulden- und Wirtschaftskrise zu bewältigen, kam 2015 die radikale Linke von SYRIZA an die Macht - in einer unheiligen Koalition mit Rechtspopulisten.

Nachdem die Krise mit viel Mühe, vielen Opfern und massiver Hilfe aus der EU endlich überwunden war, entschieden die Griechen sich wieder für die Konservativen.

Klares Bekenntnis zum Westen

Die moderne griechische Republik hat sich für die Zugehörigkeit zum Westen entschieden. Schon seit 1952 ist das Land Mitglied der NATO. 1981 wurde es Mitglied der Europäischen Gemeinschaft, 2001 Mitglied der Eurozone. Sogar während der Finanzkrise 2009-2019 und trotz mancher Drohungen europäischer Politiker blieb Griechenland in der EU.

Auch im Inneren festigte sich das Land. Es bekam ein öffentliches Bildungs- und Gesundheitssystem, offen für alle, und schon Anfang der 1980er Jahre ein sehr fortschrittliches Familienrecht: Gleiche Rechte für Männer und Frauen (mindestens in der Theorie), sogar legale Abtreibungen. Kürzlich (15.02.2024) legalisierte Griechenland als erstes christlich-orthodoxes Land die gleichgeschlechtliche Ehe.

"Heimat, Religion, Familie"

Doch selten konnten (und wollten) die griechischen Regierungen Gesetze gegen den Willen der Kirche verabschieden. Das Motto der Militärjunta, "Heimat, Religion, Familie", ist immer noch in den Köpfen eines Teils der Bevölkerung verankert. Während der Wirtschaftskrise erschien zum ersten Mal nach der Diktatur eine militante extreme Rechte auf der politischen Bühne. Die neonazistische Splitterpartei "Goldene Morgenröte" schaffte es 2012 ins Parlament und wurde immer wieder gewählt, bis einige ihrer Mitglieder im Jahr 2020 als Mörder verurteilt und die Partei als kriminelle Organisation verboten wurde.

Eine Frage der Qualität

Doch trotz aller Errungenschaften sind die Griechen mit der Qualität ihrer Demokratie nicht zufrieden. Laut einer Umfrage für das Institut Eteron glauben zwar 82,2 Prozent, dass es keine bessere Staatsform als die Demokratie gibt. Doch rund 70 Prozent sind mit der Funktionsweise der Demokratie in Griechenland unzufrieden.

Nur 34 Prozent vertrauen den Behörden, 31,4 Prozent vertrauen der Regierung und 29,4 Prozent der Justiz des Landes. Das Parlament kann sich sogar nur auf 25,9 Prozent Zustimmung stützen. Großes Misstrauen schlägt den Parteien entgegen, denen nur 13,6 Prozent der Bevölkerung vertrauen. Schlechter stehen nur die Medien dar, die 6,5 Prozent Zustimmung genießen.

Die Bürgerinnen und Bürger bemängeln, dass Regierungsentscheidungen von den Interessen der Mächtigen und Reichen beeinflusst werden und dass Parteien nicht für das öffentliche Interesse kämpfen. Sie sind empört über Korruption und mangelnde Rechenschaftspflicht von Parteien und Politikern. Und sie blicken pessimistisch in die Zukunft: Mehr als die Hälfte sind der Meinung, dass die aktuelle Generation schlechter lebt als ihre Eltern und zwei Drittel gehen davon aus, dass es der nächsten Generation noch schlechter gehen wird.

Dieser Artikel wurde aktualisiert.

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Image caption Panzer vor dem Parlament in Athen im April 1967, zwei Tage nach dem Putsch. Im Juli 1974 brach die Junta zusammen.
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Item 25
Id 69743617
Date 2024-07-23
Title Todesurteil gegen Deutschen in Belarus: Was dazu bekannt ist
Short title Todesurteil gegen Deutschen in Belarus: Was dazu bekannt ist
Teaser In Minsk wurde der deutsche Staatsbürger Rico Krieger zum Tode verurteilt. Wer ist er und was wird ihm vorgeworfen? Welche Ziele könnte das Regime von Alexander Lukaschenko damit verfolgen?
Short teaser In Minsk wurde der deutsche Staatsbürger Rico Krieger zum Tode verurteilt. Wer ist er und was wird ihm vorgeworfen?
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Mit vier Wochen Verzögerung wurde bekannt, dass gegen den deutschen Staatsbürger Rico Krieger bereits am 24. Juni in Belarus die Todesstrafe verhängt wurde. Auf Anfrage der Deutschen Welle teilt das Auswärtige Amt in Berlin mit, der Betroffene werde über die Botschaft in Minsk konsularisch betreut und man setze sich bei den belarussischen Behörden intensiv für ihn ein. "Die Todesstrafe ist eine grausame und unmenschliche Form der Bestrafung, die Deutschland unter allen Umständen ablehnt. Wir setzen uns weltweit für ihre Abschaffung und bei allen Betroffenen intensiv gegen ihre Vollstreckung ein", erklärt das deutsche Außenministerium.

Rico Krieger wurde in insgesamt sechs Anklagepunkten gemäß des belarussischen Strafgesetzbuches schuldig gesprochen - wegen Söldnertums, Spionage, Beteiligung an einer extremistischen Vereinigung, Zerstörung eines Verkehrsobjekts und illegalen Umgangs mit Waffen, Sprengstoff und Munition sowie Terrorismus.

Wer ist der Verurteilte?

Über Rico Krieger ist wenig bekannt. So gibt es im LinkedIn-Netzwerk zwei Profile mit identischen Daten und Fotos - eines davon unter dem Namen Rico Krieger und das zweite für einen Rico Krieger Heinemann. Beide Profile wurden im August 2023 eingerichtet. Jüngst tauchte in einem propagandistischen Telegram-Kanal ein Foto aus einem belarussischen Gericht auf, wo der Angeklagte mit der Person übereinstimmt, die auf den Fotos jener LinkedIn-Profile zu sehen ist.

In einer Bewerbung auf eine offene Stelle schrieb der Profilinhaber, er sei 29 Jahre alt (jetzt wahrscheinlich 30), in Berlin geboren und in Deutschland wohnhaft, wolle aber innerhalb des nächsten Jahres in die USA ziehen. Er hinterließ eine amerikanische Telefonnummer zur Kontaktaufnahme. Ferner gibt es einen Telegram-Account, wo dasselbe Foto wie bei den LinkedIn-Profilen verwendet wird.

Auf LinkedIn bezeichnet sich Krieger als Mechaniker, Wachmann, Sozialarbeiter und Rettungssanitäter. Als solcher begann er im Juni 2021 eine Tätigkeit beim Deutschen Roten Kreuz in Niedersachsen. Das DRK bestätigte, dass Rico Krieger für die Organisation gearbeitet hat. Dies habe aber nichts mit seinem Aufenthalt im Ausland zu tun.

Was ist über den Fall bekannt?

Nach Angaben des Anwalts des belarussischen Menschenrechtszentrums "Wjasna" (Frühling), Pawel Sapelko, geriet Rico Krieger am 6. Oktober 2023 in belarussische Untersuchungshaft. Unbekannt ist, wo er vom Regime des Machthabers Alexander Lukaschenko festgenommen wurde. Propagandamedien in Belarus berichteten, Rico Krieger habe im Herbst 2022 angeblich Kontakt zum ukrainischen Geheimdienst aufgenommen und sich dem Kastus-Kalinouski-Regiment anschließen wollen. Das ist ein Verband aus belarussischen Freiwilligen, die an der Seite der Ukraine gegen Russlands Angriffskrieg kämpfen. Das Regiment hatte nach eigenen Angaben nie etwas mit Krieger zu tun.

"Es ist unklar, warum er angeblich zum Kastus-Kalinouski-Regiment wollte und nicht zur Internationalen Legion der Ukrainischen Armee, die für Ausländer eingerichtet wurde. Und warum sollte er ausgerechnet nach Belarus wollen?", fragt sich der belarussisch-deutsche Historiker Alexander Friedman.

Dem belarussischen Gericht zufolge war Krieger am 2. Oktober "mit Telefonen und einer Drohne" als Tourist nach Belarus eingereist - aus welchem ​​Land und mit welchem ​​Visum ist unbekannt. Privatpersonen dürfen seit September 2023 keine Drohnen nach Belarus einführen und die Kontrollen an der Grenze zur Europäischen Union sind sehr gründlich.

Angebliche Explosion

Krieger wird Terrorismus vorgeworfen, weil er an einer Explosion beteiligt gewesen sein soll, berichtet Pawel Sapelko der DW. Um was für eine Explosion es sich handelte und wo genau sie sich ereignete, ist unbekannt. Beim Prozess hieß es unter anderem, Krieger habe vom Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) den Auftrag erhalten, in Ossipowitschi rund 100 Kilometer südöstlich von der belarussischen Hauptstadt Minsk zu spionieren und Objekte zu fotografieren.

So soll Krieger laut Gericht am 4. Oktober die dortige Militärkaserne und Ausrüstung sowie am nächsten Tag das Gelände des Bahnhofs Oserischtsche am Rande von Minsk fotografiert haben. Angeblich habe Krieger das gesamte Material an den ukrainischen SBU geschickt und daraufhin die Koordinaten eines Verstecks mit einem Sprengsatz erhalten, den er dann an den Gleisen jenes Bahnhofs angebracht haben soll.

Wenn man dies mit dem Datum von Kriegers angeblicher Einreise nach Belarus vergleicht, dann deckt sich das mit der Nachricht über eine Explosion am 5. Oktober 2023 in Oserischtsche. Der unabhängige "Verband der belarussischen Eisenbahner" berichtete, die Sprengkraft sei recht stark gewesen, doch es habe keine ernsten Schäden oder Verluste gegeben.

Der Pressesprecher des belarussischen Außenministeriums, Anatoli Glas, berichtet von Gesprächen mit deutschen Diplomaten über den Fall Krieger. Auf Wunsch des deutschen Außenministeriums habe die belarussische Seite mögliche Optionen vorgeschlagen, erklärte Glas. Das Auswärtige Amt äußerte sich bisher nicht zu diesen Vorschlägen.

"Sie haben diesen ganzen Prozess nicht geführt, um Krieger hinzurichten, sondern um ihn auszutauschen und etwas dafür zu bekommen", meint Alexander Friedman. Und der aus Russland geflohene Anwalt Wadim Prochorow sagt der DW, das Regime von Wladimir Putin habe einen deutschen Staatsbürger gebraucht, um mit Hilfe seines Vasallen Alexander Lukaschenko jetzt schachern zu können.

Urteil ist in Kraft getreten

Die belarussischen Staatsmedien berichten, Krieger habe gegen das Urteil nicht protestiert, es sei in Kraft getreten und könne jederzeit vollstreckt werden. Seit 1991 wurden in Belarus mehr als 300 Todesurteile vollstreckt.

Menschenrechtsorganisationen haben Belarus aufgerufen, die Hinrichtung zu stoppen. Das Todesurteil sei besonders alarmierend, weil es vor belarussischen Gerichten zahlreiche und systematische Verstöße gegen das Recht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren und einen fairen Prozess gebe, teilte die NGO Libereco in Berlin mit. Zu den Unterzeichnern des Appells gehören auch belarussische Organisationen im Exil.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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Image caption Sicherheitskräfte des Regimes in Belarus
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Item 26
Id 69744014
Date 2024-07-23
Title Was Kamala Harris für die Wirtschaft bedeuten würde
Short title Was Kamala Harris für die Wirtschaft bedeuten würde
Teaser Mit dem Ausscheiden von Joe Biden aus dem Präsidentschaftswahlkampf kehrt bei den Demokraten ein Gefühl der Hoffnung zurück. Die Unternehmen hingegen sind unsicher, was sie von einer Harris-Regierung halten sollen.
Short teaser Will die bisherige Vizepräsidentin Harris für ihre Kandidatur eigene wirtschaftspolitische Akzente setzen?
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Noch vor einer Woche sah es so aus, als sei die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus nach den Wahlen im November so gut wie sicher. Doch seit US-Präsident Joe Biden am Sonntag bekannt gab, nicht zur Wiederwahl anzutreten und stattdessen die 59-jährige Vizepräsidentin Kamala Harris zu unterstützen, ist das Rennen wieder spannend.

Harris könnte neuen Schwung in den Wahlkampf bringen und beim Parteitag der Demokraten im August in Chicago zur offiziellen Kandidatin gekürt werden. Nach Bidens Rückzug konnte sie bereits einen enormen Anstieg der Wahlkampfspenden verzeichnen: mehr als 81 Millionen Dollar (umgerechnet rund 74 Millionen Euro) allein in den ersten 24 Stunden.

Neben Wählern, Spendern und Politikern verfolgen auch Wirtschaftsvertreter gespannt die Entwicklungen und fragen sich, was eine Präsidentin Harris für ihr Geschäft bedeuten könnte. Unsicherheit ist etwas, das Unternehmen nicht mögen. Bidens Rückzug hat die Unsicherheit zum Teil, aber nicht völlig beseitigt.

'America First' und die Demokraten

Sicher ist nach Bidens Entscheidung zumindest, dass die USA im kommenden Jahr von einem anderen Menschen regiert werden. Wie sich allerdings die Wirtschaftspolitik einer Präsidentin Harris von der Bidens unterscheiden würde, ist schwerer auszumachen.

"Harris ist tendenziell progressiver als Biden, aber ich glaube nicht, dass sie sich in Wirtschaftsfragen sehr unterscheiden würde", sagt Dan Mallinson, Professor für Politik und Verwaltung an der Pennsylvania State University in Harrisburg. "Beide sind arbeitnehmerfreundlich. Beide befürworten die Ausweitung der Elternzeit. Beide unterstützen Maßnahmen wie (die Krankenversicherungen - Anm. d. Red.) Medicaid, Medicare und die Sozialversicherung."

Für Unternehmer und Manager geht es im Moment weniger um die Frage, wofür Kamala Harris und die Demokraten stehen - schließlich ist ein starkes Abweichen vom Kurs der vergangenen Jahre unwahrscheinlich. Viel mehr interessiert sie die Frage, welche Politik Trumps durch einen Sieg von Harris verhindert würde.

Eines von Trumps größten Zielen ist die Erneuerung seiner "America First"-Agenda. Dazu gehören - neben der Stärkung der Außengrenzen und der Beschränkung der Migration - auch Zollerhöhungen von zehn Prozent auf sämtliche Waren, die in die USA eingeführt werden. Für Importe aus China hat Trump sogar einen Zoll von 60 Prozent angekündigt.

Biden hat nach seinem Amtsantritt 2021 viele der von seinem Vorgänger Trump eingeführten Zölle beibehalten und sogar weitere Handelshemmnisse hinzugefügt. Diese Zölle sind jedoch auf bestimmte Branchen beschränkt.

Die von Trump geplante pauschale Zollerhöhung auf sämtliche Waren aus allen Ländern würde dagegen den Wettbewerb einschränken und die Preise für US-Bürger in die Höhe treiben. Die Folge wären eine anhaltende Inflation und weiterhin hohe Zinsen.

Diese Aussicht - und die Angst vor einem globalen Handelsstreit - hat so manche Firmenleitung darüber nachdenken lassen, wie sie ihre Geschäfte führen sollen, wenn Trump die Wahl gewinnt und seine Pläne umsetzt. Diese Firmen - und auch die in China - werden jetzt erst einmal aufatmen. Wenn Harris wie erwartet zur Präsidentschaftskandidatin nominiert wird, dürfte das den Demokraten neuen Auftrieb geben.

Aktien, Dollars, Kryptowährungen

Einige US-Branchen werden von den besseren Siegeschancen der Demokraten allerdings wenig begeistert sein. Dazu gehören die traditionelle Autoindustrie, der Energiesektor und die Kryptowährungen. Sie haben einen festen Platz im offiziellen Wahlprogramm der Republikaner und erhofften sich durch Trump einen Schub für ihre Geschäfte.

Das Wahlprogramm verspricht die Deregulierung der fossilen Brennstoffindustrie und erklärte, die Republikaner würden "das ungesetzliche und unamerikanische Vorgehen der Demokraten gegen Kryptowährungen beenden und sich der Schaffung einer digitalen Zentralbankwährung widersetzen".

An den Börsen werden politische Szenarien und die Wahrscheinlichkeit höherer Renditen nun wohl neu durchgerechnet. Produzenten von erneuerbaren Energien und Hersteller von Elektrofahrzeugen hoffen wohl auf den Sieg von Harris.

Größere politische Veränderungen sind jedoch noch Monate entfernt und derzeit nur Theorie. Die europäischen Aktienmärkte schlossen am Tag nach Bidens Rückzug leicht im Plus, ebenso wie die Börsen an der Wall Street.

Wie würde eine Harris-Wirtschaft aussehen?

Kamala Harris hat sich bisher nur wenig zur Wirtschaft und ihrer ökonomischen Agenda geäußert. Aus ihrer Zeit als kalifornische Staatsanwältin, Generalstaatsanwältin, Senatorin und US-Vizepräsidentin kann man jedoch einige Hinweise ableiten.

Als Generalstaatsanwältin ging sie hart gegen Ölfirmen und Banken vor. Als Vizepräsidentin unterstützte sie Bidens Konjunkturprogramme,. Dazu gehören der Ausbau grüner Energien, den nach der Corona-Pandemie aufgelegten "American Rescue Plan" und den "Inflation Reduction Act". Sie unterstützte auch den "CHIPS and Science Act", der Milliarden für die Halbleiter-Herstellung im eigenen Land vorsieht.

Harris hat sich - wie zuvor Biden - gegen pauschale Zölle ausgesprochen, lehnt aber Sonderzölle gegen China nicht grundsätzlich ab.

Kamala Harris wird sich beeilen müssen, um den amerikanischen Wählern ihre wirtschaftlichen Visionen zu vermitteln. Hat sie neue Ideen oder wird sie in Bezug auf die Wirtschaft ein Biden 2.0 sein?

"Eine der Herausforderungen für Harris wird es sein, ihren eigenen Platz zu finden und gleichzeitig zu verteidigen, was die Biden-Harris-Regierung getan hat. Das gilt auch für die Wirtschaft", so Mallinson zur DW.

Wenn sie genügend Wähler davon überzeugen kann, dass sie die Inflation senken und Arbeitsplätze schaffen kann, ohne die Weltwirtschaft auf den Kopf zu stellen, hat sie vielleicht eine Chance, die erste weibliche Präsidentin der Vereinigten Staaten zu werden.

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

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Image caption Kamala Harris muss die US-Wähler davon überzeugen, dass sie eine Vision für die Wirtschaft des Landes hat
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Item 27
Id 69736031
Date 2024-07-23
Title Proteste in Bangladesch: Gericht ändert Quotenregel, was passiert als Nächstes?
Short title Geänderte Quotenregel in Bangladesch: Endet nun der Protest?
Teaser Nach den Protesten mit 150 Toten will das höchste Gericht in Bangladesch das Quotensystem für Stellen im öffentlichen Dienst deutlich einschränken. Die Regierung folgt nun der Entscheidung. Die Lage bleibt angespannt.
Short teaser Nach Protesten mit 150 Toten wird Bangladeschs Regierung das umstrittene Quotensystem im öffentlichen Dienst ändern.
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Nach tödlichen Zusammenstößen zwischen demonstrierenden Studenten, der Polizei und regierungsfreundlichen Gruppen hat der Oberste Gerichtshof von Bangladesch entschieden, das umstrittene Quotensystem für Stellen im öffentlichen Dienst erheblich einzuschränken. Die Regierung hat nun am Dienstag angekündigt, dem Gerichtsentscheid zu folgen. Bei den schlimmsten Unruhen im Land seit Jahrzehnten waren in der Woche zuvor Berichten zufolge über 150 Menschen getötet und Tausende verletzt worden.

Die Unruhen begannen, nachdem die Regierung angekündigt hatte, ein Quotensystem für gut bezahlte und sichere Regierungsstellen wieder einzuführen. Dieses System hätte mehr als die Hälfte dieser Stellen für bestimmte Gruppen reserviert, darunter 30 Prozent für Nachkommen von "Freiheitskämpfern", die 1971 für die Unabhängigkeit Bangladeschs von Pakistan kämpften. Diese Maßnahme wurde als Bevorzugung der Anhänger der langjährigen Premierministerin Sheikh Hasina und ihrer regierenden Partei Awami League angesehen.

Der Oberste Gerichtshof hat nun empfohlen, dass 93 Prozent aller Einstellungen im öffentlichen Dienst künftig auf Leistung basieren sollen, während fünf Prozent für Nachkommen von Freiheitskämpfern und zwei Prozent für Menschen aus ethnischen Minderheiten oder mit Behinderungen vorgesehen blieben. Das Gericht hatte jedoch betont, dass die Regierung die empfohlene Quotenregelung noch anpassen kann. Am Dienstag (23.7.) kündigte die Regierung nun an, den Empfehlungen zu folgen.

Studenten fordern Aufhebung der Ausgangssperre und Wiederherstellung des Internets

Seit vergangenen Donnerstag sind Internetverbindungen und SMS-Nachrichten in Bangladesch weitgehend abgeschaltet worden, nachdem sich die Proteste verschärft hatten. Zudem wurde eine Ausgangssperre verhängt und das Militär kam zum Einsatz mit dem Auftrag, die Zivilverwaltung bei der Aufrechterhaltung der Ordnung zu unterstützen.

Trotz des Urteils des Obersten Gerichtshofs und des harten Durchgreifens der Sicherheitskräfte zuvor haben einige Studierende, die an den Protesten teilgenommen hatten, zunächst angekündigt, diese dennoch fortzusetzen. Sarjis Alam, einer der Koordinatoren der Proteste, sagte der DW, dass die Gerichtsentscheidung die Forderungen der Studierenden nicht vollständig berücksichtigt habe. Das oberste Gericht habe es im Wesentlichen der Regierung überlassen, wie sie das Quotensystem umsetzen wird.

Am Montag hatten Vertreter der protestierenden Studenten dann aber erklärt, dass sie die Proteste für 48 Stunden aussetzen würden und forderten die Regierung auf, die Internetverbindung wiederherzustellen und die Ausgangssperre aufzuheben. Am Dienstag kündigten die Studentenvertreter an, den Stopp der Proteste auf weitere 48 Stunden auszudehnen und wiederholten dabei ihre Forderungen.

Innenminister Asaduzzaman Khan sagte Reportern am Montag, dass "die Normalität innerhalb von ein oder zwei Tagen zurückkehren wird." Die Regierung erklärte am Dienstag, dass die Ausgangsperre ab Mittwoch in der Zeit von 10 Uhr morgens bis 17 Uhr abends aufheben werde.

Unterdessen fordern die protestierenden Studenten Gerechtigkeit für die bei den Demonstrationen Getöteten ein. Sarjis Alam beschuldigte den politischen Flügel der Regierungspartei, an der Ermordung der Demonstranten beteiligt gewesen zu sein; eine Anschuldigung, die die Regierung von sich weist. Die Demonstranten behaupten zudem, von der Polizei geschlagen worden zu sein.

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International erklärte, dass Videoaufnahmen von den Zusammenstößen in der vergangenen Woche zeigen würden, dass die Sicherheitskräfte in Bangladesch unrechtmäßig Gewalt angewendet hätten.

Michael Kugelman, Südasienexperte am Woodrow Wilson Center for Scholars in Washington, ist der Meinung, dass sich Hasinas Regierung verkalkuliert habe, als sie annahm, die Demonstranten könnten damit beschwichtigt werden, dass die Regierung allein auf den aktuellen Anlass der Proteste reagiere.

"In Wirklichkeit bietet diese Gerichtsentscheidung nicht der Ausweg, den Dhaka sich erhofft hat." Die Regierung scheine taub zu sein gegenüber dem Ausmaß der Wut, die sich auf den Straßen zeige. Diese habe sich zu einer Empörung entwickelt, "die weit über das Quotensystem hinausgeht", sagt er der DW. "Wenn die Regierung ihr hartes Durchgreifen fortsetzt und weiterhin Protestführer verhaftet, wird es zwar schwierig sein, die Bewegung aufrechtzuerhalten. Dennoch würden solche Maßnahmen die öffentliche Wut und die Beschwerden über Missstände weiter anheizen und ein weiteres potenzielles Pulverfass für die Regierung schaffen", fügt Kugelman hinzu.

Regierung hat Aufstand gegen Quoten "nicht erwartet"

Ali Riaz, Politikwissenschaftler an der Illinois State University, glaubt, dass die Empfehlung des Gerichts "zu spät" gekommen sei und es nun die Entscheidung der Regierung überlasse. "Bis ein Gesetz vom Parlament verabschiedet wird, bleibt es das Vorrecht der Exekutive, es irgendwann zu ändern. Die Entscheidung des Gerichts scheint von der Exekutive beeinflusst worden zu sein. Was verschafft dann eine Garantie, dass diese in Zukunft nicht wieder geändert wird?", gibt er gegenüber der DW zu bedenken.

Riaz ergänzt, dass die Regierung nicht mit einer derart heftigen Reaktion auf die Quotenreform gerechnet habe. "Die Gewalt breitete sich aus und es gab Todesopfer, weil die Regierung eine landesweite Dimension der Reaktion nicht erwartet hatte. Nach den Wahlen im Januar war die Regierungspartei ziemlich selbstgefällig und hielt sich für unbesiegbar", sagt er.

"Leider wird den Opfern der Bewegung gegen die Quotenregelung keine Gerechtigkeit widerfahren, insbesondere nicht unter der gegenwärtigen Regierung", befürchtet Riaz und weist darauf hin, dass Hasinas Regierung in der Vergangenheit bereits mehrfach auf "rohe Gewalt" zurückgegriffen habe, um die Opposition zu unterdrücken.

Die Regierung beschuldigt Oppositionsparteien, zur Gewalt angestiftet zu haben. In den letzten Tagen wurden mehrere Oppositionsführer verhaftet. "Oppositionsparteien haben versucht, die Regierung zu stürzen, indem sie die Situation ausnutzten. Doch ihr Versuch ist gescheitert", erklärt M. A. Mannan, ein Abgeordneter der regierenden Partei Awami-League und ehemaliger Planungsminister, gegenüber der DW.

Mannan räumt ein, dass die Regierung die Quotenfrage besser und früher hätte klären können, ist jedoch überzeugt, dass "die Situation jetzt unter Kontrolle" sei.

Südasienexperte Kugelman meint jedoch, dass Premierministerin Hasina durch die Unruhen zu der Quotenregelung politisch beschädigt worden sei. "Ihre Aura der Unbesiegbarkeit - die Vorstellung, dass sie die Kontrolle behalten und jede abweichende Meinung unterdrücken könne - ist zerstört. Ihre Legitimität, die bereits nach ihrer Rückkehr an die Macht bei einem von der Opposition boykottierten Wahlkampf fragil war, wurde erheblich geschwächt", sagt er gegenüber der DW.

Aus dem Englischen adaptiert von Shabnam von Hein. Aktualisiert mit Agenturmaterial am 23.7.

Item URL https://www.dw.com/de/proteste-in-bangladesch-gericht-ändert-quotenregel-was-passiert-als-nächstes/a-69736031?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Ausgangssperre nach Protesten von Studenten gegen eine Quotenregelung für Regierungsjobs
Image source Mohammad Ponir Hossain/REUTERS
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Item 28
Id 69701414
Date 2024-07-23
Title Als Deutsche nach Brasilien auswanderten
Short title Als Deutsche nach Brasilien auswanderten
Teaser Vor 200 Jahren herrscht große Armut in deutschen Landen. Da wirbt der brasilianische Kaiser um Einwanderer: Viele Bauern und Handwerker machen sich hoffnungsvoll auf den Weg ans andere Ende der Welt.
Short teaser Vor 200 Jahren herrscht große Armut in deutschen Landen. Da wirbt der brasilianische Kaiser um Einwanderer.
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Die Nachwehen der napoleonischen Kriege, Missernten und drückende Steuerlasten machen den Menschen Anfang des 19. Jahrhunderts in Deutschland das Leben schwer. Da kommt ein verlockendes Angebot vom anderen Ende der Welt: 77 Hektar Land bekommt jede Familie, die bereit ist, sich in Brasilien anzusiedeln. Dazu Vieh, Saatgut und landwirtschaftliche Geräte, und eine finanzielle Hilfe in den ersten zwei Jahren.

Es ist mehr als, die Bauern, Handwerker und Tagelöhner sich zu Hause je zu erhoffen wagten. Schon bald folgen die ersten dem Ruf, es heißt Abschied nehmen von der alten Heimat.

"Leb wohl mein teures Teutschland
Es gibt kein Wiedersehn
Wir schaun zurück vom Sandstrand
Zum letzten Abschiedsnehm
Es wellen nun die Segel
Zerschnitten ist das Band
Die Flucht führt übers Meere
In das Brasilienland."

Die ehemalige portugiesische Kolonie braucht Arbeitskräfte

Im Januar 1824 läuft das Schiff Argus im Hafen von Rio de Janeiro ein, rund 280 Personen sind an Bord. Es ist das erste Schiff mit Deutschen "im Dienst des brasilianischen Kaiserreichs". Die Ankömmlinge lassen sich in den Staaten Santa Catarina und Rio Grande do Sul nieder und gründen die erste deutsche Kolonie, São Leopoldo, benannt nach der österreichischen Gattin des Kaisers, Leopoldine. Es war nicht zuletzt sie, die sich für die Anwerbung der Deutschen nach Brasilien stark gemacht hatte.

Seit zwei Jahren ist das Land keine portugiesische Kolonie mehr. Kaiser Dom Pedro I. nimmt die Einwanderer nicht aus reiner Selbstlosigkeit auf. Sie sollen - wenn nötig - gegen die Feinde Brasiliens kämpfen, aber vor allem braucht er Siedler, die im Süden des Landes Ackerbau betreiben. Das Ende der Sklaverei ist absehbar, "und da stellte sich die Frage, wo man neue Arbeitskräfte herbekommt", sagt der Historiker Stefan Rinke vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin gegenüber der DW. "Man wusste, dass die Sklaverei nicht mehr dauerhaft aufrecht erhalten werden kann, dass es aufgrund der britischen Blockade des Sklavenhandels ja auch immer schwieriger wurde, Nachschub zu erhalten. Und da fiel der Blick unter anderem auf die deutschen Territorien. Man wusste, dort gibt es viele arme Leute, die auch den Druck haben auszuwandern."

Die Politik des "Aufweißens"

Die Elite Brasiliens verfolgt mit ihrer Einwanderungspolitik noch ein anderes Ziel: Sie will ihr Land "aufweißen". "Fortschritt wurde gleichgesetzt mit Europäisierung, sowohl der Sitten und Gebräuche, aber eben auch ganz konkret der Bevölkerung", sagt Rinke. "Man wollte Europäer. Und zwar nicht alle Europäer, sondern vor allem Mitteleuropäer, denn die galten als besonders tugendsam, fleißig, strebsam und gehorsam - auch das nicht unwichtig, wenn man sich neue Untertanen herbeiwünscht."

Im Laufe des nächsten Jahrhunderts werden rund 250.000 Deutsche über 10.000 Kilometer von zu Hause eine neue Heimat finden. "Hier erhält man ein Stück Land, dessen Größe in Deutschland der einer Grafschaft entspricht", schreibt ein nach Brasilien ausgewanderter Siedler 1827 begeistert an seine Familie.

Die Siedler brauchen Platz - für ihre Häuser, ihre Felder und ihr Vieh. Allerdings ist der Urwald, in den die Neuankömmlinge ihre Schneisen schlagen, nicht unbewohnt. Die indigenen Ureinwohner verteidigen ihr Territorium und liefern sich blutige Auseinandersetzungen mit den Deutschen.

Bald heuert die Regierung Söldnertruppen an, die die Indigenen erbarmungslos jagen. Im "Urwaldboten", einer Zeitung der 1850 gegründeten Ortschaft Blumenau, ist zu lesen: "Die Buger (Abfällige Bezeichnung für Indigene, die so viel bedeutet wie "Mistkerle" oder "Drecksschweine". Anm. d. Red.) stören die Kolonisation und den Verkehr zwischen Hochland und Küste. Diese Störung muss beseitigt werden und zwar so schnell und gründlich wie möglich. Sentimentale Betrachtungen über die ungerechte Praxis der Bugerjagden, die den Grundsätzen der Moral widersprechen, sind hier ganz und gar nicht am Platze. … Die vagabundierenden Stämme müssen durch ein großes Aufgebot von Bugerjägern und Waldläufern aufgehoben und so mit einem Schlage unschädlich gemacht werden."

Abgeschottet in der Enklave

Die Ureinwohner haben keine Chance gegen ihre Jäger, zwei Drittel der indigenen Bevölkerung werden ausgerottet. Die deutschen Siedlungen hingegen prosperieren. Die Einwanderer halten die Bräuche aus der alten Heimat hoch und sprechen weiterhin Deutsch. Die Landessprache Portugiesisch beherrschen nur wenige, man bleibt unter sich. Das Brasilien vor dem eigenen Gartenzaun bleibt den Immigranten aus dem Deutschen Reich fremd, stattdessen pflegen sie engen Kontakt zur alten Heimat. Viele feiern alljährlich den Geburtstag des Kaisers und spenden im Ersten Weltkrieg große Summen für das Vaterland.

Diese Abschottung weckt zunehmend das Misstrauen der alteingesessenen, von Portugiesen abstammenden Bevölkerung. Immer eindringlicher wird vor der "deutschen Gefahr" gewarnt. Als in Deutschland die Nationalsozialisten auf dem Vormarsch sind, begeistern sich nicht wenige deutschstämmige Einwanderer für Hitler. Brasilien hat die größte NS-Partei außerhalb Deutschlands, in den Schulen singen die Kinder Nazi-Hymnen.

Deutsch wird verboten

Schließlich greift Präsident Getúlio Vargas hart durch: Die NSDAP und die deutschsprachige Presse werden verboten, deutsche Vereine und Schulen werden geschlossen, und der Gebrauch der deutschen Sprache wird unter Strafe gestellt. "Das lag daran, dass Brasilien jeweils in beiden Weltkriegen Deutschland den Krieg erklärt hat, so dass dann auch eine Frage der inneren Sicherheit war", sagt Frederik Schulze vom Ibero-Amerikanischen Institut in Berlin. "Als dann auch brasilianische Schiffe von deutschen U-Booten versenkt wurden, gab es Ausschreitungen gegen deutsche Geschäfte von Brasilianern. Soll heißen, der Krieg hat sozusagen die ganze Stimmung noch mal angefacht."

1945 liegt Nazi-Deutschland am Boden, die deutsche Kultur ist in Misskredit geraten. Der Kontakt der Deutschbrasilianer zur Heimat ihrer Vorfahren bricht ab. Sie lernen Portugiesisch, und ihre Kinder fühlen sich wie selbstverständlich als Teil der brasilianischen Gesellschaft.

Deutsche Traditionen überleben

Nur noch selten hört man die deutsche Sprache in einem altertümlichen Dialekt, doch der Einfluss der Einwanderer in Südbrasilien ist überall sichtbar. Man sieht Fachwerkhäuser, bekommt Sauerkraut mit Schweinshaxe oder Apfelstrudel serviert und die Stadt Blumenau - 1850 mitten im Dschungel vom deutschen Apotheker Hermann Blumenau gegründet - ist berühmt für ihr Oktoberfest, das weltgrößte nach München.

So, wie vor 200 Jahre Deutsche nach Brasilien auswanderten, zieht es heute Brasilianer in die andere Richtung. Rund 160.000 sollen laut dem Außenministerium in Deutschland leben. Auch sie haben ihre Heimat verlassen, weil sie von einer besseren Zukunft träumen.

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Image caption In der neuen Heimat wartete viel Arbeit auf die Einwanderer
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Item 29
Id 69686440
Date 2024-07-22
Title Europa: Steuererleichterungen für ausländische Fachkräfte
Short title Steuererleichterungen für ausländische Fachkräfte
Teaser Die Klagen, der deutschen Wirtschaft mangele es zunehmend an Fachkräften, werden immer lauter. Um diese aus dem Ausland anzulocken, plant die Bundesregierung nun Steueranreize. Wie läuft das in anderen Ländern der EU?
Short teaser Um Fachkräfte aus dem Ausland anzulocken, plant die Bundesregierung Steueranreize. Wie läuft das in anderen EU-Ländern?
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In ihrer "Wachstumsinitiative" sieht die Bundesregierung vor, dass neu zugewanderte Fachkräfte in den ersten drei Jahren 30, 20 und 10 Prozent vom Bruttolohn steuerfrei stellen können. Für diese Freistellung werde eine Unter- und Obergrenze für den Bruttolohn definiert. Nach fünf Jahren wolle man die Wirkung dieser Maßnahme untersuchen. In Deutschland wird gewöhnlich eine progressive Einkommenssteuer in Höhe von 14 bis maximal 45 Prozent erhoben.

Die Pläne stoßen nicht nur bei Gewerkschaftern auf heftigen Widerspruch, die eine "Zwei-Klassen-Besteuerung" befürchten, während Befürworter dieser Regelung Ausländern den deutschen Arbeitsmarkt finanziell schmackhaft machen wollen. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck verweist darauf, dass Fachkräfte wegen der besseren steuerlichen Bedingungen lieber in andere Länder, etwa nach Skandinavien, gehen würden und sagte dem Handelsblatt: "Das mal zu probieren, die Leute dadurch nach Deutschland zu holen, ist den Versuch wert."

In einer parlamentarischen "Kleinen Anfrage" an die Bundesregierung hatten die damals noch oppositionellen Grünen bereits 2018 wissen wollen, ob in anderen Ländern Europas Steueranreize gewährt werden. Die Bundesregierung hatte damals 15 EU-Länder genannt, in denen diese zur Anwendung kommen. Jetzt verweist Bundesfinanzminister Christian Lindner auf Regeln, die es unter anderem in Griechenland, Kroatien und Zypern sowie in Italien, Spanien und Portugal gibt. Was tun andere EU-Staaten tatsächlich?

Portugal

Gerade südeuropäische Länder bemühen sich, Fachkräfte auch mit steuerlichen Anreizen zu locken. Die Süddeutsche Zeitung hat das am Beispiel Portugals untersucht. Dort werden Menschen mit hohem Einkommen und auch Freiberufler, die von jedem Ort der Welt arbeiten können, mit einem zehn Jahre lang geltenden pauschalen Einkommenssteuersatz von 20 Prozent gelockt. Normale Arbeitnehmer zahlen einen progressiven Steuersatz von 14,5 Prozent bis 48 Prozent.

Bedingung für die 20-Prozent-Regel ist, dass sich die Arbeitnehmer mehr als die Hälfte des Jahres in Portugal aufhalten und dort tätig sind. Rentenbezüge sowie Kapitalerträge und Dividenden sollen von der 20-Prozent-Regel ausgenommen sein. Letzteres hatte Unmut von EU-Staaten mit hohen Kapitalsteuersätzen ausgelöst, weil sich wohlhabende Pensionäre nach Portugal absetzten.

Die kürzlich von Finanzminister Joaquim Miranda Sarmento angekündigte Maßnahme ist eine von mehreren Dutzend Reformen, mit denen Portugal seine Wirtschaft ankurbeln möchte. So soll auch der Unternehmenssteuersatz von 21 Prozent schrittweise auf 15 Prozent gesenkt werden.

Laut Angaben der Nachrichtenagentur Reuters profitierten im Jahr 2022 insgesamt 74.000 Menschen von dem vergünstigten Steuersatz. Die 20-Prozent-Regel existiert in abgewandelter Form seit 2009 und war unter dem Eindruck der Finanzkrise als eine von vielen Maßnahmen zur Erhöhung der Produktivität des Landes erdacht worden.

Spanien

In Portugals Nachbarland Spanien gibt es ebenfalls einen ermäßigten Steuersatz für Arbeitskräfte anderer Nationalität. Dieser "Ausländer-Steuersatz" ist höher als in Portugal. Hier gilt eine Regelung, bei der Fachkräfte mit einem Pauschalsteuersatz von gut 24 Prozent rechnen können.

Italien

Die Regeln in Italien sind sehr kompliziert und hängen von vielen Details ab: Wie lange man bereits im Land ist, wie viel man verdient und auch von der Anzahl und dem Alter der Kinder im Haushalt. Laut Itaxa. Blog (der Online-Service wirbt mit dem Slogan: "Internationale Steuerregeln in einfachen Worten") könnten - allerdings nur bei optimalen Voraussetzungen und daher selten - sogar bis zu 90 Prozent des Einkommens steuerfrei gestellt werden.

Schweden

Auch nordeuropäische Länder gewähren Steuernachlässe. Eine Studie des Leibniz Informationszentrums für Wirtschaft beurteilte diese Steuervergünstigungen als wirkungsvoll, verweist aber auch auf negative Effekte für die Herkunftsländer, weil sie einen Brain Drain (Abzug qualifizierter Arbeitskräfte) befördern können.

In Schweden sind 25 Prozent des Einkommens steuerfrei. Das Land hat laut Ernst & Young 2024 die steuerlichen Anreize sogar noch vergrößert. Qualifizierte nicht-schwedische Angestellte ab einem Einkommen von etwa 10.000 Euro monatlich brauchen nun sieben statt fünf Jahre lang nur 75 Prozent zu versteuern.

Dänemark

In Dänemark zahlen besonders hoch qualifizierte Fachkräfte, zum Beispiel Wissenschaftler, für sieben Jahre nur 27 Prozent Einkommensteuer - plus Sozialabgaben. Andere Angestellte ab einem Monatsgehalt von rund 10.000 Euro zahlen nur eine Flattax von 32,84 Prozent - in Dänemark liegt der Spitzensteuersatz eigentlich bei 53 Prozent.

Niederlande

Auch in den Niederlanden können gesuchte Fachkräfte kräftig Steuern sparen. Die dort angewandte "30-Prozent-Regelung" (das heißt, dass fast ein Drittel des Einkommens steuerfrei gestellt ist) ist attraktiv, aber auch umstritten und wird fortwährend verändert.

Die Regelung ist eine Möglichkeit, persönliche "Steuergerechtigkeit" herzustellen, denn - anders als in Deutschland - gibt es keine Steuerklassen, aber mehr Möglichkeiten der individuellen Steuergestaltung mit vielen Abschreibungsmöglichkeiten.

Die Regierung hatte 2023 die Vorteile ihres "Expat-Tax-Regimes" bereits abgeschmolzen und plant weitere Einschnitte. Und es gibt diesbezüglich Mindest- und Höchstgrenzen beim Gehalt. Ein möglicher Anspruch wird anhand des am Schluss zu versteuernden Gehalts geprüft, das deutlich über 40.000 Euro im Jahr angesiedelt sein muss, und zwar nach Ausschöpfung des Steuervorteils. Das bedeutet: Die Vergütungen müssen tatsächlich viel höher liegen.

Die komplizierte Regelung zeigt schon, dass es sich bei dem Konstrukt nicht um einen massentauglichen Steuervorteil handelt - und auch nicht um eine gewollte "Belohnung", um mit Zuzüglern Lücken zu stopfen. Die Regelung zielt darauf ab, das System der steuerfreien Leistungen für eine gewissen Zeit auf Expats in den Niederlanden zu übertragen, um ihnen die Umstellung zu erleichtern. Das ist der wichtigste Unterschied zur Debatte, die in Deutschland geführt wird.

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Image caption Eine Steuererklärung für Einkommensteuer wird ausgefüllt
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Item 30
Id 67587068
Date 2024-07-22
Title HIV/AIDS: der Stand der Forschung
Short title HIV/AIDS: der Stand der Forschung
Teaser Trotz intensiver Forschung ist AIDS bislang nicht heilbar - aber es gibt äußerst wirksame Medikamente. Bei der 25. Welt-AIDS-Konferenz in München geht es darum, diese besser zu Betroffenen weltweit zu bringen.
Short teaser Geheilt werden kann AIDS noch nicht, aber es gibt viele wirksame Medikamente. Wie ist der Stand der Forschung?
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Auch wenn AIDS bislang nicht heilbar ist, eine Infektion mit dem Human Immunodeficiency Virus (HIV) kann aber mittlerweile sehr effizient behandelt werden. Seit Mitte der 1990er Jahre sind antiretrovirale Medikamente bei HIV das Mittel der Wahl. Sie unterdrücken das Virus im Körper und verhindern dessen Vermehrung. Das Virus ist dann nicht mehr übertragbar und kann dauerhaft kontrolliert werden.

Die meisten Patientinnen und Patienten erhalten eine Kombination aus verschiedenen antiretroviralen Medikamenten, die jeweils auf verschiedene Stadien des HIV-Zyklus abzielen.

Bei dieser Therapie nehmen Betroffene in der Regel täglich ein bis zwei Tabletten ein. Wichtig sind auch Kontrolluntersuchungen, die alle drei Monate durchgeführt werden sollten. Dabei wird u.a. die Viruslast im Körper gemessen, also wie viel HIV-RNA sich im Blut befindet. Je niedriger die Viruslast, desto besser.

Darauf aufbauend habe sich die Therapie immer weiter verbessert, sagt Hendrik Streeck. Er ist der Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn und spezialisiert auf die AIDS-Forschung.

Der letzte große Durchbruch seien die Integrase-Inhibitoren gewesen, so Streeck. Das Enzym Integrase spielt eine wichtige Rolle bei der Vermehrung des HI-Virus und ist dafür verantwortlich, dass sich das sogenannte virale DNA-Genom in die Wirtszelle integriert und sich dort vermehren kann.

"Dieser Wirkstoff ist einfach enorm effektiv", erklärt Streeck. "Vielen Patienten, die vielleicht bereits eine sehr resistente Virusinfektion hatten und für die es kaum noch Wirkstoffe gab, haben diese Integrase-Inhibitoren im Grunde das Leben gerettet. Mittlerweile sind sie Bestandteil jeder Therapie."

Bessere Medikamente

Ein Schwerpunkt der AIDS-Forschung liegt auf der Entwicklung von Medikamenten, die noch verträglicher sind als die bisherigen, obwohl mittlerweile nur äußerst selten Nebenwirkungen auftreten. Erforscht wird auch, wie Medikamente einfacher und dennoch effizient verabreicht werden können.

Dazu gehören beispielsweise Präparate, die über eine Art Depot verfügen, dass dann in definierten Zeiträumen den entsprechenden Wirkstoff abgibt. Auch an einem Implantat wird geforscht. Weltweit gibt es die verschiedensten Ansätze, einige davon werden bereits in der Praxis angewendet, andere stecken noch in der Entwicklung.

"Wir haben immer mehr gute Therapien. Die große Frage ist hier: Wie bekommt man eine langfristige Wirksamkeit hin? Die nahe Zukunftsmusik ist eine Spritze, die einmal im Jahr gegeben wird, damit man nicht mehr täglich eine Tablette schlucken muss", sagt Streeck.

Für Betroffene ist es sicherlich ein weiterer Schritt in die richtige Richtung und es hat auch einen psychologischen Effekt. Patientinnen und Patienten werden nicht täglich an das Virus erinnert.

Behandlung vorher und nachher

Die sogenannte PrEP, die Prä-Expositions-Prophylaxe ist eine Vorsorge-Maßnahme. Sie hindert die HI-Viren daran, sich zu vermehren. Dazu wird ein Kombinationsmedikament aus der HIV-Therapie eingesetzt. Die Wirkstoffe gelangen u.a. in die Zellen der Schleimhäute, die beim Sex mit Körperflüssigkeiten in Kontakt kommen. Damit die PrEP wirken kann, muss eine ausreichende Menge in den Schleimhäuten vorhanden sein. Nach Absetzen der PrEP hört die Wirkung auf.

Besteht die Sorge, sich etwa beim Geschlechtsverkehr angesteckt zu haben, gibt es die Möglichkeit, vier Wochen lang HIV-Medikamente einzunehmen. Diese Postexpositionsprophylaxe, PEP, verhindert, dass sich die Infektion ausbreitet.

Sinnvoll ist die PEP beispielsweise für Frauen, die vergewaltigt worden sind, aber auch für Ärztinnen und Ärzte, die befürchten müssen, sich bei einer Patientin oder einem Patienten angesteckt zu haben. Die Behandlung muss so bald wie möglich durchgeführt werden, spätestens aber 48 Stunden nach der mutmaßlichen Infektion.

Warten auf die Impfung

Auch nach 40 Jahren gibt es noch immer keinen Impfstoff. Aber immerhin hat die AIDS-Forschung einen wesentlichen Beitrag bei der Entwicklung der Corona-Impfstoffe geleistet. "Wir hätten den Corona-Impfstoff nicht so schnell gehabt, hätten wir nicht vorher die ganze HIV-Forschung durchgeführt. Viele der Konzepte, die benutzt wurden, wurden in der Impftstoffforschung entwickelt", erläutert Streeck.

Viele wünschen sich eine möglichst schnelle Entwicklung eines HIV-Impfstoffs und sehen dies als die beste Lösung. Aber auf eine Erfolgsmeldung folgt nicht selten Ernüchterung. Das gilt auch für Entwicklungen, die schon weit fortgeschritten sind. Leider sind auch die letzten Impfstoffversuche frühzeitig gestoppt werden, weil sie keine Effizienz zeigten. Wir verstehen bisher leider noch nicht, warum wir es nicht hinkriegen, eine sterilisierende Immunität aufzubauen", merkt Streeck an.

Acht Effektivitätsstudien in fortgeschrittenem Stadium habe es bei HIV gegeben. "Die sind im Grunde alle gescheitert, bis auf einen. Wir hatten einen Impfstoff – wir nennen ihn den Thai-Trial, weil er in Thailand durchgeführt wurde. Der hat 31-prozentige Effektivität gezeigt. Diese Effektivität haben wir in keinem weiteren Versuch wiederholen können", sagt der AIDS-Forscher.

Eine wirksame Impfung zu entwickeln ist so schwierig, weil sich das Virus ständig verändert, wodurch unzählige Formen von HI-Viren entstehen. Und obwohl einige Antikörper durchaus in der Lage sind, beispielsweise eine Variante des HI-Virus zu bekämpfen, sind sie bei anderen Form vollkommen wirkungslos. Aufgrund dieser vielen Varianten ist die Entwicklung eines Impfstoffes also nach wie vor ein schwieriges Unterfangen.

Das Ende der Pandemie

Im Fokus der weltweiten AIDS-Forschung stehen neben mRNA-Impfstoffen beispielsweise auch die Genschere CRISPR-Cas9. Sie könnte HIV-Erbgut aus der menschlichen DNA herausschneiden oder das Umprogrammieren von Immunzellen ermöglichen. Diese umprogrammierten Immunzellen könnten im Idealfall infizierte Zellen abtöten. Auch an Antikörpern, die verschiedene Varianten des HI-Virus erkennen können und so deren Vermehrung blockieren, wird intensiv geforscht.

Bis diese Ansätze ausgereift sind, ist es wichtig, die vorhandenen Möglichkeiten auszuschöpfen. Das heißt, dass alle Menschen Zugang zu Aufklärung, Tests, Prophylaxe und Therapien haben.

Streeck sieht bereits heute gute Chancen im Kampf gegen HIV und AIDS. "HIV-Patienten, die gut therapiert werden, können das Virus nicht mehr weitergeben. Und wir haben prophylaktische Maßnahmen, die vor einer HIV-Infektion schützen. So könnten wir die Pandemie bereits jetzt weltweit eindämmen."

Dieser Artikel wurde am 1. Dezember 2023 veröffentlicht and am 22. Juli 2024 aktualisiert.

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Image caption Medikamente können verhindern, dass sich das HI-Virus vermehrt. Dennoch wird empfohlen, weiterhin Kondome und andere Verhütungsmittel zu benutzen.
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Item 31
Id 69713219
Date 2024-07-19
Title Queer und verfolgt: auf der Suche nach Sicherheit in Deutschland
Short title Queer und verfolgt: auf der Suche nach Sicherheit
Teaser Köln feiert den Christopher Street Day, und sie können ohne Angst dabei sein: Queere Menschen erzählen der DW, welche traumatisierenden Erfahrungen sie dazu gebracht haben, aus ihren Heimatländern zu fliehen.
Short teaser Queere Menschen, die vor der Verfolgung in ihrem Heimatland geflohen sind, berichten der DW von ihren Erfahrungen.
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"Die russische Polizei hat mir gedroht, mich im Gefängnis vergewaltigen zu lassen", erzählt der 21-jährige Yusif Muradov. Er musste aus Russland fliehen, nachdem die Behörden ihn gestellt hatten. Sein Vergehen: Er hatte sich offen als Homosexueller geoutet.

Man schreibt das Jahr 2024, doch in 64 Ländern der Welt wird Homosexualität immer noch als Verbrechen eingestuft. In mindestens zehn Ländern, darunter Saudi-Arabien, Nigeria und Iran, können einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen sogar mit der Todesstrafe geahndet werden.

In anderen Ländern wie Russland und Indien sind gleichgeschlechtliche Beziehungen zwar nicht offiziell verboten, dennoch werden LGBTQ+-Menschen verfolgt - was de facto zu einer Illegalität führt.

Die DW hat mit queeren Menschen darüber gesprochen, die ihr Land verlassen haben. Sie kamen nach Deutschland, um ihre Sexualität frei ausleben zu können.

"Keine Queer-Rechte in Bangladesch": Haques Geschichte

"Mein queeres Leben begann, als ich nach Deutschland kam", sagt der 39-jährige Ziaul Haque. Er zog in den 2000er-Jahren von Bangladesch hierher. "Ich bin glücklich mit einem gutaussehenden Mann verheiratet, aber in vielerlei Hinsicht leben wir genau wie andere heterosexuelle Paare. Wir machen den Haushalt und gehen zur Arbeit. Manchmal gehen wir aber auch in Schwulenbars oder schauen mit unseren schwulen Freunden RuPaul's Drag Race (eine US-amerikanische Reality-Show, in der Dragqueens gegeneinander antreten, Anm. der Red.). Und dann merke ich: 'Okay, ich bin schwul'", sagt er und bricht in Gelächter aus.

In Bangladesch war Haque nicht so gelassen: "Ich habe mich versteckt, weil die religiös-konservativen Gruppen jeden Tag stärker wurden", erzählt er. "Schließlich habe ich das Land verlassen, weil ich auch um die Sicherheit meiner Familie fürchtete."

"Homosexualität ist in Bangladesch nach Abschnitt 377 des Strafgesetzbuchs ein Vergehen und wird mit Gefängnis bestraft. Dieses Gesetz ist ein Überbleibsel aus der britischen Kolonialzeit und wird ausgiebig angewandt, um Homosexuelle zu verhaften, zu schikanieren und zu erpressen", so Sadat Tasnim, ein bangladeschischer Aktivist, gegenüber der DW. "In einem mehrheitlich muslimischen Land bestimmen religiöse Parteien die öffentliche Meinung, und queere Menschen erfahren wenig bis gar keine gesellschaftliche Akzeptanz", so Tasnim weiter.

Mitglieder der LGBTQ+-Gemeinschaft in Bangladesch wurden mehrfach Opfer von Gewaltverbrechen. 2016 erschütterte eine Reihe grausamer Morde an queeren Bloggern und Aktivisten das Land. Xulhaz Mannan, der Gründer des ersten und einzigen Magazins für Schwule, Lesben, Bisexuelle und Transgender in Bangladesch, und der Aktivist Tanay Mojumdar wurden bei einem Anschlag in der Hauptstadt Dhaka mit Macheten attackiert und getötet. "Seitdem leben die queeren Bangladescher in ihrer eigenen kleinen versteckten Blase", sagt Tasnim.

Abgesehen davon, dass sie von den Strafverfolgungsbehörden und der Gesellschaft im Stich gelassen werden, verlieren die meisten queeren Menschen auch den Rückhalt ihrer Angehörigen. Ziaul Haques Familie reagierte entsetzt auf sein Coming-out. Sein Vater brachte ihn sogar zu einem Arzt, um ihn von seiner sexuellen Orientierung heilen zu lassen. "Ich träume von dem Tag, an dem mein Vater sagt: 'Sohn, egal wer du bist, wir lieben dich und wollen, dass du glücklich bist'", sagt Haque.

Als "Extremist" abgestempelt, weil er schwul ist: Yusifs Geschichte

Yusif Muradov, geboren in Aserbaidschan und aufgewachsen in Moskau, floh mit 21 Jahren nach Europa, um der Verfolgung zu entgehen. "Die russische Regierung hatte es auf mich abgesehen, weil ich ehrenamtlich in einem AIDS-Zentrum einer Nichtregierungsorganisation für HIV-positive Homosexuelle arbeitete", erzählt er.

Muradov versuchte mehrmals, Moskau zu verlassen, nachdem er sich seiner Familie gegenüber geoutet hatte. "Aber ich musste zurückkehren, da meine Mutter immer wieder drohte, sich umzubringen. Als ich wiederkam, wurde ich zum Arbeiten und Lernen zu meinem Bruder geschickt, der jeden meiner Schritte überwachte", fügt er hinzu.

"Einmal hat mein Bruder mich betrunken gemacht und mich gezwungen, mit einer Prostituierten zu schlafen. Zum Glück sah die Frau, dass ich mich zurückhielt. Sie log meinen Bruder an und sagte, der Akt sei vollbracht", erinnert er sich an das schmerzhafte Erlebnis. Als Yusif seiner Mutter erzählte, was passiert war, zuckte sie mit den Schultern und sagte: "Das ist normal." Yusif zur DW: "Das hat mich gebrochen. Ich wusste, dass es an der Zeit war zu gehen."

Als Russland die Ukraine überfiel, wurde es für Muradov immer dringlicher, seine Heimat zu verlassen - keinesfalls wollte er als Soldat eingezogen werden. Endgültig war das Maß voll, als die Polizei seine Wohnung durchsuchte und ihn "mit Vergewaltigung bedrohte", erzählt er.

Sein Leben in Deutschland ist schwer, da ihn der russische Geheimdienst, wie er sagt, verfolgt. Vor einigen Monaten wurde eine anonyme Anzeige in Yusifs Namen bei der Staatsanwaltschaft in Russland erstattet. Darin wurde er als Schwuler geoutet, der heimlich für die Oppositionspartei des verstorbenen Alexej Nawalny gespendet hatte. "Über Nacht wurde ich zum Extremisten abgestempelt", sagt er. Muradow zufolge ist der russische Geheimdienst für derartig gefälschte Berichte berüchtigt.

Er lebt jetzt als Asylbewerber in einem deutschen Flüchtlingsheim und teilt sich ein Zimmer mit Flüchtlingen aus Afghanistan und dem Iran - die wenig von Schwulen halten. "Ich werde täglich von meinen Mitbewohnern sexuell bedroht und belästigt", sagt er. Trotz aller Schwierigkeiten in seiner Heimat sehnt er sich danach, nach Moskau zurückzukehren: "Ich vermisse die Stadt, meine Freunde und meine Katze. Manchmal habe ich großes Heimweh."

"Der Libanon sieht queere Menschen als Gefahr": Alis Geschichte

"Im Libanon gibt es nicht nur keine Rechte für queere Menschen, sondern es werden sogar die wenigen Einrichtungen zur Unterstützung queerer Menschen geschlossen, die wir hatten", sagt Ali Najjar, ein 39-jähriger queerer Aktivist aus dem Libanon, der jetzt mit seinem Ehemann in Deutschland lebt.

Im August 2023 schlugen seiner Schilderung zufolge zwei libanesische Beamte Gesetzesentwürfe vor, wonach gleichgeschlechtliche einvernehmliche Beziehungen zwischen Erwachsenen ausdrücklich kriminalisiert werden sollten; außerdem solle jeder, der für Homosexualität wirbt, mit einer Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren bestraft werden.

In der Folge habe es eine Reihe feindseliger Vorfälle gegen LGBTQ+-Personen gegeben. Kürzlich habe das Ministerium ein Verbot über Veranstaltungen zum Thema Homosexualität verhängt. Solche Vorstöße gegen die LGBTQ+-Community finden inmitten einer schweren Wirtschaftskrise statt. Über 80 Prozent der Bevölkerung sind in die Armut abgerutscht, Menschenrechte werden mit Füßen getreten. Vor allem betroffen: Randgruppen.

"Die libanesische Gesellschaft sieht die queere Gemeinschaft als Bedrohung und Gefahr an. Religiöse Parteien haben sogar queere Bars, Veranstaltungen und Organisationen angegriffen", sagt Najjar.

Die junge Generation im Land, die sich für mehr Toleranz und Vielfalt einsetzt, wandert aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage zunehmend ins Ausland ab.

"In Chile ist es legal, queer zu sein, aber nicht sicher": Dieters Geschichte

"Für diejenigen, die 'queer-passing' sind - also queere Menschen mit Cis-Geschlecht, die sich entsprechend dem Geschlecht kleiden, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde - ist Chile relativ sicher", erklärt Dieter Ligueros Korsholm, ein chilenischer Aktivist für queere Rechte, der in Deutschland lebt. Korsholm identifiziert sich als nicht-binär und trägt androgyne Kleidung. "Ich ziehe mich feminin an; in Deutschland werde ich nur komisch angeschaut. Anders als in Chile, wo mich die Leute anschreien oder in der Öffentlichkeit beleidigen würden", so Dieter.

Gleichgeschlechtliche Handlungen sind in Chile seit 1999 legal. Die gleichgeschlechtliche Ehe wurde 2021 legalisiert, trotzdem sind LGBTQ+-Personen weiterhin Angriffen ausgesetzt. Einer der bekanntesten Fälle von homophober Gewalt ist der Mord an Daniel Zamudio, der 2012 verprügelt und verbrannt wurde, weil er schwul war. Er wurde tot in einem Park in der Hauptstadt Santiago aufgefunden, mit in die Haut geritzten Hakenkreuzen.

Weltweiter Kampf für Menschenrechte

LGBTQ+-Flüchtlinge mögen in Europa mehr Freiheit finden, aber sie stehen immer noch vor Herausforderungen; die Zahl der gegen sexuelle Minderheiten gerichteten Hassverbrechen steigt - auch in Deutschland.

Wenn Köln vom 19. bis 21. Juli drei Tage lang den Christopher Street Day feiert und hier am Sonntag eine der größten Pride-Paraden Europas stattfindet, wollen auch Ziaul, Yusif, Dieter und Ali mitgehen. "Wir müssen zusammenhalten, besonders jetzt", sagt Dieter und bereitet sich mit Tausenden anderen darauf vor, für Vielfalt, Toleranz, Akzeptanz und Antidiskriminierung zu demonstrieren - und der Welt zu zeigen, wie bunt eine offene Gesellschaft sein kann.

Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords

Item URL https://www.dw.com/de/queer-und-verfolgt-auf-der-suche-nach-sicherheit-in-deutschland/a-69713219?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Christopher Street Day in Köln (2023)
Image source Roberto Pfeil/dpa/picture alliance
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Item 32
Id 69698375
Date 2024-07-18
Title Taylor Swift in Germany - die große Unbekannte
Short title Taylor Swift in Germany - die große Unbekannte
Teaser Taylor Swift, der Megastar aus den USA, startet die "Eras Tour" in Gelsenkirchen. Der Hype ist groß. Die Ruhrgebietsstadt wandelt sich zu "Swiftkirchen".
Short teaser Taylor Swift, der Megastar aus den USA, startet die "Eras Tour" in Gelsenkirchen. Der Hype ist groß.
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Es ist eine ganz spontane Entscheidung gewesen, Jasmin ist ohnehin schon tätowiert - warum also nicht die Signatur der Lieblingssängerin als nächstes Körperkunstwerk? Die 29-Jährige grinst, während ihr ein Tätowierer die Unterschrift von Taylor Swift auf den Arm sticht. 100 Euro kostet das die Oldenburgerin, die angereist ist, um den Megastar live zu sehen. Die erste von Swifts Stadionshows in Deutschland hat am Mittwoch in Gelsenkirchen stattgefunden, zwei weitere folgen. Mehr als 180.000 Menschen wollen den Deutschlandstart von Swifts "Eras Tour" erleben.

Der Tätowierstand ist Teil des Fanfests auf dem Heinrich-König-Platz. "Taylor Town" nennt sich das Areal. Fans basteln und tauschen Armbänder, das ist üblich unter den "Swifties", machen Fotos mit den vielen Swift-Aufstellern und tanzen zur Musik eines DJs, der zehn Stunden lang die Diskografie zusammen mischt, die sie an diesem Abend auch live präsentieren wird.

Das Pop-Phänomen Taylor Swift

Taylor Swift ist das wohl größte Popphänomen unserer Zeit. 2006 erschien ihr Debütalbum, kreativ "Taylor Swift" betitelt, in den USA. Countrymusik der reinsten Sorte, immerhin auf Platz fünf der amerikanischen Charts gelandet. 2012 schwenkte sie auf Popmusik um und verärgerte damit Teile der konservativen Branche. Swift bewies aber, zumindest karrieretechnisch, den richtigen Riecher.

Die 34-Jährige wirkt nahbar, klinisch rein ist ihre Show. Wenn sie auf den aktuellen Alben mal ein Schimpfwort in den Mund nimmt, sorgt das immer noch für Erstaunen. Ihr Image wirkt so sauber, dass sie von der amerikanischen Rechten als Postergirl vereinnahmt wurde: blond, weiß, freundlich. Doch politisch ist sie offenbar anders eingestellt: Sie setzte sich für den Equality Act, die Einführung des Juneteenth als nationalen Feiertag und die Entfernung der Konföderiertenstatuen in ihrer Heimat Tennessee ein, unterstützte zudem die erfolgreiche Kandidatur des Demokraten Joe Biden bei den Präsidentschaftswahlen 2020. Bei den anstehenden US-Präsidentschaftswahlen könnte sie den Demokraten sogar zum Sieg verhelfen, vermutete Kulturwissenschaftler Jörn Glasenapp unlängst im Deutschlandfunk. Etwa wenn sie in den Swingstates nur wenige Tausend ihrer Millionen Fans an die Wahlurnen bringe. Bisher hält Swift sich zurück.

In Deutschland blieb das Interesse wohl auch wegen der Country-Roots lange überschaubar. Zwar liefen Singles wie "Shake It Off" und "Blank Space" auch hier im Radio. Von den Singles der insgesamt elf Studioalben landeten aber bis heute nur sieben überhaupt in den Top 10. Das ist im internationalen Vergleich wenig, aber eben doch genug, um sechs Stadionkonzerte - nach Gelsenkirchen geht es nach München und Hamburg - in wenigen Stunden auszuverkaufen.

Mega-Star mit politischem Einfluss

Das Phänomen Taylor Swift ist mit dem Talent der Sängerin, die ihre Songs überwiegend selbst schreibt und komponiert, nicht allein zu begründen. Vor allem strahlt Taylor Swift eine Natürlichkeit aus, die vielen als Projektionsfläche dient: Ihr Songwriting bezieht sich vor allem auf Alltägliches, auf gebrochene, pochende und beinahe explodierende Herzen. Immer verarbeitet sie darin ihre Beziehungen. Zeitweise war ein Running Gag der Popmusik, wie häufig Swift Beziehungen beginnt und beendet, die prominenteste wohl mit dem britischen Sänger Harry Styles.

Doch diesen Spieß drehte Taylor Swift um: Aus den Scherzen machte sie feministische Kritik - daran, dass Männer durch die Betten turnen dürfen, Frauen sich aber bitte zurückhalten sollen. Und hatte so das nächste Thema für einige Songs. Gleichzeitig rätseln ihre Fans mit größter Begeisterung, welche Zeilen welchem Verflossenen gewidmet sind. Immer wieder versteckt sie zudem Hinweise auf zukünftige Projekte in ihren Musikvideos und Fotoshootings. "Easter Eggs" für die Fans, die sich belohnt sehen, wenn sie recht hatten. Kundenbindung ist alles. Dass sich die Fans als besonders freundliche und offene Community verstehen, wen wundert‘s?

Wenig Gegrummel, viel Begeisterung

In Gelsenkirchen, der großen Unbekannten in dieser Tour-Rechnung, hat Swift auch einen Merchandise-Stand aufgebaut, die Schlangen wollen nicht enden. Doch nicht alle teilten die Begeisterung. In einem Kiosk findet die Verkäuferin das "Getue" überzogen, "für Rammstein machen die das nicht”, sagt sie. "So eine Scheißmusik", flucht ein älterer Herr im Vorbeigehen. Es wird auch schon mal genörgelt.

Gelsenkirchen ist kurzzeitig "Swiftkirchen", davon zeugen über die ganze Stadt verteilte Straßenschilder, die ein Fan organisiert hat. Eine Eisdiele verkauft die Sorte "Swiftkirchen" (Erdbeer-Sahne), hinter dem nahegelegenen Rathaus malte eine Künstlerin ein großes Bild auf das Straßenpflaster. Die Filiale einer globalen Sandwichkette hat Pappaufsteller der Sängerin ins Fenster gestellt. Und wer aus dem Bahnhof tritt, wird von Wimpeln und laut aufgedrehten Songs der Popqueen begrüßt. Zum Stadion geht es dann in einer mit Swift-Fotos beklebten Tram.

Der Megastar selbst ist im eher schickeren Düsseldorf abgestiegen. Doch kann das vom Strukturwandel gebeutelte Gelsenkirchen die Steuereinnahmen, die die Swift-Konzerte generieren, gut gebrauchen. Viele Fans sind sogar - wegen der billigeren Tickets - aus den USA angereist. "Gelsenkirchen ist einmal um die Welt gegangen", freut sich ein Stadtsprecher. Sogar Jasmin, die junge Frau aus Oldenburg weiß jetzt, wo "Swiftkirchen" liegt.

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Image caption Taylor Swift auf der Bühne in Gelsenkirchen
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Item 33
Id 69685678
Date 2024-07-17
Title Chinas Billig-Exporte stressen Asiens Schwellenländer
Short title Chinas Billig-Exporte stressen Asiens Schwellenländer
Teaser Bisher gehen vor allem die USA und die EU mit Strafzöllen gegen Billig-Importe aus China vor. Doch mittlerweile wehren sich auch Asiens Schwellenländer gegen staatlich subventionierte Güter aus der Volksrepublik.
Short teaser Asiens Schwellenländer wehren sich zunehmend gegen staatlich subventionierte Waren aus der Volksrepublik.
Full text

Brasilien tut es, genauso wie die Türkei, Südkorea oder Thailand. All diese Länder wehren sich mit Importzöllen oder Zusatzsteuern gegen billigen chinesischen Stahl, Elektroautos oder einfache Konsumgüter aus der Volksrepublik, die den einheimischen Produzenten das Leben schwer machen. Erst unlängst sorgte Indonesien für Schlagzeilen, als von geplanten Strafzöllen gegen chinesische Textilimporte in Höhe von 200 Prozent die Rede war.

"Der Protektionismus gegen chinesische Billigimporte war bisher ein westliches Phänomen, bei dem Asien weitgehend Zuschauer war. Das ändert sich gerade", betont Sonal Varma, Chef-Ökonomin für Asien bei der japanischen Investmentbank Nomura. Im Finanzmagazin Nikkei Asia listet sie die Herausforderungen für die politischen Entscheidungsträger in Asien auf, um einheimische Unternehmen und Jobs vor Billig-Importen aus China zu schützen.

Und dabei geht es längst nicht mehr nur um Stahl oder chinesische Elektroautos. Genauso wie in Europa strömen konkurrenzlos billige Waren chinesischer E-Commerce-Plattformen wie AliExpress auf die Märkte in Vietnam, Thailand oder Südkorea. Dazu kommen chinesische Vorprodukte für die Metall- oder Chemiebranche, die einheimische Unternehmen durch ihre günstigen Preise unter Druck setzen.

Schon lange werfen vor allem die USA der Regierung in Peking vor, wegen der schlecht laufenden Binnenkonjunktur in der Volksrepublik gewaltige chinesische Überkapazitäten auf die internationalen Märkte zu werfen. Erst vor wenigen Tagen hatte China mit einem Plus von 4,7 Prozent für das zweite Quartal enttäuschende Wachstumszahlen vorgelegt. Ökonomen hatten 5,1 Prozent erwartet.

Für Lynn Song, Chefökonom der ING Bank für Greater China, zeigen die aktuellen BIP-Daten, dass der Weg zum Erreichen des Regierungsziels von fünf Prozent Wachstum schwierig bleibe. Fallende Immobilien- und Aktienpreise, ein niedriges Lohnwachstum und Angst um den Job bremsten den Konsum. "Dies führte zu einer Abkehr von teuren Anschaffungen hin zu einem Basis-Konsum mit dem Schwerpunkt Essen, Trinken und Spielen", so Song. Die Folge: Noch mehr Güter "made in China", die im Inland nicht gekauft werden, landen auf dem Weltmarkt.

Thema bei G7-Treffen

Auch beim Treffen der G7-Handelsminister in Italien geht es um den Umgang mit den Warenströmen aus dem Reich der Mitte, resiliente Lieferketten und die großen Überkapazitäten chinesischer Industrieunternehmen.

Gerade erst führten die USA strengere Regeln für Stahl- und Aluminiumimporte aus Mexiko ein, um zu verhindern, dass chinesische Waren über Drittländer wie Mexiko importiert werden und bestehende US-Zölle unterlaufen.

Das Problem dabei: Werden immer mehr Zölle im Rest der Welt erhoben, steigt auch der Druck auf die Schwellenländer in Asien. Etwa wenn die USA und die EU Importzölle auf chinesische E-Autos erheben oder in Lateinamerika chinesischer Stahl mit neuen Zöllen belegt wird. Wenigstens ein Teil dieses zusätzlichen Warenangebots werde zwangsläufig nach Asien umgeleitet, betont Sonal Varma.

Schon jetzt wurden bis April 2024 mit 312.000 Fahrzeugen mehr chinesische Elektroautos nach Asien exportiert als nach Europa (266.000), so aktuelle Zahlen der China Passenger Car Association.

Laut Nomura-Ökonomin Varma bleibt Indien oder den Ländern der ASEAN-Staatengruppe künftig kaum etwas anderes übrig, als ihre Länder vor Chinas industriellem Überschuss zu schützen - und vor Waren, die zu unfairen Preisen auf ihre Märkte geworfen werden.

Kritik an Narrativ

Für Deborah Elms ist das Narrativ der chinesischen Überkapazitäten jedoch mit Vorsicht zu genießen. Die Leiterin des Bereichs Handelspolitik der Hinrich Foundation in Singapur, die sich für freien Welthandel einsetzt, ruft zur Vorsicht auf.

"Überkapazitäten bei was? Bei welchen Produkten? Für den Verkauf auf welchen Märkten?", fragt sie. "Denn die Daten deuten nicht auf weit verbreitete Überkapazitäten hin. Die Tatsache, dass China viel exportiert, ist für sich genommen noch kein Beweis für ein Überkapazitätsproblem", so Elms gegenüber der DW. "Der größte Teil Asiens exportiert ebenfalls, doch hört man in der Regel keine Klagen über Überkapazitäten, die beispielsweise gegen ASEAN-Mitglieder oder Australien vorgebracht werden. Wir müssen viel vorsichtiger sein, bevor wir eine Geschichte über Überkapazitäten wiederholen", fordert die Handels-Expertin.

Weil China in Asien der größte Exporteur und Importeur von Waren ist, mache das die Situation kompliziert. Die Lieferketten in der Region verliefen in mehrere Richtungen. "Rohstoffe können aus den ASEAN-Staaten oder anderen asiatischen Ländern zur Verarbeitung nach China geschickt werden. Teile und Komponenten können in beide Richtungen fließen", so Elms.

Außerdem finde die Endmontage von Produkten häufig an verschiedenen Orten statt und fertige Waren aus der Region würden nach China ein- und ausgeführt.

Chinas Wachstumsschwäche kurbelt Exporte an

Für die Handelsexperten der Rhodium Group, einem Analysehaus aus New York, sind Chinas Überkapazitäten allerdings mehr als ein Narrativ. In ihrer Studie "How China's Overcapacity holds back Emerging Economies" haben Camille Boullenois und Charles Austin Jordan untersucht, wie stark der Mix aus staatlich stimuliertem Industriewachstum und lahmender Nachfrage in China die internationalen Warenströme verändert hat.

"Seit 2019 haben die schwache Inlandsnachfrage und der Ausbau der Industriekapazitäten dazu geführt, dass Chinas Handelsbilanzüberschuss im verarbeitenden Gewerbe immer größer wird", argumentieren sie.

Schwellenländer zunehmend betroffen

Mittlerweile leiden nicht nur Industrieländer unter Chinas Überkapazitäten, sondern auch Entwicklungs- und Schwellenländer. "Während die wachsenden chinesischen Exporte den Entwicklungsländern bis zu einem gewissen Grad zugutekommen, indem sie Vorprodukte für die eigene Industrie bereitstellen, tragen sie auch zu Chinas steigender Marktmacht bei und machen die Entwicklungsländer verwundbar", schreiben die Rhodium-Autoren.

Bislang ging man davon aus, dass Schwellenländer wie Indien profitieren würden, wenn China stärker auf höherwertige Produkte setzt statt auf billige Massenware. Schwellenländer könnten dann Industriegüter in alle Welt liefern, die bislang China produzierte.

Diese Hoffnungen hätten sich in Luft aufgelöst, weil Peking nicht fähig sei, die Binnennachfrage anzukurbeln. Erst dann könnten mehr Waren vom chinesischen Markt absorbiert werden, statt nach Indien oder in die ASEAN-Staaten exportiert zu werden, so Boullenois und Jordan.

Solange Peking keine ernsthaften Reformen in Angriff nimmt, um die Binnennachfrage zu stimulieren, sehe es schlecht aus für Entwicklungs- und Schwellenländer. Ihnen drohe, so die Rhodium-Autoren, durch die chinesischen Überkapazitäten aus dem Industriegeschäft gedrängt zu werden und zunehmend abhängig von China zu werden.

Beispiel Stahl

Mittlerweile stammt die Hälfte des weltweit produzierten Stahls aus China. Und je weniger dieser Stahl im eigenen Land - etwa im Immobiliensektor - verbaut wird, desto mehr exportiert die Volksrepublik. Seit 2021, als Pekings knallharte Corona-Lockdownpolitik mit Fabrikschließungen die Stahlpreise in Rekordhöhen getrieben hatte, wird Stahl immer billiger.

"Chinas Probleme im Immobiliensektor seit 2021 haben zu enormen Überkapazitäten und einem Einbruch der Weltmarktpreise geführt, was nun zu erheblichem Druck auf Produzenten in Indien, Vietnam, Brasilien und anderen Ländern führt. Chinas Exporte von Stahlerzeugnissen steigen wieder an - um 27 Prozent im Jahr 2024, nach 35 Prozent Wachstum im letzten Jahr", schreiben die Rhodium-Autoren.

"Angesichts der Herausforderung, den heimischen Fertigungssektor und eigene Jobs zu schützen, können asiatische Politiker nicht untätig bleiben", fordert Sonal Varma. "Sie müssen in ihren Ländern gleiche Wettbewerbsbedingungen gegenüber China schaffen."

To-Do-Liste für die Politik

Sie empfiehlt den politischen Entscheidern in Asien einen Mix aus Maßnahmen, wie die Stärkung eigener industrieller Ökosysteme. Dazu gehören laut Varma konkrete Vorgaben für den Anteil lokaler Wertschöpfung und steuerliche Nachlässe für Produkte, die im eigenen Land hergestellt werden.

Wie die westlichen Industrieländer sollten auch asiatische Länder ihre Lieferketten diversifizieren, um ihre große Abhängigkeit von chinesischen Rohstoffen - etwa in der Elektronikbranche - zurückzufahren. So will Südkorea im Rahmen der nationalen "Strategie 3050" die Abhängigkeit bei 185 Importartikeln bis 2030 um 50 Prozent reduzieren.

Außerdem sollten sich die Länder Asiens verstärkt um ausländische Direktinvestitionen bemühen, die nicht aus China, sondern aus dem Rest der Welt kommen. Denn je mehr die USA und die EU ihre De-Risking-Politik gegenüber China ausweiten, "werden Handel und Investitionen, die über Drittländer abgewickelt werden, verstärkt unter die Lupe genommen", so Sonal Varma.

Sie ist davon überzeugt, dass der zunehmende Protektionismus des Westens gegenüber China und das anhaltende Problem chinesischer Überkapazitäten Asien vor neue Herausforderungen stellt, die "einen protektionistischen Dominoeffekt in weiteren Ländern auslösen dürften".

Am Ende gehe es schlicht und einfach um den Schutz einheimischer Unternehmen und Jobs.

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Image caption Tausende chinesische Autos warten im Hafen von Yantai auf den Export ins Ausland
Image source AFP
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Item 34
Id 69687553
Date 2024-07-17
Title Richard Wagner: Mythos und Mensch
Short title Richard Wagner: Mythos und Mensch
Teaser Mit seinen Bayreuther Festspielen schuf Richard Wagner seinen eigenen Mythos. Doch wer war der weltberühmte Komponist wirklich? Das Richard Wagner Museum in Bayreuth zeigt seltene Objekte, die Aufschluss geben.
Short teaser Mit seinen Bayreuther Festspielen schuf Richard Wagner seinen eigenen Mythos. Doch wer war Wagner wirklich?
Full text

Die Idee des Gesamtkunstwerks, bei dem Musik, Text, Schauspiel, Bühnenbild und Architektur eine Einheit bilden, machte Richard Wagner und seine Opern weltberühmt. 60 000 Wagnerfans pilgern jährlich zu den Bayreuther Festspielen, wo der Komponist 1876 sein eigenes Festspielhaus eröffnete. Eins war von vorneherein klar: Er führte über alles Regie. Bis heute dürfen bei den Festspielen nur von ihm ausgewählte Opern aus seiner Feder gespielt werden. Geht es nach der Kulturstaatsministerin Claudia Roth, dann soll sich das allerdings in Zukunft ändern. Sie möchte, dass auch andere Komponisten gespielt werden. "Bayreuth sollte insgesamt vielfältiger, bunter und jünger werden", sagte sie den Zeitungen der Mediengruppe Bayern.

An dem Mythos um seine Person arbeitet Richard Wagner (1813 – 1883) schon zu Lebzeiten, ein "Influencer" in eigener Sache, ein Selbstdarsteller seiner Zeit. So inszeniert sich Wagner gerne als Renaissancemensch mit Kleidung aus Atlas und Brokat. Unverkennbar seine "Dürer"-Mütze und der Kinnbart. "Das ist eine Verkleidung, eine Rolle, in der Wagner als Meister wahrgenommen werden wollte, was ihm ja auch ganz gut gelungen ist", sagt Sven Friedrich, Leiter des Richard Wagner Museums in Bayreuth.

In der Sonderausstellung "Mensch Wagner" geht es Friedrich darum, den "menschlichen Kern Wagners hinter der großen mythischen Kulisse zu zeigen", wie er im Gespräch mit der DW erläutert.

Mythos und Mensch

Richard Wagner war nicht nur Dirigent und Komponist, sondern auch Dichter, Dramatiker, Schriftsteller, Kunstphilosoph und Regisseur. Seine Nachkommen stilisierten ihn zu einem Übermenschen. Der Mythos lebt bis heute.

Entscheidend ist dabei seine Musik, besonders die seiner Opern, die mit ihren wiederkehrenden Leitmotiven seinerzeit neuartig waren und die Zuhörer zutiefst bewegte. Wie schon zu Wagners Lebzeiten geben sich Millionen von Hochzeitspaaren heute auf der ganzen Welt das Ja-Wort zu seiner Musik "Treulich geführt" aus dem dritten Akt der Oper Lohengrin - obwohl die Oper tragisch endet.

Der Mensch Wagner ist ambivalent. Als junger Mann beteiligte er sich an der sogenannten Märzrevolution 1848/49. Er kämpfte für Freiheit und Demokratie und die Abschaffung des Adels. Später ließ er sich von zahlungskräftigen Bürgern und Adeligen gerne finanziell unterstützen. Sein größter Bewunderer war König Ludwig II von Bayern. Ohne seine finanzielle Hilfe wäre das Festspielhaus von Bayreuth nicht entstanden.

Wagner, ein Unsympath

Richard Wagner war überzeugter Antisemit. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es eine starke antisemitische Strömung in Europa. Wagner veröffentlichte 1850 sein Pamphlet "Das Judenthum in der Musik", in dem er Menschen jüdischen Glaubens die Fähigkeit abspricht, sich kreativ künstlerisch zu äußern. Eine Gesinnung Wagners, die den Nationalsozialisten Anfang des 20. Jahrhunderts in die Karten spielte. Adolf Hitler war in den 1930er Jahren einer der größten Verehrer von Wagners Opern.

Richard Wagner lebte gerne über seine Verhältnisse und nutzte Menschen aus. Er war ständig in Geldnöten, floh vor seinen Gläubigern mehrfach ins Ausland. In solchen Situationen nahm der Komponist gerne auch die Hilfe jüdischer Weggefährten an. Der jüdische Opernkomponist Giacomo Meyerbeer, in Paris hoch angesehen, half ihm in finanzieller Not und machte ihn in Paris bekannt. Später verschmähte Wagner den einstigen Unterstützer.

All das macht ihn als Menschen keinesfalls sympathisch. Die Pianistin und Komponistin Clara Schumann mochte seine Arroganz und sein weinerliches Lachen nicht. "Wagner war körperlich klein, durchtrieben und ein Egomane", sagt Sven Friedrich. "Er ist der ‚schnupfende Gnom aus Sachsen‘, wie Thomas Mann gesagt hat: ‚mit dem Bombentalent und dem schäbigen Charakter‘."

Wagner, ein Kind seiner Zeit

Über den Menschen Wagner erfährt man in der Ausstellung aus Selbstzeugnissen oder den Erinnerungen von Familienmitgliedern und Zeitgenossen. Wagners zweite Frau Cosima Wagner schrieb in Tagebüchern über ihr gemeinsames Leben, über Wagners Vorlieben, aber auch von seinen Ängsten, die sich oft in seinen Träumen offenbarten. Auch von dem verhassten Giacomo Meyerbeer träumte er, dass er, Wagner, sich bei ihm entschuldigt habe und das Publikum zur Versöhnung applaudierte.

Erstmals zeigt die Ausstellung Unterlagen zu Richard Wagners Finanzen, wie Kontoauszüge und Wechsel oder ein medizinisches und ein kulinarisches Rezeptbuch. Wagner plagte lebenslang eine Gürtelrose. Seine Verdauungsprobleme behandelte er mit Schonkost und Bäderkuren.

Die Ausstellungsmacher wollen Wagner nicht als selbstschöpferischen Visionär, sondern als Kind seiner Zeit und im Rahmen seiner Lebensumstände darstellen. "Deshalb zeigen wir auch menschliche Objekte, die begreiflich machen, dass Wagner auch einen Alltaghatte. Der Mythos kennt ja keinen Alltag", meint Sven Friedrich. Es sind Objekte wie Wagners Wanderschuhe, seine Geldbörse oder Notizbücher und Gelegenheitsgedichte.

Wagners Rückzugsorte

Zu den selten gezeigten Ausstellungsstücken gehören auch die Unterlagen zur Errichtung von Haus Wahnfried in Bayreuth, wo der geräuschempfindliche Komponist ab 1874 mit seiner Familie fern einer Großstadt wohnte. Im einstigen Wohnhaus "Villa Wahnfried" ist heute das Richard Wagner Museum untergebracht.

Ruhe suchte Wagner aber auch in den Alpen bei seinen Wanderungen. Wagner liebte die Natur und verteufelte die Urbanisierung und den industriellen Fortschritt des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig machte er sich aber gerne neue Errungenschaften zu Nutze, wie etwa die Eisenbahn. Mit ihr fuhr er bei den Vorbereitungen zu den Bayreuther Festspielen sogar im persönlichen Salonwagen durch die Lande, um Geldgeber aufzutreiben.

Wagners Reisen und Werke

Richard Wagner reiste quer durch Europa, je nachdem, wo er eine Anstellung fand. In Riga arbeitete er als Kapellmeister am deutschen Stadttheater. Die Anordnung der Stühle und der tiefer gelegte Orchestergraben des Theaters dienten ihm später als Vorbild für den Bau des eigenen Festspielhauses. Ein Wagnerverein hat sich dafür eingesetzt, dass das Theater in Riga, das lange leer stand, wieder in den Ursprungszustand versetzt werden soll.

In Riga arbeitete Richard Wagner an seiner frühen Oper "Rienzi", die er in Dresden 1842 uraufführte und mit der ihm in Paris der Durchbruch als Opernkomponist gelang. In Paris komponierte er die Faust Ouvertüre und seine Oper "Der Fliegenden Holländer", die Musik inspiriert von einer stürmischen Seefahrt. Der fliegende Holländer steht in dieser Festspielsaison bei den Bayreuther Festspielen auf dem Programm. Zum wiederholten Male mit der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv im Orchestergraben.

Nach dem Märzaufstand 1849 floh Richard Wagner nach Zürich, wo er mit dem Libretto für sein großes Werk "Der Ring des Nibelungen begann" und gleichzeitig seine Oper "Tristan und Isolde" komponierte. In diesem Jahr wird der gesamte Ring noch einmal unter der Regie des Österreichers Valentin Schwarz in Bayreuth aufgeführt. Tristan und Isolde, die Geschichte von zwei Liebenden, die einander nicht lieben dürfen, wird am 25. Juli in der Neuinszenierung des isländischen Dramaturgen Thorleifur Örn Arnarsson im Festspielhaus zu hören und zu sehen sein.

Für seinen Tod ließ Richard Wagner eine Gruft im Garten seiner Villa Wahnfried errichten. Er starb 1883 in Venedig. Ein Testament hinterließ er nicht. Bis 1908 übernahm seine Frau Cosima die Geschäfte der Festspiele. Seit 2008 ist Katharina Wagner, die Urenkelin Wagners, Intendantin der Bayreuther Festspiele.

Die Ausstellung "Mensch Wagner" läuft noch bis zum 6. Oktober im Richard Wagner Museum Bayreuth. Die Premiere der Bayreuther Festspiele ist am 25. Juli, die Festspiele enden am 27. August.

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Image caption Richard Wagner mit der typischen Dürer-Kopfbedeckung und Kinnbart.
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Item 35
Id 69679251
Date 2024-07-16
Title Deutschlands größter Sprachwettbewerb: die Deutscholympiade
Short title Deutschlands größter Sprachwettbewerb: die Deutscholympiade
Teaser Die jugendlichen Teilnehmer der Internationalen Deutscholympiade kommen aus aller Welt, haben aber eine gemeinsame Leidenschaft: die deutsche Sprache. Doch es geht bei dem Wettbewerb um mehr als Vokabeln und Grammatik.
Short teaser Wer gewinnt die Goldmedaille beim Deutschlernen? Jugendliche aus der ganzen Welt haben ein Ziel: den ersten Platz.
Full text

Die Internationale Deutscholympiade (IDO) findet vom 15. bis 22. Juli 2024 in Göttingen statt, einer kleinen Universitätsstadt im Herzen Deutschlands. Die Veranstaltung gilt als der weltweit größte deutschsprachige Wettbewerb und findet alle zwei Jahre statt. 105 jugendliche Olympioniken aus weltweit 61 Ländern reisen diesmal an, um eine Woche lang ihre Deutschkenntnisse unter Beweis zu stellen. Aber es geht nicht nur um Leistung, auch kulturelle Veranstaltungen und Ausflüge stehen auf dem Programm.

Eine neue Generation von Deutschsprechenden fördern

Zwei Hauptziele hat die IDO, die 2008 vom Goethe-Institut und dem Internationalen Deutschlehrerinnen- und Deutschlehrerverband (IDV) ins Leben gerufen wurde: Zum einen soll das Interesse an der deutschen Sprache gestärkt werden, zum anderen will man junge Deutschlernende fördern.

Weltweit lernen rund 15,4 Millionen Menschen aller Altersgruppen Deutsch, so das Auswärtige Amt in einer Studie zu "Deutsch als Fremdsprache" aus dem Jahr 2020; die meisten von ihnen stammen aus Europa.

Im Vergleich dazu lernten nach Angaben der Internationalen Organisation der Frankophonie (OIF) im Jahr 2022 weltweit etwa 50 Millionen Menschen Französisch, während die aktuellen Schätzungen für Englischlernende weltweit zwischen 300 Millionen und 1,5 Milliarden liegen.

Mit der IDO könne man das Interesse am Deutschlernen steigern, es attraktiver und sichtbarer machen, sagt Seyna Dirani, IDO-Projektleiterin am Goethe-Institut.

Knapp 106.000 weiterführende Schulen weltweit bieten laut dem Auswärtigen Amt das Fach Deutsch an. Für die Schülerinnen und Schüler, die die Sprache lernen, bietet die Teilnahme an der IDO die Möglichkeit, Jugendliche aus der ganzen Welt zu treffen, die genauso begeistert von der deutschen Sprache sind wie sie selbst. Die Teilnehmenden werden von Lehrkräften aus ihren Heimatländern begleitet, die beim Aufenthalt in Göttingen pädagogische Workshops belegen.

Eine gemeinsame Leidenschaft: Deutsch

Die Sprachkenntnisse der Schülerinnen und Schüler gehen weit über "Hallo" und "Danke" hinaus: Sie alle mussten sich bereits in ihren Heimatländern bei nationalen Deutschwettbewerben gegen viele Mitschülerinnen und Mitschüler durchsetzen, um sich einen Platz in Göttingen zu sichern.

"Das Schöne ist, dass die deutsche Sprache so viele junge Menschen auf der ganzen Welt miteinander verbindet. Es ist eine große Gemeinsamkeit, die sie in Deutschland, beim Finale in Göttingen, zusammenbringt", erklärt Dirani.

Dennoch haben die Schüler unterschiedliche Beweggründe, die Sprache zu lernen; diese haben sie dem Goethe-Institut bereits im Vorfeld des Wettbewerbs per Fragebogen mitgeteilt.

Die 16-jährige Rayyona Ibrokhimova aus Usbekistan zum Beispiel träumt davon, in Zukunft eine deutsche Universität zu besuchen. "Ich lerne Deutsch, weil ich Germanistik in Deutschland studieren möchte", schrieb sie.

Und in der Tat ist es ein Ziel der IDO, für Deutschland als Ort der Weiterbildung oder des Studiums zu werben. "Wir freuen uns natürlich, dass die jungen Menschen sich für die deutsche Sprache interessieren, viele auch für eine Ausbildung und eine zukünftige Arbeitsmöglichkeit in Deutschland", sagt Projektleiterin Dirani der DW.

Der 17-jährige Mexikaner Robert Perez Castillo möchte ebenfalls sein Deutsch perfektionieren und ein Sprachzertifikat auf höchster Stufe erwerben. "Das bedeutet aber nicht, dass ich mein Heimatland verlassen will", schreibt er.

Tatsächlich haben die Zukunftsziele der IDO-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer nicht immer unbedingt etwas mit der deutschen Sprache zu tun: Sie wollen Ärztin oder Arzt werden, Ingenieurin oder Ingenieur, reich werden, Marathon laufen, Familie haben. Die 14-jährige Jaryna Schewtschuk aus der Ukraine hofft auf ein Ende des Krieges in ihrer Heimat.

Die 16-jährige Aryee Gilberta Akuvi Yesulom aus Ghana hat allerdings ein konkretes Ziel, wofür sie auf jeden Fall gut Deutsch lernen will: Sie plant, eines Tages für ihr Heimatland Botschafterin in Deutschland zu werden.

Sprachkenntnisse, Teamfähigkeit und Kreativität

Projektleiterin Seyna Dirani engagiert sich seit 2022 für die IDO und hat festgestellt, wie die Schülerinnen und Schüler trotz aller Unterschiede im Laufe der Woche als Gruppe zusammenwachsen. "Ich war sehr beeindruckt von diesen jungen Menschen, die einander voller Freude, Motivation und mit Offenheit begegnet sind", sagt sie und erinnert sich an ihre früheren IDO-Erfahrungen.

In Göttingen werden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Kreativ-Workshops auf den Wettbewerb vorbereitet, der aus drei Teilen besteht: einer schriftlichen Einzelprüfung, einer mündlichen Teampräsentation und einer kreativen Gruppenarbeit. Eine mehrköpfige Jury bewertet nicht nur die Sprachkenntnisse der Schülerinnen und Schüler, sondern auch ihre Kreativität und ihren Teamgeist. Und am Ende kehren die Teilnehmenden um viele Erfahrungen reicher nach Hause zurück.

"Ich glaube, dass die Jugendlichen viel für sich persönlich mitnehmen können", so Seyna Dinari. "Ich denke, die IDO trägt zu einem stärkeren Selbstbewusstsein der jungen Menschen bei. Sie nehmen Freundschaften mit, sie lernen Menschen auf der ganzen Welt kennen und sie vernetzen sich untereinander. Und ich glaube, sie nehmen auch eine offene Sicht auf andere Kulturen und Länder mit."

Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords

Item URL https://www.dw.com/de/deutschlands-größter-sprachwettbewerb-die-deutscholympiade/a-69679251?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Die Gewinnerinnen der IDO 2022 kamen aus der Türkei, Armenien und Rumänien
Image source Christian Charisius/dpa/picture alliance
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Item 36
Id 69576616
Date 2024-07-16
Title Hitze in der Stadt: Wie helfen Kaltluftschneisen?
Short title Hitze in der Stadt: Wie helfen Kaltluftschneisen?
Teaser In vielen Städten wird es im Sommer unerträglich heiß. Kaltluftschneisen können helfen: Sie bringen kühle Luft aus dem Umland in die Betonwüste. Wie genau funktioniert das? Und was heißt das für die Stadtplanung?
Short teaser In vielen Städten wird es im Sommer unerträglich heiß. Kaltluftschneisen bringen Kühlung. Wie geht das?
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Städte heizen sich im Sommer besonders stark auf. Beton und Asphalt speichern Sonnenwärme lange und so bleibt es auch in der Nacht sehr warm. Doch sogenannte Tropennächte mit Temperaturen von über 20 Grad stören den gesunden Schlaf. Kaltluftschneisen transportieren kühle Luft in die Innenstädte und helfen die Hitze zu regulieren.

Was sind Kaltluftschneisen?

Im Umland ist es meist deutlich kühler als in der Stadt, in wolkenlosen Nächten im Sommer kann der Unterschied der Temperaturen bis zu 15 Grad Celsius sein.

Städte können von dieser Kaltluft profitieren. Dabei helfen sogenannte Kaltluftschneisen, durch die kühle Luft von außen bis in die aufgewärmte Stadtmitte strömen kann. Solche Kaltluftschneisen können beispielsweise Grünstreifen sein, oder auch Flüsse, Seen, Bahntrassen oder breite Straßen mit Begrünung.

Kalte Luft strömt in Bodennähe, nahe an der Erdoberfläche. Das geht am besten, wenn keine Hindernisse wie etwa Gebäude oder Dämme im Weg sind. Schon niedrige Mauern können die Luftströmung stören. Bei der Gestaltung von Städten sollten diese Kaltluftschneisen zur Abkühlung deshalb nicht verbaut werden.

Warum entsteht im Umland nachts kältere Luft?

In der Stadt speichern Beton und Asphalt nachts noch lange die Tageshitze. Im Umland dagegen gibt es viel mehr Grünland, Äcker, Wälder und unbebauten Boden. Und die kühlen in der Nacht viel schneller ab. Je nach Vegetation kann es dort in Bodennähe bis zu zwei Grad Celsius pro Stunde kühler werden.

Wolken fangen Wärme ab, die von der Erde abstrahlt. Ohne Wolken kühlt es daher nachts schneller ab.

Kühle Luft entsteht auch durch die Verdunstung von Wasser über die Blätter von Pflanzen. Auch darum kühlt sich die Luft in ländlichen Regionen nach Sonnenuntergang sehr schnell ab. Die Temperaturen sinken am schnellsten auf Wiesen und Grünflächen mit Bäumen wie zum Beispiel Obstwiesen, sowie über Sand-, Lehm- und Torfböden.

Wie kommt viel kalte Luft in die Stadt?

Wegen der unterschiedlichen Temperaturen zwischen einer Stadt und dem unbebauten Umland bildet sich oft ein lokales Windsystem aus. Die Bodenbeschaffenheit und Lage ist dabei entscheidend. Liegt die Stadt etwa an einem Berghang oder in einem Tal, kann das besonders günstig sein, weil stärkere Luftströmungen entstehen.

Weil kalte Luft schwerer ist als warme, sammelt sie sich direkt über dem Boden. An einem Berghang strömt diese Kaltluft mit viel Kraft nach unten, es entsteht ein kühlender Wind.

Durch eine Kaltluftschneise kann diese kühle Luft bis in die Innenstadt strömen und verdrängt die Warmluft dort. Während Straßen und Gebäude abkühlen, steigt die Warmluft nach oben.

Die Stadt Stuttgart in Süddeutschland liegt beispielsweise in einem Tal. Das lokale Durchlüftungssystem mit den Kaltluftschneisen soll erhalten werden. Bei der Stadtplanung und neuen Bauvorhaben wird darum sicher gestellt, dass die Kaltluftschneisen weiter wirken können.

Was tun Städte für bessere Kaltluftsysteme?

Die Bedeutung von Kaltluft aus dem Umland zur Kühlung der Städte wird weltweit immer wichtiger. Großstädte in allen Erdteilen haben inzwischen Klimaanalysen erstellt, darunter Neu Delhi (Indien), Lima (Peru), Lagos (Nigeria), Seoul (Südkorea), Melbourne (Australien) und Portland (USA). In Deutschland verwenden inzwischen auch viele kleinere Städte und Regionen solche Studien.

Umweltmeteorologen messen dafür Temperaturen und Windströme an den verschiedenen Orten in der Stadt und im Umland, speisen die Daten in spezielle Computerprogramme und erstellen einen detaillierten Klimaatlas.

Auf diese Grundlage können Städte entscheiden, an bestimmten Stellen nichts zu bauen, Frischluftschneisen zu verbessern und die natürliche Kühlung im Umland schützen.

Zusätzlich können auch weitere Maßnahmen helfen, um Sommerhitze in Städten zu kühlen und die Lebensqualität zu verbessern. Dazu zählt die Entsiegelung von Flächen, mehr Straßenbäume, Begrünung von Dächern und Fassaden, mehr Parks und Wasserflächen, zusätzliche Verschattungen sowie möglichst helle Fassaden und Straßenbeläge, die weniger Hitze aufnehmen.

Redaktion: Tamsin Walker, Anke Rasper

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Image caption Der Flusslauf des Mains in Frankfurt ist zugleich eine Kaltluftschneise. Über dem kühlen Wasser strömt kalte Luft in die Stadt.
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Item 37
Id 69664279
Date 2024-07-16
Title Frauen gegen Hitler: Widerstand in der Nazi-Zeit
Short title Frauen gegen Hitler: Widerstand in der Nazi-Zeit
Teaser Wer sich den Nazis widersetzte, lebte gefährlich. Doch einige mutige Frauen ließen sich nicht abschrecken. Aus ihren Geschichten kann man Lehren ziehen, wie man sich der Tyrannei entgegenstellt.
Short teaser Wer sich den Nazis widersetzte, lebte gefährlich. Doch einige mutige Frauen ließen sich nicht abschrecken.
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Im Dritten Reich wurden mehrere Attentate auf den Nazi-Führer Adolf Hitler verübt, sie alle schlugen fehl. Der bekannteste Versuch, das nationalsozialistische Regime zu stürzen, war die "Operation Walküre" am 20. Juli 1944.

Mehr als 200 Personen waren daran beteiligt, allen voran der deutsche Heeresoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Außer ihm und seinen Offizierskollegen waren aber auch einige Frauen involviert - darunter Erika von Tresckow, die Ehefrau des beteiligten Majors Henning von Tresckow. Sie überbrachte Botschaften, um militärische und zivile Widerstandsgruppen zu koordinieren, und tippte saubere Kopien der Befehlsentwürfe für die Operation Walküre ab.

Als das Attentat scheiterte, beging Henning von Tresckow Selbstmord. Erika wurde von der Gestapo verhaftet, konnte aber erfolgreich vortäuschen, nichts von den Plänen gewusst zu haben. Sie wurde später freigelassen.

Gründe für den Widerstand

Erika von Tresckow ist eine von 260 Frauen, deren Geschichten derzeit in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin in der Sonderausstellung "Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus" erzählt werden. Sie ist das Ergebnis jahrelanger, vom Deutschen Bundestag geförderter Sonderforschungen zur Rolle von Frauen, die gegen die Nazi-Herrschaft im Dritten Reich aufbegehrten.

Die Geschichten illustrieren verschiedene Formen des Widerstands, sagt Johannes Tuchel, der Leiter der Gedenkstätte der DW. "Das reicht von Frauen, die ins Exil gegangen sind, über Christinnen, Sozialdemokratinnen, Sozialistinnen, aber auch bis hin zu Angehörigen der Swing-Jugend", erklärt er - und meint damit junge Menschen, die sich für den jazzigen Swing begeisterten, der von den Nazis unter anderem wegen seiner schwarzen und jüdisch-amerikanischen Wurzeln abgelehnt wurde.

Bloß kein Gleichschritt

Die Swing-Jugend stehe "für einen alternativen Lebensstil, und von dort ist es dann nur ein kleiner Schritt zu 'abweichendem' Verhalten und etwas, das im Gegensatz zum nationalsozialistischen Vorhaben steht", sagt Tuchel und zitiert dann den verstorbenen deutschen Jazzmusiker und Holocaust-Überlebenden Coco Schumann: "Jemand, der Swing gehört hat, kann nicht im Gleichschritt marschieren."

Zu den Frauen, die sich weigerten, im Gleichschritt zu marschieren, gehörten auch Kommunistinnen, Anarchistinnen, Jüdinnen, Zeuginnen Jehovas und Lesbierinnen. Sie alle sahen sich gezwungen, den Faschismus zu bekämpfen - nicht zuletzt, weil ihre bloße Existenz im Gegensatz zur Nazi-Ideologie stand.

Flugblätter, Postkarten und Propaganda

Einige der Frauen, die in der Gedenkstätte gewürdigt werden, dürften bekannt sein. "Eine Ausstellung über Frauen im Widerstand wird nicht auf den Namen Sophie Scholl verzichten können", sagt Johannes Tuchel - und meint damit das einzige weibliche Mitglied des inneren Kreises der studentischen Widerstandsbewegung "Weiße Rose". Sie wurde im Alter von 21 Jahren hingerichtet, weil sie Flugblätter gegen die Nazis verteilt hatte.

Auch Marlene Dietrichs Geschichte wird erzählt: Der berühmte deutsche Filmstar verließ seine Heimat schon vor der Machtergreifung der Nazis in Richtung Hollywood. Als die USA in den Krieg gegen Nazideutschland eintraten, trat sie für US-Truppen und deutsche Kriegsgefangene in Nordafrika, Italien, Frankreich und Belgien auf. Sie beteiligte sich auch an Propagandamaßnahmen, die darauf abzielten, die Moral der deutschen Zivil- und Militärbevölkerung zu untergraben.

Andere der in der Ausstellung genannten Frauen sind weniger bekannt, aber ihre Geschichten haben Schriftsteller und Filmemacher inspiriert. Erich Maria Remarque, Autor des von den Nazis verbotenen Antikriegsromans "Im Westen nichts Neues", widmete seinen Roman "Der Funke Leben" (1952) seiner jüngsten Schwester Elfriede Scholz. Sie wurde verhaftet und hingerichtet, weil sie den deutschen "Endsieg" als Propaganda abtat. Soldaten an der Front seien nur "Schlachtvieh", sagte sie und wünschte sich den Tod Hitlers herbei.

Elise Hampel und ihr Mann Otto versuchten, mit fast 300 handgeschriebenen Postkarten Stimmung gegen die Nazis zu machen. Sie warfen sie in Berlin eigenhändig in Briefkästen ein oder deponierten sie in Treppenhäusern, nachdem Elises Bruder im Krieg gefallen war. Auch das Paar wurde hingerichtet. Ihre Geschichte inspirierte Hans Fallada 1947 zu seinem Roman "Jeder stirbt für sich allein ", der in den letzten Jahrzehnten an Popularität gewonnen hat und fünf Mal verfilmt wurde.

Zunehmende Kritik - und Verfolgung

Die Hampels, Scholz und Scholl wurden alle 1943 hingerichtet. In diesem Jahr sei die Verfolgung von Frauen, die sich dem Regime widersetzten, verschärft worden, erklärt Johannes Tuchel. Vergehen, die zuvor zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe geführt hätten, zogen nun oft das Todesurteil nach sich. Genau zu dieser Zeit wuchsen die Widerstandsaktivitäten der Frauen, ergänzt der Leiter der Gedenkstätte.

"In den Kriegsjahren gab es in Deutschland fast keine Männer mehr", erklärt er, denn 1944 dienten rund acht Millionen Männer im Militär. "Das heißt, Frauen haben auch Positionen eingenommen, die bis dahin nur Männer im Alltag eingenommen hatten. Jetzt hatten sie die Doppelbelastung der Fabrikarbeit, die Versorgung der Kinder und der Familie. Damals gab es noch die noch die alten Rollenbilder, aber gleichzeitig gab es eine wachsende Bereitschaft, Dinge kritisch zu hinterfragen."

Das Regime fürchtete Unruhen an der Heimatfront, daher "war die Reaktion auf kritische Äußerungen von Frauen sehr hart (...) Sie galten nicht mehr als Scherz und damit als Heimtücke, sondern ab 1943 als sogenannte ‚Wehrkraftzersetzung‘. Und darauf stand als eine der Möglichkeiten auch die Todesstrafe."

Aus den Widerstandsbemühungen von damals könne man noch heute Lehren ziehen, findet Tuchel: "Es ist möglich, etwas gegen Diktaturen zu tun. Ja, es ist mit einem Risiko verbunden, aber es heißt nicht, dass wir vor politischen Zeitläufen - welcher Art auch immer, welcher totalitären Herausforderung auch immer - resignieren müssen, sondern wir können etwas tun."

Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords

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Image caption Die Frauen, die aktiv Widerstand gegen das Naziregime leisteten, kamen aus unterschiedlichen religiösen, politischen und sozialen Schichten
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Item 38
Id 69664467
Date 2024-07-15
Title Die gestreckte Faust: Trumps ikonische Geste
Short title Die gestreckte Faust: Trumps ikonische Geste
Teaser Im Moment seiner Bedrohung ballt Ex-US-Präsident Donald Trump die Faust und schafft so eine Bildikone. Die Geste ist Jahrtausende alt - und immer noch wirkungsvoll. Doch woher kommt sie?
Short teaser Im Moment seiner Bedrohung ballt Ex-US-Präsident Donald Trump die Faust und schafft so eine Bildikone.
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Donald Trump mit blutverschmiertem Gesicht, der die Faust kämpferisch in die Höhe reckt. Sicherheitsleute, die den Ex-Präsidenten niederdrücken wollen, um ihn zu schützen - ein ikonisches Bild, das symbolträchtiger nicht sein könnte. "In der schlimmsten Situation, in die ein Mensch geraten kann, im Angesicht des Todes", sagt die Kommunikationswissenschaftlerin und US-Expertin Marion G. Müller von der Uni Trier, "denkt der Angeschossene nicht zuallererst an sich, sondern an seine Mission."

Das zeigt Wirkung. Trumps geballte Faust, kein Victory-Zeichen, aber eine Geste wilder Entschlossenheit und enormer Wut, macht den Präsidentschaftskandidaten in den Augen seiner Anhänger zum Märtyrer - mit einer messianischen Botschaft. "Trump gibt hier ein Heilsversprechen ab", sagt Müller im DW-Gespräch. "Dass er das Attentat überlebt hat und das auch noch triumphal, wie der Faustgestus zeigt, wird von Trumpisten als 'Gottes Wille' interpretiert und damit als Vorhersage für seine Wiederwahl." Die USA seien ein zutiefst religiöses Land, das Foto des die Faust reckenden Trumpsei für viele Trump-Anhänger der "Bild gewordene Auftrag, das Land zu führen".

Trump weiß um die Macht der Bilder

Die starke Geste seiner erhobenen Faust, so spontan Trump sie auch einsetzte, entspringt gewiss auch seinem politischen Instinkt. Trump weiß um die Macht der Bilder. Mit seiner Geste habe er sich zum "Anti-Opfer" gemacht, indem er selbst handelte und die Faust mehrfach geballt hochstreckte. "Dies passt zwar in die Ikonographie-Geschichte der geballten Faust, die zumeist von Freiheits- und Unabhängigkeitsbewegungen gezeigt wurde", so Müller, "doch steht Trumps hochgereckte Faust auch in starkem Kontrast zu seiner vorherigen Selbstinszenierung als Opfer der US-Justiz."

Hätte es eine ähnliche Situation in Russland gegeben, mit einer ähnlichen Geste von Präsident Putin, so wäre sie dort vermutlich nicht öffentlich gezeigt worden, vermutet die Kommunikationswissenschaftlerin. "In Russland hätte man den Vorfall heruntergespielt, vielleicht von einem Gewehr gesprochen, das 'aus Versehen losging." Danach aber wäre in Russlands Medien ein strahlender Putin aufgetaucht. "Die US-Medien aber sind gepolt auf solche ikonischen Fotos", sagt Müller. Nicht der Moment davor, als Trump sich wegduckte, oder danach, als er in den schwarzen Wagen geführt wurde, sei von den Medien ausgewählt worden. "Es wurde dieses Bild, weil es perfekt in die ikonisch-pathetische Tradition der amerikanischen Präsidentenkommunikation passt."

Erst Schlagwaffe, dann Drohgebärde - die Faust

Die geballte Faust hat eine lange Geschichte, wie der Gestenforscher Roland Posner, früher Leiter der Arbeitsstelle für Semiotik an der Technischen Universität Berlin, einmal festhielt. So zeigen bereits Malereien auf 2000 bis 3000 Jahre alten griechischen Vasen Menschen, die ihre Hand mal im Faustkampf, mal siegreich geballt oder auch als Drohgeste einsetzen.

Die Faust, elementarste Waffe des Menschen, bündelt die Kräfte von Hand und Arm. Doch entwickelte sich die Faust von der Schlagwaffe zur Drohgebärde, die ausreichte, um den Feind in die Flucht zu schlagen. Mit großer Wahrscheinlichkeit ballte schon der Steinzeitmensch die Faust, wenn er seine Höhle, seine Frau, die Vorräte oder das überlebenswichtige Feuer verteidigen wollte.

Was die erhobene Faust zum politischen Kampfsignal macht, zur geballten Botschaft? Darüber hat schon der englische Naturforscher Charles Darwin gemutmaßt. In seiner Abhandlung "Ausdruck der Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren", die 1872 auf Deutsch erschien, erkannte er die geballte Faust als ein typisches Merkmal von Wut. "Gebärden wie das Erheben der Arme mit geballten Fäusten, als wollte man den Beleidiger schlagen", schrieb der Verhaltensforscher, "sind sehr häufig." Und: "Nur wenige Menschen in großer Leidenschaft …können dem Triebe widerstehen."

Die Hand, ein Symbol der Werktätigen

Als Symbol der Arbeiterschaft und ihres politischen Willens reihte sich die Hand in die Ikonographie des 19. und 20. Jahrhunderts ein, wie der Tübinger Ethnologe Gottfried Korff beschrieb. Die Hand sei Symbol derer, die durch den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel auf die Bühne der Geschichte gekommen seien. "Die Hand offenbart die Nähe zur Werktätigkeit", so Korff in einem Beitrag für das Portal wissenschaft.de. "Sie ist mehr als nur ein organisch-muskulöses Greifinstrument, für das die biologische Grundausstattung gesorgt hat."

Das Bild von ineinander verflochtenen Händen wird zum Erkennungszeichen einer jungen, organisierten Arbeiterschaft, die auf Brüderlichkeit und Solidarität setzt. Doch die Gestik bleibt nicht friedfertig, wie Gemälde aus jener Zeit verraten. Durch Europa schwappt gegen Ende des 19. Jahrhunderts die erste große Streikwelle. Geballte Fäuste, kampfbereit emporgereckt, bekräftigen die Forderungen der Arbeiter nach besseren Arbeitsbedingungen und sozialer Absicherung. "Die Sprengkraft der sozialen Frage lässt sich mit der geballten Faust darstellen", sagt Volkskundler Korff.

Eine Faust - viele Bewegungen

Verschiedenste Bewegungen haben die erhobene Faust als Logo für sich entdeckt. Da sind die sozialistischen Bewegungen, die eine rote Faust, bisweilen in Verbindung mit einer Rose nutzen. Eine schwarze Faust steht für Black Power, die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner. Eine weiße "arische Faust" symbolisiert die White Power im Umfeld der weltweiten Neonazi-Szene und des US-amerikanischen Ku-Klux-Klans. So salutierte der rechtsterroristische Massenmörder Anders Behring Breivik vor Gericht in Oslo 2012 mit erhobener Faust. Aber auch Women Power oder die LQBTQ-Gemeinde nutzt das Faustbild für ihr unverwechselbares Branding.

Ein Zufall, der Geschichte schrieb

Der Angriff auf Ex-US-Präsident Donald Trump, bevor er entschlossen die Faust reckte, sei gar kein politisches Attentat gewesen, glaubt Marion G. Müller. "Ablauf und Beteiligte tragen vielmehr Züge eines klassischen amerikanischen Amoklaufs." Der Attentäter, ein junger Mann von 20 Jahren, habe es ganz offensichtlich darauf angelegt, nach einer spektakulären Aktion getötet zu werden - also ein "erweiterter Suizid". Zu den Zufallsopfern hätten nun mal der Ex-Präsident Trump, aber ebenso ein Feuerwehrmann und zwei weitere Personen gezählt. Ein Zufall, der Geschichte schrieb, vor allem dank seiner symbolhaften, starken Bilder.

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Image caption Der blutende Ex-Präsident Trump reckt im Augenblick seiner Bedrohung die Faust - und schuf damit ein ikonisches Bild
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Item 39
Id 69607647
Date 2024-07-15
Title Brasilien: Lulas Ölrausch
Short title Brasilien: Lulas Ölrausch
Teaser Brasiliens Präsident will die Förderung von Öl und Gas ausweiten - auch in ökologisch sensiblen Gebieten. Umweltschützer sind entsetzt.
Short teaser Brasiliens Präsident will Öl und Gas fördern - auch in ökologisch sensiblen Gebieten.
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Ende September 2023 hat der halbstaatliche brasilianische Ölkonzern Petrobras nun doch die erste Lizenz für Explorationsbohrungen im Amazonas-Mündungsbecken erhalten.

Noch im Mai des Jahres hatte die Umweltbehörde Ibama die Lizent verweigert und auf Gefahren für die Tierwelt und den Lebensraum Indigener durch Öl-Unfälle verwiesen.

Es geht um riesige Mengen Erdöl, die Rede ist von mehreren Milliarden Barrel (1 Barrel = 159 Liter). Für die Regierung des linksgerichteten Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva stellte sich die Frage: fördern oder aus Klimaschutzgründen im Boden lassen?

Legal und umweltfreundlich?

Die Entscheidung ist eigentlich schon gefallen. Lula da Silva will an dem Vorhaben festzuhalten, trotz Protesten von Umweltschützern.

"Wir wollen alles auf legale Weise tun und die Umwelt respektieren", sagte Lula da Silva in einer Rede im Juni. "Wir werden auf keine Gelegenheit verzichten, dieses Land wachsen zu lassen."

Petrobras-Chefin Magda Chambriard erklärte, die in der betroffenen Zone vermuteten Reserven seien "für die Auffüllung der Ölreserven des Landes von entscheidender Bedeutung".

Umweltministerin Marina Silva ging dagegen auf Distanz zu den Plänen. Die Erkundung fossiler Brennstoffe im Land sei grundsätzlich eine Entscheidung der Regierung und nicht ihres Ministeriums, erklärte Silva vor einigen Monaten.

Bis zu 14 Milliarden Barrel Öl

Die betroffene Zone "Margen Ecuatorial", wo die großen fossilen Vorkommen vermutet werden, erstreckt sich im Norden entlang der brasilianischen Küste von Rio Grande do Norte bis Amapá. Petrobras hat im Strategieplan für 2024 bis 2028 Investitionen von rund 3,1 Milliarden US-Dollar für die Erforschung der Region vorgesehen.

Der Ölkonzern verwies vor einigen Wochen darauf, dass die zur Mündung des Amazonas nächstgelegene Bohrung etwa 500 Kilometer entfernt und 2.880 Meter tief sei. Laut lokalen Medienberichten schätzt der Konzern das gesamte Ölvorkommen auf 14 Milliarden Barrel.

Gründe für Förderung

Es gebe verschiedene Punkte, die aus rein ökonomischer Sicht für das Projekt sprechen, sagt Wirtschaftswissenschaftler Felipe Rodrigues im Gespräch mit der DW.

"Es geht um lokale Einnahmen, unter anderem aus Lizenzgebühren, um Beschäftigung und wirtschaftliche Entwicklung für die Region. Aber es geht auch um technologische Entwicklung."

Hinzu kämen Investitionen ausländischer Kooperationspartner. Zudem stehe Brasilien unter Zugzwang, weil Nachbarländer wie Venezuela oder Guyana ihrerseits Öl in der Region fördern. "Wir sind heute noch nicht völlig energieautark, aber wir würden uns diesem Ziel nähern", so Rodrigues.

Wenn Brasilien sich zu diesem Schritt entscheide, könnten zudem auch Mittel bereitgestellt werden, um in den Schutz der Amazonas-Region und den Wandel der Energiewirtschaft zu erneuerbaren Energien zu investieren, so Rodrigues.

Umweltexperten warnen

Umweltökonomin Suelen Cabral von der Rio de Janeiro State University (UERJ) warnt dagegen vor den möglichen Folgen: "Kein wirtschaftlicher Gewinn könnte den Schaden abmildern, der in der Mündung des Amazonas entstehen könnte."

Statt auf die Förderung des Erdöls sollte sich die Regierung "auf Investitionen in saubere Energie konzentrieren, um Wohlstand für eine nachhaltige Zukunft zu schaffen", so Cabral zur DW.

Indigene Völker fordern Mitsprache

Neben den ökonomischen und ökologischen Aspekten gibt es aber auch noch eine kulturelle, gesellschaftliche Komponente. "Als indigene Völker haben wir eine klare Position zu diesem Thema", sagt die indigene Aktivistin Samela Sateré Mawé von "Fridays for Future Brasil" auf Anfrage der DW.

Sie verweist auf ein Dokument der Vereinigung der indigenen Völker Brasiliens (APIB) und der Vereinigung der indigenen Völker von Amapá und Nord-Para (APOIANP), in dem sie sich gegen die Exploration in der Region aussprechen würden.

"Wir indigenen Völker sind die Hauptbetroffenen. Die Politiker, die die Entscheidungen treffen, sie sind nicht diejenigen, die unter den Folgen leiden."

Mawé fordert, die in der Region lebenden indigenen Völker sollten zuvor angehört und umfassend informiert werden: "Wir indigenen Völker haben oft weder ein Mitspracherecht noch eine Stimme, noch werden wir konsultiert."

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Image caption Ölplattformen vor der Küste von Rio de Janeiro
Image source Tobias Käufer/DW
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Item 40
Id 69642408
Date 2024-07-12
Title "Peak China": Wird das Land niemals Nummer Eins?
Short title "Peak China": Wird das Land nie Nummer Eins?
Teaser Chinas will die USA als weltgrößte Volkswirtschaft ablösen, hat aber selbst einige Schwierigkeiten. Hauptthema einer Tagung der Kommunistischen Partei wird das schwache Wachstum.
Short teaser China will die USA als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen. Zuvor muss es aber zahlreiche Probleme lösen.
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Die Vorstellung, dass China die USA eines Tages überholen und zur größten Volkswirtschaft der Welt aufsteigen wird, beschäftigt Politiker und Ökonomen seit Jahrzehnten.

Was, so fragen sie, würde passieren, wenn die USA - eine der dynamischsten und produktivsten Volkswirtschaften - von einem autoritären Regime mit einer Dreiviertelmilliarde Arbeitskräften abgehängt werden?

Seit der Finanzkrise ab 2008, die das Wachstum in den Vereinigten Staaten und Europa über viele Jahre gedämpft hat, häufen sich die Vorhersagen, wann genau China die USA vom Spitzenplatz verdrängen wird.

Vor der Finanzkrise war Chinas Wirtschaft jahrelang zweistellig gewachsen. Und selbst in den zehn Jahren danach konnte die Wirtschaft jedes Jahr zwischen sechs und neun Prozent zulegen. Dann kam Corona.

Mehrere Rückschläge

Die Lockdowns brachten Wirtschaft und Handel zum Erliegen. Als ob das nicht schon problematisch genug gewesen wäre, musste das Land auch noch einen Immobiliencrash verkraften.

Der chinesische Immobiliensektor war auf seinem Höhepunkt für ein Drittel der chinesischen Wirtschaftsleistung verantwortlich. Nach der Einführung strengerer Verschuldungsregeln für Bauträger ab 2020 gingen viele Firmen in Konkurs. Schätzungsweise 20 Millionen Häuser und Wohnungen wurden nicht oder zu spät fertiggestellt und blieben unverkäuflich.

Etwa zur gleichen Zeit wurde Chinas Wachstum dann auch noch durch sich zunehmend verschlechternde Handelsbeziehungen mit dem Westen belastet.

Die USA, die den Aufstieg des Landes lange unterstützt hatten, fingen Ende der 2010er Jahre an, Chinas wirtschaftlichen und militärischen Ambitionen Grenzen zu setzen.

Ist der Höhepunkt erreicht?

Insgesamt hatte sich Chinas wirtschaftliche Lage so stark verändert, dass vor etwa einem Jahr ein neuer Begriff aufkam: Peak China (etwa: Chinas Höhepunkt).

Die Theorie dahinter: China habe seinen wirtschaftlichen Höhepunkt bereits erreicht oder sogar überschritten und werde die USA vorerst nicht überholen.

Zu groß sei die Anzahl der strukturellen Probleme - eine hohe Schuldenlast bei Firmen und Verbrauchern, nachlassende Produktivität, geringer Konsum und eine alternde Bevölkerung.

Hinzu kommen geopolitischen Spannungen um Taiwan und das Bemühen des Westens, Alternativen zu China als Handelspartner und Produktionsstandort zu finden.

Wang Wen vom Chongyang Institut für Finanzwirtschaft an der Renmin Universität in Peking hält Peak China dagegen für einen "Mythos". Im DW-Gespräch verwies er darauf, dass China schon 2021 fast 80 Prozent der Wirtschaftsleistung der USA erreicht hat.

Solange Peking "innere Stabilität und äußeren Frieden" aufrechterhalte, werde die chinesische Wirtschaft die der USA bald überholen, so Wang.

Auch wollten noch immer Millionen Chinesen vom Land in die Städte ziehen, wo Einkommen und Lebensqualität höher sind.

Chinas Urbanisierungsrate, also der Anteil der Menschen, die in Städten leben, liege derzeit nur bei 65 Prozent, so Wang. "Wenn man für die Zukunft von 80 Prozent ausgeht, bedeutet das, dass weitere 200 bis 300 Millionen Menschen in die Städte ziehen - und das wird einen enormen Anstieg der Realwirtschaft zur Folge haben."

Wo ist die Produktivität geblieben?

Andere Ökonomen sind jedoch der Meinung, dass sich die Probleme, die zur Peak-China-Erzählung geführt haben, schon seit Jahren angesammelt haben.

"In den frühen 2000er Jahren ist die chinesische Wirtschaft schnell gewachsen, weil die Produktivität so hoch war", sagt Loren Brandt, Wirtschaftsprofessor an der Universität Toronto.

"Nach der Finanzkrise ist das Produktivitätswachstum einfach verschwunden. Es beträgt jetzt vielleicht ein Viertel von dem, was es vor 2008 war", so Brandt zur DW.

China-Beobachter hatten eigentlich auf ein umfassendes Konjunkturpaket gehofft, das die Kommunistische Partei Chinas auf einer wichtigen Tagung in der kommenden Woche (15-18.07.2024) beschließen könnte.

Inzwischen erwarten sie aber nur noch Impulse für ausgewählte Sektoren, etwa High Tech und Umwelttechnologie, außerdem Unterstützung für Rentner und die Privatwirtschaft.

Die Gesamtverschuldung von Regierung, Unternehmen und Haushalten liegt inzwischen bei rund 300 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Ein großer Teil davon entfällt auf Gemeinden und Provinzen.

Ausländische Direktinvestitionen sind zwölf Monate in Folge zurückgegangen, allein in den ersten fünf Monaten des Jahres 2024 um 28,2 Prozent.

Und während Peking viel Geld in die Produktion neuer Technologien investiert, beschränken einige Handelspartner im Westen ihre Importe aus China.

"Die chinesische Wirtschaft hat enorm viel in Forschung und Entwicklung, Menschen und erstklassige Infrastruktur investiert. Aber diese Investitionen werden nicht in einer Weise genutzt, die zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum beiträgt", sagt Brandt.

Unbeabsichtigte Folgen von Xi Jinpings Präsidentschaft

Präsident Xi Jinping hat Chinas Wirtschaft wieder stärker zentralisiert, der Staat beherrscht viele Industrien. Nach dem Willen der chinesischen Führung sollte die nächste Wachstumswelle auf dem Binnenkonsum aufbauen, um das Land unabhängiger zu machen von der Nachfrage aus dem Ausland.

Doch die privaten Haushalte halten sich mit dem Konsum zurück. Das liegt auch an steigenden Kosten für Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge. Ihr Haushaltsvermögen ist infolge des Immobiliencrashs um bis zu 30 Prozent gesunken, so Brandt.

Die wirtschaftliche Öffnung des Landes seit dem Jahr 1978 war dagegen von Dezentralisierung geprägt, so China-Experte Brandt. Zwei oder drei Jahrzehnte lang hätten die lokalen Regierungen viel Entscheidungsspielraum gehabt.

"China hat enorm von dieser Autonomie, der Freiheit und den Anreizen profitiert, und von der enormen Dynamik des Privatsektors", so Brandt.

In den späten 2000er Jahren machte der Privatsektor noch fast zwei Drittel der chinesischen Wirtschaft aus, in der ersten Jahreshälfte 2023 nur noch 40 Prozent. Der staatliche und halbstaatliche Sektor ist dagegen stark gewachsen.

Und in der Rangliste der größten Firmen, die das US-Magazin Fortune regelmäßig erstellt, kommen zwar die meisten Firmen aus China, doch mit einer durchschnittlichen Gewinnspanne von 4,4 Prozent sind sie weniger profitabel als US-Konzerne, die hier auf 11,3 Prozent kommen.

Ist China das neue Japan?

Die große Befürchtung ist, dass Chinas Wirtschaft aufgrund all dieser Faktoren den Weg Japans gehen könnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Japan ein Wirtschaftswunder, das durch ein jahrzehntelanges hohes Wachstum gekennzeichnet war und zu einer massiven Aktien- und Immobilienblase führte.

Auf dem Höhepunkt in den späten 1980er Jahren sagten einige Ökonomen voraus, Japan werde die USA bald als größte Volkswirtschaft der Welt ablösen. Doch 1992 platzte die Blase, Milliardenwerte wurden vernichtet und die Wirtschaft geriet ins Trudeln. Seitdem ist es Japan nicht gelungen, den jahrzehntelangen Wachstumsrückstand aufzuholen.

Chinesische Wirtschaftsexperten verweisen darauf, dass Chinas Industrieproduktion schon heute größer ist als die der USA. Und dass Chinas Wirtschaftswachstum mit 5,2 Prozent im vergangenen Jahr mehr als doppelt so hoch war wie das der USA.

Auch habe die chinesische Wirtschaft die amerikanische schon 2016 überholt - zumindest dann, wann man das Bruttoinlandsprodukt um die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten bereinigt und an der Kaufkraftparität (PPP - Purchasing Power Parity) misst.

"In den vergangenen 45 Jahren war die Entwicklung Chinas mit vielen wirtschaftlichen Problemen konfrontiert", sagt Finanzwissenschaftler Wang. "Verglichen mit der Depression vor 30 Jahren, der hohen Verschuldung vor 20 Jahren und dem Immobiliencrash vor zehn Jahren sind die aktuellen Probleme allerdings nicht sehr schwerwiegend."

Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen adaptiert.

Item URL https://www.dw.com/de/peak-china-wird-das-land-niemals-nummer-eins/a-69642408?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption China will weniger abhängig sein von Exporten und setzt auf Binnenkonsum
Image source Daniel Berehulak/Getty Images
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Item 41
Id 69615842
Date 2024-07-12
Title Warum Ramses II. der mächtigste Pharao Ägyptens war
Short title Warum Ramses II. der mächtigste Pharao Ägyptens war
Teaser Er starb vor 3000 Jahren, trotzdem kennt die Welt seinen Namen noch heute. Kein anderer Pharao war so umtriebig wie Ramses II. Viele seiner Schätze und seinen Sarg kann man jetzt in Köln bewundern.
Short teaser Kein anderer Pharao war so umtriebig wie er. Viele seiner Schätze und seinen Sarg kann man jetzt in Köln bewundern.
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Er war wohl ziemlich eitel, aber ein Pharao, Herr und Beschützer Ägyptens, Mittler zwischen den Menschen und Göttern, kann sich das erlauben. Dass sich Ramses II. dem Gedächtnis der Nachwelt so sehr eingebrannt hat, liegt nicht nur daran, dass er nach seinem Tod einbalsamiert und für die Ewigkeit konserviert wurde, sagt einer, der es wissen muss, der renommierte Archäologe und ehemalige Minister für Altertümer, Zahi Hawass: "Ramses war ein großer König, ein Krieger. Er gewann viele Schlachten, und er war der erste Mensch in der Geschichte, der einen Friedensvertrag aufsetzte. Und natürlich war er ein großer Baumeister, überall hat er Spuren hinterlassen."

Hawass ist Kurator der Wanderausstellung "Ramses und das Gold der Pharaonen", die nach Sydney und Paris jetzt in Köln gastiert. "Unsere moderne Welt unterscheidet sich so sehr vom alten Ägypten. Mit dieser Ausstellung werden die Gäste in die Welt von Ramses eintauchen und eine völlig andere Lebensweise entdecken", sagt er.

Ramses, der Kriegsherr

Fast 67 Jahre lang herrschte Ramses II. (1279 bis 1213 vor Christus) über das Großreich am Nil. Am Anfang seiner Regierungszeit musste er sich, wie schon sein Vater Sethos I. vor ihm, gegen libysche Stämme im Nordwesten und gegen das mächtige Hethiter-Reich verteidigen, das heute ungefähr das Gebiet der Türkei, Syriens und des Libanon umfasst. Bereits als Kind hatte man ihn im Kriegshandwerk unterrichtet, an der Seite seines Vaters zog er als Bogenschütze auf einem Streitwagen gegen die Nachbarvölker.

Er war 25 Jahre alt, als er selbst zum Pharao gekrönt wurde. Einer seiner berühmtesten Feldzüge in seiner Zeit als Pharao war die Schlacht um die bedeutende Handelsstadt Kadesch. Unter seinem Kommando marschierten etwa 20.000 Krieger gegen den Feind, flankiert von 2000 Streitwagen. Es war das wohl größte Heer, das ein Pharao je aufgestellt hat. Und doch hätte er fast eine verheerende Niederlage einstecken müssen. Denn Ramses wähnte den Sieg sicher, allerdings fiel er auf Spione herein, die ihm erzählten, die Hethiter wären noch weit vom Lager seiner Streitkräfte entfernt. In Wirklichkeit lagen sie im Hinterhalt auf der Lauer. Erst im letzten Moment traf Verstärkung für die Ägypter ein und die Schlacht endete unentschieden.

PR-Stratege der Antike

Für den Pharao war das keine Option: Er wies seine Bilderhauer an, in ganz Ägypten Tempelinschriften zu meißeln, die seinen Sieg verkündeten. "Ich bezwang alle Fremdländer, ich allein, als mich meine Truppen und Wagenkämpfer verlassen hatten“, diktiert er seinen Schreibern. Heute würde man wohl von Fake News sprechen. Nur dank einer hethitischen Inschrift kam später die Wahrheit ans Licht.

Ramses war aber nicht nur ein Meister der Selbstdarstellung; er schaffte es 16 Jahre später auch, mit den Hethitern den ersten überlieferten Friedensvertrag der Weltgeschichte auszuhandeln. Die einst verfeindeten Gegner versprachen, sich künftig niemals mehr anzugreifen und besiegelten sogar einen Beistandspakt. Eine Kopie des Vertrags liegt heute im UN-Hauptgebäude in New York.

Der Pharao als emsiger Baumeister

Dank des Bündnisses konnte sich Ägypten auf den kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung konzentrieren - und Ramses II. sich ganz seinen Superbauten widmen. Wohl kein anderer Pharao ließ so viele Bauwerke aus dem Nichts stampfen. Eine neue Hauptstadt gehörte auch dazu: "Pi-Ramesse" (Haus des Ramses). Sein gigantischer Grabpalast, das Ramesseum in Theben-West, nahe der modernen Stadt Luxor, beherbergte eine Bibliothek mit mehr als 10.000 Papyrusrollen. Dort ließ er sich auch als gigantische Steinstatue verewigen, 1000 Tonnen schwer und 17 Meter hoch. Zu Ramses’ berühmtesten Werken zählen die Tempel von Karnak, Luxor und das in den Fels gehauene Abu Simbel.

Der Pharao ließ sich für seine Monumentalbauten von seinem Volk feiern und erwarb sich schnell den Beinamen "Ramses der Große". Er heiratete acht Frauen und hatte 100 Kinder. Seine 66 Jahre währende Herrschaft in der 19. Dynastie gilt als Höhepunkt der Herrlichkeit und Macht des Reiches. Über sich selbst befand der Pharao: "Er hat alles übertroffen."

Ramses Mumie ging nur einmal auf Reisen

Erst im Jahr 1213 vor Christus zog Ramses II. ins Totenreich ein. Er wurde 90 Jahre alt. Seine Mumie ist bis heute erhalten. Nur einmal hat der Pharao seine Heimat verlassen - 1976 wurden seine Überreste zur Konservierung nach Paris gebracht, weil sie zu verfaulen drohten. Damals wurde Ramses II. wie ein hoher Staatsgast empfangen, sogar Salutschüsse donnerten zur Begrüßung in den Himmel. Heute ruht seine Mumie im Museum in Kairo.

Bei der Kölner Ausstellung kann man nur seinen Zedernsarg bewundern, geschmückt mit Hieroglyphen, die dem Pharao huldigen. Der Sarg ist im Laufe der Jahrtausende mehrfach umgezogen, um ihn vor Grabräubern zu bewahren. Allerdings mit wenig Erfolg. "Ein Pharao wie Ramses - können Sie sich vorstellen wie unermesslich reich der war? Ursprünglich war der Sarg wohl mit Gold und Edelsteinen verziert", so Hawass gegenüber der DW. Daneben zeugen Statuen, die ihn oder Familienmitglieder zeigen, opulente Schmuckstücke, Tiermumien und Totenmasken von einer längsten vergangenen Welt.

Hatte John Norman, Geschäftsführer der diese Schau organisierenden "World Heritage Exhibitions", Alpträume bei dem Gedanken, den Original-Artefakten könnte auf ihrer Reise nach Köln etwas zustoßen? "Nein, sagt er der DW, "die Sorgfalt, mit der wir diese Objekte behandeln, gleicht im Grunde einer militärischen Operation mit allen Sicherheitsmaßnahmen."

Ausstellungserlös fließt ins archäologische Erbe

Ramses II. hätte sich bestimmt nicht vorstellen können, dass seine Schätze 3000 Jahre nach seinem Tode dem gewöhnlichen Volk gezeigt würden. Die Grabbeigaben sollten ihn ins Jenseits begleiten, wertvolle Kunstwerke waren der Oberschicht vorbehalten. Die Störung der Grabruhe soll gar mit einem Fluch belegt sein.

Warum also hat Ägypten die Kostbarkeiten auf den Weg geschickt? Der Grund ist einfach: "Wir brauchen Geld für die Konservierung", sagt Zahi Hawass der DW. "Keine Zivilisation, weder die Griechen, die Römer, die Juden, Christen oder Muslime, haben solche Monumente wie die Pharaonen hinterlassen. Man braucht Millionen, um sie zu erhalten."

Die Ausstellung, fährt er fort, soll die Besucherinnen und Besucher außerdem dazu animieren, eines Tages selbst nach Ägypten zu reisen und Geld in die Staatskassen zu spülen. Und der kämpferische Ägyptologe Zahi Hawass wäre nicht er selbst, würde er nicht auch in Köln sein Herzensanliegen vortragen: "Wir wollen Nofretete zurück. Ich bin nicht hinter anderen ägyptischen Kunstwerken aus Deutschland her. Sie können sie in München oder Berlin lassen, aber ein Artefakt wollen wir zurück, das nicht rechtens hier ist: die Nofretete."

Die Ausstellung "Ramses und das Gold der Pharaonen“ läuft vom 13. Juli 2024 bis 6. Januar 2025 im Kölner Odysseum.

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Image caption Der Koloss von Ramses II.
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Item 42
Id 69642523
Date 2024-07-12
Title Was macht Rheinmetall zur Zielscheibe?
Short title Was macht Rheinmetall zur Zielscheibe?
Teaser Laut Medienberichten plante Russland einen Mordanschlag auf den Chef von Rheinmetall. Der deutsche Rüstungskonzern hat seit Beginn des Ukraine-Kriegs stark an Wert gewonnen.
Short teaser Der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall hat seit Beginn des Ukraine-Kriegs stark an Wert gewonnen.
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Armin Papperger ist Vorstandsvorsitzender der Rheinmetall AG, ein börsennotiertes Unternehmen mit Hauptsitz in Düsseldorf.

Der im deutschen Aktienindex Dax notierte Konzern stellt Waffen und Munition her und ist auch als Maschinenbauer und Automobilzulieferer aktiv.

Rund 28.000 Mitarbeiter erwirtschafteten 2023 einen Jahresumsatz von 7,2 Milliarden Euro.

Am 10. Juli berichtete der US-Nachrichtensender CNN, die russische Regierung habe Anfang des Jahres ein Attentat auf den Chef des Rüstungskonzerns geplant. Der Grund sei wahrscheinlich, dass Rheinmetall Waffen und Militärfahrzeuge an die Ukraine liefert.

CNN nannte als Quelle Behördenvertreter in den USA und Deutschland. Der Plot sei Teil einer Serie von geplanten Anschlägen auf Manager europäischer Rüstungskonzerne gewesen.

Gefährliches Engagement

Die russischen Bedrohungen, so ein Sprecher des Bundesinnenministeriums in einer Stellungnahme, zielten darauf ab, die Unterstützung Deutschlands für die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf gegen den russischen Angriffskrieg zu schwächen. Russland nutze dazu "Cyberangriffe, Desinformation, Spionage und Sabotage".

Papperger hat sich wiederholt für mehr Waffenlieferungen an die Ukraine ausgesprochen. Rheinmetall ist einer der größten Hersteller von Munition weltweit und betreibt einen Reparaturbetrieb für Panzer im Westen der Ukraine. Es sei seinem Konzern und ihm selbst ein Anliegen, die Ukraine zu unterstützen, hatte Papperger immer wieder betont.

Die Düsseldorfer im Baltikum

Auch die baltischen Staaten Lettland, Estland und Litauen fühlen sich durch den russischen Imperialismus bedroht, und Rheinmetall ist auch dort aktiv. So betreibt der Konzern seit 2022 gemeinsam mit dem Rüstungsunternehmen Krauss-Maffei Wegmann ein Wartungszentrum in Litauen.

Am 3. Juni teilten litauischen Behörden mit, eine Vereinbarung mit Rheinmetall über den Bau einer neuen Fabrik unterzeichnet zu haben. Dort sollen 155-Millimeter-Artilleriegranaten hergestellt werden, das Geschäftsvolumen liege bei mehr als 180 Millionen Euro. Das zeige, so Armin Papperger, dass Rheinmetall eine Säule der internationalen Sicherheitsvorsorge sei.

Rekorde für Rheinmetall

Der Ukrainekrieg ist für Rheinmetall bisher sehr lukrativ. Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine hat sich der Börsenwert des Unternehmens verfünffacht.

Am 20. Juni wurde bekannt, dass das Unternehmen seinen bis dahin größten Auftrag an Land gezogen hat: Die Bundeswehr bestellte Munition im Wert von bis zu 8,5 Milliarden Euro für die eigenen Bestände und die Ukraine. Die Munition solle ab Anfang 2025 geliefert werden - zunächst an die Bundeswehr, doch neben der Ukraine sollen auch die Niederlande, Estland und Dänemark von der Bestellung profitieren.

Am 1. Juli meldete Rheinmetall einen weiteren Rekorddeal: Einen Auftrag der Bundeswehr zur Lieferung von Militär-Lastkraftwagen. Man habe einen Rahmenvertrag unterzeichnet, der die Lieferung von bis zu 6500 Fahrzeugen im Wert von 3,5 Milliarden Euro vorsehe. 610 Fahrzeuge mit einem Wert von über 300 Millionen Euro seien sofort geordert worden, 250 Lkw würden noch in diesem Jahr ausgeliefert.

Neue Bündnisse

In der europäischen Rüstungsindustrie werden als Antwort auf den russischen Überfall und die veränderte Sicherheitslage sowie den Auftragsboom in der Rüstungsindustrie, neue Allianzen gebildet - und Rheinmetall ist Teil davon. So wurde am 2. Juli bekannt, dass das Rheinmetall-Tochterunternehmen RMMV mit einem tschechischen Fahrzeughersteller gemeinsam Transporter für Spezial-Einsatzkräfte entwickeln werde. RMMV ist auf militärische Radfahrzeuge spezialisiert.

Einen Tag später stellten Rheinmetall und der italienische Rüstungskonzern Leonardo ein Gemeinschaftsunternehmen zum Bau von Panzern vor. Leonardo mit Sitz in Rom gehört zu den größten Rüstungskonzernen weltweit: Fast 54.000 Mitarbeiter hatten im vergangenen Jahr für einen Umsatz von mehr als 15 Milliarden Euro gesorgt.

Das neue Unternehmen bewirbt sich für milliardenschwere Panzer-Aufträge der italienischen Armee, will aber auch über Italien hinaus liefern. Die Basis für die neuen Systeme sollen die Rheinmetall-Panzer Panther und Lynx sein, die Leonardo mit eigenen Techniken ergänzen wird.

Zudem wolle man sich an einem geplanten europäischen Kampfsystem beteiligen, das die Kampfpanzer Leopard 2 und Leclerc ablösen soll. Armin Papperger hatte im Mai eine pan-europäische Rüstungsschmiede ins Spiel gebracht: "Ich glaube, dass es sinnvoll wäre, ein europäisches Systemhaus zu gründen".

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Image caption Armin Papperger, Vorstandsvorsitzender der Rheinmetall AG, begleitet von Personenschützern
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Item 43
Id 69530241
Date 2024-07-10
Title Kirchenbanken bewegen Milliarden
Short title Kirchenbanken bewegen Milliarden
Teaser Unter den zahlreichen Banken in Deutschland gibt es auch einige Institute, die eng mit Kirchen verbunden sind. Ein Glaubensbekenntnis müssen Kunden aber nicht ablegen.
Short teaser Unter den zahlreichen Banken in Deutschland gibt es auch einige Institute, die eng mit Kirchen verbunden sind.
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In Deutschland gibt es fast 3000 Banken - von Großbanken über Privatbanken und Sparkassen bis zu Volks- und Raiffeisenbanken. Doch es mischen auch Geldinstitute mit, die man in der heutigen Zeit nicht unbedingt auf dem Finanzparkett erwarten würde. Und zwar zwei evangelische und fünf katholische Kirchenbanken, die unter dem Strich auch Milliarden Euro bewegen.

So gehört die in Dortmund ansässige evangelische Bank für Kirche und Diakonie (KD Bank) mit einem Bilanzvolumen von rund sieben Milliarden Euro heute zu den 30 größten Genossenschaftsbanken in der Republik. Und bei der katholischen Bank im Bistum Essen (BIB) beträgt die Bilanzsumme ebenso kapitale 6,5 Milliarden Euro.

Bei der Kontoeröffnung müssen Kunden aber kein Glaubensbekenntnis ablegen. Denn auf dem Geldmarkt agieren sowohl die KD Bank als auch die BIB als Universalbanken mit allen Dienstleistungen für Privatkunden, vom Kredit für den Autokauf bis zur Immobilienfinanzierung.

Ursprünge in den 1920er Jahren

Die KD Bank wurde, wie die meisten Kirchenbanken, in den 1920er Jahren als kirchliche Darlehnsgenossenschaft zur Finanzierung kirchlicher und caritativer Einrichtungen gegründet.

"Unser Gründer, der Theologe Martin Niemöller, wollte damals einen Kindergarten bauen, konnte von den Sparkassen und Landesbanken dafür aber kein Darlehen erhalten", sagt Ekkehard Thiesler, Vorstandssprecher der KD Bank.

Seit der Gründung hat sich laut Thiesler der Schwerpunkt der Geschäftstätigkeit nicht verändert: die Kreditvergabe für Projekte von Kunden aus Kirche und Diakonie. Dabei handelt es sich um Sozialimmobilien, Krankenhäuser, Kindergärten und Schulen. "Auch soziale und ökologische Projekte finanzieren wir gern. Hierzu haben wir Kredite in Höhe von rund drei Milliarden Euro ausgelegt."

Als Beispiel nennt Thiesler den Bau eines Hauses der Jugendhilfe im evangelischen Dekanatsbezirk München. Mit Krediten fördert die KD Bank außerdem den Neubau von bezahlbarem Wohnraum sowie die Sanierung älterer Gebäude, damit dort verwurzelte Menschen altersgerecht wohnen bleiben können.

Konditionen auf Kante genäht

Natürlich könnten die Kirchen zur Finanzierung von Projekten auch Kredite bei Geschäftsbanken aufnehmen, sagt Stephan Paul, Professor für Finanzierung und Kreditwirtschaft an der Ruhr-Universität Bochum.

Allerdings verfügen Kirchenbanken auf diesem Sektor nach seiner Einschätzung über Spezialisierungsvorteile, schließlich haben sie "Investitionen in Bau und Erhalt, Modernisierung und Erweiterung dieser Häuser immer schon finanziert und besitzen dort ihren Schwerpunkt". Dabei seien ihre Konditionen oft günstiger als die großer Banken.

Natürlich haben auch Kirchenbanken nichts zu verschenken. Doch als Genossenschaftsbank geht es nach den Worten von Vorstandssprecher Thiesler nicht um Gewinnmaximierung, sondern um die Förderungen sozialer Vorhaben. Dabei setze man auf langfristige Geschäftsbeziehungen zu den Kunden. "Auch durch faire und - das sage ich ganz bewusst - auf Kante genähte, gute Konditionen", so Thiesler.

Wenn Bänker Konditionen "auf Kante nähen", dann nicht zum eigenen Nachteil. In der Hinsicht unterscheiden sich Kirchenbanken nicht von Geschäftsbanken. So erwirtschaftete die KD Bank mit 250 Mitarbeitern im vergangenen Geschäftsjahr einen Überschuss von 11,8 Millionen Euro.

Pro Anteil winkt den Eigentümern nun eine Dividende von vier Prozent. Den Großteil der Anteile halten Mitglieder kirchlicher Institutionen.

Zum Vergleich: Mit rund 1.520 Mitarbeitern betreut die Sparkasse Dortmund ca. 300.000 Kunden und weist einen Bilanzgewinn von acht Millionen Euro aus.

Vom Spezialisten zur Universalbank

Neben der angestammten Kundschaft aus Kirche und Diakonie umfasst der Kundenkreis der KD Bank inzwischen rund 28.000 Privatkunden, die oft auch beruflich oder ehrenamtlich im Umfeld von Kirche und Diakonie tätig sind.

Der Anteil der Privatkunden an der Bilanzsumme liegt inzwischen bei zehn Prozent. Der Trend, Kirchenbanken immer mehr als Universalbanken zu nutzen, überrascht Finanzwissenschaftler Stephan Paul nicht. "Viele Kunden schätzen die Rundum-Betreuung durch nur eine Bank, wollen nicht ihr Haus von dem einen und das Auto von einem anderen Kreditinstitut finanzieren lassen." Außerdem stehen die Zinssätze, die Kirchenbanken ihren Kunden für Tages- oder Festgeld bieten, denen großer Geschäftsbanken oder Sparkassen in nichts nach.

Das gilt auch für die katholische kirchliche Genossenschaftsbank BIB, der Bank im Bistum Essen. Ähnlich wie bei der evangelischen KD Bank liegt der Schwerpunkt der BIB auf der Finanzierung von Sozialeinrichtungen, von der Altenpflege bis hin zu Krankenhäusern.

Mit knapp 180 Mitarbeitern bringt es die katholische Kirchenbank auf eine Bilanzsumme von 6,5 Milliarden Euro. Geld, mit dem die BIB, so Vorstandssprecher Peter Güllmann, etwas bewegen will. "Wir sind die Kirchenbank, die mit über 4,5 Milliarden Euro mit das größte Kreditportfolio hat."

Zu einer sozial-ökologischen Geschäftspolitik gehört für Güllmann auch ein Fonds, mit dem weltweit Mikrokredit-Institute finanziert werden, die Menschen in Entwicklungsländern Kleinstkredite zur Verfügung stellen. "Insgesamt finanzieren wir mit unserem Mikrokreditfonds mehr als 750.000 Menschen weltweit."

Privatkunden im Blick

Gegenüber Großbanken wie der Deutschen Bank wirken Kirchenbanken dagegen wie Zwerge. Die Deutsche Bank hatte 2023 über 90.000 Mitarbeiter und eine Bilanzsumme von 1300 Milliarden Euro.

Allerdings vermitteln Kirchenbanken bei der Geldanlage das Gefühl, in besonderer Weise Geld und Ethik in Einklang bringen zu können. Entscheidend ist aber auch für Kirchenbanken, was unter dem Bilanzstrich herauskommt. So verzeichnete die BIB im vergangenen Jahr einen Zuwachs von über 1500 neuen Privatkunden, Tendenz steigend.

Fast 15 Prozent des Geschäftsvolumens, so Vorstandssprecher Güllmann, entfallen mittlerweile auf Privatkunden. "Privatkunden sind für eine Bank, die eine sozial-ökologische Ausrichtung hat, eine wichtige Zielgruppe. Wir sind ja nicht nur eine Bank, die sich auf Institutionen konzentriert, sondern die auch in der Breite der Bevölkerung verankert sein möchte."

Zur Verankerung in der Gesellschaft gehöre, den Kunden auch Konsumkredite und Immobilienfinanzierungen anzubieten. Dass die BIB-Bänker das Geldgeschäft beherrschen, belegt die Bilanz des vergangenen Jahres. Nach Abzug aller Steuern betrug der Gewinn über 30 Millionen Euro.

Auch günstige Kredite für kirchliche Einrichtungen gibt es nicht zum Nulltarif. Die Dividende für die Mitglieder der kirchlichen Genossenschaftsbank wurde auf 3,5 Prozent angehoben. "Ethik und Rendite gehen zusammen, passen zusammen und gehören zusammen bei uns in der Bank", so Güllmann.



Hinweis der Redaktion: Der Artikel wurde am 12.7.2024 aktualisiert, um deutlicher zu machen, dass die erwähnten Institute zwar eng mit den Kirchen verbunden sind, diesen aber nicht gehören.

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Image caption Essener Zentrale der Bank im Bistum (BiB)
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Item 44
Id 69616222
Date 2024-07-10
Title Ermittlungen Chinas im Handelsstreit mit der EU
Short title Ermittlungen Chinas im Handelsstreit mit der EU
Teaser Nächste Runde im Subventionsstreit: Nach den EU-Zöllen auf E-Autos antwortet China mit eigenen Ermittlungen gegen Brüssel. Bei europäischem Schweinefleisch ist die Führung in Peking bereits aktiv geworden.
Short teaser Nach EU-Zöllen auf E-Autos antwortet China mit eigenen Ermittlungen. Europäisches Schweinefleisch ist bereits im Fokus.
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China will Praktiken der EU untersuchen, die Brüssel seinerseits bei seinen Ermittlungen zu ausländischen Subventionen anwendet. Das Handelsministerium in Peking kündigte eine entsprechende Untersuchung an. Damit möchte die Volksrepublik feststellen, ob die jüngsten Maßnahmen der Europäischen Union ein Hindernis für den freien Handel darstellen.

Beantragt hatte die Untersuchung die chinesische Handelskammer für den Import und Export von Maschinen und Elektroprodukten. Betroffen sind dem Ministerium zufolge Eisenbahnen, die Bereiche Sonnen- und Windkraft sowie Sicherheitsausrüstung. Die Ermittlungen müssten bis spätestens Mitte April 2025 abgeschlossen sein.

Die EU-Kommission hatte zuvor ihrerseits Untersuchungen in diesen Bereichen eingeleitet. Sie ermittelte etwa gegen chinesische Hersteller von Windkrafträdern, die durch Subventionen einen ungerechten Wettbewerbsvorteil erlangt haben sollen. Außerdem untersuchte Brüssel das Angebot eines staatlichen chinesischen Zugherstellers für eine öffentliche Ausschreibung des bulgarischen Verkehrsministeriums wegen Wettbewerbsbedenken.

Brüssel und Peking streiten schon länger darüber, dass China aus Sicht der EU-Kommission unfaire Handelspraktiken einsetzt und etwa durch staatliche Subventionen Überkapazitäten auf dem eigenen Markt schafft, die dann ins Ausland abfließen. Ein Beispiel dafür ist die Photovoltaik-Branche. Der Volksrepublik wird vorgeworfen, wegen geringer Nachfrage im Inland ausländische Märkte mit billigen Solarzellen unter Druck zu setzen.

Ein weiterer Streitpunkt sind in China gefertigte E-Autos, die die EU seit der vergangenen Woche vorläufig mit Strafzöllen belegt. Peking hatte bereits in einer ersten Gegenreaktion eine Untersuchung mit Blick auf Schweinefleisch und Nebenprodukte aus der EU angekündigt. Auch Branntwein aus Europa, vor allem französischen Cognac, haben chinesische Ermittler ins Visier genommen.

sti/jj (afp, dpa)

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Image caption Schweinefleisch-Verkauf auf einem Markt in Wuhan - beim Import solchen Fleisches aus Europa wittert China nach eigener Aussage unfaire Handelspraktiken (Archivbild)
Image source Stephen Shaver/newscom/picture alliance
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Item 45
Id 69604983
Date 2024-07-10
Title Tourismus: Wenn die lokale Bevölkerung leidet
Short title Tourismus: Wenn die lokale Bevölkerung leidet
Teaser Viele Urlaubsregionen in Europa erwarten in diesem Sommer neue Rekorde bei den Besucherzahlen. Doch in vielen Orten wehren sich die Bewohner gegen Massentourismus. Gibt es eine Lösung?
Short teaser Urlaubsregionen sind wirtschaftlich oft abhängig von Touristen. Doch nicht alle sind über die Besuchermassen glücklich.
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In mehreren europäischen Orten, die bei bei Touristen besonders beliebt sind, protestieren die Einwohner.

In Venedig haben einige in den letzten Jahren sogar Wohnungen besetzt. Sie sehen ihre Stadt als vom Tourismus geplagt und haben selbst keine Bleibe.

Im historische Zentrum leben noch knapp 49.000 Menschen dauerhaft. Besucher hat Venedig laut verschiedenen Schätzungen jedes Jahr mehr als 20 Millionen. Der Alltag der einen ist für die anderen Kulisse für ihre Ferienerlebnisse.

Europa ist der Kontinent mit den meisten internationalen Touristen, und Venedig ist nicht die einzige Stadt in Europa, die unter den Besuchermassen leidet.

Aktuell häufen sich Berichte über Proteste in Barcelona und anderen spanischen Städten. Auch in Lissabon, Prag oder Amsterdam führt der Massentourismus zunehmend zu Spannungen zwischen Reisenden und der lokalen Bevölkerung.

Die Gründe ähneln sich überall: steigende Mieten, astronomische Kaufpreise für Immobilien und die Frage, wer eigentlich wie viele Ressourcen verbrauchen darf.

Einnahmequelle Tourismus

Dabei ist der Tourismus für viele dieser Städte und Regionen die Einnahmequelle Nummer eins. In der Europäischen Union macht der Tourismus rund zehn Prozent der Wirtschaftsleistung aus. Etwa 12,3 Millionen Menschen sind nach EU-Schätzungen in dem Sektor beschäftigt.

"Das sind abstrakte Zahlen", sagt Sebastian Zenker von der Copenhagen Business School. Den Bewohnern vor Ort bringen die Einnahmen nichts, sagt Zenker, wenn gleichzeitig die Mieten steigen, Wohneigentum für Einwohner unerschwinglich wird oder Restaurants Preise aufrufen, die sich nur Touristen leisten können. Für die Bewohner müsse es ein gefühltes Gleichgewicht geben, so der Tourismusforscher.

Zwar würden auch viele Menschen am Tourismus verdienen, "aber gut verdienen oder davon leben können nur die wenigsten", so Zenker im Gespräch mit der DW. Ein Problem sei auch, dass die Löhne oft viel zu niedrig seien. In Italien gibt es keinen gesetzlichen Mindestlohn, in Portugal liegt er bei 4,85 Euro, in Spanien bei 6,87 Euro.

Eine Frage der Verteilung

Wo also fließt das Geld hin, das all die Reisenden in den Ländern des Mittelmeerraums ausgeben? Viel Geld erwirtschaften die Luftfahrtindustrie, große Hotelketten, internationale Firmen und die Kreuzfahrtindustrie, sagt Paul Peeters. Er forscht an der Breda Universität in den Niederlanden zu nachhaltigem Tourismus und Transport.

Für die Berechnung der Geldflüsse ist entscheidend, wer auf welche Art reist. Kreuzfahrttouristen schlafen und essen an Bord. Pauschalurlauber, die Flug, Hotel und Verpflegung über große Anbieter buchen, geben vor Ort ebenfalls wenig Geld aus.

Gleichzeitig tragen sie aber zu Luftverschmutzung und Wasserverbrauch bei - Lasten, die die Bewohner der Zielregionen tragen. Das verschärft die Ungleichheit und schürt die Spannungen zwischen Einheimischen und Touristen weiter.

"Allen Akteuren ist bewusst, dass sie Touristen wollen. Die Frage ist, wie und welchen Tourismus", sagt Tourismusforscher Zenker aus Kopenhagen.

De-Marketing, Regeln, Verbote

Erste politische Ansätze gibt es. In Amsterdam etwa dürfen keine neuen Hotels mehr gebaut werden. Außerdem hat die Stadt mit gezieltem De-Markting versucht, den Party- und Drogentourismus unter Kontrolle zu bekommen.

Als De-Marketing werden Werbestrategien bezeichnet, die das Ziel haben, dass ein Produkt - hier die Stadt Amsterdam - bei bestimmten Zielgruppen weniger nachgefragt wird.

In Lissabon und Palma de Mallorca hat sich der Mietmarkt längst von den Bedürfnissen und wirtschaftlichen Realitäten der Bewohner verabschiedet. Erste Maßnahmen: keine Vergabe neuer Lizenzen für die Vermietung über Online-Plattformen wie Airbnb und, im Falle von Palma, Sperrfristen für die touristische Vermietung von Immobilien.

Barcelona greift zu noch drastischeren Mitteln: Die katalanische Stadt hat angekündigt, die Lizenzen für die Vermietung von rund 10.000 Ferienwohnungen an Touristen bis 2028 auslaufen zu lassen. Das soll etwas Druck aus dem Wohnungsmarkt nehmen. In den letzten zehn Jahren sind die Mieten in der Stadt um mehr als 60 Prozent gestiegen.

Für Kreuzfahrtschiffe gibt es zunehmend Beschränkungen oder höhere Gebühren. In Venedig dürfen die großen Schiffe seit 2021 nicht mehr zentral anlegen, ähnliches plant Amsterdam ab 2026. Das soll nicht nur die Touristenmassen, sondern auch die Luftverschmutzung reduzieren.

Gute und schlechte Touristen?

Ähnlich wie Amsterdam will auch Mallorca weg vom Party-Image. Es sollen insgesamt weniger Touristen kommen, dafür aber solche, die mehr Geld ausgeben. Hochwertiger Tourismus heißt das im Branchenjargon. Aber ist das die Lösung?

Nein, sagt Macià Blázquez-Salom. Der Spanier ist Einwohner von Palma de Mallorca, Geographie-Professor und Aktivist. Die Fokussierung auf Luxus-Tourismus würde die Ungleichheit nur noch verschärfen.

"Der Party- und Strand-Resort-Tourismus beschränkt sich auf spezielle Orte, der funktioniert quasi wie eine Fabrik", so Blázquez-Salom zur DW. Die direkten Auswirkungen seien entsprechend auf einen relativ kleinen Teil der Kommunen beschränkt.

Die ökonomisch besser gestellten Touristen hätten dagegen höhere Ansprüche, verbrauchten mehr Wasser, neigten dazu, mehr Kurztrips zu machen und hätten im Zweifel das Kapital, um Immobilien zu erwerben. "Das kurbelt die Gentrifizierungsmaschinerie an und mit ihr die Spekulation mit Immobilien", sagt Macià Blázquez-Salom. "Diese Touristen greifen insofern direkt in die Lebenswelt aller Bewohner ein."

Tourismus nachhaltig gestalten

Ein Großteil der Tourismusindustrie denkt - noch - in blanken Wachstumszahlen. Alljährlich steigende Besucherrekorde werden mit Freude aufgenommen. Für viele Einwohner in Städten wie Barcelona, Venedig oder Palma ist weiteres Wachstum dagegen keine Option. Was also tun?

Ein Ansatz könnte sein, die Anzahl der Touristen auf einem Niveau zu halten, das die Städte und Gemeinden noch vertragen könnten, sagt Paul Peeters.

Ökologische und soziale Faktoren sollten dabei eine zentrale Rolle spielen. Dafür müssten allerdings Abkommen mit Fluggesellschaften und den Betreibern von Häfen oder Flughäfen geschlossen werden, so der Tourismusforscher. Denn die seien oft auf Überkapazitäten ausgerichtet, also auf weiteres Wachstum.

Item URL https://www.dw.com/de/tourismus-wenn-die-lokale-bevölkerung-leidet/a-69604983?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/67300886_302.jpg
Image caption Souvenirstände und Touristen am Markusplatz in Venedig
Image source Sebastian Kahnert/dpa/picture alliance
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Item 46
Id 69562050
Date 2024-07-08
Title Frankreich: Was das Wahlergebnis für die Wirtschaft bedeutet
Short title Frankreich: Was das Wahlergebnis für die Wirtschaft bedeutet
Teaser Das links-grüne Bündnis NFP hat bei den Wahlen die meisten Stimmen erhalten, der rechtsnationale RN kam nur auf Platz drei. Klare Verhältnisse für die Regierungsbildung gibt es nicht.
Short teaser Ökonomen fürchten, Frankreichs Parlamentswahlen könnten zu wirtschaftlicher Instabilität führen.
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Als er am Abend des 9. Juni zur Nation sprach, schien sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seiner Sache sicher. Seine Partei Ensemble (Zusammen) hatte gerade eine schallende Ohrfeige bei den europäischen Parlamentswahlen erhalten, in denen die Rechtsaußen-Partei Rassemblement National (RN - Nationaler Zusammenschluss) der ehemaligen Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen auf Platz eins landete.

"Die [heutigen] Herausforderungen erfordern Debatten, Zielsetzungen für unser Land und Respekt gegenüber unseren Bürgern - deswegen habe ich entschieden, Ihnen wieder die Wahl über unsere parlamentarische Zukunft zu geben", so Macron.

Doch das Ergebnis der vorgezogenen Parlamentswahlen hat nun das Gegenteil von Klarheit geschaffen und könnte zu langfristiger wirtschaftlicher Instabilität führen, fürchten Experten.

Schon Macrons Ankündigung der Neuwahlen hatte damals für Unruhe gesorgt, viele Investoren waren völlig überrascht, so Philippe Crevel, Ökonom und Chef der Pariser Denkschmiede Cercle de l'Epargne: "Frankreichs Aktienindex Cac 40 ist in der Woche danach um acht Prozent gesunken und die Zinsen für Frankreichs Staatsverschuldung sind gestiegen", sagt er gegenüber DW.

Nach den Ergebnissen der zweiten Wahlrunde am Montag aber drehte der Börsenindex kurz nach der Eröffnung leicht ins Plus.

Pläne machen Investoren nervös

Das siegreiche Linksbündnis NFP (Nouveau Front Populaire, übersetzt Neue Volksfront) besteht aus den Sozialisten, der radikal-linken Partei Unbeugsames Frankreich (La France insoumise), den Kommunisten und den Grünen.

Das Bündnis will vor allem die Kaufkraft der Bürger stärken. Auch will es, ähnlich wie der rechtspopulistische RN, Macrons umstrittene Rentenreform zurückziehen, durch die das Mindestrentenalter von 62 auf 64 Jahre gestiegen ist. Der NFP will die Untergrenze gar auf 60 senken.

"Das ist doch surreal - Frankreichs finanzielle Situation ist desaströs, und alle Parteien, selbst die von Macron, versprechen, die Wähler mit Geld zu überhäufen", meint Crevel. "Zwar haben Politiker das seit 40 Jahren gemacht, aber jetzt stehen wir wirklich vor dem Abgrund."

Frankreichs Staatsverschuldung belief sich 2023 auf etwa 110 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und sein Haushaltsdefizit auf 5,5 Prozent. Deswegen hat die Europäische Kommission ein Defizitverfahren gegen das Land eröffnet - schließlich sind EU-Mitglieder durch den Stabilitäts- und Wachstumspakt dazu verpflichtet, diese Nenngrößen auf 60 Prozent Verschuldung bei dreiprozentigen Haushaltsdefizit zu beschränken.

Tendiert der Finanzmarkt zum RN?

Dennoch scheinen Investoren eine gewissen Präferenz für den RN zu haben, so Crevel. "Die NFP ist antikapitalistisch und antieuropäisch und will aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt austreten, während der RN seine antieuropäischen Ansichten nicht mehr so zur Schau stellt - obwohl viele der Maßnahmen der extremen Rechten unvereinbar mit europäischen Regeln sind", sagt der Ökonom.

So will Le Pens Partei aus dem europäischen Elektrizitätsmarkt austreten und Frankreichs Beitrag zum EU-Budget senken. Die Partei will auch systematische Kontrollen an nationalen Grenzen einführen, was gegen die Regeln des grenzfreien Schengenraums verstoßen würde.

Auch Christopher Dembik von der Investmentfirma Pictet Asset Management France denkt, das Wahlprogramm des NFP mache der Finanzwelt mehr Sorgen als das des RN.

"Investoren sind vor allem durch das antieuropäische Linksbündnis beunruhigt und weniger durch den RN und zum Beispiel dessen Vorhaben, die Mehrwertsteuer auf Elektrizität, Gas und Benzin von 20 auf 5,5 Prozent zu senken, was man auf europäischer Ebene verhandeln müsste", sagt er zu DW. "Zudem hat die Rechtsaußenpartei eine Prüfung der Staatsfinanzen versprochen, was zeigt, dass sie die Staatsschulden senken wollen."

Fremdenfeindlichkeit statt Umverteilung?

Doch Michael Zemmour, Wirtschaftsdozent an den Universitäten Lumière Lyon-2 und Sciences Po Paris, der mit dem umstrittenen rechtsextremen ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Eric Zemmour nicht verwandt ist, widerspricht dem heftig.

"Es ist der falsche Eindruck entstanden, dass der NFP mit seinen keynesianischen, verschwenderischen Maßnahmen die französische Wirtschaft ruinieren würde. Aber der RN macht Kampagne mit Steuerkürzungen, die er finanzieren will, indem er Ausländern die Krankenversicherung kürzt", sagt er gegenüber DW.

"Ganz abgesehen von der Tatsache, dass das moralisch verwerflich ist, ändert der RN auch ständig sein Programm, zum Beispiel, was das Datum angeht, an dem er Macrons Rentenreform zurückziehen will, so dass man dessen wirtschaftliche Auswirkungen gar nicht bemessen kann. Es ist schockierend, dass Investoren Fremdenfeindlichkeit der Umverteilung vorzuziehen scheinen - auch, weil sie davon ausgehen, dass der RN sein Programm genauso abschwächen wird wie die italienische Premierministerin Giorgia Meloni, nachdem sie 2022 an die Macht kam", so der Ökonom.

Drohende Instabilität

Das Wahlergebnis vom Sonntag hat keine klaren Verhältnisse für eine Regierungsbildung geschaffen. Das Linksbündnis NFP könnte versuchen, eine Minderheitsregierung zu bilden oder eine Koalition zu formen.

Eine Koalition, etwa mit dem Zweitplatzierten, Macrons Regierungspartei Ensemble (Zusammen), würde den NFP allerdings daran hindern, einen Teil seines Programms umzusetzen.

Mujtaba Rahman, Europa-Direktor der New Yorker Risikoberatung Eurasia Group, hatte schon vor dem zweiten Wahlgang vor politischer und finanzieller Instabilität gewarnt.

"Frankreich steht vor einer Pattsituation mit zwei großen Blöcken im Parlament und einem dazwischen eingequetschten Zentrum mit einem geschwächten Präsidenten", so Rahman zur DW.

Wenn die Regierung nur verwalte, aber nichts umsetzen könne, steige zudem das Risiko innerer Unruhen.



Dieser Artikel wurde am 5. Juli 2024 veröffentlicht und am 8. Juli aktualisiert, um das Wahlergebnis zu berücksichtigen.

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Image caption Wahlplakate des Linksbündnisses NFP (l.) und des rechtsnationalen FN
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Item 47
Id 69571989
Date 2024-07-05
Title Pussy Riot-Gründerin setzt die Wut gegen Putin in Kunst um
Short title Pussy Riot-Gründerin setzt die Wut gegen Putin in Kunst um
Teaser Nadya Tolokonnikova wird in Russland für ihren Protest gegen das Regime verfolgt. Jetzt war sie für eine Performance in Berlin - im Gepäck ihre erste Soloausstellung mit dem Titel "Rage".
Short teaser Nadya Tolokonnikova war für eine Performance in Berlin - im Gepäck ihre erste Soloausstellung mit dem Titel "Rage".
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"Wir brauchen ein bisschen mehr Platz, weil ich gleich schreien werde", sagt Pussy Riot-Gründerin Nadya Tolokonnikova und fordert die versammelte Menschenmenge auf, ein paar Schritte zurückzutreten, während sie sich mit ihrer Künstlergruppe vor der Neuen Nationalgalerie in Berlin auf den Auftritt vorbereitet.

"Und wisst ihr, warum ich schreien werde?", fügt Tolokonnikova hinzu, bevor sie mit ihrer Performance beginnt. "Weil von uns, Frauen und queeren Menschen, erwartet wird, leise zu sein, und deshalb werden wir jetzt unseren Platz einnehmen."

Unter den Hunderten von Anhängern des russischen feministischen Protestkollektivs tragen an diesem Tag viele Fans die ikonische Sturmhaube von Pussy Riot - genau wie die rund 50 Künstlerinnen, die Tolokonnikova bei dieser Veranstaltung begleiten.

Pussy Riot erregte erstmals 2012 die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit, als die Aktivistinnen eine Performance in einer Moskauer Kathedrale aufführten. Ihr "Punk-Gebet", das sie in den für das Kollektiv typischen bunten Sturmhauben vortrugen, führte dazu, dass die Gründerinnen der Gruppe, Nadya Tolokonnikova und Maria "Masha" Alyokhina, wegen "Hooliganismus aus religiösem Hass" zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurden.

"Wut" als Kunstform

Die einmalige Performance in Berlin soll dazu dienen, die Ausstellung von Nadya Tolokonnikova im OK Linz, einem österreichischen Museum für zeitgenössische Kunst, zu bewerben. Es ist das erste Mal, dass ihre Werke in einer Einzelausstellung in Europa zu sehen sind.

Der Titel der Ausstellung, "Wut", ist auch der Name von Tolokonnikovas letzter in Russland gedrehter Videoarbeit. Während der Dreharbeiten zu diesem Video stürmte Polizei herein; in einem dokumentarischen Ausschnitt am Ende des Musikvideos wird gezeigt , dass die Teilnehmer festgenommen wurden, weil sie an einem Filmdreh teilgenommen hatten, der laut russischen Behörden "Propaganda für Homosexualität enthält".

Das Video wurde veröffentlicht, kurz nachdem Alexej Nawalny bei seiner Rückkehr aus Deutschland nach Russland im Jahr 2021 verhaftet worden war. Pussy Riot setzt sich für die sofortige Freilassung des politischen Gefangenen ein. Nun, nach dem Tod Nawalnys in einer sibirischen Strafkolonie, treibt die Wut Tolokonnikowa weiter zu ihren Aktionen an.

Inspiration schöpft sie von Nawalnys Witwe, Julia Nawalnaja. "Sie hat es gut auf den Punkt gebracht", sagt Tolokonnikova. Es sei wichtig, nach dem Tod ihres Mannes nicht nur Trauer zu empfinden, sondern auch Wut. "Sie (Nawalnaja, Anm.d.Red.) benutzte genau das Wort: Wut. Wut ist ein sehr produktives Gefühl. Aber ich denke, sie muss richtig eingesetzt werden", so Tolokonnikova gegenüber der DW. "Wenn man die Wut nur aufstaut, brodelt sie in einem weiter und kann einen auffressen, aber wenn man sie herauslässt, zu einer Kundgebung geht oder eine Geste der politischen Kunst macht, kann sie großartig sein."

Auf der Liste der meistgesuchten Personen Russlands

Nawalnys berühmtes Zitat "Liebe ist stärker als Angst" ist auch für Tolokonnikova immer wieder Motivation für ihre Arbeit, die bis heute von Furchtlosigkeit geprägt ist.

Ihre Performance aus dem Jahr 2022 mit dem Titel "Putins Asche" ist eine direkte Konfrontation mit dem russischen Präsidenten. Sie zeigt Frauen des Pussy Riot-Kollektivs, die ein Porträt von Wladimir Putin verbrennen und die Asche in Glasflaschen abfüllen.

Die Darstellerinnen, die Tolokonnikova in dem Video begleiten, sind "12 Frauen aus der Ukraine, Belarus und Russland, die Unterdrückung und Aggression durch den russischen Präsidenten erfahren haben", heißt es in einer Presseerklärung der konzeptionellen Performance-Künstlerin.

Kurz nach der Veröffentlichung des Videos landete Tolokonnikova auf der russischen Liste der meistgesuchten Frauen, wie das Nachrichtenportal "Mediazona" herausfand. Mediazona ist ein unabhängiges Medienunternehmen, das von Tolokonnikova und Maria Alyokhina gegründet wurde.

Unterstützung für die Ukraine

Tolokonnikova ist inzwischen aus Russland geflohen, doch sie bleibt gesellschaftspolitisch aktiv. Nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine gründete sie eine andere Organisation, die NFTs von weiblichen, nicht-binären und LGBTQ+-Kunstschaffenden kuratiert. Durch den Verkauf der NFTs sammelte die Organisation sieben Millionen Dollar zur Unterstützung der Ukraine.

In ihrem TED-Vortrag von 2023 machte sie deutlich, warum Russland seinen Nachbarn angreift: "Putin wurde eingeschüchtert, weil die Ukraine den Weg der Freiheit und der Demokratie gewählt hat. Deshalb bombardiert die russische Armee Entbindungsstationen, Schulen und Krankenhäuser, vergewaltigt und tötet Zivilisten und wirft ihre Leichen in Massengräber. Putin und alle, die ihn unterstützen, sind innerlich tot, und sie müssen besiegt werden", sagte Tolokonnikowa.

Sie hielt ihre Rede, kurz nachdem sie erfahren hatte, dass sie auf der Liste der meistgesuchten Personen Russlands steht. Darin ging sie auch darauf ein, warum Putin sie als Bedrohung für sein diktatorisches System ansieht: "Nicht weil ich eine reelle Macht habe, sondern weil Mut ansteckend ist", sagte sie. Mut, so fügte sie hinzu, sei eine Kraft, die alle haben: "Es ist ein moralischer Akt, diese Kraft zu nutzen. Es mag sein, dass man nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt, aber es liegt eine unglaubliche Schönheit darin, nach der Wahrheit zu suchen und alles zu riskieren, was man hat, um das Richtige zu tun."

Adaption aus dem Englischen: Rayna Breuer

Das Interview mit Nadya Tolokonnikova führte Natalia Smolentceva auf Russisch.

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Image caption "Rage": Die Performance vor der Neuen Nationalgalerie begeisterte das Publikum
Image source Carsten Koall/dpa/picture alliance
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Item 48
Id 69570364
Date 2024-07-05
Title Vulkane in Italien: Stromboli rumort, Ätna spuckt Lava
Short title Vulkane in Italien: Stromboli rumort, Ätna spuckt Lava
Teaser Italiens Vulkane gehören zu den aktivsten in Europa. Gleich zwei rumoren gerade: Der Ätna ist ausgebrochen. Sorgen macht aber die Lage am Stromboli: Dort gilt Alarmstufe rot.
Short teaser Gleich zwei Vulkane in Italien rumoren derzeit: Der Ätna ist ausgebrochen und am Stromboli gilt sogar Alarmstufe rot.
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Der Stromboli auf der gleichnamigen Insel im Mittelmeer ist für seinen Feuerzauber berühmt. Täglich kommt es dort vor Italiens Süd-West-Küste zu kleineren Ausbrüchen, die man vom Meer aus beobachten kann. Der Vulkan ist deshalb eine Touristenattraktion.

Nun rumort der Stromboli aber stärker als üblich, die ausgestoßene Menge an Lava ist größer als sonst. Aus dem Krater quoll aber auch ein sogenannter pyroklastischer Strom, eine Wolke aus heißem Qualm und Rauch, die sich den Weg über mehrere Hundert Meter steil nach unten bis ins Meer bahnte. Über dem Vulkan steigt zudem eine Aschesäule auf, die eine Höhe von etwa zwei Kilometern erreicht hat.

Behörden in Italien rufen zur Vorsicht auf

Aus Sorge vor einem heftigen Ausbruch gilt die höchste Alarmstufe rot. Auf Stromboli riefen die Behörden die Bevölkerung auf, die Lage genau im Blick zu behalten und alle Anweisungen des Zivilschutzes zu befolgen. Zuvor hatte das für Vulkanismus zuständige italienische Institut für Geophysik und Vulkanologie (IGNV) einen plötzlichen Anstieg der seismischen Aktivitäten festgestellt.

Auf der Insel im Tyrrhenischen Meer, die zur Gruppe der Liparischen Inseln gehört, leben nur wenige Hundert Menschen. Allerdings fahren viele Touristen vom Festland oder aus Sizilien für Tagesausflüge dorthin – zum Vulkan-Watching oder auch, um den Berg am Krater zu besteigen.

Der Stromboli ist auch durch Literatur und Film bekannt: In Jules Vernes Abenteuerroman "Die Reise zum Mittelpunkt der Erde" aus dem 19. Jahrhundert werden die Helden des Buchs am Ende durch den Krater des Stromboli wieder zurück nach oben ins Freie katapultiert. Der italienische Regisseur Roberto Rossellini drehte dort kurz nach dem Zweiten Weltkrieg den Filmklassiker "Stromboli", mit seiner späteren Ehefrau Ingrid Bergman in der Hauptrolle.

Ascheregen auf Sizilien

In annähernd 200 Kilometer Entfernung auf der deutlich größeren Insel Sizilien machte der Ätna auf sich aufmerksam. Auf die nahegelegene Stadt Catania ging ein Ascheregen nieder, weshalb der dortige Flughafen für mehrere Stunden ein Start- und Landeverbot verhängte.

Die Aschepartikel hatten sowohl die Flugzeuge als auch die Start- und Landebahn bedeckt. Auch in anderen Ortschaften lag grau-schwarzer Staub in den Straßen und auf den Häusern.

Der Ätna spuckte bis in die Nacht immer wieder Lavafontänen aus. Über dem Vulkan stand zeitweise eine Wolke, die annähernd fünf Kilometer in die Höhe reichte. In der Region galt die zweithöchste Alarmstufe orange. Nach Angaben des IGNV beruhigte sich der Ätna dann langsam wieder.

Er ist mit etwa 3350 Metern Europas größter aktiver Vulkan. Die genaue Höhe des Ätna ändert sich durch Ausbrüche und Schlackekegel immer wieder.

AR/sti (dpa, rtr, EBU)

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Image caption Pyroklastischer Strom an der Nordwestflanke des Stromboli
Image source picture alliance/dpa/Vigili del Fuoco
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Item 49
Id 65021817
Date 2024-07-04
Title Musikpreis für "Silent Tears": Das Trauma des Holocaust
Short title Musikpreis für "Silent Tears": Das Trauma des Holocaust
Teaser Das Album "Silent Tears" enthält vertonte Gedichte von Frauen, die den Holocaust überlebten. Es erreichte als erstes jiddischsprachiges Album Platz 1 der europäischen Weltmusikcharts. Jetzt wird es ausgezeichnet.
Short teaser Das Album "Silent Tears" enthält Gedichte von Frauen, die den Holocaust überlebten. Jetzt wird es ausgezeichnet.
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Als die kanadische Psychologin Dr. Paula David in den frühen 1990er-Jahren ihren Job als Sozialarbeiterin im Baycrest Centre, einem jüdischen Heim für betreutes Wohnen in Toronto antrat, ahnte sie nicht, was auf sie zukommen würde. Zwar war sie Expertin in Gruppenarbeit und geschult in Traumatherapie, doch das Feld war damals noch nicht so weit entwickelt wie heute. Die 14 alten Damen, mit denen sie sich nun regelmäßig zu Gruppensitzungen traf, waren allesamt Überlebende des Holocaust aus Osteuropa.

Über ihre Kindheit und Jugend wollten die Frauen zunächst nicht sprechen. "Sie sagten mir anfangs sehr deutlich, dass sie diese Geschichten nicht erzählen konnten, da sie keine Worte dafür hatten." So unterhielt sich Paula David mit den Teilnehmerinnen über ein Jahr lang ausschließlich über deren Alltag, ihre Kinder und Enkel. Doch viele der Frauen hatten bereits erste Symptome von Demenz, sodass sie ihre frühen, traumatischen Erinnerungen klarer vor Augen hatten als kürzlich Geschehenes. Schließlich "brach der Damm", wie David einmal in einem TV-Interview sagte. Nun, wo die Frauen ihr vertrauten, hörte sie Berichte, die sie zutiefst erschütterten: von menschlichen Experimenten, Folter, dem Verlust der Kinder oder anderer naher Verwandter, von sexuellem Missbrauch, entsetzlichem Hunger, Krankheit und Zwangssterilisierung.

Schambesetzte Themen

All dies hatten die Frauen bis dato nicht einmal ihren engsten Verwandten erzählt - teils aus Scham, teils weil der Alltag in ihrer neuen Heimat Kanada ihre ganze Aufmerksamkeit gefordert hatte. "Das war die Zeit vor 'Schindlers Liste'. Man sprach noch nicht so viel über den Holocaust. Das Thema war damals noch schambesetzt", so David im DW-Interview. Mit der Zeit wurde die Gruppe zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Immer wieder gab es Durchbrüche und auch Rückschläge. "Oft war es zu überwältigend", so Paula David, "dann brauchte es viele Tassen Tee, und wir redeten eine Zeitlang über andere Themen."

David begann, die Berichte auf Band aufzunehmen und zu Hause niederzuschreiben. Dabei fiel ihr auf, dass die Teilnehmerinnen, allesamt keine englischen Muttersprachlerinnen, Syntax, Melodie und Wortschatz völlig anders verwendeten, als gebürtige Kanadierinnen dies tun würden. "Und unendlich kraftvoller, als ich es ausdrücken könnte", so David. Sie schrieb die Sätze auf und ordnete sie thematisch. So entstanden Gedichte, die sie der Gruppe eines Tages vortrug. Die Frauen konnten nicht glauben, dass sie ihre eigenen Worte hörten. "Eine sagte: 'Ich kann doch noch nicht einmal schreiben, geschweige denn dichten!'" Als sie verstanden, dass sie selbst die Dichterinnen waren, habe es sie alle "mit großem Stolz" erfüllt.

Den Holocaust-Überlebenden und Paula David selbst gaben die Gedichte eine Struktur und sie waren zugleich ein Ventil. "Wir wurden Dichterinnen", erinnert sich die Psychologin. Die Gruppensitzungen wurden zu einem wichtigen Fixpunkt im Leben der Frauen, "für den sie Treffen mit der Familie und Friseurtermine verschoben", wie David im DW-Interview erzählt.

Zweieinhalb Jahre versteckt in einer Holzkiste

Viele Jahre später, im Jahr 2019, traf Paula David auf den Journalisten und Musikproduzenten Daniel Rosenberg. Er beschäftigte sich zu jener Zeit intensiv mit der Geschichte von Molly Applebaum, die ein ähnliches Schicksal erlebt hatte wie die Damen im Baycrest-Altersheim. 1942 hatte Molly als 12-Jährige in Polen begonnen, Tagebuch zu schreiben. Darin erzählt sie, wie sie die Liquidierungen in den polnischen Gettos überlebt hatte, weil sie und ihre ältere Cousine zweieinhalb Jahre bei einem polnischen Bauern lebten - versteckt in einer Holzkiste, die in einem Stall vergraben war. Nur nachts konnten die Mädchen die Kiste verlassen. Sie waren bedeckt von Insekten, Läusen und Schmutz. Mollys Mutter wurde im Getto von Tarnow erschossen, ihren kleinen Bruder und ihren Stiefvater hat sie nie mehr wiedergesehen. Mollys Tagebuch "Buried Words" wurde 2017 veröffentlicht. Molly Applebaum ist heute 93 Jahre alt und lebt in Toronto.

Rosenberg beschloss, aus Mollys Tagebucheinträgen und den Geschichten der Frauen aus dem Baycrest Centre ein Musikalbum zu machen. Nicht auf Englisch, sondern auf Jiddisch und Polnisch - den Sprachen, die die Frauen als Kinder und Jugendliche sprachen. Auch die Musik sollte passen, und so entschied Rosenberg sich für eine Zusammenarbeit mit Olga Avigail Mieleszczuk, der führenden Expertin für polnischen Tango. Vor dem Zweiten Weltkrieg war Tango in Polen der letzte Schrei gewesen, es gab sogar eine eigene Stilrichtung des Genres, mit Elementen aus Klezmer- und Roma-Musik. Mit Ausbruch des Krieges endete jene Ära. Der berühmte Texter Andrzej Włast und Komponist Artur Gold starben in Treblinka.

Aus Gedichten werden Lieder

Auf dem Album "Silent Tears: The Last Yiddish Tango" befinden sich insgesamt neun Lieder, vier sind Originalstücke aus den 1930er-Jahren von Artur Gold, der Rest Neukompositionen von Rebekah Wolkstein und Oscar Strock. Eingespielt wurden sie von dem renommierten kanadischen Kammerorchester Payadora Tango Ensemble und dem Akkordeonisten Sergiu Popa. Die Texte von Molly Applebaum und der Baycrest-Gruppe wurden eingesungen von Lenka Lichtenberg, Olga Avigail Mieleszczuk, Aviva Chernick und Marta Kosiorek.

Die kanadische Sängerin Lenka Lichtenberg ist auf zweien der Stücke zu hören. Sie stammt aus Prag, ihre Mutter und ihre Großmutter waren im KZ Theresienstadt inhaftiert, ihr Großvater starb in Auschwitz. Auf ihrem Album "Thieves of Dreams" aus dem Jahr 2022 verarbeitet sie die Erfahrungen ihrer Großmutter, deren Gedichte sie in einer Schreibtischschublade ihrer ehemaligen Wohnung in Prag entdeckt hatte. Gerade hat Lichtenberg für "Thieves of Dreams" einen Juno, den kanadischen Grammy, gewonnen.

Die richtige Balance finden

Lichtenberg ist ein Profi, doch "Silent Tears" stellte selbst sie vor große Herausforderungen, wie sie der DW erzählt. Vor allem das Stück mit dem Titel "A Victim Of Mengele". "Ich singe, seit ich neun Jahre alt bin, aber so ein schreckliches Thema hatte ich noch nie gehört", so Lichtenberg. "Ich fragte mich: Wie soll ich das nur singen?" Tagelang habe sie sich am Klavier die Haare gerauft, um den richtigen Weg in das Stück zu finden. Ihr Ziel war "die richtige Balance", wie sie sagt: "dem Song zu geben, was er an Emotion braucht, ohne sich von seinen Gefühlen überwältigen zu lassen". Am Ende fand sie genau den richtigen Ton.

Im März 2023 stieg "Silent Tears" auf Platz 1 der europäischen Weltmusikcharts. Internationale Medien wie CBC (die staatliche Rundfunkgesellschaft Kanadas), Deutschlandfunk Kultur und der ORF (der Österreichische Rundfunk) haben darüber berichtet. Daniel Rosenberg und Mollys Tochter Sharon Wrock waren davon überwältigt: "Vor 80 Jahren, als Molly unter dem Boden des Bauernhofs versteckt war und ihr Tagebuch schrieb, kontrollierte Hitler alle Radiosender. Jetzt werden ihre Worte in Form von Liedern in Österreich, Deutschland, Belgien, Italien und vielen anderen Ländern gesendet. Wir brachen in Tränen aus beim Versuch, das zu erfassen."

Im Gegensatz zu Molly sind die Frauen aus Paula Davids erster Gruppe mittlerweile verstorben. Doch zahlreiche Folgegruppen sind aus der ursprünglichen entstanden. David ist froh darüber, dass die Gruppe aus dem Baycrest Centre mit "Silent Tears" ein neues Leben gefunden hat. Nun werden die Geschichten der Frauen weltweit gehört - in der Sprache, die sie als junge Mädchen gesprochen hatten, in Worten, die ihnen für Jahrzehnte gewaltsam genommen worden waren. "Silent Tears" ist ein wichtiges musikalisches Zeugnis - vor allem angesichts des derzeit wieder wachsenden Antisemitismus.

Weltmusikpreis für "beeindruckendes Zeugnis jüdischer Kultur"

Beim größten Folk-Roots-Weltmusik-Festival Deutschlands im thüringischen Rudolstadt sieht man das genauso. "Silent Tears" bekommt den Weltmusikpreis RUTH (Der Name des Preises ist ein Wortspiel: root ist das engl. Wort für Wurzel, Rootsmusik der Begriff für traditionelle Volksmusik., Anm. der Red.), der seit 2002 jährlich vergeben wird. "Silent Tears" sei Mahnung und Hoffnung zugleich und ein beeindruckendes Zeugnis jüdischer Kultur sowie deutscher Vergangenheit und Schuld, so Bernhard Hanneken, künstlerischer Leiter des Festivals. "Es ist ein erstaunliches und unverdientes Geschenk, dass nach den Taten der Nationalsozialisten jüdisches Leben in Deutschland wieder möglich wurde."

Gedichte und Musik höben die Erzählungen der Überlebenden nochmals auf eine neue Ebene und verliehen den in den Texten wiedergegebenen Erfahrungen und Traumata eine zutiefst bewegende und oft aufwühlende Emotionalität, sagte er. "Dabei ist es das Verdienst dieses Projekts, dass es diesen Erinnerungen und Gedichten Leben einhaucht und die darin enthaltenen Botschaften an nachkommende Generationen weiterzugeben vermag."

Der mit 5.000 Euro dotierte Preis wird am 6. Juli in Rudolstadt verliehen.
Dies ist die aktualisierte Fassung eines Artikels vom 19.03.2023.

Item URL https://www.dw.com/de/musikpreis-für-silent-tears-das-trauma-des-holocaust/a-65021817?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Das Team hinter dem Album "Silent Tears": Joseph Phillips, Robert Horvath, Aviva Chernick, Lenka Lichtenberg, Rebekah Wolkstein, Dan Rosenberg und Drew Jurecka
Image source Peter Yuan
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Item 50
Id 69549061
Date 2024-07-04
Title Sehr billige Immobilien in Deutschland, Italien und Schweden
Short title Sehr billige Immobilien in Deutschland, Italien und Schweden
Teaser Viele Länder der EU versuchen die Abwanderung in die Städte mit günstigen Immobilen zu stoppen, die nur wenige Euro kosten. Doch die vermeintlich günstigen Angebote haben oftmals einen Haken.
Short teaser Viele EU-Länder versuchen die Landflucht mit günstigen Immobilen zu stoppen. Solche Angebote haben aber oft einen Haken.
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Zugegeben: Mit dem klassischen Schwedentraum vom roten Holzhäuschen hat das eher nüchtern wirkende Götene mit seinen großen Wohnblöcken auf den ersten Blick wenig gemein.

Dafür lockte der 5000-Einwohner-Ort im Südwesten Schwedens nun mit unschlagbaren Immobilienpreisen - und verkaufte Grundstücke für weniger als eine schwedische Krone (ca. zehn Cent) pro Quadratmeter. Bei 150 Quadratmetern - der durchschnittlichen Größe für ein Einfamilienhaus - müsste ein Käufer also weniger als 15 Euro zahlen.

Der äußerst günstige Preis galt für 30 Grundstücke, die schon seit Jahrzehnten verlassen daliegen. Niemand hatte sich mehr für sie interessiert, obwohl das Örtchen sogar in der Nähe des großen und beliebten Vänernsees liegt.

Auf einmal berühmt: Götene in Schweden

Mit ihrer Schnäppchen-Aktion wollte die Gemeinde wieder Käufer anlocken und die Region beleben. Es gibt allerdings eine Bedingung: Der neue Besitzer verpflichtet sich mit dem Kauf, innerhalb von zwei Jahren ein Haus darauf zu bauen.

Anfangs verlief der Verkauf trotz des extrem niedrigen Preises eher schleppend. Ein viral gegangenes Tiktok-Video und verschiedene englischsprachige Medienberichte brachten dann jedoch den Durchbruch, die Stadtverwaltung wurde mit Anfragen überhäuft.

"Wir haben Interessenten aus Europa, Asien - vor allem Indien und Pakistan - wie aus den USA, Australien und sogar Südamerika", sagte Bürgermeister Johann Mansson. Nun wurde der Verkauf zunächst eingestellt, ab Anfang August sollen die restlichen Grundstücke versteigert werden.

Landflucht in Europa

Das schwedische Götene ist ein Beispiel für eine Entwicklung, die sich seit Jahrzehnten in ganz Europa zeigt. Junge Leute ziehen aus den Dörfern weg, weil es oftmals zu wenig Arbeit gibt und die Stadt attraktiver wirkt.

Dadurch beginnt oft ein Teufelskreis aus Wegzug und immer schwächer werdender Infrastruktur. Mit Hilfe von EU-Programmen, Initiativen oder eben Marketingaktionen einzelner Dörfer wie Götene soll er wieder durchbrochen werden, bevor Landstriche komplett veröden.

Denn der Trend hin zur Stadt wird laut Experten weiter anhalten. Laut der Europäischen Kommission wird der sogenannte Urbanisierungsgrad bis 2050 auf 83,7 Prozent steigen. Derzeit leben rund 74 Prozent der Menschen innerhalb der EU in kleineren oder größeren Städten.

"Ein-Euro-Häuser" in Italien

Auch in Italien können Interessenten bereits seit 2008 für wenig Geld ein Haus ergattern. Die Versteigerung fängt bei einem symbolischen Euro an, meist werden die Häuser schließlich für einige tausend Euro verkauft.

Rund 50 Gemeinden bieten die sogenannten "Casa a un Euro" (Ein-Euro-Häuser) an, um ihre verlassenen Dörfer wiederzubeleben. Die stark renovierungsbedürftigen Immobilien stehen beispielsweise in der Toskana, auf Sizilien oder Apulien.

Doch auch hier gehen die Käufer oftmals einen Vertrag mit der Gemeinde ein, der sie dazu verpflichtet, das Haus in den kommenden Jahren zu sanieren. Manche Kommunen verlangen zudem, dass der Käufer die Immobilie selbst bewohnt und sie nicht als Ferienhaus vermietet. Da die Immobilien teilweise verfallen sind, stehen zudem noch hohe Sanierungskosten an.

Wer sich davon nicht abgeschreckt fühlt, kann neben kommerziellen Portalen oder den Webseiten der Ortschaften auch über gemeinnützige Initiativen fündig werden. "Streetto" zum Beispiel ist nach eigenen Angaben ein Zusammenschluss junger Leute, die das historische Zentrum von Cammarata in Sizilien wiederbeleben wollen.

Nun suchen sie nach Menschen, die sich aktiv einbringen und einen "neuen Vibe und Ideen" in die alten Gässchen bringen wollen, wie sie auf ihrer Webseite schreiben.

Schnäppchen in Deutschland auf dem Land

In Deutschland wurden seit der deutschen Wiedervereinigung 1990 vor allem die ländlichen Gebiete in Mittel- und Ostdeutschland regelrecht entvölkert, während die Metropolen immer weiter zulegten. Seit einigen Jahren scheint dieser Trend jedoch erst einmal gestoppt.

Vor allem Menschen im Alter zwischen 30 und 49 Jahren ziehen mit ihren Kindern wieder häufiger aufs Land, wie die Stiftung Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in einer Studie von September 2023 erklärt. Corona und die Möglichkeiten des Home-Offices haben diese Entwicklung weiter vorangetrieben.

Dennoch: Auch in Deutschland finden sich noch Schnäppchen-Häuser. Zwar gibt es keine Ein-Euro-Häuser wie in Italien oder die Billiggrundstücke wie in Schweden.

Doch laut dem kommerziellen Immobilienportal "immoscout" sind auch in Deutschland Häuser für wenige tausend Euro zu haben. So wird zum Beispiel derzeit ein Fachwerkhaus im sächsischen Wurzen ab 6200 Euro versteigert, im ebenfalls sächsischen Bobritzsch ab 9200 Euro.

Herrenlose Immobilien in Deutschland

Andere interessieren sich auch für Immobilien und Grundstücke, die noch weniger als einen Euro kosten - nämlich gar nichts. Diese Immobilien oder Grundstücke gehören niemandem, weil zum Beispiel der Besitzer die Immobilie freiwillig aufgegeben hat und sich keine anderweitigen Interessenten gefunden haben.

Rund 1200 herrenlose Grundstücke gibt es beispielsweise im westdeutschen Rheinland-Pfalz, so das dortige Finanzministerium (Stand 2020). Doch eine Übernahme muss wohlüberlegt sein, denn die scheinbar kostenlosen Grundstücke können auch tief verschuldet sein. Die Hypothek bleibt bestehen und geht dann auf den nächsten Besitzer über.

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Image caption Von August an will das schwedische Götene wieder Grundstücke verkaufen, die dann auch bald bebaut werden sollen (Symbolbild)
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Item 51
Id 69552198
Date 2024-07-03
Title EU-Kommission genehmigt Lufthansa-Einstieg bei ITA Airways
Short title EU-Kommission genehmigt Lufthansa-Einstieg bei ITA Airways
Teaser Der deutsche Konzern plant zunächst eine Übernahme von 41 Prozent der italienischen Fluggesellschaft mit der Option, später das gesamte Unternehmen zu kaufen.
Short teaser Der deutsche Konzern plant zunächst eine Übernahme von 41 Prozent der italienischen Fluggesellschaft.
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Europas größter Flugkonzern darf noch größer werden: Für 325 Millionen Euro will die Lufthansa bei dem italienischen Konzern ITA Airways einsteigen. Dafür hat die Fluggesellschaft nun den Segen der europäischen Wettbewerbshüter bekommen.

Die EU-Kommission hatte zuvor die Sorgen geäußert, ein Zusammenschluss könne zu höheren Preisen führen. "In einer Zeit, in der die Verbraucher mit immer höheren Preisen für Flugreisen konfrontiert sind, ist es sehr wichtig, den Wettbewerb in diesem Sektor zu erhalten", erklärte EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Ihre Behörde befand jedoch auch: "Ohne die Transaktion wäre die langfristige Nachhaltigkeit von ITA als eigenständige Fluggesellschaft höchst ungewiss geblieben."

Übernahme geknüpft an Bedingungen

Mit einer Reihe von Auflagen der EU-Kommission sollen nun aber "die wettbewerbsrechtlichen Bedenken der Kommission vollständig ausgeräumt" werden, gab die Kommission zuletzt bekannt.

Die Lufthansa und der italienische Staat als bisheriger Eigentümer von ITA Airways hätten sich dazu verpflichtet, "einer oder zwei konkurrierenden Fluggesellschaften die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen, Direktflüge zwischen Rom oder Mailand und mitteleuropäischen Flughäfen anzubieten", erklärte die Kommission. So soll verhindert werden, dass ITA eine "beherrschende Stellung" in Mailand bekomme, teilte die Kommission mit.

Auf Langstreckenflügen von Italien nach Nordamerika muss ITA Airways zudem attraktive Start- und Landeplätze mit der Konkurrenz tauschen. Die Kommission schätzt, dass die Maßnahme auf mehreren Strecken zu einem größeren Angebot an Direktflügen führen könnte.

Verbraucherorganisation weiterhin skeptisch

Die europäische Verbraucherorganisation BEUC warnte allerdings, es könne durch die Fusion trotzdem zu negativen Auswirkungen für Flugreisende kommen. "Wir befürchten, dass die Verbraucherinnen und Verbraucher den Preis für diese Fusion in Form von höheren Flugpreisen, weniger Auswahl an Flugstrecken und schlechteren Dienstleistungen zahlen könnten", sagte Agustin Reyna, Generaldirektor der Organisation. Diese kritisierte, die Kommission dürfe nicht dem "politischen Druck" für größere Unternehmensfusionen nachgeben.

ITA Airways war 2021 aus der angeschlagenen Fluggesellschaft Alitalia hervorgegangen. Bereits 2017 war der italienische Staat eingesprungen, um Alitalia vor der Insolvenz zu retten. Das grüne Licht aus Brüssel dürfte deshalb auch die italienische Regierung freuen. Wirtschaftsminister Giancarlo Giorgetti sprach in Rom von einem "großen europäischen Erfolg".

Auch Lufthansa-Chef Carsten Spohr nannte die Übernahme eine "hervorragende Nachricht" für beide Unternehmen. "ITA Airways wird uns unterstützen, unsere Position als Nummer Eins in Europa weiter auszubauen", erklärte Spohr. Die Lufthansa werde die italienische Fluggesellschaft stärken "und damit ihre Zukunft als internationale Fluglinie" sichern.

pdo/kle (AFP, DPA)

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Image caption ITA-Präsident Antonino Turicchi (links), Wirtschaftsminister Giancarlo Giorgetti (Mitte) und Lufthansa-Chef Carsten Spohr in Rom
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Item 52
Id 69441317
Date 2024-07-03
Title Warum ich noch selbst schreibe in Zeiten von KI
Short title Warum ich noch selbst schreibe in Zeiten von KI
Teaser Es scheint so einfach: Der Computer spuckt einen Text aus, ein bisschen nachbessern und fertig. Doch es gibt ein paar Haken bei der KI, die nicht immer offensichtlich sind.
Short teaser Eigentlich super: Der Computer spuckt einen Text aus, ein bisschen nachbessern und fertig. Doch es gibt ein paar Haken.
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Woher weiß man, ob dieser Text wirklich von einem Menschen verfasst wurde? Ich weiß das, denn ich schreibe ihn gerade. Aber auch das könnte ja wiederum von einer Maschine geschrieben worden sein. Mit dieser Unsicherheit - wer oder was ist der oder die Schreibende - scheinen wir heutzutage leben zu müssen.

Schreiben als Selbstzweck

Der Unterschied zwischen Mensch und Maschine ist spätestens seit der Industriellen Revolution ein immer wiederkehrendes Thema. Und es bekommt in Zeiten, wo Roboter von sich in der Ich-Form sprechen, höchste Brisanz. Ist der Mensch ersetzbar? In manchen Bereichen bestimmt. Aber wie weit will man da gehen? Der britisch-australische Autor Alan Baxter hat eine klare Meinung dazu: "Ich kann nicht glauben, dass in einer Welt, in der Menschen noch immer Toiletten reinigen und in Minen arbeiten, Roboter unsere Kunst und Literatur erschaffen. Roboter sollten die Scheißjobs machen, damit mehr Menschen ihren Leidenschaften nachgehen können."

Die meisten Autorinnen und Autoren antworten auf die Frage, warum sie schreiben, dass es ihre Leidenschaft sei. Da geht es um den Prozess des Schreibens, der Freude macht. Um das Finden der Worte, das sich in Beziehung setzen zur Welt. So schildert es beispielsweise die Literaturübersetzerin Claudia Hamm der DW: "Das Tun selbst ist der Zweck. Wenn wir (= wir Schreibenden, Anm. d. Redaktion) nicht schreiben wollten, dann könnten wir sehr viel weniger prekär leben."

"Die textgenerative KI ist ein geklautes Auto"

Na gut, könnte man sagen. Dann schreiben halt diejenigen, die das wollen, selbst. Und den Rest kann die KI übernehmen. Thema erledigt? Bei weitem nicht, sagt Claudia Hamm. Sie hat gerade den Sammelband "Automatensprache" herausgegeben, der sich umfassend mit den verschiedenen Aspekten der künstlichen Textgeneration beschäftigt.

Ein viel diskutiertes Thema ist dabei das Urheberrecht. Die Sprache generierenden Computer, auch LLMs (Large Language Models) genannt, funktionieren nur deshalb, weil sie - unentgeltlich - mit Millionen von bereits bestehenden Texten, die von Menschen verfasst wurden, gefüttert wurden. Diverse Bestsellerautorinnen und -autoren haben bereits Klage eingereicht.

Claudia Hamm fasst es so zusammen: "Die textgenerative KI ist ein geklautes Auto. Man kann sich da hineinsetzen und mitfahren. Man kann auch nach Paris fahren und Spaß haben. Aber es ist und bleibt ein geklautes Auto."

Automatensprache versus Menschensprache

Claudia Hamm geht noch weiter. Für sie ist Automatensprache gar keine Sprache im eigentlichen Sinn, da es kein Ich gibt, das spricht, und damit auch keine Intention. "Die KI hat keine kommunikative Absicht. Wenn wir Sprache benutzen, dann versuchen wir einen Ausdruck zu finden als Mensch, einen Ausdruck für eine ganz bestimmte innere Welt." Die Maschine aber habe keine innere und äußere Welt. Darum könne sie auch keine Poesie erschaffen, so Hamm, sondern sei lediglich dazu in der Lage, ungewöhnliche Wortkombinationen zusammenzustellen. "Eine Maschine kann keine Selbstaussage machen, sie kann sich nicht in Beziehung zur Welt setzen."

Auch beim Thema Wahrheit gibt es Probleme, Stichwort "KI-Halluzinationen". Das sind quasi "erfundene" Informationen von Text generierenden KIs - oder wie die Schriftstellerin Nina George es in dem Band "Automatensprache" etwas deutlicher formuliert: Die Sache mit den "unzutreffenden Behauptungen und Ereignisverfälschungen, die die Textkotze zu einem unzuverlässigeren Auskunftgeber als Putin, BILD (Deutsche Boulevardzeitung, Anm. de. Red.) und Wikipedia zusammen machen - als ob ein verklemmter Besserwisseronkel mit witzlosem Rededurchfall angesoffen vor sich hin blubbert."

Ein vorgetäuschtes Gegenüber

Das Problem ist, sagt Claudia Hamm, dass LLMs von der Bauart darauf ausgelegt seien, Mensch und Maschine ununterscheidbar zu machen. Nutzende sollen das Gefühl bekommen, sie sprächen mit einem intelligenten Gegenüber. Die KI als Ersatz für ein menschliches Gegenüber - das sei der große Unterschied zu anderen technischen Revolutionen in der Vergangenheit. "Nie hat ein Dampfschiff sein Ding-Sein verleugnet", so Hamm.

Darüber hinaus sei auch die Frage, wessen Realität von der KI abgebildet werde, zu wenig beleuchtet. Von den online veröffentlichten Wörtern, die als Trainigsdaten für LLMs wie ChatGPT dienen, seien die weißer Menschen überrepräsentiert, ebenso die von Männern und von Wohlhabenden. Dementsprechend nicht divers ist der Output, der am Ende herauskommt.

Wie gehen die Verlage mit KI um?

Alles in allem geht es aber auch in der Buchbranche nicht darum, Künstliche Intelligenz zu verteufeln, denn sie kann überaus nützlich sein. Bei Penguin Random House beispielsweise ist es im Verlagsalltag inzwischen durchaus üblich, sich mit Hilfe von KI-Tools inspirieren zu lassen, sagt Beate Muschler, Vice-President Digital Development, gegenüber der DW: "Wir publizieren keine mit KI generierten Inhalte. Das bedeutet aber nicht, dass wir ein KI-freier Raum sind. Der Ansatz ist, in die Produktionsketten reinzuschauen und Felder zu definieren, an denen KI-Tools sinnvoll eingesetzt werden können: als Tool im Prozess, da, wo es urheberrechtlich unkritisch ist."

So dürften Mitarbeitende KI-Tools für ihre Arbeit nutzen, um Ideen zu generieren. Erstellt aber würden diese Inhalte - beispielsweise Buchcover - immer von einem Menschen. Das gelte auch für die Autorinnen und Autoren: Sich Inspiration zu holen sei kein Problem, aber der Text am Ende müsse aus der eigenen Feder stammen. "Wir haben in den Verträgen ganz klar drin, dass der Urheber, die Urheberin uns zusichert, dass er oder sie das Werk selbst erstellt hat", so Muschler.

KI und der Klimawandel

Ähnlich ist die Situation in den Schulen und Universitäten. Lernende sollen ihre Werke selbst verfassen, sich auseinandersetzen, in Prozesse kommen - ansonsten finde kein Lernen statt und die Welt verdumme, sagen KI-kritische Stimmen. Und das wäre sicherlich keine gute Aussicht.

Und so bin auch ich hier ein Stück weiter. Ich habe recherchiert, reflektiert, geschrieben; habe mich mit mir und der Welt auseinandersetzt - und habe sogar die Umwelt geschützt. Denn KIs verbrauchen sehr viel Energie. Ein Thema, das in Zeiten des Klimawandels ebenfalls Beachtung verdient.

Der Band "Automatensprache", hrsg. von Claudia Hamm, ist 2024 im Hanser Verlag erschienen (ISBN 978-3-446-28181-3).

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Image caption Inspiration und Reflexion: Das menschliche Gehirn kann mehr als nur Wissen ansammeln und sortieren
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Item 53
Id 69480835
Date 2024-07-03
Title Ist Sex vor dem Sport schädlich? Von wegen!
Short title Ist Sex vor dem Sport schädlich? Von wegen!
Teaser Sex ist zwar gesund - kann aber auch anstrengend sein. Deshalb galt unter Sportlern lange: vor dem Wettkampf lieber enthaltsam bleiben und auf den Bett-Sport verzichten. Ist das tatsächlich sinnvoll? Nein!
Short teaser Unter Sportlern galt lange: vor dem Wettkampf lieber enthaltsam bleiben und auf Sex verzichten. Was ist da dran?
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Kein Sex vor dem sportlichen Wettkampf! Diese Devise galt lange im Profisport. Die Annahme: Die durch die sexuelle Enthaltsamkeit angestaute Energie und Aggression entlädt sich beim Sport und die Chancen auf den ersten Platz steigen.

Sportlern - wie beispielsweise den Spielern der EM 2024 - nun jede sexuelle Aktivität zu verbieten, ergibt allerdings keinen Sinn. Denn Sex hat extrem positive Wirkungen auf Körper und Psyche und kann die sportlichen Leistungen durchaus steigern.

Was passiert beim Sex im Körper?

Sex bringt das Herz-Kreislaufsystem in Schwung, regt die Durchblutung an, wirkt stress- und schmerzlindernd und ist eine wunderbare Einschlafhilfe. An all diesen physischen und psychischen Vorgängen ist eine Vielzahl von Hormonen beteiligt.

Wie das genau funktioniert, erforscht Michael Siebers. Er ist Assistenzarzt für Psychiatrie und Psychotherapie und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Forensische Psychiatrie und Sexualforschung Essen.

In den 1960er Jahren entwickelte das US-amerikanische Forscherpaar William Masters und Virginia Johnson ein Vier-Stufen-Modell der sexuellen Reaktion, das auch in der aktuellen Forschung noch angewendet wird:

  • Erregungsphase
  • Plateauphase
  • Orgasmus
  • Rückbildungsphase

Jede dieser Phasen ist durch die Dominanz bestimmter Hormone gekennzeichnet. In der Erregungsphase lasse Adrenalin den Blutdruck steigen, so Siebers. Dopamin sorge für Vorfreude und Euphorie und Testosteron und Östrogen für die Lust auf Sex.

In der sogenannten Plateauphase komme Oxytocin ins Spiel, während die Adrenalin- und Dopaminspiegel kaum weiter steigen, sagt Siebers. "Oxytozin ist das Kuschelhormon. Es sorgt für Nähe und Bindung." In der Orgasmusphase erreiche das Oxytocinlevel seinen Höhepunkt.

Nach dem Orgasmus schließlich tritt das Prolaktin auf die Bühne. "Es ist unter anderem das Entspannungs- und Sättigungshormon, das uns signalisiert, dass wir jetzt keinen Sex mehr wollen", sagt Siebers. Prolaktin könnte im Sport eventuell zum Problem werden.

Ist Sex vor dem Sport schlecht?

"Das Prolaktinlevel ist bis zu eine Stunde nach dem Sex erhöht", sagt Siebers und verweist auf eine Studie, die die komplexe Wirkung des Prolaktins auf die menschliche Sexualität untersucht hat. Die beruhigende Wirkung des Hormons könnte im sportlichen Wettkampf durchaus hinderlich sein. Ein Orgasmus kurz vor dem Anpfiff oder Startschuss ist also vielleicht nicht die beste Idee.

Abgesehen davon gebe es aber keinen Grund, weshalb Sex beispielsweise in der Nacht vor einem Wettkampf problematisch sein sollte, meint Siebers. Einzelne Untersuchungen zum Einfluss von Sex auf die sportlichen Leistungen kommen zwar zu dem Ergebnis, dass Sex die Beinmuskeln schwächt und die Sportler dadurch langsamer sind.

In der aktuellsten Metaanalyse zum Thema Sport und Sex aus dem Jahr 2022, in der die Ergebnisse vieler Einzelstudien ausgewertet wurden, heißt es allerdings: Sex hat keine negativen Wirkungen auf die Leistungsfähigkeit von Athleten. Im Gegenteil. Michael Siebers vermutet, dass Sex sogar für bessere sportliche Leistungen sorgen könnte.

Ist Sex leistungsfördernd?

"Sex ist eine körperliche Aktivität und kann deshalb natürlich die körperliche Fitness steigern", sagt Siebers. Und auch die Wirkungen auf die Psyche seien immens. Hier haben Sport und Sex möglicherweise etwas entscheidendes gemeinsam: das High-Gefühl.

Dazu forscht Michael Siebers - genauer: zum sogenannten "Runners High". "Das Runners High ist ein Gefühl während des Ausdauersports, das einhergeht mit Euphorie, weniger Angst, weniger Schmerzen und Beruhigung. Das Gedankenkreisen hört also auf", sagt Siebers.

"Auslöser für dieses High-Gefühl sind wahrscheinlich die sogenannten Endocannabinoide", sagt Siebers. Das sind Cannabis-ähnliche Substanzen, die der Körper selbst produziert. Sie sind Teil des körpereigenen Cannabinoid-Systems, das wiederum ein Teil des Nervensystems ist. Es spielt unter anderem eine Rolle bei Lern- und Bewegungsprozessen.

Siebers geht davon aus, dass dieses Cannabinoid-System nicht nur beim Laufen, sondern auch beim Sex aktiviert wird. Weitere Studien sollen Klarheit bringen.

"Endocannabinoide, Oxytozin und Prolaktin wirken alle beruhigend und stressreduzierend auf den Körper. Das wiederum ist gut für die Gesundheit", sagt Siebers. Die Schlafqualität nehme zudem ebenfalls deutlich zu. Und ausreichend guter Schlaf ist gerade für Sportler besonders wichtig. Schmerzen und Angst nehmen ab, die Euphorie zu.

Nach bisherigen Erkenntnissen spricht also wenig gegen Sex - auch nicht vor dem Wettkampf.

Quellen:

The influence of sexual activity on athletic performance: a systematic review and meta-analyses (2022), Nature https://www.nature.com/articles/s41598-022-19882-2

Prolaktin und Sexualität (2017), Gynäkologische Endokrinologie https://link.springer.com/article/10.1007/s10304-017-0147-x

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Image caption Euphorie, weniger Angst und Schmerz und innere Ruhe - das sogenannte Runners High könnte auch beim Sex eine Rolle spielen
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Item 54
Id 69493400
Date 2024-07-03
Title Lage im Roten Meer lässt Preise steigen
Short title Lage im Roten Meer lässt Preise steigen
Teaser Die Einschränkungen der Schifffahrt im Roten Meer und in Zentralamerika haben Effekte weit über die Regionen hinaus. Der Welthandel wird enorm belastet, die Frachtkosten steigen wieder und die Umweltbelastung nimmt zu.
Short teaser Die Einschränkungen der Schifffahrt im Roten Meer und in Zentralamerika haben Effekte weit über die Regionen hinaus.
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Die USA ziehen ihren Flugzeugträger USS Dwight D. Eisenhower aus dem Roten Meer ab und schicken stattdessen die USS Theodore Roosevelt samt Begleitschiffen. Die Bedeutung des Seeweges durch das Rote Meer für den Welthandel ist gewaltig.

Die Aufgabe des Flottenverbandes ist der Schutz der Schifffahrtsrouten vor der arabischen Halbinsel bis zum Suezkanal. Aus dem Jemen beschießen Huthi-Milizen seit mehr als einem halben Jahr Schiffe, die sie wegen ihrer Besitzer oder Betreiber mit Israel in Verbindung bringen. Am 20. Juni hatte die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtet, die Huthi, die im aktuellen Nahostkonflikt Partei gegen Israel ergriffen haben, hätten mit einer Drohne einen Kohletransporter versenkt.

Als Reaktion auf die Huthi-Attacken hatten die USA und Großbritannien in den vergangenen Monaten mehrfach Stellungen der Miliz im Jemen angegriffen. Zudem versuchen Kriegsschiffe zweier internationaler Koalitionen, den Schiffsverkehr entlang der jemenitischen Küste zu sichern. Auch die Deutsche Marine war mit der Fregatte "Hessen" im Rahmen der EU-Mission "Aspides" daran beteiligt.

Die Kosten steigen wieder

Der Welthandel steht seit dem vergangenen Oktober, als die kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Überfall palästinensischer Terroristen auf Israel begannen, unter enormem Druck: Weltweit müssen Händler höhere Frachtkosten einkalkulieren und mehr Geld für die Versicherung ihrer Waren ausgeben.

Höhere Versicherungskosten beklagen auch die Reeder, da die Gefahr drastisch gestiegen ist, dass sie ihre Schiffe verlieren. Wenn sie aus Vorsicht die Passage durch den Suezkanal umgehen und stattdessen das Kap der Guten Hoffnung umrunden, müsse sie außerdem mit längeren Fahrtzeiten und höheren Treibstoffkosten rechnen. Diese Kosten bezeichnet Bloomberg bereits als das "neue Normal".

Der "Drewry World Container Index" beobachtet den Frachtmarkt und hat die exorbitanten Preisanstiege festgehalten. Demnach ist der durchschnittliche Transportpreis für einen großen Standardcontainer von 40 Fuß in der vorletzten Juni-Woche um sieben Prozent gestiegen - im Vergleich zum Vorjahr allerdings um satte 233 Prozent. Auf einigen Routen sind die Preise sogar noch weit deutlicher nach oben gegangen.

Mittelbare Effekte

Simon MacAdam, Ökonom bei Capitol Economics, einem in London ansässigen unabhängigen Finanzberatungsunternehmen, beurteilte das DW gegenüber so: "Die Reeder haben sich scheinbar recht gut mit der Situation zurechtgefunden, wenn man bedenkt, welche Umstände es bereitet, den Suezkanal nicht uneingeschränkt nutzen zu können."

Nach einem halben Jahr Krise in dieser Weltgegend seien "die Frachtkosten in den vergangenen Monaten gesunken, nachdem sie im Januar in die Höhe geschossen waren." Doch einen Grund zur Entwarnung sieht er nicht: "Jetzt beginnen sie schon wieder zu steigen."

Man solle aber bedenken, so MacAdam zur DW, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen für die aktuellen Preisanstiege nicht unmittelbar verantwortlich seien: "Der Auslöser scheint zu sein, dass Importeure gerade viele Bestellungen vorziehen um sicherzustellen, dass sie im Verlaufe des Jahres genug Waren vorrätig haben. Doch die bestehenden Probleme - dass Schiffe um das Kap der Guten Hoffnung umgeleitet werden - haben die Schifffahrt belastet und machen weitere Preissprünge eher wahrscheinlich.

Der Weg um das Kap der Guten Hoffnung in Südafrika bedeutet, dass Schiffe den afrikanischen Kontinent komplett umfahren, bevor sie nach Europa gelangen.

Mehr Schiffe werden gebraucht

Jan Hoffmann, Handelsexperte bei der Welthandels- und Entwicklungskonferenz UNCTAD, einer UN-Organisation mit Sitz in Genf, erklärt DW, warum die Frachtraten generell gestiegen sind: "Der Hauptgrund sind die längeren Distanzen, die die Schiffe zurücklegen müssen. Für den Umweg um Südafrika herum braucht man mehr Schiffe, um das Angebot aufrecht zu erhalten. Und die Durchschnittsdistanz für einen Container ist 2024 um neun Prozent länger als noch 2022."

Sind die Schiffe länger unterwegs, müsse man vor allem mehr Schiffsraum einsetzen: Das bedeutet, mehr Schiffe zu kaufen oder zu chartern und mehr Personal einzustellen. Hoffmann zu DW: "Längere Routen erfordern mehr Schiffe. Und wenn es diese Schiffe noch nicht gibt, steigen die Frachtpreise."

Und auch die Umwelt leide, so der UNCTAD-Experte: "Ein anderer Effekt ist, dass die Schiffe ihre Geschwindigkeiten erhöht haben. Höhere Geschwindigkeiten auf längeren Distanzen haben zu einem Anstieg der Emissionen geführt, beispielsweise um 70 Prozent auf der Route Singapur-Rotterdam."

Sollten die Umleitungen noch länger bestehen, werde das zu höheren Preisen und zu weiteren Einschränkungen im internationalen Handel führen, sagt Hoffmann.

Doppelter Flaschenhals

Dazu komme, so Hoffmann, dass auch an anderer Stelle ein maritimer Flaschenhals den Warenverkehr behindert: Der Panamakanal kann wegen Wassermangels nicht uneingeschränkt befahren werden. Weil sowohl der Suez- als auch der Panamakanal nicht mehr voll zur Verfügung stünden, müsse man in den USA in die Seeverbindungen mit Ostasien eine "Landbrücke" einbauen - also einen Landtransport auf Schiene oder Straße von den Häfen der Westküste in die Zentren an der Ostküste.

Da das aber nicht so leicht ist, und in Fällen von Weizen- oder Flüssiggastransporten sogar ökonomisch unmöglich, müsse man einen sehr weiten und gefährlichen Umweg nehmen, nämlich die "alternative Route um das Kap Horn", die Südspitze Südamerikas.

Im Fall des Panamakanals sieht Capitol-Economics-Ökonom Simon MacAdam allerdings schon etwas Licht am Horizont. Die Wasserstände im Kanal, sagte er der DW, hätten sich "in den vergangenen Monaten etwas erholt und das Wetterphänomen 'La Nina' dürfte die Lage demnächst weiter entspannen. Der leichte Anstieg der Pegel hat bereits wieder zu einer Zunahme des Schiffsverkehrs im Kanal geführt."

"Es könnte noch schlimmer kommen"

Die Lage am Roten Meer bleibt dagegen angespannt. Noch immer würden rund 70 Prozent des internationalen Handels die Gegend meiden und um Afrika herumfahren, berichtet Bloomberg.

Die Entsendung des neuen Flugzeugträgerverbandes der US Navy zeigt, wie dauerhaft ernst die Lage von Militärs eingeschätzt wird.

Simon MacAdam glaubt, eine längere Krise werde die Reeder überfordern und die Frachtraten weiter steigen lassen. "Schiffe zu bauen dauert viele Jahre und neue Container werden zu 90 Prozent in China gebaut. Höhere Kapazitäten lassen sich daher nicht über Nacht aufbauen", so der Finanzexperte. Seine Prognose: "Es könnte noch schlimmer kommen."

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Image caption Flugzeugträger USS Dwight D. Eisenhower im Suezkanal
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Item 55
Id 69467840
Date 2024-07-02
Title Breakdance wird Disziplin bei Olympischen Spielen
Short title Breakdance wird Disziplin bei Olympischen Spielen
Teaser Bei den Olympischen Spielen in Frankreich werden B-Boys und B-Girls erstmals um olympische Medaillen kämpfen. Ein Meilenstein für einen Sport, der in den Hinterhöfen New Yorks das Licht der Welt erblickte.
Short teaser Der Kampf um olympische Medaillen ist ein Meilenstein für den Sport, der in den Hinterhöfen New Yorks entstand.
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Schon bald wird Breakdance bei den Olympischen Spielen sein Debüt geben - ein kometenhafter Aufstieg für eine Aktivität, die vor fünf Jahrzehnten noch so gut wie unbekannt war.

Breaking, so der Ursprungsname, wurde in den 1970er-Jahren in den USA populär. Damals improvisierten Tanzende auf den Straßen und Plätzen in der New Yorker Bronx zu den "Breakbeats" der DJs stilisierte Bewegungen und Drehungen.

Der akrobatische Stil wurde bald zu einer der vier Säulen der Hip-Hop-Kultur, neben DJing, MCing (von "Master of Ceremonies" oder Rappen) und Graffiti. Die Tänzer nannten sich B-Boys und B-Girls, und ihr Breaking war mehr als nur ein Sport; es trug auch zum Aufbau einer Gemeinschaft bei.

Von der Straße auf die Bühne

In den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren wurde Breakdance immer populärer - trotz ärztlicher Einwände. Einem Artikel der New York Times von 1984 zufolge warnte "eine Reihe von Ärzten" davor, dass diese "Modeerscheinung" gefährlich sei, da sie "den Körper über seine Belastbarkeit hinaus beanspruche und Bänderrisse, Knochenbrüche und noch schwerere Verletzungen verursachen" könne.

"Wenn die Tanzenden nicht in Form sind oder ihnen die Flexibilität fehlt", so die Ärzte, "können sie sich schwere Verletzungen zuziehen", berichtete die US-Tageszeitung.

Solche Argumente aber waren kein Hindernis für die Aufnahme des Breakdance in die Liste der olympischen Disziplinen; immerhin umfasst der internationale Wettbewerb eine Reihe von Sportarten, die mit einem hohen Verletzungsrisiko verbunden sind - vom Boxen bis zum BMX-Rennen.

Auftritt für den US-Präsidenten Ronald Reagan

Im dem Jahr, in dem die New York Times vor den gesundheitlichen Gefahren des Breakdance warnte, traten die in der Bronx gegründeten New York City Breakers bei den Kennedy Center Honors (Preisverleihung für "außergewöhnliche Beiträge zur amerikanischen Kultur mit ihrem Lebenswerk durch ihre dargestellten Künste", Anm. d. Red.) auf.

Auch der damalige US-Präsident Ronald Reagan war anwesend. Die Show wurde landesweit ausgestrahlt und erreichte Millionen von Menschen in den USA.

Mit der zunehmenden Popularität des Breakdance wuchs auch der Wettbewerbsgedanke. "Dance battles" zwischen rivalisierenden Crews oder einzelnen Tanzenden wurden zu einem zentralen Bestandteil. Die Breaker traten gegeneinander an, um ihr Können zu zeigen. Eine gute Alternative für Jugendliche zu den gefährlichen Verlockungen in den Straßen von New York.

Breakdance setzte sich zunehmend in der Popkultur durch und eroberte die Musikcharts. Zu den bekanntesten Hits gehörte "It's Like That", die Debütsingle der US-amerikanischen Hip-Hop-Band Run-D.M.C. aus dem Jahr 1983, die 1997 von House-DJ Jason Nevins neu abgemischt und zu einem internationalen Hit wurde. Das Video, in dem männliche und weibliche Breakdance-Crews gegeneinander antraten, inspirierte Menschen auf der ganzen Welt dazu, die Moves zu lernen.

In den 1990er-Jahren fanden die ersten internationalen Wettbewerbe statt. Schon damals wurden die Stimmen lauter, die dafür plädierten, Breakdance in offizielle Sportveranstaltungen zu integrieren.

In den 2000er-Jahren wurde erstmals darüber diskutiert, Breakdance zu den Olympischen Spielen zuzulassen. Die Breaker selbst hatten sich für die Aufnahme des wettbewerbsorientierten Tanzstils in das olympische Programm stark gemacht und dabei auf den hohen Unterhaltungswert des Sports verwiesen, der ihn zu einer attraktiven Ergänzung der Olympischen Spiele mache.

Durchbruch in Buenos Aires

Die Generalprobe für die Olympiapremiere fand bereits 2018 bei den Olympischen Jugendspielen in Argentiniens Hauptstadt Buenos Aires statt, wo der Sport erstmals mit dabei war. Es war das Debüt des Tanzsports bei einer Ausgabe der Olympischen Spiele.

Ein Jahr später schlug das Organisationskomitee für Paris 2024 vor, Breakdance in das olympische Programm aufzunehmen. Ende 2020 gab das Internationale Olympische Komitee (IOC) dann bekannt, dass Breakdance als offizielle Disziplin bei den Sommerspielen geführt werde.

"Es ist großartig, da es uns als Sportart mehr Anerkennung verschafft", sagte der britische Breaker Karam Singh der Rundfunkanstalt BBC nach der Ankündigung des IOC. "Breakdance wird bei den Olympischen Spielen junge Leute anziehen, die sich nicht unbedingt für die traditionellen Sportarten interessieren."

Es gibt allerdings nach wie vor skeptische Stimmen, die die Aufnahme ablehnen. Die Reaktionen reichen von verwirrt bis empört. Während die Breakdance-Community die Entwicklung weitgehend begrüßt, treibt einige Mitglieder die Sorge um, dass ihr Sport zu sehr zum Mainstream verkomme.

Die Teilnahme an dem offiziellen Sportevent könne dazu führen, so ihre Befürchtung, dass der Breakdance seine Authentizität verliere, oder dass Kriterien wie Originalität und Leidenschaft abgewertet würden.

"Es gab einige Kontroversen innerhalb der Szene", sagte B-Girl Logan "Logistx" Edra gegenüber der Tageszeitung USA Today. "Im Grunde geht es darum sicherzustellen, dass wir die Essenz und die Kultur bewahren, dass sie nicht im Wettbewerbstrubel untergeht, während wir uns weiterentwickeln und Schritte in Richtung Olympia machen."

Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords

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Image caption Es begann in der Bronx...
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Item 56
Id 69538841
Date 2024-07-02
Title Studie: Ohne Reichensteuer fehlen 380 Milliarden Euro
Short title Studie: Ohne Reichensteuer fehlen 380 Milliarden Euro
Teaser Die Aussetzung der Vermögenssteuer seit 1997 hat Deutschland rund 380 Milliarden Euro gekostet, so eine neue Studie. Die Angst, dass Reiche bei einer Wiedereinführung das Land verlassen, sei unbegründet.
Short teaser Der Verzicht auf eine Vermögenssteuer hat Deutschland bisher rund 380 Milliarden Euro gekostet, so eine neue Studie.
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Bis 1996 wurde das Vermögen reicher Menschen in Deutschland jährlich mit einem Prozent besteuert. Danach wurde die Vermögenssteuer nicht mehr erhoben.

Dieser Verzicht habe den deutschen Staatshaushalt seitdem mehr als 380 Milliarden Euro gekostet, so eine Studie, die das Netzwerk Steuergerechtigkeit gemeinsam mit der Entwicklungsorganisation Oxfam am Dienstag vorgestellt hat.

Die entgangenen Einnahmen von rund 380 Milliarden Euro entsprechen rund 80 Prozent des Bundeshaushalts von 2024, der Ausgaben von rund 477 Milliarden Euro vorsieht.

Gleichzeitig seien die Vermögen der 100 reichsten Deutschen seit 2001 um rund 460 Milliarden Euro gewachsen, heißt es in der Studie.

100 Jahre Kampf gegen Steuerflucht

"Eine überwältigende Mehrheit der Menschen befürwortet eigentlich die Wiedereinführung der Steuer, fürchtet aber gleichzeitig die angeblich drohende Steuerflucht von Vermögenden", schreiben die Autoren Michaela Alka und Christoph Trautvetter vom Netzwerk Steuergerechtigkeit, einem eingetragenen Verein mit Sitz in Berlin.

Die Studie mit dem Titel "Keine Angst vor Steuerflucht" untersucht, mit welchen Gesetzen der deutsche Staat in den vergangenen 100 Jahren versucht hat, Steuerflucht zu unterbinden.

Einfach den persönlichen Wohnsitz ins Ausland zu verlegen, ist für Reiche seit der Einführung der Wegzugsteuer 1972 teuer. Sie führe dazu, "dass Steuerflüchtlinge etwa ein Drittel ihres gesamten in Deutschland aufgebauten Vermögens an der Grenze abgeben müssen", heißt es in der Studie.

Sieben deutsche Milliardäre seien kurz vor Einführung des Gesetzes ins Ausland gezogen. Auf spätere Fluchtversuche, etwa den Umzug der Familie Porsche im Jahr 2010, habe der Gesetzgeber reagiert und Lücken geschlossen. "Heute ist der steuerfreie Wegzug nur noch möglich, wenn das Vermögen in Deutschland steuerpflichtig bleibt", so die Autoren.

Wenig bekannte Steuern

Auch die Verlagerung von Unternehmen oder Unternehmensteilen ins Ausland könne teuer werden. In der Öffentlichkeit wenig bekannte Steuerarten wie die Entstrickungsbesteuerung und die Besteuerung von Funktionsverlagerungen sorgten dafür, dass Eigentümer bei der Verlagerung "knapp die Hälfte ihres in Deutschland aufgebauten Vermögens abgeben müssen".

Die klassische Steuerhinterziehung schließlich ist laut Studie ebenfalls schwerer geworden, seitdem 2017 der automatische Informationsaustausch in Kraft getreten ist, der dafür sorgt, dass der deutsche Fiskus aus mehr als 100 Ländern Informationen über die dortigen Konten von deutschen Steuerpflichtigen erhält.

Fazit der Studie: Die Drohung, Milliardäre würden bei Wiedereinführung der Vermögenssteuer das Land verlassen, sei nicht glaubhaft. Auch bestehe kein Grund für die Befürchtung, eine solche Steuer führe in Deutschland zum Verlust von Arbeitsplätzen.

Lob und Forderung

Der deutschen Steuergesetzgebung stellen die Autoren insgesamt ein gutes Zeugnis aus. "Deutschland hat in den letzten Jahrzehnten umfassende und international vorbildliche Regeln" gegen Steuerflucht etabliert, "die sie massiv erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen".

Die Wiedereinführung einer Vermögensteuer sei deshalb "nicht nur möglich, sondern auch dringend geboten".

Die Möglichkeit, Vermögen zu besteuern, ist in Artikel 106 des deutschen Grundgesetzes ausdrücklich vorgesehen. Dort steht auch, dass die Einnahmen daraus den Bundesländern zustehen.

Allerdings hatte das Bundesverfassungsgericht 1995 geurteilt, dass die Art, wie die Vermögenssteuer bis dahin erhoben wurde, nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Unter anderem bemängelten die Richter eine veraltete und deshalb zu niedrige Bewertungsgrundlage für die Besteuerung von Immobilien.

Wie es zur Aussetzung kam

Die damalige Bundesregierung von CDU/CSU und FDP entschied sich gegen die vom Gericht geforderte Neubewertung und stärkere Besteuerung von Immobilien. Zur Begründung verwies sie auch auf den damals hohen Spitzensteuersatz von 53 Prozent auf Einkommen. Heute liegt der höchste Einkommenssteuersatz bei 45 Prozent.

In der Folge setzte die von Helmut Kohl geführte Bundesregierung die Erhebung der Vermögenssteuer aus. Das Vermögensteuergesetz selbst wurde aber nicht aufgehoben.

1996, im letzten Jahr der Erhebung, brachte die Vermögensteuer Einnahmen von umgerechnet 4,6 Milliarden Euro. Bei der Berechnung des Vermögens galt ein Freibetrag von umgerechnet rund 60.000 Euro pro Familienmitglied, außerdem durften Schulden vom Vermögen abgezogen werden.

Die Schätzung der Studie, dass Deutschland seitdem 380 Milliarden Euro entgangen sind, beruht auf der Annahme, dass sich die Einnahmen aus der Vermögenssteuer wie im Schnitt der letzten Jahre vor ihrer Aussetzung entwickelt hätten.

In diesem Fall wären die jährlichen Einnahmen bis zum Jahr 2023 auf rund 30 Milliarden Euro gestiegen und die gesamten Einnahmen bis 2023 hätten sich auf mindestens 380 Milliarden Euro summiert.

Item URL https://www.dw.com/de/studie-ohne-reichensteuer-fehlen-380-milliarden-euro/a-69538841?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Es ist schwerer geworden, Geld ins Ausland zu verschieben, um Steuern zu vermeiden
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Item 57
Id 69524138
Date 2024-07-01
Title Jesus als Kind: Was frühe Dokumente verraten
Short title Jesus als Kind: Was frühe Dokumente verraten
Teaser Ein kürzlich entdecktes Schriftstück aus dem 4./5. Jahrhundert erzählt von der Kindheit Jesu. Die Geschichten faszinieren - sind aber inhaltlich nicht neu.
Short teaser Ein kürzlich entdecktes Schriftstück erzählt von der Kindheit Jesu. Die Geschichten faszinieren - sind aber nicht neu.
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"Papyrus-Sensation: Ältestes Manuskript aus der Kindheit Jesu entziffert"

"Geheimer Bibel-Text ändert alles."

"Falsch beschriftetes ägyptisches Papyrusfragment, versteckt in einer deutschen Bibliothek, wirft tausend Jahre alte Vorstellungen über die Bibel und das Leben Jesu über den Haufen."

Dies sind nur einige der Schlagzeilen, die auf die Entdeckung des 1600 Jahre alten Schriftfragments folgten, das einen Einblick in die Kindheit Jesu gibt.

Die Forscher - zwei Papyrologen namens Lajos Berkes and Gabriel Nocchi Macedo - waren etwas überrascht von diesen Reaktionen. "Es ist keine neue Geschichte und sowieso keine wahre Geschichte über die Person Jesu", so Berkes gegenüber der Deutschen Welle.

"Das hier ändert also nichts an dem, was wir über die Evangelien und über Jesus wissen", betont der Dozent am Institut für Christentum und Antike an der Humboldt-Universität zu Berlin. "Aber es hat zu vielen Missverständnissen und Polemiken geführt, obwohl wir nie etwas behauptet haben."

Was sie entdeckt haben, ist allerdings trotzdem spektakulär: Es ist das früheste Manuskript des sogenannten Kindheitsevangeliums des Thomas' - eine sogenannte apokryphe Schrift, die einem Bibeltext ähnelt, aber nie Teil des Bibel-Kanons geworden ist.

Das Kind, das Tonfiguren in echte Vögel verwandelte

In dem Manuskript sind Fragmente eines Textes enthalten, der beschreibt, wie der fünfjährige Jesus an einem Bach spielt, wo er Ton findet und daraus Vögel formt. Sein Vater Joseph schimpft mit ihm, weil er am Sabbat, dem Tag der Ruhe, aktiv ist. Dies veranlasst Jesus dazu, in die Hände zu klatschen, woraufhin die Spatzen zum Leben erwachen und wegfliegen.

Obwohl das Kindheitsevangelium damals nicht in den offiziellen Kanon der Bibel-Evangelien aufgenommen wurde, ist es unter Gelehrten ein durchaus bekanntes Werk. Es wird geschätzt, dass der Text im zweiten Jahrhundert erstmals transkribiert wurde.

Wer Jesus als gütige und liebevolle Person vor Augen hat, liest hier Geschichten, in denen der junge Jesus zu Wutausbrüchen und Rachegelüsten neigt. Er verflucht andere Kinder, die ihn ärgern, versetzt sie in Angst und Schrecken, lässt seine Nachbarn erblinden und tötet sogar einen Lehrer, der ihn getadelt hat.

Gelehrte haben lange darüber diskutiert, warum Jesus als "Held lächerlicher und schäbiger Streiche" dargestellt wird, wie ein Autor die Geschichten beschrieb.

Das Neue Testament selbst liefert nur wenige Informationen über die Kindheit Jesu. Da das Kindheitsevangelium anscheinend einige der Lücken füllte, die die kanonischen Evangelien hinterlassen hatten, war es im Hochmittelalter sehr beliebt. Antike Versionen des Manuskripts wurden in Griechisch, Latein, Syrisch, Slawisch, Georgisch, Äthiopisch und Arabisch gefunden.

Neue Erkenntnisse in Bezug auf die Sprache

"Man geht davon aus, dass das Griechische die Originalsprache ist. Und das bisher älteste Manuskript dieses Textes stammt aus dem 11. Jahrhundert", erklärt Lajo Berkes. Das von ihm und Gabriel Nocchi Macedo gefundene Fragment, das auf das 4. bis 5. Jahrhundert datiert wird, könne daher zeigen, wie bestimmte Worte im Laufe der Jahrhunderte bei der Transkription ersetzt wurden.

Die beiden Forscher planen eine komplette Überarbeitung des existierenden Kindheits-Textes und arbeiten zudem an einer neuen Übersetzung. Das werde zwar den eigentlichen Inhalt nicht wesentlich verändern, könne aber zu einem neuen Verständnis der verwendeten Sprache führen. Denn schon jetzt zeige sich, dass die "stilistische Sprachkunst dieses ursprünglich griechischen Textes viel höher war als bisher angenommen", so Berkes.

Berühmte Fälschung: Das "Frau Jesu"- Papyrus

Der Versuch, das Leben Jesu zu begreifen, ist ein Thema, das nach wie vor viele fasziniert. Entdeckungen und Erkenntnisse, die potentiell mehr über die zentrale Figur des Christentums verraten, stoßen auf ein breites öffentliches Interesse.

Ein berühmter Fall geht auf das Jahr 2012 zurück, als die Harvard-Professorin Karen L. King ein Papyrusfragment vorstellte, das ein Zitat Jesu enthielt, in dem dieser sich auf seine "Frau" bezieht.

In der christlichen Theologie gibt es schon lange die Behauptung, dass Jesus mit Maria Magdalena verheiratet war, die laut den kanonischen Evangelien eine seiner engsten Anhängerinnen war. Diese Idee wurde auch von Dan Brown in seinem Bestseller "The Da Vinci Code" (2003) aufgegriffen.

Es gibt jedoch keine tatsächlichen historischen Beweise dafür. Der berüchtigte Papyrus, der 2012 für Schlagzeilen sorgte, erwies sich als Fälschung, wie der Journalist Ariel Sabar in einer Untersuchung nachwies. 2020 erschien sein Buch: "Veritas: A Harvard Professor, a Con Man and the Gospel of Jesus's Wife".

Walter Fritz, der Mann, von dem man annimmt, dass er das "Frau Jesu"-Papyrus gefälscht hat, war ein Deutscher, der sein Studium der Ägyptologie in Berlin abgebrochen hatte und sich in Florida auf verschiedene Unternehmungen einließ, unter anderem als Autoteile- und Kunsthändler sowie als Internetpornograf - was der ganzen Geschichte eine etwas surreale Komponente verlieh.

Berkes betont: "Es handelte sich um eine sehr sorgfältig konstruierte Fälschung, aber viele Handschriftenexperten erkannten von Anfang an, dass etwas faul war."

Wie die Papyrussammlung der Universität Hamburg entstand

Und wie können Berkes und Macedo sicherstellen, dass ihr Fund echt ist?

Ihr Schriftstück wurde in der etablierten Sammlung der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky State and University Library Hamburg gefunden. Die Sammlung wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch das deutsche "Papyruskartell" erworben, das den Auftrag hatte, Papyri aus Ägypten für Museen und Bibliotheken in Deutschland zu kaufen.

Die Forscher hätten sich damals, so Berkes, zunächst auf die Untersuchung der besser erhaltenen Manuskripte und Bücher konzentriert. Kleinere Schriftstücke wurden oft zur Seite gelegt. Mit einer systematischen Katalogisierung begann man erst zu Beginn dieses Jahrhunderts.

Von den über eintausend Papyrusfragmenten der Hamburger Universität ist etwa ein Drittel katalogisiert und in digitaler Form verfügbar - und genau dort haben die beiden Forscher das aktuelle Fragment auch entdeckt.

"Dies war, um ehrlich zu sein, nur ein Nebenprojekt, das sich dann als etwas Großes herausgestellt hat", sagt Berkes. Und fügt hinzu, dass es in den Sammlungen weltweit zehntausende solcher Fragmente gäbe, die nur darauf warteten, untersucht zu werden. "Ich kann es nicht garantieren, aber ich glaube, dass es noch weitere ähnliche Fragmente gibt." Wenn er Glück habe, werde er noch etwas finden, sagt er, aber das habe mit Ausdauer und auch mit Glück zu tun.

Aus dem Englischen von Petra Lambeck.

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Image caption Szene aus der Kindheit Jesu - gemalt von John Everett Millais im 19. Jahrhundert
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Item 58
Id 69479131
Date 2024-07-01
Title Euro 2024: Warum das EM-Trikot Adidas und Nike Millionen wert ist
Short title Euro 2024: Das EM-Trikot ist Adidas und Nike Millionen wert
Teaser Für Trikotsponsoring geben Sporthersteller wie Adidas im Jahr hunderte Millionen Euro aus. Aber lohnt sich das überhaupt? Und hat der Werbecoup von Check24 dem Geschäft geschadet?
Short teaser Für Trikotsponsoring geben Sporthersteller wie Adidas im Jahr hunderte Millionen Euro aus. Lohnt sich das überhaupt?
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Fußball ist eine riesige, milliardenschwere Geldmaschine. Das fängt schon bei den Trikots an. Einigen Unternehmen ist es sehr viel Geld wert, den Fußball als Zugpferd zu nutzen. Dabei geht es darum, ihre Marke bekannter zu machen, ihr Image zu verbessern und Kunden zu gewinnen. So zahlen großen Sportartikelhersteller wie Adidas oder Nike hunderte Millionen dafür, die Spieler mit Trikots auszustatten. Im Gegenzug darf ihr Logo auf den Trikots erscheinen und sie hoffen darauf, dass sich auch andere Sportprodukte ihrer Marke besser verkaufen lassen.

Adidas gegen Nike: Der teure Kampf um den DFB

Trikotwerbung ist für Fußballclubs eine sehr lukrative Einnahmequelle. "Trikots gelten als die Hauptartikel, mit denen sich die Fans ausstatten. Daher spielen sie im Merchandising von Vereinen und Nationalmannschaften die größte Rolle", sagt Peter Rohlmann, Berater für Sportmarketing. Keine andere Nationalmannschaft bekomme so hohe Sponsoringverträge für die Trikotausrüstung wie die deutsche, sagt Rohlmann gegenüber DW.

Adidas hat seit über 70 Jahren den Deutschen Fußballbund (DFB) ausgerüstet. Da Nike bereit ist, noch viel tiefer in die Tasche zu greifen, wird der Konkurrent ab 2027 Adidas als Ausrüster ablösen. Wie hoch genau die Beträge sind, ist unklar. Alle Seiten hätten sich auf Vertraulichkeit verpflichtet, heißt es auf der Internetseite des DFB. Das Angebot von Nike habe man nicht ablehnen können, so der DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig. Nach Berichten von Medien wie dem Handelsblatt habe Adidas zuletzt um die 50 Millionen gezahlt, Nike werde künftig das doppelte investieren.

Rekordverträge für Clubs: So viel zahlen Adidas und Nike

Noch mehr werde an die Clubs gezahlt, so Rohlmann. So soll Adidas seinen Zehnjahresvertrag mit Manchester United für umgerechnet rund 120 Millionen Euro verlängert haben. An Real Madrid zahle Adidas sogar an die 150 Millionen Euro. Diese höheren Summen ergeben sich daraus, dass diese Clubs im Jahr mindestens vier Mal so viele Spiele haben wie die Nationalmannschaft. Insofern sind die Trikots dann auch öfter auf dem Spielfeld zu sehen.

Rohlmann ist überzeugt: "Kein Sportartikelhersteller wird diese Summe verdienen können durch Verkäufe". Es gehe zum großen Teil um Imagegewinne. Zumal besonders bei der Nationalmannschaft ja noch die Gefahr besteht, dass sie früh ausscheidet.

"Ob sich das Sponsoring für die Unternehmen wirklich lohnt, ist mehr denn je fraglich", analysiert Professor Markus Voeth von der Universität Hohenheim: "Direkte Kaufwirkungen werden so kaum ausgelöst. Nur rund zwölf Prozent der Befragten schauen vor allem nach Marken, die die EM sponsern, wenn sie Produkte oder Dienstleistungen einkaufen."

Die Partnerschaften mit den großen Verbänden hätten die Erwartungen der Hersteller, die es vor 15 Jahren gegeben habe, nicht erfüllt, sagte Adidas-Chef Bjørn Gulden der Frankfurter Sonntagszeitung (9. Juni 2024). "Die Ausrüster machen mit diesen Verträgen allesamt Verluste, wenn man es rein kommerziell betrachtet. Damals dachte man, die Trikotverkäufe würden durch die Decke gehen, aber sie sind nicht durch die Decke gegangen", so Gulden. "Das ist ja auch logisch. Nehmen wir an, Deutschland gewinnt die Europameisterschaft. Kauft dann die ganze Welt Deutschland-Trikots? Nein, das machen hauptsächlich die Deutschen."

Check24 und die Marketingstrategie: Trikots umsonst, Daten als Währung

Das Preisvergleichsportal Check24 gehört nicht zu den Hauptsponsoren der Europameisterschaft. Ganz ohne Geld an den DFB zu bezahlen, hat es Check24 geschafft, am Fußball-Geschäft teilzuhaben. Die Idee: Trikots einfach verschenken. Das darauf das offizielle DFB-Logo fehlte - egal. Zu sehen sind ein Bundesadler, das Logo des Herstellers Puma und - besonders groß auf der Brust - das Logo von Check24.

Interessierte bezahlten mit ihren Daten: Adresse, Telefon, Email. Dann wurde ihnen das Trikot in der gewünschten Größe zugestellt. Nach rund fünf Millionen Trikots beendete Check24 die Aktion.

Gegenüber dem Magazin Finance Forward sagte Check24-Gründer Henrich Blase, es handele sich um die größte Marketingaktion in der Geschichte des Unternehmens.

Wie teuer die war, kann Sascha Raithel von der Freien Universität Berlin nur schätzen. Er geht davon aus, dass Herstellung und Versand mindestens zehn Euro pro Trikot gekostet haben dürften. "Bei fünf Millionen Trikots wären wir da bei einem Minimum von 50 Millionen Euro - nur für die Herstellung der Trikots und für die Logistik."

Außerdem habe Check24 noch Werbemaßnahmen unter anderem über die diversen Fernsehkanäle durchgeführt. Das könnte sich auf 100 Millionen Euro summieren, so der Professor für Marketing.

Check24 im Fokus: Daten, Downloads und Medienaufmerksamkeit

Im Gegenzug ist Check24 in aller Munde, in den Medien und auf vielen deutschen Körpern zu sehen. Die Check24-App war wochenlang auf Platz eins der Download-Charts. Und Check24 bekommt sehr viele Daten. Die kann das Unternehmen direkt nutzen, in dem es potenzielle Kundinnen und Kunden anspricht. Außerdem würden sich solche Daten gut an andere Unternehmen verkaufen lassen, so Rohlmann.

Check24 bietet im Internet Preisvergleiche für Versicherungen, Finanzdienstleistungen, Energie, Telekommunikation, Reisen, Shopping und andere Dienstleistungen an. Für Nutzer ist das Angebot kostenfrei, das Unternehmen finanziert sich über Provisionen aus den vermittelten Geschäften.

Die größte Gefahr sehe er für Check24 darin, wenn es keine weiteren Aktionen gebe, meint Marketing-Professor Raithel. "Wenn man dann keine sinnvolle Nachfolgeaktion hat, um die Kunden quasi bei der Stange zu halten, dann ist die Gefahr sehr groß, dass ein großer Teil dieses Investments aus dem Fenster geworfen ist. Die Leute vergessen das Ganze und es kommt zu keiner Kundenbindung."

Adidas bleibt stark: Verkaufserfolge trotz Check24-Aktion

Nach einer Umfrage der Universität Hohenheim wollte sich jede oder jeder Fünfte ein Trikot der Nationalmannschaft kaufen. Ob Adidas durch die Aktion weniger Trikots verkauft hat, ist fraglich. Am beliebtesten waren bisher die weißen Adidas-Trikots der Nationalmannschaft. "Das pinke Trikot ist das am besten verkaufte Auswärtstrikot in der Geschichte aller DFB-Trikots", bestätigte Adidas-Sprecher Oliver Brüggen gegenüber zdf heute. Da die Trikots zwischenzeitlich teilweise ausverkauft waren, war die Nachfrage offenbar größer als erwartet.

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Image caption Für das Fußball Trikot zur Europameisterschaft 2024 hat Check24 Millionen bezahlt - der DFB hat davon nichts bekommen
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Item 59
Id 69528029
Date 2024-07-01
Title Facebook und Instagram riskieren EU-Strafzahlung
Short title Facebook und Instagram riskieren EU-Strafzahlung
Teaser Wer bei den Social-Media-Töchtern des US-Konzerns Meta Herr seiner privaten Daten bleiben will, muss dafür ein Abo abschließen. Doch das Bezahlmodell verstößt offenbar gegen EU-Recht. Damit drohen hohe Bußgelder.
Short teaser Das Abo-Modell der Social-Media-Töchter des US-Konzerns Meta verstößt offenbar gegen EU-Recht. Es drohen hohe Bußgelder.
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Die EU-Kommission hat weitere Vorwürfe gegen den US-Digitalkonzern Meta erhoben. Mit seinem Bezahlmodell auf den Plattformen Facebook und Instagram verstoße das Unternehmen gegen europäisches Wettbewerbsrecht, teilte die Kommission in Brüssel in einer vorläufigen Stellungnahme mit. Sie geht davon aus, dass Meta seine Nutzenden zur Freigabe persönlicher Daten zwingt und so große Datenmengen erhebt, die dem Konzern einen Wettbewerbsvorteil verschaffen.

Meta hatte im November eine kostenpflichtige Abo-Option für Facebook und Instagram eingeführt: Nutzerinnen und Nutzer müssen eine monatliche Gebühr von 9,99 Euro auf Desktop-Computern zahlen, wenn sie keine Werbung mehr auf den beiden Social-Media-Plattformen sehen wollen. Für Smartphone-Nutzer ist das Abonnement sogar noch drei Euro teurer.

Kostenfrei ist das Social-Media-Angebot der Meta-Töchter nur für User, die personalisierte Werbung in ihrem Account akzeptieren. Dieses Modell hatte die EU-Datenschutzbehörde EDPB aus Verbraucherschutzgründen bereits im April für unzulässig erklärt.

Keine freie Entscheidung möglich

Die Kommission schloss sich dieser Einschätzung nun an. Das Abo-Modell "zwingt die Nutzenden, der Verarbeitung ihrer persönlichen Daten zuzustimmen und beraubt sie einer weniger personalisierten, aber gleichwertigen Version der sozialen Netzwerke von Meta", erklärten die Wettbewerbshüter.

Nutzende der Plattformen Facebook und Instagram könnten damit nicht frei entscheiden, ob Meta ihre Daten für personalisierte Werbung verwenden darf. "Wir wollen den EU-Bürgern ermöglichen, mehr Macht zur Kontrolle über ihre Daten zu erlangen", sagte EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager.

Wegen der großen Reichweite der beiden Plattformen könne Meta den Nutzenden bislang beliebige Geschäftsbedingungen aufdrücken und so große Datenmengen anhäufen, so die Kommission. Das habe dem Konzern "potenzielle Vorteile gegenüber Konkurrenten verschafft, die keinen Zugang zu einer so großen Menge an Daten haben". Zusätzlich zu den Bedenken beim Verbraucherschutz geht Brüssel deshalb davon aus, dass Meta gegen EU-Wettbewerbsrecht verstößt.

Die aktuelle Stellungnahme vom Montag ist ein weiterer Schritt im Verfahren gegen Meta nach dem Gesetz für digitale Märkte (Digital Markets Act, DMA), mit dem die Europäische Union die Marktmacht großer Digitalkonzerne einschränken will. Die Kommission muss ihre Ermittlungen bis Ende März nächsten Jahres abschließen. In der Folge drohen Meta Strafen in Höhe von bis zu zehn Prozent des weltweiten Jahresumsatzes - gemessen am vergangenen Jahr entspräche das einer Maximalstrafe von rund 12,5 Milliarden Euro.

AR/kle (afp, ap, rtr, dpa)

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Image caption Facebook- und Instagram-Apps auf einem Smartphone: Gratis nur mit personalisierter Werbung
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Item 60
Id 69409388
Date 2024-06-30
Title Natur und Umwelt: Was Bäume für Menschen und Klima tun
Short title Natur und Umwelt: Was Bäume für Menschen und Klima tun
Teaser Bäume sind toll. Sie spenden Sauerstoff und Schatten, liefern Holz und Obst - und sind wichtige Verbündete gegen die Klimakrise. Warum wir Bäume brauchen.
Short teaser Bäume spenden Sauerstoff und Schatten, liefern Holz und Obst - und sind wichtige Verbündete gegen die Klimakrise.
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Was genau sind Bäume? Biologisch gesehen: langlebige Pflanzen, die einen verholzten Stamm und Äste haben und besonders hoch werden können. Vor allem aber sind Bäume für uns Menschen überlebenswichtig. Denn sie erbringen ganz viele sogenannte Ökosystemdienstleistungen. Das sind laut Definition "direkte oder indirekte Beiträge der Ökosysteme zum menschlichen Wohlergehen".

Die Ökosystemdienstleistungen der Bäume

Als Obstbäume versorgen uns Bäume mit Nahrung: von Äpfeln, Avocados, Datteln, Nüssen oder Oliven bis hin zu Zitrusfrüchten - und natürlich ganz vielen weiteren Sorten.

Ohne Holz wäre die Menschheit zudem vermutlich nicht besonders weit gekommen. Schon die berühmte, 5300 Jahre alte Eis-Mumie namens Ötzi hatte einen Bogen aus dem Holz der Eibe (taxus baccata) im Gepäck. Holz dient uns als Baumaterial, zur Herstellung von Möbeln, Instrumenten, Papier, Textilfasern wie Viskose und auch als Brennmaterial.

Bäume sorgen für gute Luft, gutes Wasser und weniger Lärm

Um zu wachsen, betreiben Bäume die sogenannte Photosynthese. Dabei nehmen Bäume das klimaschädliche Treibhausgas Kohlendioxid (CO2) aus der Luft auf und verwandeln es mit Hilfe von Sonnenlicht in Zucker. Den braucht der Baum als Energielieferant zum Wachsen. Ein Nebenprodukt der Photosynthese ist der Sauerstoff, ohne den wir auf unserem Planeten nicht überleben könnten.

Wie viel Sauerstoff genau produziert wird, hängt von Art und Alter des Baumes ab. Immergrüne Nadelbäume produzieren fortwährend Sauerstoff, Laubbäume nur dann, wenn sie Blätter tragen. Eine ausgewachsene Buche ist mehreren Quellen zufolge in der Lage, pro Jahr zehn Menschen mit Sauerstoff zu versorgen. Pro Jahr filtern ihre Blätter zudem gut eine Tonne Staub, Bakterien und Pilzsporen aus der Luft.

Bäume sind auch perfekte Klimaanlagen. Mit ihren Blättern spenden sie Schatten, schützen vor UV-Strahlung, und sie kühlen ihre Umgebung ab. Unsere Buche verdunstet pro Tag 400 bis 500 Liter Wasser über ihre Blätter und kühlt dadurch ihre Umgebung um drei bis sechs Grad herunter.

Apropos Wasser: Über ihre Wurzeln speichern Bäume den Regen im Boden und geben ihm auch in Hanglagen und bei starken Niederschlägen festen Halt. Sie filtern dabei den Regen und sorgen so für sauberes Grundwasser. Durch ihre Blätter dämpfen Bäume außerdem den Lärm in Städten.

Alte Bäume sind enorme CO2-Schlucker

Holz ist nicht nur ein nachwachsender Rohstoff, in ihm ist auch klimaschädliches CO2 gebunden, das Bäume bei der Photosynthese aus der Luft saugen. Außerdem speichern Bäume das Klimagas über ihre Wurzeln im Boden.

Nach wissenschaftlichen Schätzungen sind allein in den Wäldern in Deutschland rund 4,3 Milliarden Tonnen CO2 gebunden. Zusätzlich entziehen sie der Atmosphäre aktiv rund 52 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr. Zum Vergleich: Im Jahr 2023 erreichten die weltweiten Emissionen von fossilem CO2 36,6 Milliarden Tonnen.

Manche Bäume schlucken mehr CO2 als andere. So speichern Buchen laut der Umweltorganisation Greenpeace im Laufe von 100 Jahren fast eine Tonne mehr CO2 als Fichten derselben Größe. Und je älter ein Baum ist, desto mehr CO2 kann er aufnehmen. Wird Holz verbrannt oder verrottet, entweicht das Treibhausgas wieder in die Atmosphäre.

Ohne Bäume keine Eichhörnchen - und andersrum

Jeder Baum bietet viele kleine Lebensräume. An einer alten Eiche oder Buche leben rund 200 verschiedene Arten wie Insekten oder Spinnen. Die wiederum dienen Vögeln, Fledermäusen oder Eichhörnchen als Nahrung, die an Bäumen auch ihre Nist- und Schlafplätze finden.

Anders gesagt: Ohne Bäume könnten wir also vermutlich kaum Vögel singen hören und keine Eichhörnchen beobachten. Und ohne Eichhörnchen oder Vögel würden weniger Bäume wachsen, denn sie verbreiten die Früchte verschiedener Bäume.

Waldbaden: Wie Wald und Bäume unseren Stress mindern

Noch ist nicht genau bekannt, wie es funktioniert, aber ein Aufenthalt im Wald - neumodisch auch: Waldbaden - tut uns gut. Laut wissenschaftlicher Literatur kann er antidepressiv und stressmindernd wirken, unsere kognitiven Funktionen verbessern sowie unser Herz-Kreislauf- und Immunsystem stärken. Unser ganzer Körper scheint im Wald auf Regeneration umzustellen.

Möglicherweise sind daran sekundäre Pflanzenstoffe beteiligt, sogenannte Phytonzide. Diese nehmen wir über die Lunge aus der Waldluft auf. In Studien hemmten sie das Wachstum von Leberkrebszellen und steigerten die Aktivität menschlicher Killerzellen, also unserer Körperabwehr. Noch sind die Studien zwar nicht aussagekräftig genug, aber dass sich der Wald mit seinen Bäumen positiv auf die menschliche Gesundheit auswirkt, wurde immer wieder gemessen.

Zu guter Letzt noch zwei Rekorde: Als höchster Baum gilt aktuell mit 115,55 Metern "Hyperion", ein Küstenmammutbaum in Kalifornien. Und als ältester Baum eine Fichte auf dem Berg Fulu Schweden; sie wird auf ein Alter von 9550 Jahren datiert. Sind Bäume nicht einfach toll?

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Image caption Obstbäume liefern uns nicht nur Nahrung, sie erfreuen auch das Auge mit ihrer Blütenpracht und tragen mit ihren Blüten zur Honigproduktion bei
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Item 61
Id 69501394
Date 2024-06-28
Title Rumänien: Festival der Künste und der Freundschaft
Short title Rumänien: Festival der Freunde und der Künste
Teaser Das mittelalterliche Hermannstadt, rumänisch Sibiu, platzt aus allen Nähten, denn auch in diesem Jahr lockt das internationale Theaterfestival mit über 830 Events Hunderttausende Besucher aus dem In- und Ausland an.
Short teaser Das internationale Theaterfestival in Hermannstadt, rumänisch Sibiu, lockt Besucher aus dem In- und Ausland an.
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5000 Künstler aus 82 Ländern, darunter Stars wie Tim Robbins, John Malkovich, Isabelle Adjani, Jon Fosse, Susanne Kennedy, Pippo Delbono, Theodoros Terzopoulos oder Anne Teresa de Keersmaeker laden zu Theater- oder Tanzvorstellungen, zu Konferenzen und Begegnungen unterschiedlichster Art ein. Manche haben schon einen Stern auf dem Hermannstädter Walk of Fame, andere bekommen ihn am Wochenende.

Sie kehren als Freunde zurück

Jedes Jahr findet das Festival FITS unter einem anderen Motto statt, das diesjährige Thema scheint passender als alle anderen davor: Freundschaft. Denn wäre das, was man in dieser wundervollen historischen Kulisse Jahr für Jahr erlebt, ohne Freundschaft überhaupt denkbar? Dieses Fest der Künste, betont Festivalgründer und Intendant Constantin Chiriac immer wieder, sei in den letzten drei Jahrzehnten stets gewachsen durch seine Freunde - bedeutende Künstlerinnen und Künstler aus aller Welt, die gerne wiederkommen, genauso wie das Publikum. So kehrten Tim Robbins und Pippo Delbono nach Hermannstadt zurück und zeigten gleich am Eröffnungstag die Weltpremieren ihren neuesten Stücke.

Theater mit Botschaft

"Il Risveglio" ("Das Erwachen"), eine Produktion des Emilia Romagna Teatro und des Teatro Nationale, ist ein sehr poetisches und persönliches Werk des italienischen Künstlers Pippo Delbono, Jahrgang 1959, über das, was ihn und seine Generation bewegt: Da war Ende der 1960er-Jahre der Wunsch, die Welt zu verändern und in Frieden zu leben - doch heute gibt es immer noch Kriege, und die Welt ist polarisiert wie lange nicht mehr. Um so wichtiger das Motto des Festivals, mehr Wert auf Freundschaft und Verständigung, auf Liebe, Musik und Kunst zu legen.

Der amerikanische Oscar-Preisträger Tim Robbins verlas in der Eröffnungsgala mit dem traditionsreichen rumänischen Madrigal-Chor zwei Hymnen an die Freundschaft, speziell für dieses Festival gedichtet. "Eine griechische Tragödie ist diese moderne Welt, in der wir leben / die Bruder gegen Bruder aufbringt / während Freunde Freunde verlieren in der ganzen Welt ", klagt Robbins und appelliert an die Freundschaft: "Was uns trennt in dem Chaos des Lebens ist ephemer, / aber beständig ist die Kraft unserer Freundschaft."

Anschließend folgte unter seiner Regie die Welturaufführung seines eigenen Stückes "Aphrodite and the Liberation of the World (a musical Greek Vaudeville)" / "Aphrodite und die Befreiung der Welt (ein griechisches Musik-Vaudeville)", in dem es um die zurückliegende Corona-Pandemie geht und Liebe und Freundschaft beschworen werden, als rettende Werte unser Zeit.

Geschichte der deutschen Minderheit in den letzten Jahrhunderten

Aktuelle Geschehen sowie politische und soziale Themen stehen immer im Mittelpunkt der Darbietungen, Konferenzen und Debatten des FITS. Auch europäische sowie lokale Kultur und Geschichte rücken hier, in einer von vielen Ethnien geprägten Region, in den Fokus.

So erzählt Thomas Perles Stück "karpatenflecken" in einer Inszenierung von Mira Stadler am Burgtheater Wien von der bewegten Geschichte der deutschen Minderheit in den letzten Jahrhunderten im heutigen Rumänien, von Faschismus, Kommunismus und Diktatur bis hin zum Traum von einer neuen Heimat in Deutschland und der exodusartigen Auswanderung Anfang der 1990er-Jahre.

Es geht um Heimat, um Verlust, um Sehnsucht und Hoffnung. Um das Mit- und Füreinander in einer multikulturellen Gesellschaft. "Das Stück ist von meiner eigenen Biographie inspiriert", sagt der 37-jährige Autor im DW-Gespräch. Thomas Perle stammt aus Oberwischau (rumänisch: Viseul de Sus), im Norden Rumäniens, wanderte 1991 mit seiner Familie nach Deutschland aus und hat nicht nur deutsche, sondern auch ungarische, jüdische und rumänische Wurzeln. Sein Stück greife auch die Flüchtlingskrise 2015 auf, sagt er.

"Und da der Begriff Heimat so oft missbraucht wird, bin ich auf das Wort Wurzelort gekommen", erzählt der mit dem Nestroy-Preis 2023 und Retzhofer Dramapreis ausgezeichnete deutsche Autor. "Meine Eltern haben dieses Land wegen einer besseren Zukunft für ihre Kinder verlassen. Jetzt habe ich eine bessere Zukunft und komme immer wieder zurück, weil mir eben der Bezug zu diesem Ort auch den Erfolg verschafft", so Perle. Sein Stück wurde 2021 am Deutschen Theater Berlin uraufgeführt.

Zwei deutschsprachige Bühnen in Rumänien

"Was ursprünglich ein Minderheitentheater war, ist heute eine moderne, experimentelle europäische Bühne", sagt Hunor Horvath, Leiter der Deutschen Abteilung des Hermannstädter "Radu Stanca"-Nationaltheaters, der DW.

Fünf Produktionen auf Deutsch seien im Festivalprogramm in diesem Jahr dabei, ergänzt der Regisseur stolz. "Woyzeck" unter seiner Regie wurde sogar für den diesjährigen rumänischen Theaterpreis UNITER nominiert. Dasselbe gilt für die sehr frische und flotte Inszenierung des Romans von Wolfgang Herrndorf "Tschick" am Deutschen Staatstheater Temeswar, das auch das Publikum beim FITS-Festival begeisterte. Denn Rumänien besitzt zwei deutsche Bühnen.

Blick ins Jahr 2025

Mit Spannung erwartet wird ein Stück der Künstlergruppe Rimini Protokoll über die deutsche Minderheit in Rumänien. Sie soll nächstes Jahr beim Festival als Produktion der Deutschen Abteilung sowie in Karlsruhe gezeigt werden. "Da geht es um die Nachfahren der Deutschstämmigen, die vor 1989 in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt sind, die häufig vom kommunistischen Regime regelrecht verkauft wurden und über die Wirkung der Migration in diesen Familien", erklärt Joachim Umlauf, Leiter des Goethe-Instituts Bukarest - eine der Institutionen, die dieses umfassende Projekt unterstützen.

Künstlerischer Austausch des Theater-Nachwuchses

"New Stages South-East" ist ein weiteres vom Goethe-Institut gefördertes Theaterprojekt, in Zusammenarbeit mit dem Theater Oberhausen. Ziel sei es, den Austausch zwischen jungen osteuropäischen Theaterschaffenden anzuregen, aber auch den Dialog zwischen Ost und West in Europas Theaterlandschaft, betont Umlauf nach einer Podiumsdiskussion bei FITS zu diesem in der Pandemie entstandenen Projekt. Junge Künstler aus sieben europäischen Ländern (Rumänien, Bulgarien, Zypern, Griechenland, Bosnien, Kroatien und Serbien) tauschen Erfahrungen aus und schreiben anschließend Stücke zu aktuellen politischen und sozialen Themen. Einige davor wurden in Deutschland und anderen Ländern bereits aufgeführt.

"Ein Festival voll Energie und wunderbarer Menschen"

FITS ist mehr als Theater, es ist ein bedeutendes Festival der Künste mit hochkarätigen Straßenperformances, Zirkus, Tanz und Konzerten aller Musikrichtungen, von Pop bis Fado, Tango, Flamenco, Gospel und Orgel, mit Veranstaltungen in Theatersälen und Kirchen aller Konfessionen.

Der auch in Deutschland sehr erfolgreiche Choreograf Po-Cheng-Tsai und seine Tanztruppe B. Dance gehörten zu den Highlights in diesem Jahr. Nach der "Alice"-Aufführung, eine beeindruckende Darbietung von Perfektion und Ästhetik, zeigte sich Po-Cheng-Tsai überaus begeistert vom Festival und Publikum in Hermannstadt. "Ich war in Avignon und Edinburgh, aber hier gibt es einen ganz anderen Vibe, voller Energie, dazu die wunderbaren Menschen. Wir kommen sicherlich wieder", verspricht der Choreograf im DW-Gespräch.

Eine weitere neue Freundschaft, die 2024 in Hermannstadt entstanden ist. Auch Tim Robbins versprach, wieder zu kommen und hier das 45. Jubiläum seiner Schauspieltruppe "The Actor´s Gang" zu feiern - als Zeichen seiner Freundschaft.

Das Festival geht Sonntagnacht mit einer großen Drohnen- und Lasershow zu Ende.

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Image caption Viel Applaus gab es für das Stück "karpatenflecken"
Image source Medana Weident/DW
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Item 62
Id 69490979
Date 2024-06-28
Title "Becoming Karl Lagerfeld": Modemacher als Serienheld
Short title "Becoming Karl Lagerfeld": Modemacher als Serienheld
Teaser Eine französische Miniserie feiert den deutschen Modezaren Karl Lagerfeld, Daniel Brühl brilliert in der Hauptrolle. Es geht nicht nur um Haut Couture, sondern auch um eine leidenschaftliche Liebesbeziehung.
Short teaser Eine französische Miniserie feiert den deutschen Modezaren Karl Lagerfeld. Daniel Brühl brilliert in der Hauptrolle.
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Wer sagt, der Prophet gelte nichts im eigenen Lande? Erst vor wenigen Wochen entschied der Hamburger Senat die Umbenennung eines Straßenabschnitts am Alsterfleet (Neuer Wall 55 bis Neuer Wall 75) in Karl-Lagerfeld-Promenade. Zwar ist er nur 150 Meter lang, liegt aber sehr zentral und sogar in der Nähe von "Felix Jud", dem Lieblingsbuchladen Karl Lagerfelds. Der gebürtige Hamburger war bekanntlich ein Büchernarr.

Währenddessen widmen ausgerechnet die Franzosen, die der deutschen Modekunst gegenüber sonst eher skeptisch gegenüberstehen, dem Modeschöpfer einen Blockbuster: "Becoming Karl Lagerfeld".

Hinter dem Projekt steht ein französisches Traditionsunternehmen: der Filmkonzern "Gaumont S.A.", gegründet 1895, eines der ältesten Filmproduktionsunternehmen der Welt. Und das ist auch gut so, findet Filmreporterin Simone Schlosser, eine der führenden deutschen Serienexpertinnen, im DW-Gespräch. "Es wäre komisch, das Ganze aus der deutschen Sicht zu machen - schließlich hat Lagerfeld fast sein ganzes Leben in Frankreich verbracht."

Ein Deutscher in Paris

Die ersten sechs Folgen sind seit Anfang Juni beim Streaming-Anbieter "Disney+" zu sehen und sollen im Erfolgsfall der Anfang einer wesentlich längeren Produktion werden. Der Regisseur Jérôme Salle und das Team der Drehbuchautorinnen arbeiteten sich zunächst durch eine Dekade des ereignisreichen Lagerfeld-Lebens: von Anfang der 1970er- bis Anfang der 1980er-Jahre. Die vorübergehend letzte Folge endet mit einem schicksalsträchtigen Fax im Juni 1981, in dem Lagerfeld eingeladen wird, das renommierte Maison Chanel als neuer "directeur artistique" zu übernehmen.

Man könnte sagen: Da fängt aber alles erst an! Man könnte aber auch sagen: Eigentlich wäre es ziemlich spannend gewesen, den ganz jungen Karl zu sehen, der als 19-jähriges Kriegskind aus dem nicht gerade beliebten Deutschland (geboren 1933, im Jahr von Hitlers Machergreifung, in einer gutbetuchten hanseatischen Unternehmerfamilie) nach Paris kommt und sich zum Chefdesigner führender Häuser der Welthauptstadt der Mode emporarbeitet. Aber oft liegt die große Kunst eben im Weglassen, das gilt für Modeschöpfer wie für Serienmacher.

Intrigen, Sex, Mode - und die "Stadt der Liebe"

Wir haben also ein spannendes Setting: das Paris der 1970er-Jahre. Die Modebranche boomt, es gibt viele Partys, viele Drogen, und fast jeder schläft mit jedem. Malertochter Paloma Picasso gibt den Ton im Jetset an, Andy Warhol schaut vorbei, hinter verschlossenen Türen ihres Boudoirs zelebriert Marlene Dietrich (Sunny Melles) ihre selbstgewählte Einsamkeit. Und es gibt einen jungen Wilden, ein Genie, um den sich die Modewelt dreht: Yves Saint Laurent (Arnaud Valois). Labil, exzentrisch, sehr französisch - ein Gegenpart zum zwar exzentrischen, aber geschäftstüchtigen und irgendwie sehr deutschen Karl Lagerfeld (Daniel Brühl).

Yves und Karl sind zwei Gegensätze, die sich anziehen, Widersacher und Vertraute. Sie konkurrieren miteinander - und können nicht voneinander lassen. Erst recht nicht, als der verführerisch schöne Dandy Jacques de Bascher (Théodore Pellerin) dazwischenfunkt. Bascher, die große Liebe Lagerfelds, hat auch eine leidenschaftliche Affäre mit Yves Saint Laurent. Allein diese Dreieckbeziehung wäre natürlich eine Serie wert.

Ist Mode in Mode gekommen?

"Becoming Karl Lagerfeld" ist schon die dritte Serie über einen Modeschöpfer, die seit Anfang 2024 auf den internationalen Streaming-Markt kommt. Bereits Anfang des Jahres sind Serien über den spanischen Modeschöpfer Cristóbal Balenciaga (nach ihm benannt) sowie "The New Look", eine Produktion, bei der Christian Dior und Coco Chanel im Mittelpunkt stehen, angelaufen. Zufall?

Zum Teil schon, meint die Serienexpertin Simone Schosser. Aber eben nur zum Teil, denn die Produktionen folgen einem Trend: "Alle haben eine interessante Hauptfigur, die in gewisser Weise nicht den Mainstream des 'alten weißen Mannes' verkörpert. Das sind zum Beispiel queere Persönlichkeiten. Das heißt, man kann darüber auch wieder Identität verhandeln." Gleichzeitig würden gerade Modeserien eine zeittypische Form des Eskapismus bedienen, so Schlosser: "Denn die haben alles, was wir so brauchen - es ist eine Faszination für Geschichten, den historischen Hintergrund, schöne Kostüme und Ausstattung. Man taucht in eine andere Welt ein, die Welt der Laufstege, der Ateliers, die einem sonst ja fern ist."

Daniel Brühl verwandelt sich in Karl Lagerfeld

"Becoming Karl Lagerfeld" habe aber etwas, was die anderen Serien nicht haben: den Hauptdarsteller Daniel Brühl. "Ich finde Brühl als Lagerfeld schlicht großartig!", stimmt Simone Schlosser in die internationalen Lobeshymnen ein. Auch wenn der eher sanft wirkende "Good bye, Lenin"-Star, ein Halbspanier, auf den ersten Blick rein gar nichts mit dem schnodderigen Modezar aus dem deutschen Norden gemein habe.

Es sei faszinierend, Brühl bei seiner Verwandlung zuzusehen: "Am Anfang hat sein Lagerfeld ja noch nichts Ikonisches - keinen Pferdeschwanz, Fächer oder Sonnenbrille. Dann fängt es so langsam an: Die Haare werden immer länger, die Brillen irgendwie immer getönter." Und dann passiert das Wunder der Schauspielkunst: Wir sehen den Menschen Karl Lagerfeld, mit all seinen Brüchen.

Zu viele Bettszenen

Es hat sich gelohnt, dass der Schauspieler Brühl so lange seine Figur erforschte, mit Lagerfelds Freundeskreis sprach, sich seine Gesten, seine Gangart aneignete. Er und sein Filmpartner Théodore Pellerin vertieften sich so in die Rolle, dass sie auch in echt ein Liebespaar mimten. Brühl teilte seiner Frau mit, dass er nun "vorübergehend" in einen Mann verliebt sei. Als er von Pellerin einen überdimensionalen Strauß roter Rosen bekam, gestand er: "Meine Frau hat so was nie bekommen."

"Daniel Brühl spielt sehr zurückgenommen, es gibt nichts Karikaturhaftes, sondern eine Art großer Aufrichtigkeit und Wertschätzung", findet Schlosser. Wir sehen Lagerfeld als einen großen Romantiker, mitunter als tragische Figur.

Dieses Lob der Expertin gilt aber nicht für das Gesamtkunstwerk: "Ich finde, dass die Serie der Figur Lagerfeld nicht wirklich gerecht wird, es ist oft unangenehm voyeuristisch." Es geht viel um das Privatleben des Modemachers - wobei er selbst kaum darüber gesprochen hat: "Er war ja eine sehr diskrete Person."

Natürlich verband Lagerfeld und Bascher eine Liebesbeziehung, sonst hätte der reale Lagerfeld nicht Monate am Bett des AIDS-kranken Lebensgefährten verbracht (sein "Jaco" starb 1989). "Aber die Serienmacher versuchen beide immer wieder irgendwie ins Bett zu bringen, das finde ich nicht so gut", so Schlosser.

Stil muss sein - das war auch Karl Lagerfelds Gebot.

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Image caption Daniel Brühl (l.) als Modezar Lagerfeld, der Jacques de Bascher (Théodore Pellerin) verfallen ist
Image source Disney+
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Item 63
Id 69483967
Date 2024-06-27
Title Oleg Sentsovs "zufälliger" Film von der Ukraine-Front
Short title Oleg Sentsovs "zufälliger" Film von der Ukraine-Front
Teaser Der Regisseur Oleg Sentsov nimmt die Zuschauer in seinem packenden Film "Real" mit in die ukrainischen Schützengräben, nachdem er unwissentlich seine Helmkamera eingeschaltet hat.
Short teaser In einem packenden Dokumentarfilm zeigt der ukrainische Regisseur die Realität im Schützengraben.
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Oleg Sentsov kämpfte bereits gegen Moskau, bevor er sich kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 den Verteidigungskräften anschloss. Nur hatte er bis dahin statt einer Waffe seine Kamera benutzt.

Als die russischen Streitkräfte 2014 auf der Krim einmarschierten, war Sentsov vor Ort und dokumentierte die Annexion der Region. Er wurde verhaftet, nach Russland überstellt und wegen "Planung von Terrorismus" zu 20 Jahren Haft verurteilt.

Nach einer konzertierten Aktion der Europäischen Filmakademie, Amnesty International und des Europäischen Parlaments, die von Regisseuren wie Ken Loach, Pedro Almodóvarund Agnieszka Holland unterstützt wurde, kam Sentsov schließlich am 7. September 2019 im Rahmen eines ukrainisch-russischen Gefangenenaustauschs frei. Im November 2019 konnte der ukrainische Filmemacher und Menschenrechtsaktivist den Sacharow-Preis für geistige Freiheit entgegennehmen, mit dem ihm das Europäische Parlament 2018 ausgezeichnet hatte . Der nach dem russischen Dissidenten Andrej Sacharow benannte Preis ehrt Menschen, die "ihr Leben der Verteidigung der Menschenrechte und der Gedankenfreiheit gewidmet haben".

Auch hinter Gittern arbeitete Sentsov weiter. In geheimen Briefen, die sein Anwalt aus dem Gefängnis schmuggelte, inszenierte er den Film "Numbers", eine Adaption seines eigenen Theaterstücks über das Leben in einem dystopischen und völlig absurden autoritären Staat, der 2020 auf der Berlinale uraufgeführt wurde. Die Parallelen zu Sentsovs eigenem Leben waren unübersehbar.

Doch Sentsov ist kein unverbesserlicher Nationalist. Sein Spielfilm "Rhino" aus dem Jahr 2021, der bei den Filmfestspielen in Venedig Premiere feierte, wirft einen Blick auf das Chaos, das nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der Ukraine herrschte, und wie Kriminalität und Korruption das entstandene Machtvakuum füllten.

"Live" aus dem Schützengraben

"Real" jedoch ist anders als seine vorherigen Filme. Er beginnt ohne Vorwarnung. Wir befinden uns plötzlich in einem Schützengraben und hören über Funk die verzweifelte Stimme eines Soldaten in einem anderen Graben. Er wird von russischen Truppen angegriffen und braucht dringend Verstärkung. Die Stimme neben uns ist die von Sentsov, Spitzname "Grunt", der versucht, die Evakuierung der unter Beschuss stehenden Truppen und den Nachschub für seine Einheit zu organisieren. Die Munition geht zur Neige und die russischen Truppen, im Funk einheitlich "F**ker" genannt, rücken immer näher.

"Es war einer dieser sehr langen Tage. Er war Teil der lang erwarteten ukrainischen Gegenoffensive im vergangenen Sommer", erzählt Sentsov im Interview mit der Deutschen Welle. "Wir haben fast zehn Tage lang versucht, die russische Verteidigungslinie zu durchbrechen. Wir haben Ausrüstung und Waffen verloren. Aber wir waren immer noch am selben Ort. Es war offensichtlich, dass wir viele Menschen, Waffen, Fahrzeuge und alles verloren hatten. Aber selbst in diesem Moment hatten wir uns den Glauben bewahrt, dass wir etwas tun konnten."

Sentsovs Einheit war tief in feindliches Gebiet geschickt worden, ihr gepanzerter Truppentransporter wurde jedoch getroffen, die Soldaten mussten zu Fuß fliehen. Sentsov fand sich mit einer Handvoll Kameraden in einem Schützengraben wieder. Andere Einheiten waren durch feindliches Feuer eingekesselt und hatten keine Munition mehr. "Sie waren fast vollständig vom Feind umgeben, und ich war der Einzige, der Kontakt zu ihnen hatte und den höheren Befehlshabern Bericht erstatten konnte", sagt Sentsov.

Die Kamera war nur zufällig an

"Real" spielt in einer einzigen, ungeschnittenen Einstellung - eineinhalb Stunden lang -, während Oleg Sentsov immer wieder zwischen den Einheiten und dem Hauptquartier hin und her telefoniert und versucht, den Nebel des Krieges zu durchdringen und den Soldaten Hilfe zu bringen, bevor es zu spät ist. Wir sehen alles durch Sentsovs Augen, genauer: durch das Objektiv seiner Helmkamera.

Der Regisseur wollte eigentlich gar nicht filmen. Er schaltete die Kamera versehentlich ein, als er seine Ausrüstung überprüfte. Erst Wochen später, nach der Schlacht, entdeckte er das Filmmaterial auf der Speicherkarte der Kamera.

"Zuerst dachte ich, dass es sehr beliebig aussieht, dass es niemanden interessieren würde, und ich wollte es löschen", sagt er im DW-Gespräch. "Aber dann fing ich an, es mir genauer anzuschauen, und mir wurde klar, oh mein Gott, das ist ein Teil eines sehr tragischen Ereignisses, mit so vielen Menschen in den Schützengräben, abgeschnitten und von den Russen umzingelt. Unsere Freunde, meine Freunde. Die Menschen, die diesen Film sehen werden, werden vielleicht nie diese Soldaten und diese Situationen zu Gesicht bekommen, aber sie können sehen, wie dramatisch es war. Sie werden einen der schrecklichsten Tage der ukrainischen Gegenoffensive erleben."

Keine filmischen Stilmittel

"Real" kommt ohne die stilistischen Schnörkel aus, die Sentsov in seinen bisherigen Filmen benutzte. "Rhino" von 2022, der in den USA den Untertitel "Ukranian Godfather" trägt, ist ein raffinierter Gangsterthriller, der sich stark an den Filmen von Martin Scorsese und Francis Ford Coppola orientiert. Er erzählt die Geschichte vom Aufstieg und Fall eines gewalttätigen Kriminellen des titelgebenden Rhino - im Chaos der post-sowjetischen Ukraine der 1990er-Jahre.

"Numbers" von 2020, das auf einer einzigen Bühne spielt, erinnert an den theatralischen Minimalismus von Lars von Triers "Dogville" oder an Stücke von Bertolt Brecht.

In "Real" hat der Regisseur kein einziges Mal Hand angelegt. Kein Schnitt, keine Musik, keine Soundeffekte. Nichts wird über das hinaus erklärt, was wir in Echtzeit auf der Leinwand sehen und hören.

"Deshalb bezeichne ich es nicht als Film, nicht einmal als Dokumentarfilm, sondern als reines Dokument", sagt Sentsov. "Es ist ein Videodokument, das einen sehr kleinen Einblick in den Krieg gibt. Aber dieses Kriegsdokument, das mit der Kamera aufgenommen wurde, zeigt uns wirklich, wie grausam, wie dumm und - mir fehlen die Worte, um es zu beschreiben, wie sinnlos der Krieg ist.... Man bekommt eine ganz andere Vorstellung vom Krieg, wenn man ihn nur aus Kriegsfilmen kennt oder aus Dokumentationen, die so geschnitten sind, dass sie vorzeigbar sind. Da gibt es immer diese heroische Komponente, jeder will das betonen, dynamische, heroische Aktionen zeigen. Aber der wirkliche Krieg ist ganz, ganz anders."

Sentsov nennt "Real" eine "überwältigende Erfahrung. Man wird hineingeworfen und beginnt erst langsam zu verstehen, was vor sich geht. Es zieht einen wirklich in den Graben hinein."

Kriegsfilm ohne Action

Wer Action erwartet, wird enttäuscht. Stattdessen ist man gezwungen, mit der Truppe im Schützenloch zu warten, ohne zu wissen, was um einen herum passiert und wann der Feind angreifen wird. "Real" fängt die Spannung, die Langeweile und den Schrecken des Krieges gleichermaßen ein.

"Als ich jung war, habe ich den Film 'Platoon' von Oliver Stone gesehen, und in einer Szene sagt einer der Soldaten: 'Vergesst das Wort Held. Es gibt nichts Heldenhaftes im Krieg", sagt Sentsov. "Damals konnte ich das nicht verstehen, weil ich mit Filmen aufgewachsen bin, die eine ganz andere Vorstellung vom Krieg vermittelten. Jetzt, nach zweieinhalb Jahren in einem echten Kampfgebiet, muss ich sagen, dass ich dem jungen Mann im Film voll und ganz zustimme."

"Die Realität ist schmerzhaft"

Sentsov räumt ein, dass die "Wahrheit", die er in seinem Film zeigt, für viele Menschen, vor allem in der Ukraine, schmerzhaft sein könnte. Nachdem die russische Gegenoffensive im Sommer gescheitert ist, ist der Konflikt zu einem brutalen Zermürbungskrieg geworden.

"Es gibt viele Dinge über die Situation, über die Realität des Krieges, über die wir hier in der Ukraine nicht sprechen", sagt Sentsov der DW. "Wenn mich jemand fragen würde, wie lange es dauern wird, die Kontrolle über die Grenzen von 1991 wiederherzustellen und Russland militärisch zu besiegen, würde ich sagen, dass es vielleicht zehn Jahre dauern könnte, aber das wäre ein Wunder.

Anstatt so zu tun, als gäbe es die Realität nicht, so Sentsov, wäre es für die Ukraine und die Welt besser, "der Wahrheit ins Auge zu blicken, so schmerzhaft sie auch sein mag. Andernfalls werden wir unser ganzes Leben in einer Illusion verbringen, die nichts mit der Realität zu tun hat, mit der wirklichen Situation, die vor uns liegt."

"Real" feiert am 30. Juni 2024 beim Internationalen Filmfestival im tschechischen Karlsbad Premiere.

Dieser Artikel erschien ursprünglich in englischer Sprache. Adaption: Silke Wünsch

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Image caption Ein Standbild aus Oleg Sentsovs "Real" vermittelt den Zuschauern die Realität des Krieges
Image source Cry Cinema
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Item 64
Id 68691661
Date 2024-06-26
Title Nitazene sind stärker und tödlicher als Heroin
Short title Nitazene sind stärker und tödlicher als Heroin
Teaser Nitazene sind starke synthetische Opioide. Entwickelt wurden sie in den 1950er-Jahren, klinisch eingesetzt wurden sie nie. Als Droge konsumiert, sorgen sie nun immer häufiger für Todesfälle.
Short teaser Nitazene sind starke synthetische Opioide. Als Droge konsumiert, sorgen sie nun immer häufiger für Todesfälle.
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Vor allem in den USA und in Großbritannien sind die Drogenbehörden zunehmend besorgt über den Konsum synthetischer Straßendrogen - also Drogen, die in öffentlichen Räumen wie Parks oder in Clubs verkauft werden. Darunter sind synthetisches Marihuana wie "Spice", aber auch Fentanyl und Oxycodon.

Die potentiell tödliche Wirkung von Fentanyl und Oxycodon war kaum erkannt, da tauchte ein weiteres schmerzstillendes Opioid auf und wurde zu einer lebensgefährlichen Straßendroge. Die gemeinhin als Nitazene bekannten 2-Benzyl-Benzimidazol-Opioide stammen ursprünglich aus der Pharmaindustrie und sind bis zu 500 Mal stärker als Heroin. Und sie machen sehr schnell abhängig. Es gibt zudem Hinweise darauf, dass Nitazene anderen Substanzen wie Heroin und Fentanyl, und sogar Cannabis beigemischt werden, um etwa die Herstellungskosten zu senken.

Globale Verbreitung

Auch der jüngst von der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) veröffentlichte “Europäischen Drogenbericht 2024“ sieht “Europas wachsendes Opioidproblem“. In dem Drogenbericht spricht die EMCDDA von Nitazene als "eine neue Bedrohung“. Im Jahr 2023 waren laut neuestem Drogenbericht sechs der sieben neuen synthetischen Opioide, die dem EU-Frühwarnsystem gemeldet wurden, Nitazene. Insgesamt seien seit 2919 in Europa 16 Nitazene entdeckt worden.

In vielen EU-Ländern wurde ein starker Anstieg von Todesfällen und Vergiftungen durch Nitazene registriert. Zudem könnte die Dunkelziffer laut Europäischen Drogenbericht 2024 noch deutlich höher liegen. "Es könnte sein, dass Nitazene und ähnliche Substanzen in einigen Ländern zurzeit bei routinemäßigen postmortalen toxikologischen Untersuchungen nicht nachgewiesen werden, sodass die Zahl der mit ihnen verbundenen Todesfälle möglicherweise unterschätzt wird.“

Was sind Nitazene?

Nitazene, eine Klasse von mehr als 20 synthetischen chemischen Verbindungen, wurden ursprünglich in den 1950er-Jahren als opioide Schmerzmittel, sogenannte Analgetika, entwickelt. Sie wurden jedoch nie für die Verwendung in der Human- oder Veterinärmedizin zugelassen. Synthetische Drogen wie Nitazene und Fentanyl werden nicht wie Heroin oder Cannabis auf natürliche Weise angebaut oder kultiviert, sondern mithilfe von Chemikalien künstlich hergestellt.

Nitazene haben eine psychoaktive Wirkung, was laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) bedeutet, dass sie "mentale Prozesse, einschließlich Wahrnehmung, Bewusstsein, Kognition oder Stimmung und Emotionen, beeinflussen".

In Pulverform verkauft, haben Nitazene eine gelbe, braune oder gebrochen weiße Farbe. Nach Angaben der US-Drogenbekämpfungsbehörde werden Nitazene auch in Pillen gepresst und "fälschlicherweise als Arzneimittel vermarktet, wie Dilaudid 'M-8'-Tabletten und Oxycodon 'M30'-Tabletten". Die Wirkung ähnelt denen anderer Opioide. Es kommt zu Euphorie, Sedierung und zu einer Art Wach-Schlaf-Bewusstsein, aber auch zu Atemdepression und Atemstillstand.

Warum ist das Risiko einer Überdosierung so hoch?

In einem offenen Brief an die Zeitschrift Lancet Public Health vom Februar 2024 schrieb die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht , dass Nitazene "seit 2022 zunehmend in Post-mortem-Analysen von drogenbedingten Todesfällen identifiziert wurden".

Adam Holland von der School of Psychological Science der Universität Bristol kommentierte - ebenfalls in Lancet Public Health - dass Nitazene in Substanzen nachgewiesen wurden, die als andere Opioide, Benzodiazepine und Cannabisprodukte verkauft wurden. "Das bedeutet, dass viele Verbraucher unbeabsichtigt Nitazene konsumieren, ohne sich der Risiken bewusst zu sein", schrieb Holland.

In solchen Fällen ist die Gefahr einer Überdosierung besonders groß. Daten aus Großbritannien zeigen beispielsweise, dass zwischen Juli und Dezember 2023 mehr als 50 Menschen nach dem Konsum von Nitazenen starben.

Was bewirken Nitazene im Körper?

Nitazene interagieren mit verschiedenen Opioidrezeptoren im Gehirn und Nervensystem. Einer dieser Rezeptortypen wurde in einem Beratungspapier der britischen Regierung als "Hauptvermittler" im Gehirn beschrieben. Dieser beeinflusst positive, therapeutische Funktionen wie Schmerzlinderung und die Belohnung des Gehirns und ruft ein Gefühl der Euphorie hervor.

Eine 2022 durchgeführte Untersuchung, die sich mit der Funktion eines anderen Rezeptors beschäftigt, stellte allerdings fest, dass "sowohl therapeutische als auch unerwünschte Wirkungen von Opioiddrogen durch ihre Bindung" an die Rezeptoren hervorgerufen werden. Zu diesen unerwünschten Wirkungen gehören Sucht, Abhängigkeit und Entzugserscheinungen.

Quellen:

European Drug Report 2024: Trends and Developments

https://www.emcdda.europa.eu/publications/european-drug-report/2024_en

European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA): "New psychoactive substances" in the European Drug Report 2023: https://www.emcdda.europa.eu/publications/european-drug-report/2023/new-psychoactive-substances_en

Advisory Council on the Misuse of Drugs (UK, 2022): "Advice on 2-benzyl benzimidazole and piperidine benzimidazolone opioids" — updated December 2023: https://www.gov.uk/government/publications/acmd-advice-on-2-benzyl-benzimidazole-and-piperidine-benzimidazolone-opioids/acmd-advice-on-2-benzyl-benzimidazole-and-piperidine-benzimidazolone-opioids-accessible-version#pharmacology

Zhang JJ, Song CG, Dai JM, Li L, Yang XM, Chen ZN. "Mechanism of opioid addiction and its intervention therapy: Focusing on the reward circuitry and mu-opioid receptor" in MedComm, June 2022: https://doi.org/10.1002/mco2.148

Pergolizzi J Jr, Raffa R, LeQuang JAK, Breve F, Varrassi G. "Old Drugs and New Challenges: A Narrative Review of Nitazenes" in Cureus, June 2023: https://doi.org/10.7759/cureus.40736

Schüller M, Lucic I, Øiestad ÅML, Pedersen-Bjergaard S, Øiestad EL. "High-throughput quantification of emerging "nitazene" benzimidazole opioid analogs by microextraction and UHPLC-MS-MS" in Journal of Analytical Toxicology, September 2023: https://doi.org/10.1093/jat/bkad071

Der Artikel ist ursprünglich auf Englisch erschienen und wurde am 25.06.2024 aktualisiert.

Item URL https://www.dw.com/de/nitazene-sind-stärker-und-tödlicher-als-heroin/a-68691661?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/64379643_302.jpg
Image caption Drogenbehörden sind zunehmend besorgt wegen synthetischer Straßendrogen, darunter synthetisches Marihuana, Fentanyl und verschiedene Nitazene
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Item 65
Id 69457814
Date 2024-06-25
Title Vogelgrippe? Schweinegrippe? Ein Leitfaden zu H5N1-Viren
Short title Vogelgrippe? Schweinegrippe? Ein Leitfaden zu H5N1-Viren
Teaser Sind Sie verwirrt von der Abkürzung H5N1 bei Vogelgrippe oder H1N1 bei Spanischer Grippe? Die Influenza vom Typ A hat 130 bekannte Subtypen. Aber welche sind für uns Menschen gefährlich?
Short teaser H5N1 bei Vogelgrippe oder H1N1 bei Spanischer Grippe? Wir erklären, was hinter den Buchstaben und Zahlen steckt.
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Wer aufmerksam und regelmäßig den Nachrichten über Influenzaviren folgt, der weiß vermutlich, dass sie oft die Zusatzbezeichnungen wie "H" und "N" haben, wie zum Beispiel H5N1 oder H9N2.

Dies sind Beispiele für Influenzaviren des Typs A, eingestuft als hochinfektiöse Erreger, die eine erhebliche Bedrohung darstellen. Es gibt jedoch auch B-, C- und D-Typen mit verschiedenen Subtypen und Abstammungslinien, von denen viele umgangssprachlich als Vogel-, Rinder- und Schweinegrippe bezeichnet werden.

Es ist nicht verwunderlich, dass Sie deswegen verwirrt sind, denn es ist in der Tat oft nicht sofort klar, welche Grippetypen ähnlich gefährlich sind wie etwa die Spanische Grippe von 1918/19 oder eine Pandemie wie Corona.

Hier also ein DW-Leitfaden, der helfen soll, sich im Labyrinth der Grippecodes zurechtzufinden:

Die vier Arten von Influenza

Wie bereits erwähnt, gibt es vier Arten von Influenza: A, B, C und D.

Die Typen A und B verursachen beim Menschen saisonale, epidemische Ausbrüche von Grippe in den Wintermonaten. Aber nur von Typ A ist bekannt, dass er Pandemien verursacht.

Influenzaviren des Typs A stammen häufig von Wasservögeln und verbreiten sich unter den Vogelarten, was dann als aviäre Influenza oder Vogelgrippe bezeichnet wird. Sie können aber auch auf Säugetiere übertragen werden, sofern das Virus die entsprechenden Mutationen aufweist.

Einige Stämme des Typ-A-Virus H1N1 sind bei Menschen, Vögeln und Schweinen endemisch, also ständig vorhanden. Jährliche Grippeimpfungen schützen uns unter anderem vor diesen H1N1-Virenstämme.

Die von H1N1 abgeleiteten A(H1N1)pdm09-Viren haben die Spanische Grippe-Pandemie von 1918 ausgelöst. Zwischen 20 und 50 Millionen Menschen starben. Erst 2009 wurde die Variante genetisch mit Grippeausbrüchen in Schweinepopulationen, also der Schweinegrippe, in Verbindung gebracht.

Als der vorliegende Beitrag im Juni 2024 verfasst wurde, zirkulierten nur zwei Subtypen der Influenza A bei Menschen gleichzeitig: A(H1N1)pdm09 und A(H3N2).

Influenzaviren vom Typ C können Menschen und andere Säugetiere wie Schweine infizieren, verursachen aber bei Menschen nur leichte Erkrankungen und sind im Vergleich zu Typ-A-Viren selten.

Influenzaviren vom Typ D befallen vor allem Rinder. Sie können auf andere Tiere übertragen werden, aber es wurden noch keine Infektionen beim Menschen beobachtet.

Die Subtypen der Influenza-A-Viren

Werfen wir nun einen genaueren Blick auf diese "HxNy"-Codes. Wir bleiben bei den Influenzaviren des Typs A, denn sie sind es, bei denen spezielle Bezeichnungen verwendet werden und die eine große Gefahr für die menschliche Gesundheit darstellen.

Influenzaviren vom Typ A werden nach zwei Arten von Proteinen klassifiziert, die auf der Oberfläche des Virus entdeckt wurden: Hämagglutinin (H oder HA) und Neuraminidase (N oder NA).

Hämagglutinin und Neuraminidase sind in allen Influenzatypen zu finden und arbeiten zusammen, sozusagen als ein virales Team. Das Hämagglutinin hilft dem Virus, sich an eine Zelle zu heften, um diese dann zu infizieren. Die Neuraminidase setzt das Virus frei, damit es andere Zellen infizieren kann. Das ist, vereinfacht ausgedrückt, die Art und Weise, wie sich das Virus in unserem Körper ausbreitet.

Diese beiden Proteine bestimmen die "Infektiosität" und "Pathogenität" des Virus - also wie gefährlich es für unsere Gesundheit ist.

Es gibt 130 bekannte H + N-Kombinationen. Da Viren jedoch gut bei der Neusortierung sind - einem Prozess, bei dem Viren genetische Informationen austauschen - , gibt es Potenzial für viele weitere Kombinationen.

Zu einer Neusortierung von Viren kann es zum Beispiel kommen, wenn zwei Subtypen eines Virus denselben Wirt (einen Menschen oder ein nicht-menschliches Tier) gleichzeitig infizieren.

Hinzu kommt, dass in der freien Natur immer wieder neue H + N-Subtypen auftauchen. Bis vor kurzem sprachen die Forscher beispielsweise von 16 Hämagglutinin-Subtypen bei der Influenza. Jetzt sind zwei weitere Subtypen hinzugekommen: H17 und H18. Diese kommen bei zwei Fledermausarten vor.

Wenn die H- und N-Zahlen unbekannt sind, nimmt H die Variable "x" und N die Variable "y" an.

Bezeichnungen für Influenzaviren vom Typ B

Influenzaviren vom Typ B werden nach ihrer Abstammung benannt. Und davon gibt es zwei: Yamagata und Victoria.

Die Bezeichnungen für Influenzaviren des Typs B sind nicht so vielfältig wie die für Typs A, da sich diese H + N-Subtypen innerhalb ihrer Abstammung nicht zu unterscheiden scheinen. Sie können jedoch weiter in sogenannte Kladen und Subkladen oder Gruppen und Untergruppen unterteilt werden.

Für Menschen gefährliche Grippetypen

Influenzaviren, die von Tieren stammen, befallen den Menschen nicht sehr oft. Wenn dies aber doch geschieht, dann spricht man von einer zoonotischen Übertragung. Das gilt für jede Krankheit, bei der eine Übertragung vom Tier auf den Menschen oder umgekehrt stattfindet.

Fünf Subtypen von Vogelgrippe-A-Viren verursachen Infektionen beim Menschen: H5-, H6-, H7-, H9- und H10-Viren.

Die meisten zoonotischen Formen der Influenza, die von Vögeln auf den Menschen übertragen werden, sind A(H5N1) und A(H7N9). A(H5N6), bekannt als hochpathogene aviäre Influenza (HPAI), und A(H9N2), eine niedrigpathogene aviäre Influenza (LPAI), haben ebenfalls Infektionen beim Menschen verursacht.

Influenzaviren des Typs C verursachen in der Regel nur leichte Erkrankungen, und von Influenzaviren des Typs D ist nicht bekannt, dass sie den Menschen überhaupt befallen.

Quellen:

Types of Influenza Viruses. US Centers for Disease Control and Prevention, Zugriff am 13. Juni 2024, 2024 https://www.cdc.gov/flu/about/viruses/types.htm

Influenza hemagglutinin and neuraminidase: Yin–Yang proteins coevolving to thwart immunity. Veröffentlicht im Journal Virus, 2019 https://doi.org/10.3390/v11040346

Avian Influenza Type A Viruses. US Centers for Disease Control and Prevention, Zugriff am 14. Juni 2024, https://www.cdc.gov/bird-flu/about/?CDC_AAref_Val=https://www.cdc.gov/flu/avianflu/influenza-a-virus-subtypes.htm

Genetic characterization of a new candidate hemagglutinin subtype of influenza A viruses. Veröffentlicht im Journal Emerging Microbes and Infections, Juni 2023 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC10308872/pdf/TEMI_12_2225645.pdf

Emerging HxNy Influenza A Viruses. Veröffentlicht in Cold Spring Harbor Perspectives in Medicine, Februar 2022 https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC8805644/pdf/cshperspectmed-INF-a038406.pdf

Der Text ist ursprünglich auf Englisch erschienen.

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Image caption Vogelgrippe? Der Test fiel positiv aus!
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Item 66
Id 69412781
Date 2024-06-22
Title Keine Ökokatastrophe auf der Osterinsel
Short title Keine Ökokatastrophe auf der Osterinsel
Teaser Rapa Nui gilt als Sinnbild für einen menschengemachten "Ökozid". Laut einer neuen Studie gab es keine solche Katastrophe auf der Osterinsel. Die Bewohner fanden Wege, um sich an die raue Umwelt anzupassen.
Short teaser Laut einer Studie gab es keinen "Ökozid" auf der Osterinsel, weil sich die Inselbewohner an die raue Umwelt anpassten.
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Auf Rapa Nui stehen hunderte riesiger Steinstatuen - die sogenannten Moai. Ihre Funktion ist nicht abschließend geklärt. Aber lange gingen Forschende davon aus: Um solche Kolossalfiguren errichten zu können, müssen einst viele tausend Menschen auf der Insel gelebt haben.

Um das Jahr 1210 ließen sich erstmals Vorfahren der heutigen Polynesier auf dieser unbewohnten Vulkaninsel nieder. Weltweit gibt es keinen anderen bewohnten Ort, der so isoliert liegt. Es sind fast 3800 Kilometer bis zum chilenischen Festland und 1900 Kilometer zur nächsten bewohnten Insel.

Frühere Thesen gingen davon aus, dass die Bevölkerung rasch anwuchs. Die Bewohner hätten für den Bau der Maoi und für Brennholz alle Bäume auf der Insel gefällt, Seevögel getötet und durch ihre Landwirtschaft die Böden ausgelaugt. Als die Umwelt schließlich zerstört war, sei ihre Zivilisation zusammengebrochen, hieß es. So wurden die Insel zum Sinnbild für einen menschengemachten "Ökozid".

Bücher wie Jared Diamonds "Kollaps" von 2005 oder Kevin Costners Spielfilm "Rapa Nui - Rebellion im Paradies" von 1994 setzen die These vom Untergang der Insulaner wort- und bildgewaltig in Szene.

Stabile Bevölkerungszahl

Eine neue Studie widerlegt diese Darstellung. Demnach hat die Bevölkerung von Rapa Nui nie eine nicht mehr tragbare Größe erreicht. Vielmehr hätten die Neuankömmlinge geeignete Wege gefunden, um auf der Insel zurechtzukommen. So wurde über Jahrhunderte hinweg eine kleine, stabile Bevölkerung aufrechterhalten.

Aber es muss mühsam gewesen sein, die Menschen zu ernähren. Denn die 63 Quadratkilometer große Insel besteht vollständig aus Vulkangestein. Im Gegensatz zu üppigen tropischen Inseln wie Hawaii und Tahiti haben die Vulkanausbrüche auf Rapa Nui vor Hunderttausenden von Jahren aufgehört. Die durch die Lava aufgewirbelten Mineralien sind seit langem aus den Böden ausgewaschen.

Außerdem ist Rapa Nui im Vergleich viel trockener als andere Tropeninseln. Und da der Meeresboden rund um die Insel sehr steil abfällt, war die Jagd nach Meeresgetier auch wesentlich schwieriger als in den leicht zugänglichen Lagunen oder Riffen anderer Inseln in Polynesien.

Steingärten sicherten Versorgung

Möglich wurde die erfolgreiche Besiedlung nach Ansicht der Forschenden durch die "ausgeklügelte Anlage von Steingärten", in denen die Inselbewohner als Grundnahrungsmittel nahrhafte Süßkartoffeln anbauten.

Bei der "rock gardening" oder "lithic mulching" genannten Technik werden Steine über tief liegende Flächen gestreut, die zumindest teilweise vor Salzsprühnebel und Wind geschützt sind. Die Steine und Felsen unterbrechen die trockenen Winde und erzeugen einen Luftstrom, der die Oberflächentemperaturen einigermaßen konstant hält und die Pflanzen so vor zu großer Hitze oder Kälte schützt.

Ähnliche Steingärten sind auch von den Ureinwohnern Neuseelands, von den Kanarischen Inseln und aus dem Südwestens der USA bekannt. Allerdings ist der Arbeitsaufwand sehr hoch und der Ertrag sehr gering.

Widerlegte Kollaps-Theorie

Heute hat die Osterinsel fast 8000 Einwohner. Hinzu kommen rund 100.000 Touristen pro Jahr. Die meisten Lebensmittel werden importiert, aber einige Einwohner bauen in den alten Steingärten wieder Süßkartoffeln an. Der Trend kam 2020/2021 während der Abriegelung der Insel durch die Covid-Pandemie auf.

Den Forschern zufolge reichte die Fläche der Gärten einst nur aus, um ein paar tausend Menschen zu ernähren. Dies zeige, "dass die Bevölkerung niemals so groß gewesen sein kann wie in einigen der früheren Schätzungen", so der Hauptautor der aktuellen Studie Dylan Davis, Archäologe an der Columbia Climate School.

Dies widerlege die Kollaps-Theorie. "Indem sie die Umwelt zu ihrem Nutzen veränderten, waren die Menschen trotz begrenzter Ressourcen sehr widerstandsfähig", so Davis.

Problematische Schlussfolgerungen

In den letzten Jahren versuchten Forschende anhand der vorhandenen Steingärten und denen Produktionskapazitäten eine Bevölkerungszahl zu schätzen.

In einer Studie aus dem Jahr 2017 wurden etwa 7700 Hektar als für den Süßkartoffelanbau geeignet eingestuft, das wären 19 Prozent der Insel. Auf dieser Grundlage errechneten Forschende ca. 17.500 bis 25.000 Inselbewohner.

Neuvermessung dank Künstlicher Intelligenz

Die Forschenden der neuen Studie haben mittels Künstlicher Intelligenz die Satellitenbilder so konfiguriert, dass nicht nur Felsen, sondern auch für Gärten charakteristische Orte mit höherer Bodenfeuchtigkeit und höherem Stickstoffgehalt hervorgehoben werden.

Auf Grundlage ihrer Auswertungen sollen die Steingärten nur etwa 188 Hektar eingenommen haben. Das ist weniger als ein halbes Prozent der Insel. Und wenn die Ernährung weitgehend auf Süßkartoffeln basierte, dann können diese Gärten nur etwa 2000 Menschen versorgt haben.

Anpassung an schwierige Lebensbedingungen

Aus Isotop-Untersuchungen der Knochen und Zähne der einstigen Inselbewohner lässt sich schlussfolgern, dass sie 35 bis 45 Prozent ihrer Nahrung aus dem Meer und einen kleinen Teil aus anderen, weniger nahrhaften Pflanzen wie Bananen, der Wasserbrotwurzel Taro und Zuckerrohr bezogen.

Durch eine geschickte Anpassung an die schwierigen Lebensbedingungen konnten nach Ansicht der Forschenden etwa 3000 Bewohner ernährt werden.

Also in etwa so viele, wie auch bei Ankunft der Europäer auf der Insel Ostern 1722 angetroffen wurden. Die Idee eines Ökozids, eines sehr großen Bevölkerungsanstiegs und -niedergangs lasse sich nicht bewahrheiten, so Carl Lipo, Archäologe an der Binghamton University und Mitverfasser der Studie.

Item URL https://www.dw.com/de/keine-ökokatastrophe-auf-der-osterinsel/a-69412781?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Die Moai-Statuen gelten als mahnendes Wahrzeichen einer Zivilisation, die vielleicht nie wirklich zusammenbrach
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Item 67
Id 69422808
Date 2024-06-21
Title Wie man die Novaexplosion mit bloßem Auge sehen kann
Short title Wie man die Novaexplosion mit bloßem Auge sehen kann
Teaser Es ist ein Himmelsspektakel, das nur alle 80 Jahre zu beobachten ist: Die Novaexplosion von T Coronae Borealis im September 2024 wird ein außergewöhnliches astronomisches Ereignis.
Short teaser Die Novaexplosion von T Coronae Borealis im September 2024 wird ein außergewöhnliches astronomisches Ereignis.
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Es kommt nicht oft vor, dass ein dunkler Fleck im Weltraum unseren Planeten erhellt. Aber genau das erwarten Fachleute und Amateurastronomen im September, wenn eine außergewöhnliche Novaexplosion 3.000 Lichtjahre von der Erde entfernt unseren Nachthimmel erhellen wird.

Was ist eine Novaexplosion?

Bei einer Novaexplosion explodiert ein Stern, während er mit einem anderen nahe gelegenen Stern zusammenstößt. Es ist einer von vielen, sich stets wiederholenden Momenten, während des langen und langsamen Todes zweier benachbarter Sterne im selben System.

Im September erwarten Astronomen die Explosion des Doppelsternsystems T Coronae Borealis, das auch als "Blaze Star" bezeichnet wird und das Astronomen "T CrB" nennen.

Das System besteht aus zwei Sternen - einem Weißen Zwerg und einem Roten Riesen. Der Weiße Zwerg ist ein extrem dichter Überrest eines einst größeren Sterns. Er ist etwa so groß wie der Planet Erde, hat aber die gleiche Masse wie unsere Sonne.

Sein Nachbar, der Rote Riese, befindet sich in den letzten Jahren seiner Existenz und verliert durch die Anziehungskraft des dichteren Weißen Zwerges langsam seinen Wasserstoff.

Dieser "Kannibalismus" der Sterne führt zu einem enormen Druck- und Hitzeanstieg, der schließlich eine gewaltige thermonukleare Explosion auslöst. Diese Explosion vernichtet die Sterne allerdings nicht vollständig - stattdessen wiederholt sich dieses Ereignis im Laufe der Zeit immer wieder. Insgesamt kann sich das Ganze über Hunderttausende von Jahren hinziehen.

Bei T CrB tritt dieses Nova-Ereignis etwa alle 80 Jahre auf - ähnlich wie der Halleysche Komet alle 76 Jahre in Erdnähe kommt. Daher bezeichnen die Astronomen T CrB als eine "wiederkehrende" Nova.

Ist eine Nova dasselbe wie eine Supernova?

Nein. Eine Supernova ist die letzte Explosion, bei der Sterne vollständig zerstört werden. Bei einer Nova bleibt der Zwergstern intakt. Aus diesem Grund wiederholen sich Nova-Ereignisse normalerweise.

Verschiedene Nova-Ereignisse haben unterschiedliche Zyklen, die von ein paar Jahren bis zu Hunderttausenden von Jahren reichen.

Können wir die Nova mit bloßem Auge sehen?

Ja! Bei der Explosion einer Nova wird Sternenmaterie in einem blendend hellen Licht weggesprengt. Wenn T CrB explodiert, wird seine Leuchtkraft drastisch zunehmen, so dass er mehrere Tage lang mit bloßem Auge sichtbar sein wird.

Allerdings sieht das nicht so spektakulär aus wie Sternenexplosionen, wie man sie aus dem Kino kennt. Mit dem bloßen Auge betrachtet wird die Nova vielmehr aussehen, als wäre ein neuer Stern am Himmel erschienen. Details sind nicht zu sehen, dafür sind wir auf der Erde zu weit entfernt.

Wer ein leistungsstarkes Teleskop hat, kann die enorm helle Leuchtkraft der Nova auch im Detail sehen..

Wo ist die Nova am Himmel zu sehen?

T Coronae Borealis liegt in der Nördlichen Krone. Das ist eine hufeisenförmige Kurve von Sternen westlich des Sternbilds Herkules, die in klaren Nächten am besten zu sehen ist.

Wer die Nördliche Krone finden will, muss die beiden hellsten Sterne der nördlichen Hemisphäre suchen: Arcturus und Wega. Eine gedankliche Linie zwischen diesen beiden Sternen führt zur Nördlichen Krone, wo sich T CrB befindet.

Die Europäische Weltraumorganisation (ESA) teilte der DW mit, dass alle Teleskope bereits auf T CrB ausgerichtet sind und darauf warten, das Ereignis einzufangen. Noch gebe es aber keine Bilder.

Wann wird die Nova zu sehen sein?

Alles deutet darauf hin, dass die Novaexplosion im September 2024 stattfinden wird. Da Novae jedoch unvorhersehbar sein können, ist es laut Astrophysikern schwierig, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen.

Welche Nova T CrB aus der Geschichte sind bekannt?

Die Nova T CrB wurde zuletzt 1946 von der Erde aus gesehen. Die erste aufgezeichnete Sichtung der Nova T CrB fand vermutlich vor mehr als 800 Jahren im Jahr 1217 statt, als ein Abt in der deutschen Stadt Ursberg "einen schwachen Stern bemerkte, der eine Zeit lang mit großem Licht leuchtete".

Der Abt schrieb, das Licht habe "viele Tage" geschienen und sei ein "wunderbares Zeichen" gewesen. Andere Himmelsereignisse wie Kometen galten dagegen als schlechte Omen.

Supernova-Ereignisse wurden sogar noch viel früher aufgezeichnet. Die erste Sichtung einer Supernova reicht fast 2000 Jahre zurück, bis ins Jahr 185 n. Chr., als chinesische Astronomen acht Monate lang einen seltsamen "Gaststern" am Nachthimmel sahen.

Quellen:

NASA Astrophysics https://science.nasa.gov/astrophysics

NASA, Global Astronomers Await Rare Nova Explosion, June 2024 https://www.nasa.gov/centers-and-facilities/marshall/nasa-global-astronomers-await-rare-nova-explosion/

The recurrent nova T CrB had prior eruptions observed near December 1787 and October 1217 AD. Journal for the History of Astronomy, November 2023 https://doi.org/10.1177/00218286231200492

Der Artikel ist ursprünglich auf Englisch erschienen

Item URL https://www.dw.com/de/wie-man-die-novaexplosion-mit-bloßem-auge-sehen-kann/a-69422808?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Illustration eines Doppelsternsystems, das aus einem Weißen Zwerg und einem Roten Riesen besteht, die sich gegenseitig beeinflussen.
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Item 68
Id 69429501
Date 2024-06-21
Title 80 Prozent der Menschheit fordern mehr Einsatz fürs Klima
Short title 80 Prozent der Menschheit fordern mehr Einsatz fürs Klima
Teaser Eine weltweite Befragung des UN-Entwicklungsprogramms liefert klare Ergebnisse: Große Mehrheiten sind in Sorge vor dem Klimawandel. Viele sagen, er beeinflusse bereits ihre Lebensentscheidungen.
Short teaser Eine weltweite Befragung der UN liefert klare Ergebnisse: Große Mehrheiten sind in Sorge vor dem Klimawandel.
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Die Antworten sind so eindeutig, dass man selbst bei den Vereinten Nationen (UN) überrascht war: In einer großen Befragung mit Teilnehmenden aus allen Weltregionen fordern 86 Prozent, dass Länder und Regierungen ihre Konflikte beiseite legen müssten, um gemeinsam die weltweite Bedrohung durch den Klimawandel zu verringern. "Ein so eindeutiges Signal hatte, glaube ich, keiner erwartet", sagte der Chef des UN-Entwicklungsprogramms UNDP, Achim Steiner, dem deutschen öffentlich-rechtlichen Senderverbund ARD.

Das UNDP hatte in Zusammenarbeit mit der Universität Oxford 75.000 repräsentativ ausgewählte Menschen in 77 Ländern befragt. Darunter waren auch gut 9300 Personen ohne formelle Schulbildung. Bei wiederum gut 1200 davon handelte es sich um Frauen über 60 - laut UNDP "eine der am schwersten für Umfragen zu gewinnende Gruppe". Die Erkenntnisse quer durch alle Bildungs- und Einkommensschichten sind überall auf der Welt eindeutig: 80 Prozent der Menschheit wünschen sich von ihren Regierungen mehr Einsatz zur Bekämpfung der Klimakrise.

Mehr Einsatz fordern vor allem Menschen in ärmeren Ländern

Besonders deutlich wird diese Forderung in ärmeren Ländern, die häufig in besonderer Weise vom Klimawandel bedroht sind. Die eindeutigsten Werte gibt die UNDP-Studie für fünf Länder in Subsahara-Afrika an: In Äthiopien, Tansania und Benin fordern 97 Prozent mehr politischen Einsatz fürs Klima; in den Sahel-Staaten Niger und Burkina Faso sind es 96 beziehungsweise 95 Prozent.

Stephen Fisher war für die Universität Oxford an dem Bericht beteiligt. In den am wenigsten entwickelten Ländern seien die Menschen "stärker besorgt über den Klimawandel, sind stärker davon betroffen und fordern von ihren Regierungen und den reichen Ländern mehr Taten gegen den Klimawandel", sagt Fisher zur DW.

Aber auch die Bewohner der Staaten mit den größten CO2-Emissionen, die also momentan besonders viel zum Klimawandel beitragen, sprechen sich größtenteils dafür aus: In China fordern 73 Prozent mehr politische Entschlossenheit, in den USA 66 Prozent, in Indien 73 Prozent. Das UNDP weist diesen drei Staaten die momentan größte Verantwortung zu - neben CO2-Emissionen ist dabei auch die veränderte Flächennutzung berücksichtigt. Damit gemeint ist beispielsweise die Abholzung von CO2-speichernden Wäldern oder die Trockenlegung von Mooren, die dann CO2 ausstoßen.

Dem werden Regierungen, Konzerne und Privatleute bislang nicht gerecht: Im vergangenen Jahr wurden laut Internationaler Energie-Agentur weltweit 37,4 Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre abgegeben - ein Allzeit-Höchstwert und noch einmal 1,1 Prozent mehr als 2022. Berücksichtigt man auch Flächennutzung, liegt der Wert sogar bei 40,9 Milliarden Tonnen CO2. Immerhin: In Europa und Nordamerika geht der CO2-Ausstoß bereits zurück; diese Fortschritte werden jedoch von Steigerungen etwa in Indien und China zunichte gemacht.

Wie schnell kann der Verzicht auf Öl und Gas gelingen?

Dabei gab es auch teils deutliche Mehrheiten, dass die Abkehr von fossilen Energieträgern schnell vonstatten gehen muss: Dem stimmten insgesamt 72 Prozent der Befragten zu. Das gilt auch für Länder, die selbst vom Geschäft mit Kohle, Öl und Gas profitieren: Im ölreichen Nigeria sowie der Kohle fördernden Türkei wünschten sich je 89 Prozent eine rasche Transformation. Im größten Kohleförderland China waren es 80 Prozent, in Saudi-Arabien 75 Prozent; in den USA, die weltweit die größten Mengen Öl und Gas produzieren, 54 Prozent. Schlusslicht ist der große Gasproduzent Russland, wo nur 16 Prozent eine schnelle Abkehr fordern.

Doch in den weltweiten Fördermengen ist diese Abkehr noch nicht zu erkennen: Nach dem Corona-bedingten Rückgang der Ölproduktion 2020 stiegen die Fördermengen wieder an. Beim Gas endete der jahrelange Zuwachs zwar 2021; aber eine deutliche Trendwende ist nicht in Sicht. Bei der Kohle zeigt der weltweite Trend sogar nach oben, was maßgeblich auch mit dem Energiehunger der chinesischen Wirtschaft zusammenhängt: China ist inzwischen für mehr als 50 Prozent des weltweiten Kohleverbrauchs verantwortlich.

Angst vor dem ungebremsten Klimawandel

Was getan werden müsste um die Klimakatastrophe abzumildern und was tatsächlich weltweit getan wird, steht also in einem krassen Gegensatz zueinander. Das bereitet vielen Menschen Sorge - in der Psychologie ist der Begriff Klima-Angst (climate anxiety) inzwischen ein feststehender Ausdruck. Das Thema findet sich auch in der UNDP-Befragung wieder: Im weltweiten Schnitt gaben 53 Prozent an, dass ihre Besorgnis sich im Laufe der vergangenen zwölf Monate verstärkt hat.

Seit Juni 2023 war jeder einzelne Monat global betrachtet so heiß wie nie zuvor. Schon ein ganzes Jahr lang ist die Erde über 1,5 Grad wärmer als vor dem industriellen Zeitalter - festigt sich dieser Wert über längeren Zeitraum, ist diese Zielmarke aus dem Pariser Abkommen von 2015 verfehlt.

Klimawandel nimmt Einfluss auf Lebensentscheidungen

Am stärksten (80 Prozent der Befragten) hat die Sorge laut UNDP auf den Fidschi-Inseln zugenommen - der Inselstaat ist akut vom Anstieg des Meeresspiegels bedroht. Fast ganz hinten liegt Deutschland (40 Prozent). Noch im letzten Erhebungszeitraum 2021 trieben Klima-Sorgen junge Menschen stärker um als ältere - das deckt sich auch mit der Altersgruppe vieler Klima-Aktivisten weltweit. Doch dem aktuellen Bericht zufolge gaben vor allem die Befragten über 35 und über 60 Jahre an, ihre Sorgen hätten sich verstärkt - möglicherweise schließt sich da also eine Lücke.

Der Klimawandel ist für viele Menschen inzwischen spürbar in ihrer Lebensrealität angekommen - etwa in Form von Extremwetterereignissen, deren Intensität und Häufigkeit dadurch zunehmen. Das hat bei der Mehrheit der Befragten auch Einfluss auf Lebensentscheidungen. Besonders in Afghanistan (73 Prozent), Madagaskar (72 Prozent) und Niger (71 Prozent) verändert der Klimawandel bereits massiv, wo die Menschen wohnen oder arbeiten oder was sie sich leisten können.

Item URL https://www.dw.com/de/80-prozent-der-menschheit-fordern-mehr-einsatz-fürs-klima/a-69429501?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Hitzewelle in den USA: mit einer Brandschneise soll zumindest ein Teil dieses Felds in Kalifornien vor den Flammen gerettet werden
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Item 69
Id 69333842
Date 2024-06-20
Title Versicherung gegen Extremwetter
Short title Versicherung gegen Extremwetter
Teaser Immer häufiger entstehen immer größere Schäden durch Überschwemmungen oder Dürren. Versicherungen erhöhen deshalb ihre Prämien. Drohen künftig ganze Regionen nicht mehr versicherbar zu sein?
Short teaser Größere Schäden durch den Klimawandel - werden bald ganze Regionen gar nicht mehr versicherbar sein?
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"Grundsätzlich muss bei steigenden Schäden irgendjemand diese Schäden bezahlen", sagt Ernst Rauch, Klimaexperte der Rückversicherung Munich Re. Entweder die Versicherung, der Staat oder derjenige, der den Schaden erlitten hat.

Dabei ist die Logik einer Versicherung: Ganz viele versichern sich, wenige erleiden einen Schaden und der wird dann erstattet. Wenn nun aber nicht mehr wenige den Schaden erleiden, sondern immer mehr Menschen, dann wird die Versicherung dieses höhere Risiko an die Versicherungsnehmer weitergegeben. Sprich: Die Versicherungsprämien steigen. Denn für eine Versicherung ergibt es nur Sinn, Versicherungsleistungen anzubieten, wenn sie damit Gewinn macht.

Weil schon in der Vergangenheit manche extremen Ereignisse die Kräfte von Versicherungen überstiegen haben, versichern sie sich selbst bei sogenannten Rückversicherern. Einer der größten Rückversicherungen ist die MunichRe. Sie erforscht im eigenen Geschäftsinteresse seit rund 50 Jahren die Auswirkungen des Klimawandels.

Einige Versicherungen haben sich schon zurückgezogen

Was aber, wenn die klimabedingten Risiken so hoch werden, dass die Versicherer bestimmte Gebiete gar nicht mehr versichern wollen? Beziehungsweise diese die Prämien derart erhöhen müssten, dass keiner mehr bereit ist, sie zu zahlen?

In Kalifornien hat sich bereits eins der größten Versicherungsunternehmen, State Farm, aus dem Geschäft zurückgezogen. Als Gründe nannte das Unternehmen das schnell wachsende Katstrophenrisiko, hohe Kosten beim Bauen und einen schwierigen Rückversicherungsmarkt.

Während die Schäden für die Versicherungswirtschaft in Kalifornien in den letzten Jahrzehnten jährlich bei ein bis drei Milliarden Dollar gelegen hätten, würden sie inzwischen bei deutlich über zehn Milliarden liegen, erläutert Rauch. Das sei ein fast sprunghafter Anstieg.

100 Milliarden Dollar an Schäden

Nicht nur in Kalifornien führen häufigere Extremwetter zu immer höheren Schäden. Überschwemmungen, Stürme, Dürren und Brände, all das gibt es auch in Deutschland. Und wird es immer häufiger geben, wie der Deutsche Wetterdienst mitteilt. Das bedeutet: Die dabei entstehenden Schäden drohen größer zu werden und immer mehr Menschen zu betreffen.

"Die Höhe der versicherten Schäden aus Naturkatastrophen weltweit liegt inzwischen in der Größenordnung von etwa 100 Milliarden Dollar pro Jahr," sagt Ernst Rauch. "80 bis 90 Prozent dieser Schäden sind wetterbedingte Schäden."

Schadenhöhe kann begrenzt werden

Dass die Schäden größer werden, liege nur zum Teil an den häufiger auftretenden Ereignissen. Haupttreiber seien sozioökonomische Faktoren, so der Experte. Gebäude und Infrastruktur werden höherwertiger, die Bevölkerung wächst und es wird weiterhin in besonders gefährdeten Gebieten gebaut, etwa in Küstengebieten oder in der Nähe von Flüssen.

Dabei fällt die tatsächliche Höhe der Schäden noch viel größer aus, denn nicht alles ist versichert. Weltweit seien deutlich weniger als die Hälfte der Naturgefahren überhaupt abgedeckt, so Rauch. Selbst in Deutschland seien beispielsweise nur etwa die Hälfte der Gebäude gegen Überschwemmung versichert.

Allein die Extremwetter durch die außergewöhnlich heißen und trockenen Sommer der vergangenen Jahre sowie die Hochwasserkatastrophe von 2021 haben in Deutschland Schäden von insgesamt über 80 Milliarden Euro verursacht, wie es vom Bundesumweltministerium heißt. Dabei wurden direkt anfallende Schäden an Gebäuden und Infrastrukturen, Ertragsverluste in Forst- und Landwirtschaft ebenso berücksichtigt wie Kosten indirekter Schäden, beispielsweise eine verringerte Arbeitsproduktivität. Seitdem wird im Land darüber erneut diskutiert, ob und zu welchen Bedingungen Versicherer solche Schäden absichern müssen.


Höhe der Prämie muss an Risiken angepasst werden

Fragt man den Chef-Klimatologen von Munich Re, ob die Situation in Kalifornien einen Vorgeschmack darauf gibt, was den Deutschen eines Tages blüht, gibt er zu bedenken, dass State Farm nicht den Risiken entsprechend die Versicherungsprämien erhöhen konnte. Das erlauben die US-Aufsichtsbehörden, die Insurance Commissioner, nicht. Daher hätte sich State Farm aus dem Markt zurückziehen müssen, so Rauch.

Langfristig könne es aber schon sein, dass auch bei freier Preisgestaltung bestimmte Gegenden nicht mehr versichert würden, so Rauch. Kurz und mittelfristig, also in den nächsten fünf bis zehn Jahren, sehe er diese Gefahr nicht - kleinere regionale Gebiete ausgenommen.

Die gesamtwirtschaftlichen Kosten aufgrund des Klimawandels in Deutschland würden langfristig enorm steigen, so die Bundesregierung. Sie liegen, abhängig von der Intensität des Klimawandels, bis 2050 zwischen 280 und 900 Milliarden Euro. Dabei sind Auswirkungen durch Todesfälle, der Rückgang von Lebensqualität, das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten oder die Folgen auf den Wasserhaushalt noch nicht einmal mit einbezogen.

Schaden-Prävention wird immer wichtiger

Neben der Begrenzung des Klimawandels ist Schadenprävention ein Schlüsselfaktor, wenn es um die Begrenzung der Kosten geht. Sie sei auch die wichtigste Maßnahme, wenn in Gebieten die Klimarisiken so hoch werden, dass Versicherungsunternehmen keine bezahlbaren Versicherungen mehr anbieten können, so Rauch. Im öffentlichen Bereich können da beispielsweise Deiche gebaut werden und Privatleute können ihre Öltanks sichern, ihre Kellerräume fliesen und darauf achten, dort keine wertvollen Gegenstände zu lagern.

Nach den großen Überschwemmungen, die es 2002 und 2013 entlang der großen Flüsse in Deutschland gab, sei der Hochwasserschutz dort deutlich verbessert worden, sagt Rauch. Ähnliche Maßnahmen müssten weltweit entlang von Küstenlinien durchgeführt werden.

Auch der Gesamtverband der Versicherer fordert: "Oberste Priorität sollten klimaangepasstes Planen, Bauen und Sanieren haben." Außerdem dürfte in Überschwemmungsgebieten nicht mehr gebaut werden, Flächen müssten entsiegelt werden.

Keine Zeit zum Zögern

Zudem sei schnelles Handeln angesagt. "Wenn wir Prävention und Klimafolgenanpassung nicht konsequent umsetzen, könnte es in Deutschland nach unseren Schätzungen allein infolge der Klimaschäden innerhalb der nächsten zehn Jahre zu einer Verdopplung der Prämien für Wohngebäudeversicherungen kommen", warnte der Hauptgeschäftsführer des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), Jörg Asmussen, schon vor einem Jahr.

Auch Europa ist zu langsam in Bezug auf Prävention, so die Europäische Umweltagentur (EUA) in ihrem ersten Bericht zur Europäischen Klimarisiko-Bewertung. Die europäischen und nationalen politischen Verantwortlichen müssten jetzt handeln, fordert Leena Ylä-Mononen, Exekutivdirektorin der EUA. Nur so könnten die Klimarisiken sowohl durch rasche Emissionssenkungen als auch durch entschlossene Anpassungsstrategien und -maßnahmen verringert werden.

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Image caption Durch Extremwetter drohen künftig immer größere Schäden
Image source Bernd Weißbrod/dpa/picture alliance
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Item 70
Id 68535506
Date 2024-06-19
Title Haben Aliens den mysteriösen Monolithen nahe Las Vegas errichtet?
Short title Haben Aliens den Monolithen bei Las Vegas errichtet?
Teaser Im Gebirge nahe Las Vegas ist erneut ein mysteriöser Monolith entdeckt worden. Hinter dem erneuten Monolithen-Hype steckt eine ganz irdische Erklärung. Aber warum zieht uns das Unerklärliche, Mysteriöse so in den Bann?
Short teaser Hinter dem Monolithen-Hype steckt eine ganz irdische Erklärung. Aber warum zieht uns das Unerklärliche so in den Bann?
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Las Vegas gilt als Welthauptstadt der Unterhaltung, als attraktive “Sin City“, als Spielparadies mit wildem Nachtleben. Möglicherweise verbreitete sich dieser berühmt-berüchtigte Ruf im ganzen Universum.

Das könnte zumindest erklären, wer in der Nähe des Berggipfels Gass Peak erneut eine rätselhafte Stele errichtet hat. Der “mysteriöse Monolith“ sei am vergangenen Wochenende 30 Kilometer von Las Vegas in der kargen Felslandschaft entdeckt worden, teilte die Polizei des Spielerparadieses mit.

“Wir sehen viele seltsame Dinge, wenn Leute wandern gehen, wie z.B. nicht auf das Wetter vorbereitet zu sein, nicht genug Wasser mitzunehmen... aber seht euch das an!“, schreibt die Polizei.

Und damit das rechteckige Spiegelstruktur auch schnell entdeckt wird, wurde sie freundlicherweise gleich neben einem Wanderweg platziert. Direkt mit dem Auto heranfahren kann man leider nicht, aber dann wäre das Ganze auch nicht so mysteriös.

Weltweite Nachahmung

Gleich flammt der Monolithen-Hype in den sozialen und auch in den seriöseren Medien wieder auf. Denn die Verdacht liege nahe, dass Aliens auch diesen Monolith errichtet haben.

Zuletzt hatte im März 2024 ein vergleichbarer Monolith im walisischen Nirgendwo für Aufsehen gesorgt. Ein findiger Wanderer hatte ein Bild von sich vor dem etwa drei Meter hohen glänzenden Objekt gepostet. "Es sieht aus wie ein UFO", sagte er der Zeitung The Guardian. "Das Objekt sieht nicht so aus, als habe es jemand da abgeworfen, das hat jemand gezielt dort in den Boden gedrückt", analysiert der Wanderer.

Der Finder und die Zeitung haben alles richtig gemacht: Sie haben ein Mysterium um die Herkunft geschaffen und die wichtigsten Schlagworte verwendet: "unheimlich" und "UFO", schon geht die Meldung um die Welt.

Aliens als Antwort - was sonst?

Es ist schon auffallend, dass die Aliens sich vor allem für sehr abgelegene Gegenden zu interessieren scheinen. Denn bereits 2020, als die Erdenmenschen gerade weltweit gegen ein kleines Coronavirus kämpften, entdeckten US-Beamte beim Schäfchenzählen (nicht vor dem Einschlafen, sondern aus einem Hubschrauber heraus) den ersten Monolithen im Red Rock County in Utah. Eine Sensation! Alle berichteten über das seltsame Gebilde im Nichts.

Bald danach wurden ähnliche Objekte in Kalifornien, Rumänien, Großbritannien, den Niederlanden, der Türkei und im deutschen Bundesland Hessen entdeckt. Häufig an Orten, wo es vor allem eines gibt: fast nichts!

Die Faszination des Unbegreiflichen

Das Unerklärliche, Mysteriöse, Unentdeckte zieht uns seit Urzeiten in den Bann. Mystische Orte und Dinge, die wir (zunächst) nicht erklären können, wecken unsere Neugier.

Der US-amerikanische Psychologe W. McDougall sagte Anfang des 20. Jahrhunderts, Neugier sei der wesentliche Kern von jeder Art von Motivation. Neugier sei ein Instinkt und deshalb bei Kleinkindern schon vor dem Auftreten der Sprache zu beobachten.

Je abgelegener, je unerreichbarer, desto größer die Neugier. Die sagenumwobene Insel Atlantis, das Schiffe verschlingende Bermuda-Dreieck im westlichen Atlantis, UFOs und Aliens, Astrologie, übernatürliche Kräfte oder gigantische Kornkreise - je unerklärlicher, desto anziehender.

Suche nach Erklärungen

Wir Menschen wollen Dinge nicht nur wahrnehmen, sondern auch verstehen. Wir sind darauf konditioniert, Dinge untersuchen, "begreifen" und erklären zu wollen. Was für uns ein Geheimnis bleibt, was "unfassbar" ist, bezeichnen wir als "mysteriös".

“Es ist die Faszination des Außergewöhnlichen", so der Psychologe Dr. Günter Molz von der Bergischen Universität Wuppertal. “Diejenigen, die außergewöhnliche Thesen vertreten, sind `nicht normal´ im Sinne von unauffällig, langweilig. Sie vertreten eine exklusive Position, fühlen sich unter Umständen narzisstisch gratifiziert“, so Molz gegenüber der DW. Diese Personen haben also möglicherweise ein übertriebenes Bedürfnis nach Bewunderung.

Ist etwas mysteriös, suchen wir nach mehr oder eben auch weniger plausiblen Erklärungen - zum Beispiel in der Wissenschaft, in der Para- oder Pseudowissenschaft, in der Esoterik, im Aberglauben oder in Religionen. Alle Bereiche neigen dazu, einen gewissen Absolutheitsanspruch für sich zu beanspruchen. “Nicht-wissenschaftliche Erklärungen haben zudem halt eben den oben angesprochenen Exklusivitätsvorteil“, so der Psychologe Molz.

Aufmerksamkeit statt Aliens

Mag sein, dass eine außerterrestrische Lebensform ein gesteigertes Interesse an der kargen Felslandschaft nahe Las Vegas oder an der walisischen Provinz hat. Allerdings entpuppten sich die Monolithen in der Vergangenheit als vergleichsweise plumpe Versuche, Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Denn unmittelbar nach Bekanntwerden eines Monolithen strömen Heerscharen an Touristen, Schaulustigen und Sinnsuchern zu den Objekten. Und in ihrem Gefolge Souvenirhändler, Imbissbuden und andere Glücksritter.

Verantwortlich für den ersten Monolithen in Utah war der Künstler Matty Way. Als der Hype seinen Höhepunkt erreichte, gab er sich als "The Most Famous Artist" zu erkennen. Über sein Künstlerkollektiv konnte man Repliken des Monolithen für 45.000 US-Dollar bestellen.

Tolle Geschäftsidee, dachten sich vier Hobbykünstler aus Kalifornien und errichteten ebenfalls Monolithen im Sonnenstaat. Weitere Trittbrettfahrer folgten, so begann das Monolithen-Phänomen.

Die Monolithen in Rumänien, Spanien und Hessen waren allerdings so schlecht geschweißt, dass sich Aliens dafür vermutlich schämen würden.

Die Schattenseiten des Hypes

Ist die Aufmerksamkeit erst einmal geweckt, was durch Sozial Media natürlich noch viel einfacher geworden ist, dann wollen alle den Ort oder das Objekt sehen oder daran verdienen. Wer weiß, wie lange es zu sehen ist.

Darauf wies auch der findige Entdecker aus Wales gleich hin: "Ich kann nicht sagen, wie lange das Objekt da stehen wird, ganz ehrlich", sagte er. "So wie ich unsere Nationalparks kenne, die finden das nicht witzig, wenn jemand einfach was aufstellt."

Da hat er vermutlich recht. Denn nach der kurzen Freude über den unverhofften Geldsegen folgt in der betroffenen Region sehr schnell die Wut der Anwohner oder Naturschützer, die miterleben müssen, wie die bis dahin unberührte Landschaft durch den Andrang vermüllt und verwüstet wird.

"Wir möchten alle Besucher darauf hinweisen, dass die Nutzung, Besetzung und Entwicklung öffentlicher Ländereien und ihrer Ressourcen illegal ist - egal, von welchem Planeten Sie kommen", scherzte das Bureau of Land Management auf Twitter.

Viele der Monolithen wurden bald zerstört oder von den Behörden wieder entfernt. Vorsorglich hatte das Utah Department of Public Safety den genauen Standort des Monolithen verheimlicht, damit sich die Touristenströme gar nicht erst in Bewegung setzen und nicht weitere Objekte in der unberührten Natur errichtet werden.

Der Artikel wurde am 19.06.24 aktualisiert

Item URL https://www.dw.com/de/haben-aliens-den-mysteriösen-monolithen-nahe-las-vegas-errichtet/a-68535506?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Alles begann 2020 mit diesem Monolithen in der Wüste von Utah ....
Image source Terrance Siemon/AP/picture alliance
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Item 71
Id 69364162
Date 2024-06-18
Title EM 2024: Beeinflusst der Napoléon-Komplex Schiedsrichter?
Short title EM 2024: Beeinflusst der Napoléon-Komplex Schiedsrichter?
Teaser Ein deutsches Forscherteam glaubt, dass Schiedsrichter Fußballspieler dann strenger bestrafen, wenn diese größer sind als sie. Eine These, die auf dem Napoléon-Komplex beruht - der allerdings umstritten ist.
Short teaser Deutsche Forschende glauben, dass Schiedsrichter größere Fußballspieler härter bestrafen und gnädiger zu kleineren sind.
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Abseits? Foul? Handspiel? Beim Fußball gab es immer schon hitzige Diskussionen über strittige Schiedsrichterentscheidungen. Auch deshalb wird jedes professionelle Fußballspiel in der Regel von einem Hauptschiedsrichter auf dem Feld geleitet, der von zwei Linienrichtern und einem 4. Offiziellen unterstützt wird. Um Fehlentscheidungen zu verhindern gibt es zudem häufig einen Video-Assistenten, der sich strittige Entscheidungen auf einem Fernseher gegebenenfalls in Zeitlupe ansieht und den Hauptschiedsrichter informiert, denn zahlreiche Kameras beobachten aus unterschiedlichen Winkeln penibel fast jeden Moment des Spiels.

Obwohl also ein Schiedsrichter sein Urteil nicht alleine trifft, erscheinen manche getroffenen Entscheidungen eher willkürlich. Denn der Hauptschiedsrichter hat beim Fußball einen vergleichsweise großen Ermessungsspielraum.

Kompensierte Körpergröße

Deutsche Forschende haben jetzt - passend zur Europameisterschaft - das Verhältnis der Körpergröße von Schiedsrichtern und Fußballspielern analysiert. Laut ihrem Preprint, das noch nicht von der Fachwelt geprüft wurde, bestrafen kleinere Schiedsrichter größere Fußballspieler strenger, um ihre vermeintlich geringere körperliche Dominanz zu kompensieren.

Aha, mag sich manch ein Fußballfan denken, so ist das also! Von wegen fair und objektiv! Eine krasse Fehlentscheidung, nur weil der Schiri einen Komplex hat!

Doch ob an dieser These tatsächlich etwas dran ist wird sich erst zeigen, wenn diese Vorab-Veröffentlichung der wissenschaftlichen Begutachtung auch standhält.

"Hier wird nach meiner Pfeife getanzt"

Für die Untersuchung haben die Wissenschaftler Dr. Hendrik Sonnabend und Giulio Callegaro von der Fernuniversität in Hagen gemeinsam mit Mario Lackner von der Johannes-Kepler-Universität Linz die Daten der deutschen Bundesliga der Männer zwischen 2014 und 2021 analysiert und dabei mehr als 2.340 Spiele, die von männlichen Schiedsrichtern gepfiffen wurden, angeschaut. So verlockend kann Forschungsarbeit also auch aussehen.

Laut Preprint pfeift ein im Vergleich kleinerer Schiedsrichter bei einem größeren Spieler eher ein Foul und greift eher zu einer gelben Karte, wollen die Forschenden herausgefunden haben.

"Die Neigung dazu, härter zu bestrafen, ist zehn Prozent höher, wenn die Spieler deutlich größer als die Schiedsrichter sind, verglichen mit Situationen auf Augenhöhe", so Sonnabend.

Autorität durch Bestrafung

Laut der Forschenden lasse sich der Napoléon-Komplex gerade in der ersten Halbzeit gut erkennen. "Es wird offensichtlich, dass Strafen genutzt werden, um Autorität zu demonstrieren. Wenn ihnen das nicht über physische Dominanz gelingt, gibt es eine Strafe, ganz nach dem Motto – hier wird nach meiner Pfeife getanzt", erklärt Sonnabend.

In den zweiten Halbzeiten nehmen die "härteren" Strafen wie gelbe Karten bei den im Verhältnis kleineren Schiedsrichtern ab. "Das kann daran liegen, dass die Spieler gemerkt haben, dass der Schiedsrichter Vergehen schnell ahndet", vermutet Hendrik Sonnabend.

Der kleine, große Kaiser

Grundlage für die Untersuchung ist der sogenannte "Napoléon-Komplex", der in der Psychologie allerdings umstritten ist. Die Theorie besagt, dass sich Menschen von geringerer Körpergröße, insbesondere Männer, eher aggressiv oder dominant verhalten, um ihre geringe Größe auszugleichen.

Bereits 2023 zeigte eine Studie zum Napoléon-Komplex, dass etwaige Kompensationsversuche weniger mit der tatsächlichen Körpergröße zu tun haben als mit dem Wunsch größer zu sein. Laut der Studie aus Padua neigen Menschen, die gerne größer wären, zu narzisstischen oder manipulativen Zügen.

Benannt ist die Theorie nach dem französischen Kaiser Napoléon Bonaparte. Der Irrglaube vom dem vermeintlich "kleinen Kaiser" beruht allerdings auf einem Umrechnungsfehler. Tatsächlich war Napoléon mit seinen 169 Zentimetern Körpergröße für seine Zeit eher durchschnittlich bis überdurchschnittlich groß.

Umgekehrter Napoleón-Komplex

Gleichzeitig gebe es laut Preprint bei Spielen aber auch den umgekehrten Napoleón-Komplex: Kleinere Spieler würden um 16 Prozent weniger bestraft als Spieler, die ähnlich groß sind wie der Schiedsrichter. Groß zu sein, gehe offenbar mit einer gewissen Gelassenheit einher, so die Forschenden.

Lehren aus dem Sport fürs Arbeitsleben?

Ob sich diese Vorab-Veröffentlichung tatsächlich belegen lassen, wird sich bei der wissenschaftlichen Begutachtung zeigen. Eigentlich forscht Hendrik Sonnabend im Bereich Arbeits- und Verhaltensökonomik. Seiner Ansicht nach lassen sich Beobachtungen im Sport zum Teil auch auf unser Verhalten im Alltag oder im Job übertragen.

Die Hagener Forschenden glauben, dass eine Voreingenommenheit in Bezug auf die Körpergröße auch in Vorstandsetagen, bei Bewerbungsverfahren und bei Leistungsbewertungen weit verbreitet sind. Und diese Voreingenommenheit wirke sich auch auf Karrierechancen, Beförderungen oder im Arbeitsalltag aus.

Autorität lasse sich aber nicht nur durch Bestrafung, sondern vor allem durch klare Ansagen und eine entsprechende Köpersprache erzeugen. Und eine Bewertung müsse – egal ob im Arbeitsalltag oder im Fußball - immer fair sein und dürfe nicht von anderen Merkmalen wie der Sympathie oder der Körpergröße verzerrt werden, so die Forschenden.

Quellen:

The Napoleon complex, revisited: Those high on the Dark Triad traits are dissatisfied with their height and are short, 2023

The Napoleon complex revisited: New evidence from professional soccer, 2024

Item URL https://www.dw.com/de/em-2024-beeinflusst-der-napoléon-komplex-schiedsrichter/a-69364162?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Bei der EM sollen die Schiedsrichter für mehr Transparenz sorgen und strittige Entscheidungen gegenüber den Spielern begründen.
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Item 72
Id 69352649
Date 2024-06-14
Title Diese Viren könnten die nächste Pandemie auslösen
Short title Diese Viren könnten die nächste Pandemie auslösen
Teaser In den USA breitet sich die Vogelgrippe unter Rindern aus, es gibt eine neue Coronavirus-Variante - aber besteht tatsächlich Grund zur Sorge? Internationale Experten analysieren, welche Viren Pandemiepotenzial haben.
Short teaser In den USA breitet sich die Vogelgrippe aus, und es gibt wieder eine neue Coronavirus-Variante. Besteht Grund zur Sorge?
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An der Spitze der Viren, die Potenzial für eine neuerliche Pandemie haben, stehen Influenza-Viren, so das Ergebnis einer internationalen Studie. 79 Prozent der für die Studie befragten Experten stuften sie als die Erreger ein, die am besorgniserregendsten sind.

Grundlage für die Studie war eine Liste von Erregern, die im "Aktionsplan für Forschung und Entwicklung (F&E) zur Verhütung von Epidemien" der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stehen. Dieser Plan konzentriert sich auf die wichtigsten Infektionskrankheiten und diente als Grundlage für die Studie.

Die Hauptfaktoren für die Einschätzungen der Experten: "Wie wird die Krankheit übertragen? Wie ist die Prävalenz? Welche Therapiemöglichkeiten gibt es? Wie ist das evolutionäre Potenzial?" fasst Hauptautor Jon Salmanton-García von der Medizinischen Fakultät am Universitätsklinikum Köln zusammen.

Insgesamt wurden 187 Antworten aus 57 Ländern abgegeben und ausgewertet. Erschienen ist die Studie im Fachmagazin "Science Direct". Hinter der Untersuchung steckt "Vaccelerate", ein von der EU finanziertes Netzwerk von etwa 500 klinischen Versuchsstandorten. Sie sollen zukünftigen Pandemien vorbeugen und die Impfstoffentwicklung optimieren.

Übertragungswege sind entscheidend

Mehr als 500 Millionen Menschen infizieren sich weltweit jedes Jahr mit dem Influenza-Virus. Zwischen 290.000 und 650.000 Personen sterben daran, so die Schätzungen der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) und der WHO.

Die Viren verbreiten sich durch Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch, etwa beim Niesen, beim Husten oder auch beim Sprechen. Die Symptome reichen von einer laufenden Nase über starken Husten bis hin zu Kopf- und Gliederschmerzen, Schüttelfrost und hohem Fieber.

"Jeden Winter haben wir eine Influenza-Saison. Man könnte sagen, dass es jeden Winter kleine Pandemien gibt", erklärt Salmanton-García. "Diese kleinen Pandemien sind aber mehr oder weniger unter Kontrolle, da die verschiedenen Stämme nicht virulent genug sind, also nicht ansteckend genug."

Influenza-Viren können auch verheerende Pandemien auslösen. Das hat sich in der Vergangenheit schon oft gezeigt: Die Spanische Grippe (1918 - 1919), verursacht durch H1N1, forderte 50 Millionen Menschenleben. Und der Hongkong-Grippe (1957 - 1958) fielen ein bis zwei Millionen Menschen zum Opfer. Sie wurde durch das Virus H3N2 ausgelöst.

Erreger mit nachweisbarem Pandemiepotenzial

An zweiter Stelle der gefährlichsten Erreger platziert fast die Hälfte der Experten die "Krankheit X", also eine unbekannte Erkrankung.

"Es gibt sehr viele seltene Viren. Deswegen ist die nächste Pandemie nicht notwendigerweise ein Virus, das in den Top 10 einer Liste auftaucht, sondern einer der vielen Erreger, die es nicht in die Top 10 geschafft haben. Das heißt aber nicht, dass diese Viren unbekannt sind", sagt Richard Neher von der Universität Basel.

Corona stellt noch immer eine Bedrohung dar

Das Corona-Virus stellten die Experten auf den dritten Platz. Für 40 Prozent von ihnen birgt SARS-CoV-2 noch immer eine große Gefahr. "Das SARS-CoV-2-Virus zirkuliert nach wie vor und verändert sich ständig", erklärt Neher. "Da wir aber jetzt nahezu alle eine Grundimmunität durch Impfung, Infektion oder beides haben, sind die Verläufe bei weitem nicht mehr so schlimm."

Direkt hinter SARS-CoV-2 rangiert SARS-CoV, das bereits im November 2002 in der südchinesischen Provinz Guangdong ausgebrochen war und 2003 zu einer globalen Pandemie in über 25 Ländern führte. China und andere asiatische Länder waren am schlimmsten betroffen.

Die beiden Coronaviren SARS-CoV-2 und das bereits früher entdeckte SARS-CoV verursachen zwar ähnliche Krankheiten, haben jedoch verschiedene epidemiologische und virologische Eigenschaften.

Das Ebola-Virus als möglicher Auslöser einer Pandemie

Auch das Ebola-Virus steht auf der Liste möglicher Pandemieauslöser. Entdeckt wurde es 1976. Seitdem hat es nahezu 30 pandemische Ausbrüche gegeben, die meisten davon in der Demokratischen Republik Kongo. Dort ist das Virus zum ersten Mal aufgetaucht und es kommt auch heute noch immer wieder zu Infektionen, genauso wie in der Republik Kongo, in Gabun, in Uganda und im Südsudan.

Zwischen 2014 und 2016 war die sogenannte Westafrika-Epidemie, der größte Ebola-Ausbruch in der Geschichte. Rund 28.600 Fälle wurden damals gemeldet. Die Zahl der Toten betrug mehr als 11.300. Betroffen waren Guinea, Liberia und Sierra Leone.

Das Virus kann hämorrhagisches Fieber auslösen, und es kommt zu inneren und zu äußeren Blutungen. Nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung enden 30 bis 90 Prozent der Fälle tödlich.

Viren mit eher geringem Pandemiepotenzial

Das Middle East Respiratory Syndrome Coronavirus MERS-CoV stuften 14 Prozent der Forschenden als potenziell pandemieauslösend ein.

Ähnliche Einschätzungen gaben die Experten auch für das Zika-Virus (12 Prozent) ab, das Krim-Kongo-Fieber (10 Prozent) und das Marburg-Virus (9 Prozent). Hantavirus, Lassa-Virus, Nipah-Virus und Henipavirus gehörten der Studie zufolge zu den Viren mit geringem Pandemiepotenzial.

Wie gefährlich ist die Vogelgrippe?

Die Vogelgrippe ist in der Liste von "Vaccelerate" nicht berücksichtigt, obwohl sich in den USA seit geraumer Zeit der Vogelgrippe-Virustyp H5N1 immer weiter ausbreitet. Unter anderem sind Milchviehherden befallen.

Nach Angaben der WHO haben sich seit 2003 mindestens 889 Menschen in 23 Ländern mit H5N1 infiziert, 463 davon starben. Eine Mensch-zu-Mensch-Übertragung wurde bislang nicht dokumentiert.

"Infektionen von Menschen mit dem Virustyp H5N1 sind nach wie vor selten und hängen mit dem Kontakt zu infizierten Tieren und der Umgebung zusammen", heißt es seitens der Weltgesundheitsorganisation. Richard Neher hat eher Bedenken.

"Die Ausbreitung von H5N1 in Milchkühen ist in der Tat besorgniserregend. Es scheint in den USA mittlerweile recht weit verbreitet zu sein. Andere Tiere auf den Höfen wie Katzen oder Vögel sowie vereinzelt Menschen stecken sich an. Die Ausbreitung des Wirtsspektrums auf Tiere mit so viel Kontakt zum Menschen macht den aktuellen H5N1 Ausbruch natürlich um einiges gefährlicher", so Neher.

Vorsorge ist besser

Vor dem Hintergrund der Ausbreitung des Vogelgrippevirus bei Rindern in den USA hat eine Gruppe europäischer Länder vorsorglich 665.000 Impfdosen gegen die H5-Viren bestellt. Die EU-Beschaffungsbehörde hat im Auftrag von 15 Staaten einen entsprechenden Vertrag mit dem britischen Pharma­unternehmen Seqirus unterzeichnet. Die ersten Impfdosen sind demnach für Arbeiter auf Geflügelfarmen in Finnland bestimmt.

Die nun vereinbarten Impfstofflieferungen können in den kommenden vier Jahren laut Vertrag um bis zu 40 Millionen zusätzliche Dosen ausgeweitet werden.

Es wird auch weiterhin Pandemien geben. Man könne zwar nicht in die Zukunft blicken, so Salmanton-García, aber sich vorbereiten. "Meine größte Sorge im Moment ist, dass wir vergessen, was wir gelernt haben: Die Hände gut waschen, keinen engen Kontakt mit Menschen, die wir nicht kennen, in den Ellbogen husten und nicht in die Hände. So können wir eine aktive Rolle bei der Kontrolle von Infektionen spielen."

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Image caption Das Grippevirus ist eines der gefährlichsten Viren
Image source Novartis Vaccines
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Item 73
Id 69349934
Date 2024-06-14
Title Gelingt der sozial gerechte Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas?
Short title Gelingt der sozial gerechte Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas?
Teaser Die nächste Weltklimakonferenz findet im November in Aserbaidschan statt. Zur Vorbereitung trafen sich in Bonn Delegierte und diskutierten über den gerechten Übergang zur erneuerbaren Energieversorgung.
Short teaser Bei der nächsten Weltklimakonferenz geht es um den gerechten Übergang zu den Erneuerbaren. Wie kann das gelingen?
Full text

Die letzte Klimakonferenz in Dubai markierte den "Anfang vom Ende" des Zeitalters der fossilen Brennstoffe. 200 Länder verpflichteten sich, von Kohle, Öl und Gas abzurücken und erneuerbare Energien auszubauen, um die globale Erwärmung auf möglichst 1,5 Grad zu begrenzen.

Aber wie kann die Welt den Übergang zu einer dekarbonisierten Wirtschaft auf faire und integrative Weise vollziehen, ohne schutzbedürftige Menschen und Länder mit niedrigem Einkommen zurückzulassen?

Die Frage des sogenannten "gerechten Übergangs" war das bestimmende Thema der bei den Klimaverhandlungen vom 3. bis 13. Juni mit 5000 Delegierten in Bonn. Die Unterhändler bereiteten den nächsten großen Klimagipfel vom 11. bis 22. November in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku vor und diskutierten über die Frage, wer für die steigenden Kosten des Klimawandels aufkommen soll.

"Es geht darum, durch Klimaschutzmaßnahmen soziale Gerechtigkeit zu erreichen", sagt Adriana Chavarría Flores von der Nichtregierungsorganisation Climate Strategies in London, die die Gespräche als Beobachterin begleitete, der DW. "Wir dürfen also die soziale Komponente nicht vergessen und müssen diese in den Mittelpunkt der Entscheidungen zum Klimaschutz stellen."

Worum geht es bei einem "gerechten Übergang"?

Bei einem "gerechten Übergang" geht es darum, die Vorteile einer nachhaltigen Wirtschaftsentwicklung möglichst allen gesellschaftlichen Gruppen zugänglich zu machen. Gleichzeitig sollen Länder, Regionen, Kommunen, Industrien und Arbeitnehmer unterstützt werden, die bei dem Umbau der Wirtschaft verlieren könnten.

Bei den Klimaverhandlungen in Bonn mit Regierungsvertretern und Mitgliedern der Zivilgesellschaft ging es darum, wie solch ein sozial "gerechter Übergang" in der Praxis aussehen könnte.

"Wir dürfen niemanden zurücklassen", sagt Simon Stiell, Chef des UN-Klimasekretariats. "Aber um das tatsächlich umzusetzen, müssen wir anfangen, konkrete Pläne zu schmieden. Wir müssen politische Maßnahmen entwickeln, die auf Dialog und Engagement mit allen Teilen der Gesellschaft basieren."

38 Prozent der Länder verweisen mittlerweile auf die Prinzipien eines "gerechten Übergangs". Einige Pläne seien detailliert, andere nur Lippenbekenntnisse, erläutern Konferenzbeobachter. Doch die Ausarbeitung von detaillierten Plänen sei unerlässlich, um Menschen, Länder und Industrien bei der Abkehr von fossilen Energien zu unterstützen.

"Die Frage ist nicht, ob wir einen gerechten oder ungerechten Übergang haben können. Das sollte nicht zur Debatte stehen", so Jodi-Ann Wang vom Grantham Research Institute an der London School of Economics (LSE). "Es geht darum, wie man es in den Planungsprozess einbaut."

Länder wie Chile haben bereits mit der praktischen Umsetzung begonnen. Die chilenische Regierung hat beispielsweise Einwohner, Unternehmen und Gewerkschaften in Regionen konsultiert, in denen Kraftwerke abgeschaltet werden. Kürzlich hat sie einen Aktionsplan für Tocopilla im Norden des Landes fertiggestellt, der Maßnahmen zur Ausweitung der Elektromobilität in der Stadt sowie zur Ausbildung von Menschen für die Arbeit in diesem Bereich umfasst.

Umschulungen für grüne Wirtschaft

Zum "gerechten Übergang" gehöre "Bildung, Ausbildung, Umschulung und Weiterbildung. "Dies schützt marginalisierte Gruppen und eigentlich alle, macht sie resilient, während sich Wirtschaft und Gesellschaft verändern", erklärt Wang gegenüber der DW.

"Manchmal bedeutet das auch, das Bildungssystem selbst zu reformieren und bestehende soziale und digitale Infrastrukturlücken anzugehen, die den Zugang für verschiedene Gruppen bereits unterschiedlich gestalten", fügt die Politikanalystin für nachhaltige Finanzierung hinzu.

Derzeit verfügt nur eine Minderheit der Arbeitnehmer über die erforderlichen Fähigkeiten für eine Tätigkeit im Bereich der "grünen Wirtschaft". Ein Bericht der Business-Networking-Plattform LinkedIn ergab, dass 12,5 Prozent der Plattformnutzer über mindestens eine solche Fähigkeit verfügen. Bei Frauen liegt der Anteil bei zehn Prozent.

Zu diesen Fähigkeiten gehören unter anderem die Reparatur von Elektrofahrzeugen, die Wissen rund um das Thema Klimawandel, der Bau von Solaranlagen oder Kenntnisse in der klimaneutralen Landwirtschaft.

Der Anteil der Menschen mit diesen Fähigkeiten wächst und die Nachfrage nach ihnen steigt rasant. Mehr als die Hälfte des Beschäftigungswachstums im Energiesektor im Jahr 2022 entfiel laut der Internationalen Energieagentur auf Branchen wie erneuerbare Energien.

Doch um die richtigen Entscheidungen zu treffen und die Menschen bei einem gerechten Übergang zu unterstützen, müssen die politischen Entscheidungsträger die Kommunen konsultieren und Daten sammeln. Das ist besonders wichtig in Ländern wie Kolumbien, Bangladesch oder Uganda, wo nur wenige Daten verfügbar sind, weil viele Menschen schwarz arbeiten.

"Wenn wir nicht wissen, wer betroffen sein wird, wie groß das Ausmaß ist, wie hoch die Kosten alternativer Lösungen sind, oder was alternative Lösungen überhaupt sind, wie sollen wir dann politische Maßnahmen ergreifen?", fragt Wang.

Der "gerechte Übergang" muss finanziert werden

Die Klimafinanzierung, einschließlich der Bezahlung von Klimaschäden, ist seit langem ein umstrittenes Thema, auch bei den diesjährigen Bonner Gesprächen. Die Unterhändler sind sich uneinig über die Größe des Klimafinanzierungstopfs, der Entwicklungsländern beim Umgang mit den Folgen des Klimawandels helfen soll.

Unklarheit herrscht auch darüber, wie die Mittel aufgeteilt werden sollen. Das Thema wird die Klimakonferenz in Aserbaidschan dominieren.

Das neue Ziel würde die vereinbarten 100 Milliarden Dollar pro Jahr ersetzen, die Länder mit hohem Einkommen von 2022 an - zwei Jahre nach der vereinbarten Frist - zu zahlen begonnen haben. Modelle deuten darauf hin, dass das neue Finanzziel, das bei der Klimakonferenz im November beschlossen werden soll, im Billionenbereich liegen könnte.

Für viele Länder mit niedrigem Einkommen ist eine gerechte und faire Umstellung auf erneuerbare Energien ohne ausländische Finanzierung nicht möglich. Die Finanzierung kann in Form von Zuschüssen oder zinsgünstigen Darlehen erfolgen.

In einigen Fällen verdienen wohlhabende Länder jedoch tatsächlich Geld, indem sie Klimagelder zu marktüblichen Zinsen verleihen, wie eine Analyse der Nachrichtenagentur Reuters ergab.

"Viele Entwicklungsländer geben heute mehr Geld für die Bedienung ihrer bestehenden Schulden aus als für die Bereitstellung grundlegender Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung für ihre Bevölkerung", sagt Wang von der LSE. "Das wirft die Frage auf, ob Kredite, die zu marktüblichen Zinsen angeboten werden, die Art von Finanzierung sind, die unter eine gerechte Übergangsfinanzierung fallen kann."

Wang hofft, dass bei der Finanzierungsfrage in Aserbaidschan der "gerechte Übergang" zumindest in einigen dieser Verhandlungen Erwähnung finden wird.

Redaktion: Jennifer Collins. Der Beitrag erschien zuerst in Englisch. Adaption: Gero Rueter

Quellen:

Clean technologies are driving job growth in the energy sector, but skills shortages are an increasing concern, IEA, 2023

COP28 Agreement Signals "Beginning of the End" of the Fossil Fuel Era, December 2023

Global Green Skills Report, LinkedIn, 2023

Item URL https://www.dw.com/de/gelingt-der-sozial-gerechte-ausstieg-aus-kohle-öl-und-gas/a-69349934?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Kohlekumpel in Polen: Jobs gehen verloren, neue entstehen bei den Erneuerbaren - der Umbau braucht gute Planung
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Item 74
Id 69343683
Date 2024-06-13
Title Deutschland: Spurensuche im "Atlantis der Nordsee"
Short title Deutschland: Spurensuche im "Atlantis der Nordsee"
Teaser Mythen ranken sich um Nordfrieslands "Atlantis der Nordsee", denn der einst florierende Handelsort Rungholt wurde im Mittelalter bei einer verheerenden Sturmflut zerstört. Heute analysieren Archäologen die Spuren.
Short teaser Mythen ranken sich um Rungholt, Nordfrieslands "Atlantis der Nordsee", das im Mittelalter bei einer Sturmflut versank.
Full text

Im Januar 1362 zerstört eine gewaltige Sturmflut große Teile der nordfriesische Küste. Bei der ersten "Grote Mandränke" schlagen die Wellen mehr als zwei Meter über die Deichkronen. Dutzende Deiche brechen, die Siedlung Rungholt geht zusammen mit sieben anderen Gemeinden im nordfriesischen Wattenmeer unter.

Im Laufe der Jahrhunderte wurde jenes Rungholt zu einem mystischen Ort, zu Nordfrieslands "Atlantis der Nordsee". Laut der Mythen soll Rungholt reich wie Rom gewesen sein, der Untergang sei eine Strafe Gottes für lasterhaftes Leben, Blasphemie und Hochmut.

Anfang des 20. Jahrhunderts fanden Archäologen bereits Spuren von dem versunkenen Ort wieder. Vor einem Jahr entdeckten Forschende dann auch die Umrisse einer hochmittelalterlichen Kirche in der Wattlandschaft. Einst maß das Gotteshaus 40 mal 15 Meter und bot vielen Gläubigen Platz.

Sturmfluten und absinkende Sedimente

Wo heute die Nordsee ist, war einst das europäische Festland mit den britischen Inseln verbunden. Durch den steigenden Meeresspiegel, Sturmfluten und absinkende Sedimente hat sich die Küstenlinie an der Nordsee immer wieder dramatisch verändert. Die Menschen waren gezwungen, immer weiter vor dem Meer zurückweichen.

Kein Jahrhundert verging ohne katastrophale Überschwemmungen, tausende Menschen ertranken im Laufe der Zeit in den Fluten. Wo einst fruchtbares Weideland war, ragen heute nur noch einige Inseln aus der unberechenbaren Nordsee.

Siedlungsspuren im Schlamm

Nur etwa einen halben Meter unterhalb der Wattoberfläche wechselt die Farbe des schlammigen Untergrunds vom typischen Grau zu einem roten Ton. Dabei soll es sich um das Fundament der einstigen Kirche handeln.

Das Team versucht, trotz nur wenig verbliebenen Materials ein vollständiges Bild von der Siedlungslandschaft zu bekommen, erklärt Geophysiker Dennis Wilken von der Uni Kiel. "Man kratzt hier die letzten Informationen aus dem Boden, die man noch haben kann - im wahrsten Sinne des Wortes."

Für die Archäologen ist das Watt, diese Mischung aus Sand und Schlick, vor allem wegen seiner Fähigkeit zu konservieren interessant. "Wir sehen hier einen Ausschnitt von einer mittelalterlichen Kulturlandschaft, die sozusagen eingefroren ist", so Bente Sven Majchczack von der Kieler Christian-Albrechts-Universität.

Im Gegensatz dazu seien Kulturlandschaften auf dem heutigen Festland über die Jahrhunderte häufig verändert worden. "Im Watt haben wir sozusagen ein eingefrorenes Foto", so Majchczack.

Das Team untersucht ein mehr als zehn Quadratkilometer großes Areal im Watt. Seit dem vergangenen Jahr wurden dort mit Hilfe geophysikalischer Messungen Dutzende mittelalterliche Wohnhügel gefunden, sogenannte Warften, wie sie noch heute auf Halligen existieren. Aber auch systematische Entwässerungssysteme, ein Deich sowie ein Hafen wurden entdeckt.

Wie groß war die mittelalterliche Siedlung?

Nach der verheerenden Sturmflut im Januar 1362 berichtete der Chronist Anton Heimreich von 21 gebrochenen Deichen an der nordfriesischen Küste. 100.000 Menschen sollen ums Leben gekommen sein. Allerdings ist diese sehr hohe Zahl wahrscheinlich übertrieben.

"Die Vorstellung, dass das ein Ort mit 2000 Einwohnern oder mehr gewesen ist wie in einer mittelalterlichen Stadt, das ist einfach Quatsch", so Archäologe Majchczack. Stattdessen habe es sich um Wohnhügel in einer Moorlandschaft gehandelt. Bisherige Funde legten die Vermutung nahe, dass dort schätzungsweise rund 1000 Menschen lebten.

"Das Moor wurde abgetragen, entwässert und eine landwirtschaftliche Nutzfläche daraus gemacht." Die entdeckte Kirche war wahrscheinlich der Mittelpunkt des Siedlungsgebietes.

Lebendiges Handelszentrum

Auch wenn es vermutlich keinen Stadtkern gab, stand die Siedlung doch im regen Austausch mit Reisenden und Händlern aus weitentfernten Gegenden. Denn im Watt wurden nicht nur einheimische Sachen gefunden, sondern auch Gegenstände aus der Ferne.

"Wir haben kleine Gewichte und Waagen gefunden. Das heißt, hier wurde Handel betrieben. Wir bekommen allmählich eine Idee von der Dimension", erklärt Archäologin Ruth Blankenfeldt vom Leibniz Zentrum für Baltische und Skandinavische Archäologie.

Zwar zerstörte die Sturmflut von 1362 einen Großteil von Rungholt, aber der Ort verschwand nicht auf einmal im Meer. Vielmehr zogen sich die Menschen schrittweise aus der Siedlung zurück.

"Wir kennen das ganz genau von späteren Sturmfluten. Solche Sachen sind immer eine schrittweise Aufgabe, ein schrittweiser Rückzug", so Majchczack. In manchen Bereichen sei es den Rungholtern gelungen, Deichlücken nach der verheerenden Flut wieder zu schließen, in anderen jedoch nicht.

Teilweise haben die Bewohner selbst zum Untergang mit beigetragen. Sedimentproben belegen, dass das Land durch den Torfabbau tiefer gelegt wurde. "Und Sturmfluten so ein leichteres Spiel hatten", so Geographin Hanna Hadler von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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Image caption Um zu verdeutlichen, wie groß die mittelalterliche Kirche war, positionieren sich knapp 20 Forschende entlang der Umrisse
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Item 75
Id 66747246
Date 2024-06-12
Title Dengue-Fieber: Was hilft und wie schützt man sich?
Short title Dengue-Fieber: Was hilft und wie schützt man sich?
Teaser Die WHO ist alarmiert über die extrem vielen Dengue-Infektionen auf dem amerikanischen Kontinent. Dengue wird von Stechmücken übertragen und kann lebensgefährlich sein. Dies sind wirksame Medikamente und Schutzmaßnahmen.
Short teaser Die WHO ist alarmiert über die extrem vielen Dengue-Infektionen. Dies sind wirksame Medikamente und Schutzmaßnahmen.
Full text

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist alarmiert
wegen der schon jetzt hohen Zahl von Dengue-Fällen in diesem Jahr.

Die Zahl der Infektionen steige schon seit fünf Jahren, aber seit Anfang 2024 sei die Lage auf den amerikanischen Kontinenten besonders besorgniserregend, berichtete die WHO in Genf. Bis April seien von dort mehr als sieben Millionen Fälle gemeldet worden, deutlich mehr
als die 4,5 Millionen Fälle im Gesamtjahr 2023.

Heftige Dengue-Ausbrüche werden seit Herbst 2023 aus vielen Ländern Südamerikas und Asiens gemeldet. Und auch in Europa ist die normalerweise nur in tropischen und subtropischen Regionen vorkommende Tropenkrankheit inzwischen angekommen.

Es gebe eine "Verbindung zwischen höheren Temperaturen im Sommer, einem milderen Winter und der Ausbreitung von Mücken weiter in Gebiete hinein, wo sie bislang noch nicht präsent sind", so das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten.

Laut ECDC breitet sich die Mückenart Aedes albopictus, die außer der Fiebererkrankung Dengue auch das Chikungunya- und das Zika-Virus überträgt, weiter im Norden, Osten und Westen Europas aus. Von dieser Art gebe es nun "sich selbsterhaltende Bestände" in 13 Ländern der untersuchten Region.

Darüber hinaus gibt es noch die Mückenart Aedes aegypti, die außer Dengue, Chikungunya und Zika auch noch Gelbfieber überträgt. Sie hat sich laut ECDC in jüngster Zeit in Zypern und anderen Gebieten an den Außenrändern der EU wie etwa auf der portugiesischen Insel Madeira angesiedelt

Wie verbreitet sich Dengue?

Dengue ist einen virale Krankheit, die in tropischen und subtropischen Klimazonen von Stechmücken übertragen wird und lebensgefährlich sein kann.

Auslöser für die schweren Ausbrüche des Dengue-Fiebers dürften die heftigen Regenfälle und die hohen Temperaturen der vergangenen Monate sein. Unter diesen Bedingungen kann sich die Gelbfiebermücke (Aedes aegypti) besonders gut entwickeln.

Aedes aegypti-Mücken sind besonders anpassungsfähig an städtische Umgebungen. Nicht ganz so anpassungsfähig ist die verwandte Art Aedes albopictus, die aufgrund ihrer markanten schwarz-weißen Markierung häufig als "Tigermücke" bezeichnet wird.

Aedes-Mücken sind eigentlich in tropischen und subtropischen Regionen heimisch. Denn Mücken lieben sehr warmes und feuchtes Klima.

Was sind die Symptome von Dengue-Fieber?

Dengue-Fieber ist keine harmlose Viruserkrankung, auch wenn schwere Verläufe oder gar Todesfälle eher selten sind. Die Symptome treten normalerweise vier bis zehn Tage nach einem Mückenstich auf.

Zu den häufigsten Symptomen gehören plötzliches hohes Fieber, sehr starke Kopfschmerzen, sehr unangenehme Gelenk- und Muskelschmerzen und Ausschlag, der sich vom Rumpf auf Arme, Beine und Gesicht ausbreitet. Außerdem leiden Infizierte unter Schmerzen hinter den Augen, Schwäche und Müdigkeit.

Bei starken Symptomen sollte sofort eine Ärztin oder einen Arzt aufgesucht werden, denn es kann auch zu Blutungen bis hin zu lebensbedrohlichen Komplikationen kommen.

Warum wird Dengue oftmals falsch behandelt?

Da sich viele Symptome ähneln, wird Dengue-Fieber oft mit Grippe oder anderen Infektionen wie Malaria oder Zika-Virus verwechselt und entsprechend falsch behandelt. Deshalb ist eine Sensibilisierung für die Tropenkrankheit in den Gesundheitsberufen so wichtig.

Es gibt keine einfachen und kostengünstigen Schnelltests für Dengue-Fieber. Für eine zuverlässige Diagnose braucht es Blutuntersuchungen in spezialisierten Laboren.

Welche Medikamente helfen und welche können schaden?

Da es bislang keine spezifische antivirale Therapie gibt, beschränkt sich die Behandlung auf die Linderung der Symptome. Weil Dengue-Fieber zu starkem Flüssigkeitsverlust führen kann, insbesondere durch Fieber und Erbrechen, muss auf eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr geachtet werden.

Fiebersenkende Medikamente wie Paracetamol (Acetaminophen) können zur Linderung von Fieber und Schmerzen verwendet werden. Die Verwendung von nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) wie Ibuprofen sollte dagegen vermieden werden, da sie das Risiko von Blutungen erhöhen können. Das gilt auch für Medikamente, die den Wirkstoff Acetylsalicylsäure enthalten, also zum Beispiel Aspirin, weil dieser Wirkstoff das Blut verdünnt.

Ist man nach einer Dengue-Infektion immun?

Es gibt vier verschiedene Dengue-Virus-Serotypen, die als DENV-1, DENV-2, DENV-3 und DENV-4 bezeichnet werden. Wer einmal von einem bestimmten Serotyp infiziert wurde, ist normalerweise immun gegen diesen Serotyp - allerdings nicht gegen die anderen. Außerdem kann die Immunität nach einer Dengue-Infektion im Laufe der Zeit schwächer werden.

Wie schützt man sich vor Tigermücken?

Asiatische Tigermücken sind tagaktiv und stechen bevorzugt in den Morgen- und Abendstunden im Freien zu. Sie meiden die pralle Sonne und halten sich gerne im Schatten auf. Deshalb sollte man tagsüber möglichst Mückenschutzmittel benutzen und lange Kleidung tragen, die auch Arme und Beine bedeckt. Weil Tigermücken nicht nachtaktiv sind, ist ein Mückennetz über dem Bett eigentlich nicht nötig.

Ihre Eier legt die Asiatische Tigermücke in kleine offene Wasserstellen, beispielsweise in Blumentöpfe, Regentonnen oder alte Autoreifen. Diese potentiellen Brutgelege sollte man meiden und am besten entfernen oder abdecken.

Gibt es Impfungen gegen Dengue?

Zugelassen sind derzeit zwei Impfstoffe. Der Dengvaxia-Impfstoff von Sanofi Pasteur bietet Schutz gegen alle vier Dengue-Virus-Serotypen und muss in mehreren Dosen verabreicht werden, um diesen ausreichenden Schutz zu entfalten.

Der Impfstoff hat allerdings einen Nachteil: Nach einer Dengvaxia-Impfung besteht ein erhöhtes Risiko für einen schweren Dengue-Krankheitsverlauf, wenn man später durch einen Stich infiziert wird.

Werden nach der Impfung nicht genügend Antikörper produziert, um eine vollständige Immunität gegen alle vier Dengue-Virus-Serotypen aufzubauen, kann es zu einer sogenannten "Antikörper-abhängigen Verstärkung" (ADE) kommen. Die Viruspartikel können dann in die Zellen eindringen und die Infektion verschlimmern, anstatt sie zu bekämpfen.

Deswegen wird Dengvaxia in Europa praktisch nicht verwendet. Meistens wird der Impfstoff nur in Gebieten empfohlen, in denen Dengue bereits endemisch ist, also bereits dauerhaft und regelmäßig vorkommt.

Der zweite Impfstoff, Qdenga von Takeda, wurde erst im Dezember 2022 durch die EU-Kommission zugelassen. Er führt zu weniger Nebenwirkungen und kann ab einem Alter von vier Jahren eingesetzt werden. Allerdings schützt der neue Impfstoff nur gegen drei Dengue-Serotypen zuverlässig, aber nicht gegen DENV-4.

Dieser Artikel wurde zuletzt am 13.06.24 aktualisiert

Item URL https://www.dw.com/de/dengue-fieber-was-hilft-und-wie-schützt-man-sich/a-66747246?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Das Dengue-Fieber wird hauptsächlich durch Aedes aegypti-Mücken übertragen.
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Item 76
Id 69341531
Date 2024-06-12
Title Europawahl: Grünes Debakel - ist Jungwählern das Klima egal?
Short title Europawahl: Grünes Debakel - ist Jungwählern das Klima egal?
Teaser Das Parlament der EU steht vor einem Rechtsruck. Der Stimmenzuwachs für die Rechten in Deutschland und die herben Verluste der Grünen, besonders unter jungen Wählern, stechen heraus. Wie lässt sich das erklären?
Short teaser Das Parlament der EU steht vor einem Rechtsruck. Wie lassen sich die Verluste der Grünen bei jungen Wählern erklären?
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Die Europawahl wurde am vergangenen Wochenende zu einem rechtsnationalen Beben. Aus den Wahlen für das neue Europaparlament ging in Deutschland die Alternative für Deutschland (AfD) als zweitstärkste Partei hervor. Eine Abstrafung der Bundesregierung und der etablierten Parteien.

Die Grünen müssen mit minus acht Prozentpunkte die größten Verluste im Vergleich zu der Europawahl 2019 hinnehmen. Gerade das Wahlverhalten junger Wähler lässt aufhorchen.

Sechszehn Prozent der 16- bis 24-Jährigen wählten AfD, rund dreimal so viel wie vor fünf Jahren. Die Grünen kommen in der Altersgruppe gerade mal auf 11 Prozent, ein Verlust von 23 Prozentpunkten im Vergleich zu 2019. Damals lag das Wahlalter noch bei 18 Jahren.

Und das, obwohl laut der Umfrage "Zukunft? Jugend fragen! - 2023" vom Bundesumweltministerium und dem Bundesumweltamt acht von zehn Menschen zwischen 14 und 22 Jahren in Deutschland der Klimaschutz wichtig ist. Warum haben sich nach dem großen Wahlerfolg von 2019 so viele junge Menschen von den Grünen abgewendet?

Entfremdung von den Grünen?

Matthias Jung von der "Forschungsgruppe Wahlen", einem führenden deutschen Wahlforschungsinstitut, erklärt die herben Verluste der Grünen auch mit einer Entfremdung einiger Stammwähler, besonders unter der pazifistisch geprägten Anhängerschaft.

"Die Grünen kommen in der langfristigen Betrachtung aus einer pazifistischen Ecke und momentan sind sie bei uns die hartnäckigsten Vertreter einer militärischen Unterstützung der Ukraine", so Jung.

Laut Jung läuft die Sicherheitspolitik, Migration, dem Thema Klima- und Umweltschutz gerade den Rang ab. Klimaschutz habe "in der Gesamtbevölkerung und damit auch in allen Altersgruppen relativ an Bedeutung verloren und damit spielen natürlich auch die Fragen von Klima und Umwelt bei dieser aktuellen politischen Lage nicht die große Rolle, wie wir das vielleicht vor einiger Zeit gewohnt waren", so Jung.

In diese Richtung zeigen auch die Ergebnisse der Umfrage "Zukunft? Jugend fragen! - 2023". Zwar sind Klima- und Umweltschutz nach wie vor eine Priorität bei jungen Menschen, sie belegen bei den wichtigsten Themen aber nur noch Platz sieben, hinter Fragen zum Bildungs- und Gesundheitswesen, sozialer Gerechtigkeit, Inflation und Lebenskosten. 2019 hatte das Thema bei derselben Umfrage noch oberste Priorität.

Auch wenn das Thema Umwelt- und Klimaschutz bei jungen Wählern noch wichtig ist, hat sich dies im Wahlverhalten aber nicht niedergeschlagen. Die Klimabewegung habe in den letzten Jahren an Zustimmung verloren, konstatiert Sebastian Koos, Professor für Soziologie und soziale Bewegungen an der Universität Konstanz.

In der aktuellen Krisensituation kämpfe die Klimabewegung um Aufmerksamkeit und politische Erfolge. "Sie steht derzeit auf keinem einfachen Posten, gerade auch bei jungen Menschen, die sich orientieren", so Koos.

Neue, kleine Parteien punkten, AfD zielt mit TikTok auf junge Menschen

Kleinere Parteien - wie Volt oder die Tierschutzpartei - kommen laut Infratest dimap bei den 16‑ bis 24‑Jährigen auf insgesamt 28 Prozent. Dies könnte ein deutlicher Hinweis darauf sein, dass die junge Wählergruppe von den Inhalten der etablierten Parteien generell enttäuscht ist.

Durch kleine Parteien wie Volt bekämen grünaffine Gruppen auch noch mal ein zusätzliches Angebot. Klimaneutralität hat für Volt Priorität. Bis 2040 soll die EU sauber wirtschaften, statt wie bisher geplant bis 2050. Die Partei habe damit bei den unter 30-Jährigen mit fast acht Prozent ein weit überdurchschnittliches Ergebnis geholt, so Jung.

Die rechte AfD hat wie keine andere deutsche Partei gezielt junge Menschen angesprochen - und das hat sich ausgezahlt, sagen Experten.

Durch Kampagnen in den sozialen Medien - vor allem auf TikTok und Instagram - sei es der AfD gelungen mit emotionalen und leicht verständlichen Botschaften, den Nerv der jungen Menschen zu treffen.

Unzufriedenheit mit der Regierung aus SPD, FDP und Grüne

Gleichzeitig hakt es in der Ampelregierung aus Liberalen (FDP), Sozialdemokraten (SPD) und Grünen an vielen Stellen. Durch das Urteil des Verfassungsgerichts, die deutsche Staatsverschuldung zu begrenzen, entstand ein Milliardenloch beim Klimaschutz.

"Ich bin sehr enttäuscht von der Ampelpolitik und ich glaube nicht nur ich, sondern meine ganze Generation, denn die wurde ausgespart! Ich bin total frustriert und kann die Sorgen teilen!", sagt die 19-jährige Samira Ghandour, Aktivistin bei der Jugendbewegung Fridays For Future. Sie hat zum ersten Mal gewählt. Für wen sie ihr Kreuz gemacht hat, wollte sie nicht preisgeben.

Dass viele junge Wählerinnen und Wähler Kleinstparteien gewählt haben, die sich ebenfalls für Menschenrechte, Frauenrechte, den Klimaschutz und eine plurale Gesellschaft einsetzen würden, macht ihr Hoffnung.

Für Aurélien Saussay Assistenz Professor an der London School of Economics scheitert grüne Politik derzeit vor allem daran den Menschen zu erklären, dass die Reformen nicht zu einem schlechteren Lebensstandard und höheren Kosten führen müssen.

Als Beispiel nennt er das Heizungsgesetz in Deutschland. In Zukunft sollen mehr Haushalte in Deutschland ihre Öl- oder Gasheizung durch Wärmepumpen ersetzen. Das Gesetzt mache laut Saussay aus ökonomischer und ökologischer Sicht absolut Sinn.

Wie es umgesetzt wurde, geriet allerdings zum Desaster. Das Gesetz sei als ungerecht wahrgenommen worden, "was zu heftiger Ablehnung führte, weil es als ein Gesetz wahrgenommen wurde, das den Haushalten, die es sich nicht unbedingt leisten konnten, sehr hohe Investitionen aufzwingt", so Saussay.

Hat radikaler Klimaprotest junge Wähler abgeschreckt?

Laut der Umfrage "Zukunft? Jugend fragen! - 2023", finden über 60 Prozent der jungen Menschen, dass Klimaaktivisten mit ihren Aktionen übertriebene Panik verbreiten.

Dieser Wert habe sich seit 2021 laut Angelika Gellrich vom Umweltbundesamt fast verdoppelt. Über 80 Prozent der Befragten jungen Menschen gehen Protestformen wie Sachbeschädigungen oder Straßenblockaden zu weit.

Dort habe man ganz klar gesehen, "dass dies auf relativ wenig Verständnis stößt und, dass man es auch nicht für ein geeignetes Mittel hält, um die Mehrheit der Gesellschaft damit zu gewinnen."

Erstwählerin Ghandour von Fridays for Future glaubt indessen nicht, dass das friedliche Blockieren von Flughäfen oder Straßen dem Ansehen der Klimabewegung geschadet hat.

Sie könne aber verstehen, weshalb Menschen diese Art von Aktionen problematisch fänden. "Das ist auch ein Grund, warum ich mich bei Fridays for Future beteilige und bei keiner anderen, weil ich glaube, dass friedlicher Massenprotest immer noch die beste Form ist, um die Zivilgesellschaft zu mobilisieren."

Item URL https://www.dw.com/de/europawahl-grünes-debakel-ist-jungwählern-das-klima-egal/a-69341531?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/69316978_302.jpg
Image caption Betretene Gesichter am Wahlabend: Spitzenkandidatin Terry Reintke (M.) - flankiert von den beiden Parteivorsitzenden Ricarda Lang und Omid Nouripour
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Item 77
Id 69325401
Date 2024-06-11
Title Welchen Einfluss hat der Klimawandel auf Überschwemmungen?
Short title Wie der Klimawandel Überschwemmungen beeinflusst
Teaser Welche Rolle spielt der Klimawandel bei extremen Regen? Gibt es mehr und schlimmere Überschwemmungen weil die Temperaturen steigen? Fünf Grafiken erklären die Zusammenhänge.
Short teaser Gibt es mehr Überschwemmungen weil die Temperaturen weltweit steigen? Fünf Grafiken zeigen die Zusammenhänge.
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Nach besonders starken Regenfällen gab es zuletzt in Österreich und in Süddeutschland zahlreiche Überschwemmungen. Tausende Menschen mussten evakuiert werden.

Schwere Überschwemmungen trafen dieses Jahre bereits eine Reihe von Ländern. Die Vereinigten Arabischen Emirate und Oman erlebten im Frühjahr die schwersten Regenfälle seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Überschwemmungen in Kenia forderten zahlreiche Todesopfer und lösten Erdrutsche aus. In Brasilien verwüsteten Überschwemmungen eine Fläche der Größe Großbritanniens, über eine halbe Million Menschen wurden obdachlos.

Während Überflutungen an Küsten vor allem durch Wind und Flut verursacht werden, sind Überschwemmungen durch Flüsse, Grundwasser und Sturzfluten alle auf starken Regen zurückzuführen. Global steigende Temperaturen, die durch die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas verursacht werden, führen in den meisten Teilen der Welt zu häufigeren und heftigeren Regenfällen.

Wieso gibt es mehr extreme Überschwemmungen?

Die Modellierung von Niederschlagsmustern ist komplex. Doch es gibt eine einfache physikalische Grundlage: Warme Luft kann mehr Feuchtigkeit aufnehmen. Kühlt sie wieder ab, wird diese Feuchtigkeit zu Regen.

Treibhausgase, die in die Atmosphäre gelangen, wirken wie eine warme Decke über der Erde, die Wärme festhält. So steigen die Temperaturen an. Dadurch verdunstet mehr Wasser. Das zusätzliche Wasser in der Luft führt dann zu erhöhten Niederschlägen über Land oder Wasser. Und wenn eine große Menge Regen innerhalb sehr kurzer Zeit fällt, kann das zu schweren Überschwemmungen führen.

Bei einem Grad Celsius Temperaturanstieg kann die Luft sieben Prozent mehr Feuchtigkeit speichern. Seit der vorindustriellen Zeit sind die globalen Lufttemperaturen im globalen Durchschnitt.

Steigende Temperaturen führen auch dazu, dass mehr Niederschlag als Regen und weniger als Schnee fällt. Das kann in Bergregionen zu mehr Überschwemmungen und Erdrutschen führen. Eine 2022 in der Wissenschaftszeitschrift Nature veröffentlichte Studie ergab, dass in schneereichen Bergregionen der nördlichen Hemisphäre die Niederschlagsextreme pro ein Grad Celsius Erwärmung um durchschnittlich 15 Prozent zunahmen.

Mehr Regen durch den Klimawandel?

Der Klimawandel verändert die Häufigkeit von schweren Regenfällen bei Stürmen, weil die steigenden Temperaturen komplexe Wettermuster beeinflussen.

Bei einem globalen Temperaturanstieg von 1,5 Grad, auf den die Erde derzeit zusteuert, werden Starkniederschläge 1,5-mal pro Jahrzehnt häufiger sein als vor der Industrialisierung. Gleichzeitig steigt dabei die Niederschlagsmenge um rund 10 Prozent, das zeigen Berechnungen des Weltklimarats IPCC.Im vergangenen Jahr gab es in Europa rund sieben Prozent mehr Regen als üblich. In den meisten Teilen des Kontinents war das Wetter feuchter als im Durchschnitt. Schwere Niederschläge lösten unter anderem in Italien, Norwegen, Schweden und Slowenien Überschwemmungen aus.

Fortschritte in der sogenanntenAttributionswissenschaft ermöglichen es Experten, den kausalen Zusammenhang zwischen Klimawandel und extremen Wetterereignissen inzwischen genauer zu bestimmen. Einer Schätzung zufolge ist im Schnitt jedes vierte Rekordregenextrem in den letzten zehn Jahren auf den Klimawandel zurückzuführen.

Zwar gibt es noch keine Studien zu den genauen Ursachen für die jüngsten Überschwemmungen im Süden Deutschlands. Doch es kommt laut Messungen immer häufiger zu heftigen Regenfällen. Im vergangenen Jahr waren die durchschnittlichen Niederschläge 20 Prozent höher als im Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2020.

Und die verheerenden Überschwemmungen, die 2021 einige Regionen im Westen Deutschlands sowie in Ost-Belgien und den Niederlanden verwüsteten, stehen in direktem Zusammenhang mit dem Klimawandel.

Durch den globalen Temperaturanstieg waren die Niederschläge dort um drei bis 19 Prozent stärker und 1,2- bis neunmal wahrscheinlicher. Das berechneten Wissenschaftler der World Weather Attributionim vereinigten Königreich.

Die Wahrscheinlichkeit der jüngsten Überschwemmungen in Brasilien hat sich laut Berechnungen durch den globalen Temperaturanstieg verdoppelt, und die Heftigkeit solcher Extreme um bis zu neun Prozent erhöht.

Wie viele Menschen sind von Überschwemmungen betroffen und wo leben sie?

Überschwemmungen zählen zu den häufigsten Naturkatastrophen und haben oft verheerende Folgen. Die starken Wassermassen können Menschen, Häuser, Straßen, Tiere und fruchtbare Böden mitreißen und hinterlassen oft hohe wirtschaftliche Schäden.

Seit dem Jahr 2000 ist der Anteil der Menschen, die von Überschwemmungen betroffen sind, geschätzt um 24 Prozent gestiegen.

Fast jeder vierte Mensch ist der Gefahr eines Jahrhunderthochwassers ausgesetzt. Mit diesem Begriff werden Überschwemmungen bezeichnet, die so schwerwiegend sind, dass sie im Schnitt nur einmal pro Jahrhundert auftreten.

In Europa ist Deutschland das Land mit der höchsten Zahl von Menschen, die von Überschwemmungen bedroht sind, gefolgt von Frankreich und den Niederlanden. Im Jahr 2023 überschritt ein Drittel aller europäischen die "hohen" Hochwasserschwellenwerte und 16 Prozent der Flüsse die "schweren" Warnwerte.

Auch wenn Überschwemmungen überall in der Welt auftreten können, einige Regionen sind weitaus stärker betroffen als andere.

Fast 90 Prozent der Menschen, die einem hohen Hochwasserrisiko ausgesetzt sind, leben in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. Die meisten wohnen in Süd- und Ostasien, davon 395 Millionen Menschen in China und 390 Millionen in Indien.

Und immer mehr Menschen leben in Gebieten mit sehr hohem Überschwemmungsrisiko, laut einer Studie ist ihre Zahl seit 1985 um 122 Prozent gestiegen. Die Hauptursache ist dabei, dass immer mehr Menschen in Städte ziehen, und die Städte liegen sehr häufig an Wasserstraßen.

Gibt es in Zukunft mehr Hochwasser?

Das Risiko extremer Überschwemmungen nimmt zu, wenn die Erderwärmung weiter steigt.

Steigt die globale Tempertur auf zwei Grad über dem vorindustriellen Niveau, werden laut Weltklimarat pro Jahrzehnt starke Niederschlägen 1,7-mal häufiger. Zudem steigt die Intensität dieser Niederschläge um 14 Prozent.

Falls sich die Welt auf vier Grad Celsius erwärmt, könnten schwere Regenfälle, die früher einmal pro Jahrzehnt auftraten, fast dreimal so häufig auftreten und sich die Regenmenge um 30 Prozent erhöhen.

Ausbleibender Klimaschutz wird dabei teuer. Ohne Anpassungsmassen könnten bei einer Temperaturerhöhung auf drei Grad allein in Europa bis zum Jahr 2100 Flutschäden von 48 Milliarden Euro pro Jahr entstehen. Das zeigen Berechnungen der EU-Kommission. Durch Anpassungsmaßnahmen wie etwa der Wiederherstellung von Feucht- und Überschwemmungsgebieten könnten diese Kosten erheblich reduziert werden.

Redaktion: Sarah Steffen. Der Beitrag erschien in Englisch und wurde von Gero Rueter adaptiert.

Quellen:

IPCC-Bericht 2021,

https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg1/downloads/report/IPCC_AR6_WGI_SPM_final.pdf

Europa 2023: Wetterextreme

https://climate.copernicus.eu/widespread-floods-severe-heatwaves-esotc-2023-puts-europes-climate-focus

Weltwetter-Zuordnung (World Weather Attribution)

https://www.worldweatherattribution.org/heavy-rainfall-which-led-to-severe-flooding-in-western-europe-made-more-likely-by-climate-change/

Item URL https://www.dw.com/de/welchen-einfluss-hat-der-klimawandel-auf-überschwemmungen/a-69325401?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Durch Überschwemmungen verloren in Brasilien im Mai 2024 hunderttausende Menschen ihre Häuser
Image source Diego Vara/REUTERS
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