DW

Item 1
Id 72562765
Date 2025-05-19
Title Die AfD und ihre europäischen Geschwister
Short title Die AfD und ihre europäischen Geschwister
Teaser Fast überall in Europa sind Rechtsaußen-Parteien auf dem Vormarsch. Doch während die AfD in Deutschland von anderen Parteien gemieden wird, hat man in vielen anderen Ländern kaum Berührungsängste.
Short teaser Anders als in Deutschland hat man in anderen Ländern Europas kaum Berührungsängste mit Rechtsaußen-Parteien.
Full text

Das Bundesamt für Verfassungsschutz hat die Partei Alternative für Deutschland Anfang Mai als "gesichert rechtsextremistisch" eingestuft. Dagegen geht die AfD juristisch vor. Der Verfassungsschutz hat die Einstufung deshalb erstmal auf Eis gelegt, hält aber an seiner inhaltlichen Einschätzung fest. Aber die Brandmarkung als rechtsextrem hat die Debatte über ein Verbot der Partei neu angeheizt.

Wie sieht es in anderen europäischen Ländern bei ähnlichen Parteien aus? Von Verboten ist dort nirgendwo die Rede. Im Gegenteil, in einigen Ländern sind solche Parteien an Regierungen beteiligt oder führen sie sogar.

Österreich: Freiheitliche Partei Österreichs

Der österreichische Bundeskanzler Christian Stocker von der konservativen ÖVP sieht die FPÖ von Herbert Kickl nicht als rechtsextrem und kennt auch keine Brandmauer, wie sie in Deutschland andere Parteien zur AfD hochgezogen haben. Kein Wunder, hat die ÖVP doch schon zweimal Koalitionsregierungen mit der FPÖ gebildet, das erste Mal bereits im Jahr 2000. Das war damals in der EU ein Skandal, die übrigen EU-Staaten beschränkten ihre Kontakte zur Wiener Regierung für einige Monate auf ein Mindestmaß.

Die FPÖ ist eine relativ alte Partei in der österreichischen Parlamentsgeschichte. Sie wurde 1955 von ehemaligen Nazis gegründet, hat sich später aber gemäßigt. Wie die AfD ist die FPÖ einwanderungs-, globalisierungs- und EU-kritisch. Vielleicht wegen ihrer zahlreichen Regierungsbeteiligungen, auch auf Landesebene, gibt sich die FPÖ aber kompromissbereiter und weniger ideologisch. Im vergangenen Jahr wurde sie bei der Parlamentswahl erstmals stärkste Kraft. Trotzdem gelang es ihr nicht, wieder eine Koalition mit der ÖVP zu bilden. Allerdings liegt sie inzwischen in den Umfragen noch stärker in Führung als bei der Wahl.

Frankreich: Rassemblement National

Der Rassemblement National (deutsch: Nationale Sammlungsbewegung) hat seit der Gründung 1972 einen langen Weg zurückgelegt. Marine Le Pen, Tochter von Parteigründer Jean-Marie Le Pen, hat den Front National umbenannt und - ein wenig - in die Mitte geführt. So ist die Partei zwar nach wie vor einwanderungs- und islamkritisch, aber gibt sich heute nicht mehr antisemitisch. Dieser Kurs hat ihr neue Wählerschichten zugeführt. Dreimal kandidierte Le Pen bei Präsidentschaftswahlen, unterlag zwar spätestens in der Stichwahl, konnte ihren Stimmenanteil aber jeweils steigern. Bisher schließt ein Gerichtsurteil wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder Marine Le Pen für fünf Jahre von Wahlen aus. Sollte sie doch noch einmal antreten können oder Parteichef Jordan Bardella kandidieren, geben bisherige Umfragen ihr oder ihm gute Chancen, Sieger zumindest der ersten Runde zu werden. Bei der Parlamentswahl 2024 wurde der RN bereits stärkste Kraft.

Sehr französisch - und hier liegt ein deutlicher Unterschied zur AfD - ist der Hang des RN zum Protektionismus und Etatismus, also der Glaube an den Staat als großen Problemlöser. Von der AfD hat sich Le Pen ohnehin distanziert. Angeblich ist ihr die deutsche Partei zu radikal, aber das könnte ein innenpolitischer Schachzug sein, um seriöser zu erscheinen.

Italien: Fratelli d'Italia

An der Spitze der Brüder Italiens steht ausgerechnet eine Frau, und Giorgia Meloni ist die wohl erfolgreichste Regierungschefin der radikalen Rechten in Europa. Viele Fratelli sehen den Faschismus, die italienischen Spielart des Nationalsozialismus, durchaus positiv. Giorgia Meloni hat einmal gesagt, sie habe "ein unbeschwertes Verhältnis zum Faschismus", und der einstige faschistische Regierungschef und Hitler-Verbündete Benito Mussolini sei "ein guter Politiker" gewesen.

Im Wahlkampf 2022, der ihre Partei an die Macht brachte, lautete ihr Slogan "Gott, Familie und Vaterland". Vor allem gesellschaftspolitisch sind Meloni und ihre Partei radikal rechts: Sie wettern gegen Abtreibungen, Homosexuelle und LGTBQ - gegen Migranten sowieso. Doch im Gegensatz zu vielen ähnlich gestrickten Politikern Europas bezieht Meloni klar Stellung gegen Russland im Ukraine-Krieg. Vor allem deswegen sprach sie auch von "unüberbrückbaren Differenzen" zur AfD. Gleichzeitig hat Meloni ein enges Verhältnis zu US-Präsident Donald Trump und wird deshalb in Brüssel als transatlantische Vermittlerin geschätzt.

Schweden: Sverigedemokraterna

Die Wurzeln der Schwedendemokraten liegen in der rechtsextremistischen Bewegung Bevara Sverige Svenskt (deutsch etwa: "Schweden soll schwedisch bleiben"). Kurz vor der Jahrtausendwende versuchte die Partei, sich von ihrem alten Milieu zu lösen und gemäßigter aufzutreten. Der jetzige Parteichef Jimmie Akesson setzt diesen Kurs fort und hat erreicht, dass die Schwedendemokraten bei der Reichstagswahl 2022 zweitstärkste Kraft wurden. Die Partei unterstützt seitdem die Minderheitsregierung des konservativen Regierungschef Ulf Hjalmar Kristersson.

Wichtigstes Thema ist - wie in anderen Ländern auch - die Einwanderung. Vor allem die in Schwedens Großstädten verbreitete Bandenkriminalität hat den Schwedendemokraten dort große Wahlerfolge beschert. Untypisch für eine Partei ihrer Ausrichtung ist dagegen, dass sie sich inzwischen zum Klimaschutz bekennt.

Niederlande: Partij voor de Vrijheid

Seit der Parlamentswahl 2023 ist die Partei für die Freiheit von Geert Wilders stärkste Kraft und führt zusammen mit drei anderen Parteien eine Koalitionsregierung. Weil den Partnern Wilders zu radikal war, wurde der parteilose Dick Schoof Ministerpräsident. Die PVV ist insofern ein Unikum, als Wilders das einzige Parteimitglied ist, selbst Abgeordnete und Minister sind offiziell nur Unterstützer der Partei. Dadurch kann Wilders auch das Parteiprogramm allein bestimmen und Kandidaten für Wahlen selbst ernennen.

Schwerpunkt der PVV ist der Kampf gegen Einwanderung und vor allem gegen den Islam. Besonders weit geht Wilders mit seinem Ziel, den Koran und alle neuen Moscheebauten zu verbieten. Vor der jüngsten Wahl sagte Wilders allerdings, er werde seine Ansichten über den Islam "in die Gefriertruhe" legen, um regieren zu können. Ansonsten macht er gegen Klimaschutz und gegen eine als übergriffig empfundene EU mobil.

Großbritannien: Reform UK Party

Die Partei hat eine mehrfache Wandlung hinter sich: Aus einer Abspaltung der UK Independence Party, deren Hauptziel der Brexit, also der Austritt Großbritanniens aus der EU war, wurde die Brexit Party. Als das Ziel Brexit erreicht war, wurde sie in Reform UK Party umbenannt. Die entscheidende Rolle spielte jedesmal Nigel Farage, Schreckgespenst der etablierten britischen Politik.

Inzwischen hat sich die Partei vor allem eine drastische Senkung der Einwandererzahlen auf die Fahnen geschrieben - und treibt damit die regierende Labour-Partei, aber auch die Konservativen vor sich her. Beiden wirft Farage Untätigkeit vor. Mit Erfolg: Labour-Premier Keir Starmer hat jüngst versprochen, sowohl die illegale wie die Arbeitsmigration drastisch zu senken, nur Tage nach dem guten Abschneiden von Reform UK bei Kommunalwahlen. Nach jüngsten landesweiten Umfragen liegt Reform UK sogar knapp vor Labour und den Konservativen. Das offizielle britische Ziel der Klimaneutralität nennt Vizeparteichef Richard Tice "absurd".

Item URL https://www.dw.com/de/die-afd-und-ihre-europäischen-geschwister/a-72562765?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71522023_302.jpeg
Image caption AfD-Chefin Alice Weidel in der Mitte - aber längst nicht alle europäischen Rechtspolitiker wollen mit ihr zusammen gesehen werden
Image source DW
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/71522023_302.jpeg&title=Die%20AfD%20und%20ihre%20europ%C3%A4ischen%20Geschwister

Item 2
Id 72567036
Date 2025-05-18
Title Was bedeutet das Ende der US-Sanktionen für Syrien?
Short title Was bedeutet das Ende der US-Sanktionen für Syrien?
Teaser US-Präsident Donald Trump hat angekündigt, Sanktionen gegen Syrien aufzuheben. Damit könnte für das kriegsgebeutelte Land vieles leichter werden. Doch es bleiben Fragen offen.
Short teaser Die USA wollen ihre Sanktionen gegen Syrien aufheben. Steht das ehemalige Bürgerkriegsland vor einer rosigen Zukunft?
Full text

Auf den Straßen Syriens wurde diese Woche wieder gefeiert. US-Präsident Donald Trump hatte angekündigt, die US-Sanktionen gegen das Land vollständig aufzuheben. Nach 45 Jahren der internationalen Isolation blicken die Syrer und Syrerinnen nun wieder mit mehr Freude und Hoffnung auf die Zukunft ihres vom Krieg zerrütteten Landes.

"Die Zeit Syriens ist gekommen. Wir heben [die Sanktionen] alle auf", sagte Trump am Dienstag während seines Besuchs in mehreren Golfstaaten. "Viel Glück, Syrien. Zeigt uns, dass ihr zu etwas ganz Besonderem fähig seid."

Syriens Außenminister Asaad al-Schaibani bezeichnete die Ankündigung als "entscheidenden Wendepunkt" und "wichtige Chance für Syrien, Stabilität, wirtschaftliche Unabhängigkeit und einen wirklichen nationalen Wiederaufbau durch und für das syrische Volk zu erreichen".

Noch keine Einzelheiten bekannt

Noch ist jedoch unklar, ob die Aufhebung der Sanktionen nur bestimmte Bereiche betrifft, wie internationale humanitäre Hilfen, den Bankensektor oder allgemeine Geschäftstätigkeiten, oder ob sie an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. Die EU zum Beispiel hat bereits einige Sanktionen aufgehoben, andere gelten jedoch noch immer. Am Donnerstag schlug die außenpolitische Sprecherin der EU-Kommission, Kaja Kallas, vor, die Sanktionen gegen Syrien weiter zu lockern.

"Angesichts der Bandbreite der gegen Syrien erhobenen Maßnahmen bleibt abzuwarten, ob Trumps Worten Taten folgen", meint Julien Barnes-Dacey, Direktor des Nahost- und Nordafrika-Programms beim Thinktank European Council on Foreign Relations (ECFR) im Gespräch mit der DW. "Dieser Prozess könnte länger dauern, als vielen Syrern lieb ist."

"Sollten zentrale US-Sanktionen jedoch aufgehoben werden können und sollte dies einhergehen mit einer stabileren Sicherheitssituation vor Ort, gäbe es deutlich bessere Bedingungen, um wirtschaftliche Hilfen ins Land zu bringen. Andernfalls würde es die Regierung schwer haben", fügt er hinzu.

Ein Land im Übergang

In den vergangenen sechs Monaten hat Syrien massive Veränderungen durchlaufen. Im Dezember stürzte eine Rebellengruppe unter Führung von Haiat Tahrir al-Scham den Diktator Baschar al-Assad. Angeführt wurde die Rebellengruppe von Ahmed al-Scharaa, dem jetzigen Übergangspräsidenten. Die Kosten für den Wiederaufbau des Landes, in dem fast 14 Jahre lang ein Bürgerkrieg wütete, werden auf zwischen 360 und 900 Milliarden Euro geschätzt.

Al-Scharaa hat gelobt, die vielen verschiedenen politischen und religiösen Gruppierungen Syriens in die neue Regierung einzubinden, doch es bleiben Zweifel. In den vergangenen Monaten kam es zu mehreren gewalttätigen Auseinandersetzungen, in denen sich die mehrheitlich sunnitische Bevölkerung gegen Minderheiten zu wenden schien. Diese Vorfälle machten deutlich, dass die neue syrische Regierung die Lage im Land noch nicht vollständig unter Kontrolle hat.

Nach Meinung von Trump hat Al-Scharaa, der in der Vergangenheit mit extremistischen Gruppierungen wie Al-Kaida in Verbindung stand, jedoch "eine echte Chance, es zu schaffen".

"Er ist ein echter Anführer", sagte Trump.

Ist die Aufhebung der Sanktionen an Bedingungen geknüpft?

Neben seiner Ankündigung, die Sanktionen aufzuheben, stellte Trump fünf Forderungen an Syrien, wie seine Sprecherin Karoline Leavitt auf der Plattform X schrieb:

"1. das Abraham-Abkommen mit Israel zu unterzeichnen; 2. alle ausländischen Terroristen aufzufordern, Syrien zu verlassen; 3. palästinensische Terroristen zu deportieren; 4. die USA dabei zu unterstützen, ein Wiedererstarken des Islamischen Staates (IS) zu verhindern; 5. die Verantwortung für die IS-Lager im Nordosten Syriens zu übernehmen."

Trump selbst sagte, Syrien habe zugestimmt, Israel anzuerkennen, sobald es "wieder auf die Beine gekommen" sei. Aus Damaskus kam keine offizielle Bestätigung, dass es dem Abraham-Abkommen, einem von den USA vermitteltem Abkommen zur Normalisierung der Verhältnisse zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten, zustimmen würde.

"Angesichts der Tatsache, dass Israel seit dem Sturz Assads zu einer wichtigen destabilisierenden Kraft in Syrien geworden ist, wären bessere Beziehungen mit Israel wichtig", sagt Nanar Hawach, Syrien-Analyst beim Think Tank International Crisis Group, im DW-Gespräch.

"Sie haben hunderte Luftangriffe auf syrische militärische Einrichtungen geflogen und sind im Süden auf syrisches Gebiet vorgedrungen. Sollte es zu keiner Übereinkunft kommen, wird Israel aller Voraussicht nach ein destabilisierender Faktor bleiben", meint er.

Mögliche Auswirkungen einer Annäherung zwischen Israel und Syrien

Engere Verbindungen mit Israel könnten zu innenpolitischem Druck auf Al-Scharaa führen, fügt Hawach hinzu. In der Vergangenheit standen sich Israel und Syrien feindselig gegenüber, seit der Gründung Israels kam es immer wieder zu Konflikten. "Doch die Vorteile würden mögliche Nachteile vermutlich überwiegen", betont Hawach.

Israel hat sich zu einer möglichen Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der neuen syrischen Regierung noch nicht geäußert. Das Land hat Bedenken wegen der Verbindungen des gestürzten syrischen Regimes zum Iran und der Hisbollah und fürchtet einen Angriff über die Grenze, ähnlich dem von Gaza ausgehenden Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023. Neue diplomatische Beziehungen könnten dem entgegenwirken.

Die vierte und fünfte Forderung, die USA dabei zu unterstützten, "ein Wiedererstarken des IS zu verhindern" und "die Verantwortung für die IS-Lager im Nordosten Syriens zu übernehmen", könnten ein weiteres Signal dafür sein, dass die Vereinigten Staaten planen, ihre Truppen aus dem Nordosten des Landes abzuziehen. In den Lagern, die mit Unterstützung durch US-Truppen von syrisch-kurdischen Milizen verwaltet werden, leben Tausende Anhänger des Islamischen Staates mit ihren Familien.

Rückkehr syrischer Flüchtlinge

Ein Ende der Sanktionen wird nicht nur für die Wirtschaft positive Auswirkungen haben, ist Nanar Hawach von der International Crisis Group überzeugt. "Der Zusammenbruch der Wirtschaft hat die Unsicherheit erhöht, weil er die Grundversorgung unterhöhlte, lokale Missstände verstärkte und die Menschen bewaffneten Gruppierungen in die Arme trieb", macht er deutlich. "Eine Aufhebung der Sanktionen könnte dabei helfen, diese Dynamik umzukehren."

Dies könnte auch mehr syrische Flüchtlinge dazu bewegen, in ihr Land zurückzukehren, meint Kelly Petillo, Nahost- und Nordafrika-Expertin beim ECFR im Gespräch mit der DW.

Syrien ist im Zentrum einer der größten Flüchtlingskrisen der Welt. Seit 2011 sind laut Zahlen der Vereinten Nationen mehr als 14 Millionen Syrer und Syrerinnen auf der Flucht. Über 6 Millionen von ihnen haben ihr Land verlassen, der Rest von ihnen lebt als Binnenflüchtlinge im eigenen Land.

Etwa 1,87 Millionen Syrer sind nach dem Sturz Assads bereits wieder in ihre Heimatorte zurückgekehrt, sei es aus dem Ausland oder von anderen Orten innerhalb Syriens, so ein am Mittwoch veröffentlichter Bericht der Internationalen Organisation für Migration der Vereinten Nationen. "Wirtschaftliche Not und mangelnde Grundversorgung erschweren jedoch den Wiederaufbau", heißt es in dem Bericht.

Petillo kann das nur bestätigen: "Wenn ich mit syrischen Flüchtlingen darüber spreche, warum sie zögern zurückzukehren, erwähnen sie als Erstes die wirtschaftliche Lage und den Zustand der Infrastruktur, die Lebensbedingungen und die Erfüllung von Grundbedürfnissen."

"Viele Menschen werden zurückkehren, sobald sich die Aufhebung der Sanktionen vor Ort wirklich bemerkbar macht", ist Petillo überzeugt. Doch es brauche mehr als nur eine Aufhebung der Sanktionen: "Wenn wir wollen, dass die Syrer freiwillig und dauerhaft zurückkehren, müssen wir den Schutz und die sozialen und wirtschaftlichen Rechte aller Syrer sicherstellen."

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Item URL https://www.dw.com/de/was-bedeutet-das-ende-der-us-sanktionen-für-syrien/a-72567036?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72554559_302.jpg
Image caption Im kriegsgebeutelten Syrien gibt es viel Wiederaufbauarbeit zu leisten. Die Aufhebung der Sanktionen könnte diese deutlich erleichtern.
Image source Sonia Al-Ali/DW
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72554559_302.jpg&title=Was%20bedeutet%20das%20Ende%20der%20US-Sanktionen%20f%C3%BCr%20Syrien%3F

Item 3
Id 72583216
Date 2025-05-18
Title Syrien-Sanktionen: Wie eine Lockerung den Libanon beträfe
Short title Syrien-Sanktionen: Wie eine Lockerung den Libanon beträfe
Teaser Eine Lockerung der US-Sanktionen gegen Syrien könnte dem Libanon neue Chancen eröffnen. Präsident Joseph Aoun hofft auf regionalen Handel, eine wirtschaftliche Sanierung und vor allem die Rückkehr syrischer Flüchtlinge.
Short teaser US-Sanktions-Lockerung: Präsident Aoun will Libanon durch regionalen Handel, Flüchtlingsrückkehr und Aufschwung stärken.
Full text

Gerade einmal 85 Kilometer liegen zwischen Beirut und Damaskus. Entsprechend eng beobachtet man im Libanon die politischen Entwicklungen in Syrien. Dazu gehört auch die Ankündigung von US-Präsident Donald Trump Anfang dieser Woche, die seit Jahrzehnten bestehenden Sanktionen gegen Syrien aufzuheben. Noch sind die Einzelheiten dieser Pläne vage. Klar ist hingegen, dass auch der Libanon betroffen wäre, wenn das Nachbarland einen Weg zurück auf die internationalen Märkte finden, ausländische Investitionen anlocken und die diplomatische Unterstützung Washingtons, Saudi-Arabiens und einer Reihe von Golfstaaten zurückgewinnen könnte.

"Stabilität in Syrien wird sich positiv auf den Libanon und die gesamte Region auswirken", sagte der libanesische Präsident Joseph Aoun am Dienstag nach Trumps Ankündigung und nannte sie eine "mutige Entscheidung".

Syrische Flüchtlinge nicht mehr willkommen

Mehr als 1,5 Millionen Menschen - viele von ihnen ohne Papiere - sind nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) seit Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 2011 aus Syrien in den Libanon geflohen. Beirut hat sie nach dem Sturz des ehemaligen Diktators und Präsidenten Bashar Assad im vergangenen November wiederholt zur Rückkehr aufgefordert.

"Sie haben keinen Grund mehr zu bleiben", sagte Aoun, kurz nachdem er im Januar nach einem zweijährigen politischen Stillstand im Libanon sein Amt als Präsident angetreten hatte. Der General, der bereits seit 2017 Oberbefehlshaber der libanesischen Streitkräfte ist, deutete an, dass viele von ihnen nun als Wirtschaftsmigranten eingestuft werden könnten, statt als Personen, die Asylschutz benötigen: "Wir können sie nicht mehr strikt als Flüchtlinge einstufen."

Libanon - Land in Chaos und Armut

Der Libanon steht selbst nach jahrelangen politischen Unruhen vor großen internen Herausforderungen. Die Wirtschaft leidet unter einer rasanten Inflation von zeitweise über 250 Prozent und den Folgen eines Zusammenbruchs des Bankensektors. Nach Angaben von Human Rights Watch leben mehr als 80 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.

Hinzu kommt die regionale Instabilität. Ein Faktor dabei: die islamistische Miliz Hisbollah, die mehrere Länder, darunter die Vereinigten Staaten und Deutschland als terroristische Organisation einstufen. Auch wenn die grenzüberschreitenden Angriffe zwischen der Hisbollah im Libanon und Israel nach einem Waffenstillstand im November 2024 weitgehend eingestellt wurden, haben sie das Land zusätzlich belastet.

Die Weltbank schätzt, dass der Libanon nach Jahren des regionalen Konflikts, der politischen und wirtschaftlichen Unruhen und nicht zuletzt der verheerenden Explosion im Beiruter Hafen im Jahr 2020 rund 9,83 Mrd. EUR (11 Mrd. USD) an Hilfe für den Wiederaufbau und die Erholung benötigen wird.

Wirtschaftliche "Integration überwiegt Wettbewerb"

Nun befürchten einige Analysten, dass die Interessen des Libanon auf der Strecke bleiben könnten, wenn sich der größere Nachbar anderen Ländern in der Region annähert: "Wenn Damaskus Beirut bei der Aussöhnung mit den Golfstaaten und dem Aufbau geopolitischer Beziehungen in der Region zuvorkommt, hat es den Vorteil, politische und wirtschaftliche Chancen zu nutzen", sagte Sami Nader, Direktor des in Washington ansässigen Levant Institute for Strategic Affairs, der DW.

Allerdings liege darin auch eine Chance, sagt Experte: "Der libanesische Markt mit etwa 5 Millionen Einwohnern und der syrische Markt mit etwa 20 Millionen Einwohnern könnten zu einem riesigen Markt werden."

Der Libanon liegt eingekeilt zwischen Israel, Syrien und dem Mittelmeer. Die Aufhebung der Sanktionen gegen Syrien könnte also den Landkorridor für libanesische Waren öffnen und den Libanon wirtschaftlich mit Jordanien, dem Irak und den Golfstaaten verbinden. "Eine wirtschaftliche Integration des Libanon und Syriens würde jede Konkurrenz zwischen diesen beiden Ländern überkompensieren", meint Nader.

Aufbruchstimmung in Beirut

Der libanesische Finanzminister Yassine Jaber verbindet ähnliche Hoffnungen mit einer möglichen wirtschaftlichen Öffnung Syriens. In der libanesischen Zeitung "L'Orient Today" erklärte Jaber, dass potenzielle Projekte ein "positives Signal" für das Land aussenden würden. Als Beispiele nannte er den Transport irakischen Öls zur Raffinerie in Tripolis, der zweitgrößten Stadt des Libanon, eine Glasfaserleitung, eine Verbindung der Stromnetze mit anderen Ländern der Region sowie den Transport von Erdgas und Strom von Ägypten über Jordanien bis in den Libanon.

Von libanesischen Unternehmen wird erwartet, dass sie zum Wiederaufbau der syrischen Infrastruktur beitragen, die während des Bürgerkriegs zu einem großen Teil zerstört wurde.

Rückkehr der Flüchtlinge hat höchste Priorität

Wann, wie weit oder ob die Sanktionen überhaupt aufgehoben werden, ist allerdings noch unklar. "Die Syrer wissen, dass die USA den Willen geäußert haben, alle Sanktionen gegen Syrien aufzuheben, aber das könnte in der Realität schwieriger zu erreichen sein", sagte Kelly Petillo, Nahost-Forscher beim European Council on Foreign Relations, der DW.

Die Aufhebung der Sanktionen, so Petillo, käme zunächst den Menschen in Syrien zugute, von denen viele in provisorischen Unterkünften leben und bereits mehrfach vertrieben wurden. Der Analyst warnt jedoch davor, Menschen überstürzt nach Syrien zurückkehren zu lassen: "Für jemanden, der jahrelang aus Syrien weg war, wird es ziemlich lange dauern, bis er sich zur Rückkehr entschließt - selbst bei wirtschaftlicher Entlastung."

Item URL https://www.dw.com/de/syrien-sanktionen-wie-eine-lockerung-den-libanon-beträfe/a-72583216?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71142992_302.jpg
Image caption Noch immer leben rund 1,5 Millionen syrische Bürgerkriegsflüchtlinge im Libanon, wie hier im Flüchtlingslager Hermel (Dezember 2024)
Image source DW
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/71142992_302.jpg&title=Syrien-Sanktionen%3A%20Wie%20eine%20Lockerung%20den%20Libanon%20betr%C3%A4fe

Item 4
Id 72545189
Date 2025-05-18
Title Wie Malcolm X gegen den "amerikanischen Alptraum" kämpfte
Short title Wie Malcolm X gegen den "amerikanischen Alptraum" kämpfte
Teaser Weiße waren für ihn Teufel, und Gewalt sah er als probates Mittel, um sich gegen die Unterdrückung der Schwarzen zu wehren. Bis heute ist Malcolm X eine Ikone der schwarzen Bürgerrechtbewegung.
Short teaser Weiße waren für ihn Teufel, Gewalt sah er als probates Mittel, um sich gegen die Unterdrückung der Schwarzen zu wehren.
Full text

"Was glauben Sie, würden Sie nach 400 Jahren Sklaverei, Jim Crow und Lynchjustiz tun? Glauben Sie, Sie würden gewaltfrei reagieren?" Das war eine der Kernfragen, die Malcolm X der US-amerikanischen Gesellschaft stellte. Denn obwohl die Sklaverei in den USA 1865 abgeschafft wurde, zementierten die sogenannten Jim-Crow-Gesetze bis 1964 weiterhin die alltägliche Diskriminierung der Schwarzen. Sie durften nicht wählen und im Bus oder Restaurant nicht neben Weißen sitzen. Sie lebten in schwarzen Ghettos und bekamen schlechte Jobs.

"Malcolm X hat genau die Punkte thematisiert, die den unterdrückten Afroamerikanern auf der Seele brannten", sagt die Augsburger Geschichtsprofessorin Britta Waldschmidt-Nelson, Autorin der Biographie "MALCOLM X. Der schwarze Revolutionär", der DW.

Seine Botschaft an die Afroamerikaner war eindeutig: Seid selbstbewusst! Kämpft für eure Rechte "by any means necessary" - mit allen notwendigen Mitteln, sprich: zur Not auch mit Gewalt. Der 1974 mit dem Pulitzerpreis geehrte Journalist Leslie Payne (1941-2018) schrieb, er sei 1963 durch eine Rede Malcolms wie durch einen "blitzenden Schwerthieb" von dem tief in seiner Psyche verankerten "konditionierten Minderwertigkeitsgefühl als Schwarzer" befreit worden.

Genau das war das erklärte Ziel des laut Waldschmidt-Nelson "zornigsten Mann Amerikas" - und er hatte allen Grund dazu, zornig zu sein. Denn Malcolm X, der am 19. Mai 1925 als Malcolm Little in Omaha in Nebraska das Licht der Welt erblickte und in der Nähe von Detroit aufwuchs, wusste, was es in den USA bedeutete, schwarz zu sein.

"Für einen 'N*' kein realistisches Ziel"

Seine Kindheit war von Armut und Gewalt geprägt. Er war sechs Jahre alt, als sein Vater tot aufgefunden wurde. Malcolms Mutter war überzeugt, dass Rassisten ihn ermordet hatten. Mit sieben Kindern und wenig Geld war sie komplett überfordert, wurde psychisch krank. Malcolm kam in die Obhut diverser Pflegefamilien und Institutionen; er selbst sprach später in seiner Autobiographie vom "Terror der sehr weißen Sozialarbeiter".

Trotz der schweren Startbedingungen war er ein guter Schüler, der einzige Schwarze in seiner Klasse. Ein Schlüsselerlebnis prägte ihn maßgeblich: Sein Lieblingslehrer habe gefragt, was er denn mal werden wolle, erzählt Waldschmidt-Nelson. Malcolm antwortete, er würde gern Jura studieren. Für einen 'N*' sei das kein realistisches Ziel, so der Lehrer. Malcolm solle doch lieber was mit den Händen machen. "Das war die Lebenswirklichkeit der Afroamerikaner", so die Historikerin.

Der junge Malcolm war vollkommen desillusioniert. Seine Noten fielen dramatisch ab, schließlich zog er mit 15 zu seiner Schwester Ella nach Boston, später nach New York. Er hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, bevor er zum Kleinkriminellen wurde. Anfang 20 kam er wegen diverser Einbrüche ins Gefängnis.

Bekenntnis zur Nation of Islam

"Hier ist ein schwarzer Mann, in einem Käfig hinter Gittern … weggesperrt durch den weißen Mann …", schrieb er später in seiner Autobiographie. "Lass diesen eingesperrten schwarzen Mann einmal anfangen zu realisieren, so wie ich es tat, dass es von der Ankunft des ersten Sklavenschiffes an Millionen von Schwarzen in Amerika so erging wie Schafen in einer Wolfshöhle. Das ist der Grund, warum schwarze Häftlinge so schnell Muslime werden, sobald die Lehre Elijah Muhammads in ihre Käfige eindringt."

Der schwarze Bürgerrechtler Elijah Muhammad, das war der Anführer der Nation of Islam, einer religiös-politischen Organisation von Afroamerikanern außerhalb der islamischen Orthodoxie. "Sie behaupten, dass alle Schwarzen von Natur aus Kinder Gottes und gut sind und alle Weißen von Natur aus böse und Kinder des Teufels", erklärt Waldschmidt-Nelson. "Was das für Malcolm und auch viele andere Gefängnisinsassen sehr attraktiv gemacht hat, ist natürlich, dass da jemand kommt und sagt: 'Ihr seid selber gar nicht schuld an eurem Elend, sondern das sind die blauäugigen Teufel, die dafür gesorgt haben, dass ihr auf die schiefe Bahn geraten seid'." Deshalb seien Gefängnisse auch immer der favorisierte Rekrutierungsort für die Nation of Islam gewesen.

Für den österreichischen Politikwissenschaftler Farid Hafez, der derzeit an der William & Mary Universität in Williamsburg unterrichtet, ist die Nation das Produkt einer spezifisch afroamerikanischen Geschichte. "Sie fußt, was ihre politische Philosophie anbelangt, ganz stark auf dem "Afrozentrismus" - sozusagen Afroamerikaner zurück nach Afrika zu bringen", sagt er der DW. "In den 1950er-Jahren wurde die Gruppe von den Sicherheitsbehörden des Staates beschattet. Zum einen als schwarze, separatistische Bewegung, zum anderen waren hier 'böse Muslime' aktiv, denen man nicht trauen konnte." Islamophobie sei damals allerdings kein größeres Thema gewesen: "Feindbild der Regierung waren die Kommunisten, gegen die man "gute Muslime" durchaus mobilisieren konnte."

Kampf gegen die "weißen Teufel"

Auch Malcolm Little schloss sich der Nation an. Fortan nannte er sich Malcolm X, denn die Nachnamen eines jeden schwarzen Afroamerikaners wurden einst von Sklavenhaltern vergeben. Deshalb lehnten die Mitglieder der Nation of Islam sie ab und nannten sich schlicht "X".

Seine siebenjährige Haftzeit nutzte er, um sich autodidaktisch weiterzubilden. 14 Jahre lang gehörte er der Nation of Islam an. Anführer Elijah Muhammed wusste den intellektuellen Scharfsinn und die Redekünste des jungen Mannes zu schätzen und machte ihn zum Sprecher der Organisation.

In seinen Reden prangerte Malcolm X immer wieder die "weißen Teufel" an. Obwohl er in den Nordstaaten der USA lebte - für Schwarze aus den noch viel restriktiveren Südstaaten das "Gelobte Land" - setzte er auch hier keine Hoffnung mehr in weiße "Liberale". Hatte er doch selbst erlebt, dass Schwarze überall in den USA als Bürger zweiter Klasse galten.

Für die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings hatte Malcolm X lange nur Verachtung übrig. Kings berühmte Rede beim Marsch auf Washington 1963 von einem über alle Rassenschranken hinweg geeinten, freien Amerika kritisierte er als wirklichkeitsfremd: "Ich bin kein Amerikaner. Ich bin einer der 22 Millionen Schwarzen, die das Opfer von Amerikanismus sind … Ich sehe Amerika durch die Augen eines Opfers. Ich sehe keinen amerikanischen Traum; ich sehe einen amerikanischen Alptraum!"

Pilgerfahrt nach Mekka - und ein Sinneswandel

Im März 1964 brach Malcolm X mit der Nation of Islam. Im gleichen Jahr machte er eine Pilgerreise nach Mekka - und sein Bild der "weißen Teufel" kam ins Wanken: "Er war tief beeindruckt von der Gastfreundlichkeit und Herzlichkeit, mit der ihm auch weiße Muslime in Saudi-Arabien begegneten", schreibt Britta Waldschmidt-Nelson in ihrer Biografie. "Und dann hat er sich im letzten Jahr seines Lebens abgewandt von dieser rassistischen Doktrin", sagt sie der DW.

Er setzte sich eine neue Aufgabe :"Malcolm X wollte eine Allianz aller braunen und schwarzen unterdrückten Volker gegen die kolonialistische Unterdrückung der Weißen schaffen". Auf einer Afrikareise lobten die Regierungen zwar sein Ansinnen, aber mit Unterstützung konnte er nicht rechnen: "Sie hingen natürlich alle am Tropf der amerikanischen Entwicklungshilfe, und die meisten der afrikanischen Regierung hätten deshalb damals nicht öffentlich gegen die USA operiert."

Stattdessen geriet Malcolm X in den Fokus der CIA. Und auch die Nation of Islam war ihm auf den Fersen. "Er wusste, dass er ermordet wird und es war auch eine bewusste Entscheidung von ihm, sich dem zu stellen und nicht wegzugehen", sagt Waldschmidt-Nelson. "Er hat sich wohl gesagt: Ich kann jetzt nicht aufgeben. Malcolm hat nach seiner Erfahrung in Mekka einen ganz neuen Weg eingeschlagen, war offen auch für eine Zusammenarbeit mit der Bürgerrechtsbewegung Kings und gegebenenfalls auch für eine Zusammenarbeit mit Weißen."

Doch dazu kam es nicht mehr. Am 21. Februar 1965 wurde er während eines Vortrags erschossen - von Mitgliedern der Nation of Islam. Er wurde nur 39 Jahre alt. Die meisten Afroamerikaner waren zutiefst betroffen und schockiert. Für die meisten weißen Amerikaner hingegen war Malcolm X ein fanatischer "Hassredner": Er hatte ihrer Meinung nach bekommen, was er verdiente.

Vergessen wurde er nicht: Besonders in den 1980er-Jahren wurde er in der Hip-Hop-Kultur sehr wichtig. "Segmente der Reden von Malcolm X wurden gesampelt. So schuf er eine Art von Wiederaufleben der schwarzen Identität als politische Identität", sagt Michael E. Sawyer, Professor für afroamerikanische Literatur und Kultur an der Universität Pittsburgh. Die Lieder sind politische Kampfansagen an weißen Rassismus, Polizeibrutalität und die Verelendung der schwarzen Unterschicht. Und dann habe Spike Lee 1992 die Autobiographie Malcolms mit Denzel Washington in der Hauptrolle auf die Leinwand gebracht habe: eine Identifikationsfigur.

"Bei der jüngeren Generation - auch bei vielen Mitgliedern der Black Lives Matter-Bewegung - gilt er, nicht King, als die zentrale Symbolfigur der eigenen kulturellen Identität", so Waldschmidt-Nelson.

Und heute? 60 Jahre nach seinem Tod sei Malcolm Xs Stimme wieder gefragt. "Unter der gegenwärtigen Regierung in den USA wird ja Geschichtsfälschung betrieben. Sie versucht, die Geschichte in Museen und Schulbüchern so umzuschreiben, als hätten die Gründerväter alle keine Sklaven gehabt oder als hätte es nie Rassismus gegeben. Viele der weißen Backlash-Leute sind halt der Ansicht, Amerika ist glorreich und wundervoll und darf nicht kritisiert werden."

Malcolm X hätte das bestimmt nicht so stehen lassen.

Literaturtipp: Britta Waldschmidt-Nelson: Malcolm X. Der schwarze Revolutionär. C.H. Beck Verlag, 2025

Item URL https://www.dw.com/de/wie-malcolm-x-gegen-den-amerikanischen-alptraum-kämpfte/a-72545189?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/59906723_302.jpg
Image caption Malcolm X war ein begnadeter Redner, er debattierte mit Leuten von der Straße genauso wie mit Professoren
Image source dpa/picture-alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/59906723_302.jpg&title=Wie%20Malcolm%20X%20gegen%20den%20%22amerikanischen%20Alptraum%22%20k%C3%A4mpfte

Item 5
Id 72568366
Date 2025-05-18
Title Wie Malis Militärherrschaft die Demokratie aushöhlt
Short title Wie Malis Militärherrschaft die Demokratie aushöhlt
Teaser Malis Militärjunta hat alle politischen Parteien verboten, abweichende Meinungen zum Schweigen gebracht und Wahlen verschoben. Analysten sehen die demokratische Zukunft des Landes in Gefahr.
Short teaser Mit dem Verbot politischer Parteien geht Malis Militärjunta gegen Widerstand vor - und gefährdet das demokratische Erbe.
Full text

Es ist ein weiterer Schritt, mit dem Mali den demokratischen Raum einschränkt: Am Dienstag hat die Militärregierung alle politischen Parteien und Organisationen verboten. Zuvor waren in den Straßen der Hauptstadt Bamako wiederholt pro-demokratische Aktivisten entführt worden.

Das Dekret, das von Malis Übergangspräsident Assimi Goita unterzeichnet wurde, ordnet die Auflösung aller "Vereinigungen mit politischem Charakter" an - mit dem Verweis auf "Gründe der öffentlichen Ordnung", wie malische Staatsmedien berichteten.

Wenige Tage vor dem Verbot hatten Demonstranten bei einer Kundgebung Mehrparteienwahlen gefordert. "Es ist Mitgliedern aufgelöster politischer Parteien und politischer Organisationen verboten, Versammlungen abzuhalten", heißt es jetzt in dem Dekret.

Historischer Rückschlag für die Demokratie

"Die Ereignisse in Mali in den letzten Tagen sind ein dramatischer Rückschlag für die Demokratie", sagt Paul Melly, Analyst bei der Londoner Denkfabrik für internationale Angelegenheiten Chatham House.

Mali sei ein Land, "das aufgrund der Proteste und des demokratischen Umsturzes Anfang der 1990er Jahre eine enorme Bedeutung hat", sagt Melly im DW-Gespräch. Hier gebe es "eine lange, stolze Geschichte gewählter Regierungen" - auch wenn diese manchmal durch Militärputsche unterbrochen worden sei.

"Aber im Moment sind normale Demokratie, Wahlen und freie Meinungsäußerung eindeutig abgeschaltet", sagt der Analyst. Melly merkt an, dass es noch zu früh sei, um zu sagen, "ob es sich nur um eine kurze Phase handelt oder ob politischer Druck von innen oder größere Ereignisse auf längere Sicht eine Veränderung bewirken werden".

"Es erscheint unwahrscheinlich, dass die Malier es langfristig akzeptieren werden, dass demokratische Meinungsäußerung vollständig unterbunden wird."

Für den malischen Anwalt Toumany Oumar Diallo lässt die Auflösung politischer Parteien in Mali keinen Raum für rechtliche Unklarheiten. Ohne einen neuen Rechtsrahmen werde jede Form organisierter politischer Meinungsäußerung de facto illegal, sagt er der DW.

Wahlen verschoben, Demonstranten verschwinden

Mali steht seit zwei Putschen in den Jahren 2020 und 2021, die Goita anführte, unter Militärherrschaft. Goita versicherte zunächst, dass Wahlen abgehalten würden, eine für Februar 2024 geplante Abstimmung wurde jedoch "aus technischen Gründen" verschoben.

Seither wurde kein neuer Zeitplan bekanntgegeben. Im April empfahlen die Minister der Übergangsregierung, Goitas Präsidentschaft um fünf Jahre bis 2030 zu verlängern.

Viele Malier hatten angekündigt, wieder auf die Straße zu gehen, wenn das Regime auf unbestimmte Zeit an der Macht bleibt. Mehrere pro-demokratische Aktivisten sind seitdem verschwunden, was Befürchtungen vor einer breiteren Unterdrückung abweichender Meinungen auslöste.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch erklärte letzte Woche, dass zwei Oppositionsführer verschwunden seien. Beide hatten an den Protesten am 3. Mai teilgenommen. Human Rights Watch schließt einen gewaltsamen Hintergrund des Verschwindens nicht aus.

Gebrochene Versprechen und schwindendes Vertrauen in Malis Wandel

Als Goita im Jahr 2020 die Macht ergriff, brachen Menschen in dem westafrikanischen Land in Jubel aus und äußerten Hoffnung auf mehr Stabilität in dem Land, das von bewaffneten Milizen, dschihadistischen Anschlägen und einer tiefen Wirtschaftskrise erschüttert ist.

Fast fünf Jahre später hat sich die Sicherheitslage jedoch kaum verbessert: In Gebieten außerhalb von Bamako kommt es regelmäßig zu Gewalt und Morden.

"Die Entscheidung der malischen Regierung, die Parteien aufzulösen, ist sicherlich ein Rückschritt und eine Enttäuschung für die Menschen, die in diesem Jahr Wahlen erwartet haben", sagt Ulf Laessing, Leiter des Sahel-Programms der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), die der CDU nahesteht.

"Ich hoffe, dass dies nicht das Ende der Demokratie in den Sahel-Ländern ist", sagt Laessing. "Es wird eine Zeit für Wahlen geben, aber leider hat die Demokratie in diesen Ländern einen schlechten Ruf, weil in der Vergangenheit korrupte und inkompetente Politiker gewählt wurden. Deshalb sind Wahlen kurzfristig unwahrscheinlich."

Malis Jugend verteidigt die Verfassung

Oppositionsführer haben erklärt, dass sie den Kampf für die Demokratie in der ehemaligen französischen Kolonie nicht aufgeben wollen. Auch das Jugendkollektiv für den Respekt der Verfassung (CJRC), eine Bewegung, die sich für eine demokratische Regierungsführung in Mali einsetzt, halt an seinem Widerstand fest.

Aissata Ly, Mitglied des Kollektivs und politische Aktivistin, zeigt sich gegenüber der DW entschlossen, die demokratischen Prinzipien in Mali wiederherzustellen.

"Mali ist eindeutig ein Rechtsstaat", sagt sie und verweist auf Verfassungsänderungen, die 2023 in einem Referendum angenommen wurden. Für Ly ist klar, dass die Menschen allen Risiken zum Trotz zu ihren demokratischen Entscheidungen stehen müssten.

"Es drohen Repressionen", sagt sie der DW. "Wir erhalten jeden Tag viele Drohungen und Druck, vor allem in sozialen Netzwerken, durch private Nachrichten und auf unseren Handys."

Dennoch bleibt die Aktivistin optimistisch: "Das ist ein Kampf, den wir auf lange Sicht nur gewinnen können. Wir stehen auf der Seite der Wahrheit, auf der Seite des Gesetzes."

Mitarbeit: Mahamadou Kane (Bamako)

Aus dem Englischen adaptiert von Philipp Sandner

Item URL https://www.dw.com/de/wie-malis-militärherrschaft-die-demokratie-aushöhlt/a-72568366?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72533976_302.jpg
Image caption Auch Demonstrationen für die Demokratie wie diese von Anfang Mai werden durch die jüngste Entscheidung erschwert
Image source AFP
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72533976_302.jpg&title=Wie%20Malis%20Milit%C3%A4rherrschaft%20die%20Demokratie%20aush%C3%B6hlt

Item 6
Id 72558071
Date 2025-05-18
Title PFAS: Helfen Müsli, Obst und Gemüse gegen die Umweltgifte?
Short title PFAS: Helfen Müsli, Obst und Gemüse gegen die Umweltgifte?
Teaser In Regenjacken, Pizzakartons, Trinkwasser und in unserem Blut: PFAS sind überall. Die Ewigkeits-Chemikalien können Krebs und Organschäden verursachen. Ballaststoffe könnten unserem Körper helfen, sie loszuwerden.
Short teaser Gesundheitsschädliche PFAS sind überall, auch in unserem Blut. Ballaststoffe könnten dem Körper helfen, sie loszuwerden.
Full text

Offiziell heißen sie Fluorchemikalien, genauer gesagt: Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen, kurz PFAS oder PFC genannt. Sie sind wasser- und fettabweisend und kommen wegen dieser Eigenschaften in vielen Alltagsprodukten vor. Über diese Produkte, über Nahrung und Trinkwasser gelangen sie in unseren Körper. Das Problem: PFAS bauen sich in der Natur nicht ab, aus diesem Grund werden sie auch Ewigkeits-Chemikalien genannt - und sie verursachen viele Gesundheitsprobleme.

PFAS-Substanzen können unter anderem Organe schädigen, Fehlgeburten verursachen und die Krebsgefahr erhöhen. Sie können zu Schilddrüsenerkrankungen und Fruchtbarkeitsstörungen führen und die Wirksamkeit von Impfungen abschwächen. Zur großen Gruppe der PFAS zählen mehrere tausend verschiedene chemische Einzelverbindungen. Deklariert werden müssen sie in Produkten übrigens nicht.

Wie lange bleiben PFAS im menschlichen Körper?

Kurzkettige PFAS-Moleküle scheiden wir in der Regel nach Tagen oder Wochen über den Urin aus. Um langkettige PFAS abzubauen, braucht unser Köper dagegen teils mehrere Jahre. Dies geschieht dann über den Stuhl.

Spezielle Medikamente, mit denen wir PFAS schneller aus unserem Körper herausbekommen, gibt es bislang nicht. Lediglich der Wirkstoff Colestyramin scheint die Ausscheidung von PFAS zu beschleunigen.

Colestyramin wirkt gegen zu hohe Cholesterin-Werte, die Gefäßverkalkungen verursachen können. Dies geschieht, indem es Gallsäure im Darm bindet, die dann nicht mehr ins Blut gelangt, sondern über den Stuhl ausgeschieden wird. Die Leber muss dann Gallensäuren nachproduzieren und nutzt dafür Cholesterin aus dem Blut.

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass auch bestimmte Ballaststoffe helfen, den Cholesterinwert im Blut zu senken. Ballaststoffe sind weitgehend unverdauliche Bestandteile in der Nahrung, meist Kohlenhydrate, die vor allem in pflanzlichen Lebensmitteln vorkommen - besonders in Vollkorngetreide und in Hülsenfrüchten, aber auch in Obst, Gemüse, Nüssen und Samen.

Wie Ballaststoffe dem Körper gegen PFAS helfen könnten

Wenn Ballaststoffe ähnlich wirken wie Colestyramin – könnten sie dann auch die Ausscheidung von PFAS-Substanzen beschleunigen? Diese Vermutung besteht schon länger.

Forschende der US-Universitäten von Bosten und Massachusetts gingen dieser Frage nach und untersuchten Blutwerte, die ursprünglich für eine Studie zu Cholesterin und dem Ballaststoff Beta-Glucan durchgeführt wurde.

Beta-Glucan kommt in Hafer und Gerste vor. Zusammen mit Flüssigkeit aus der Nahrung bildet Beta-Glucan eine Art Gel im Magen und Darm. Dieses Gel bindet - wie Colestyramin - ebenfalls Gallsäure und verhindert, dass diese über die Darmwand ins Blut gelangt. Sie wird stattdessen mit dem Stuhl ausgeschieden - und der Cholesterinwert im Blut sinkt.

Das Ergebnis: Die Probandengruppe, die vier Wochen lang Beta-Glucan eingenommen hatte, hatte nicht nur weniger Cholesterin im Blut - sondern auch weniger PFAS.

Ballaststoff aus Hafer senkt PFAS-Konzentration im Blut von Mäusen

Das Team startete selbst eine Studie, allerdings mit Mäusen. Die Mäuse wurden über das Trinkwasser sechs Wochen lang einer Mischung aus sieben PFAS ausgesetzt und erhielten solche Lebensmittel, die der Querschnitt der US-amerikanischen Bevölkerung zu sich nimmt. Eine Mäusegruppe erhielt zusätzlich Hafer-Beta-Glucan, eine andere den Ballaststoff Inulin, der kein Gel bildet.

Die Mäuse, die das Beta-Glucan bekamen, tranken deutlich mehr als die andere Gruppe. Sie nahmen also eine deutlich höhere Dosis an PFAS über das Wasser zu sich. Dennoch war die Konzentration mehrerer PFAS-Substanzen in ihrem Blut niedriger als bei den "Inulin-Mäusen".

Ihre Pilotstudie stütze die Hypothese, dass die Einnahme von Hafer-Beta-Glucan die PFAS-Belastung des Körpers reduzieren könne, so die Forschenden.

Wie aussagekräftig die ist die Mäuse-Studie zu PFAS?

Ergebnisse aus Tierversuchen lassen sich nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen. Dennoch ist die Mäuse-Studie ein weiteres Indiz für die Wirkung von Ballaststoffen auf PFAS. Denn auch andere Studien zeigen, dass Ballaststoffe PFAS schneller aus dem Körper ausleiten – auch bei Menschen.

So ergab eine groß angelegte US-Studie, an der zwischen 2005 und 2026 mehr als 6400 Menschen teilnahmen: Mehr Ballaststoffe in der Nahrung verringerten die Konzentration von drei PFAS-Substanzen im Blut um knapp zehn Prozent. Eine Schwäche dieser Studie: Die Teilnehmenden gaben selbst an, wie viele Ballaststoffe sie zu sich genommen hatten.

Eine Studie aus den USA und eine aus Dänemark zeigten, dass eine Ernährung mit viel Gemüse verschiedene PFAS-Werte im Blut senkte. Ähnlich Ergebnisse gibt es bei Studien mit Bohnen, Sojaprodukten und Fruchtfasern. Ballaststoffe könnten also tatsächlich gegen PFAS in unserem Körper wirken, aber der Mechanismus muss noch weiter untersucht werden.

Jenseits dessen aber ist klar: Ballaststoffe sind gut für uns. Sie senken den Cholesterinspiegel, fördern das Mikrobiom im Darm und wirken positiv auf den Blutzucker. Also ruhig öfter mal zu Obst, Müsli und Gemüse greifen!

Item URL https://www.dw.com/de/pfas-helfen-müsli-obst-und-gemüse-gegen-die-umweltgifte/a-72558071?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/36211247_302.jpg
Image caption Eine ballaststoffreiche Ernährung könnte gegen PFAS-Umweltgifte helfen
Image source picture alliance/Chromorange
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/fit/fit20230623_ExplainerDarm_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/36211247_302.jpg&title=PFAS%3A%20Helfen%20M%C3%BCsli%2C%20Obst%20und%20Gem%C3%BCse%20gegen%20die%20Umweltgifte%3F

Item 7
Id 72576928
Date 2025-05-17
Title Trump und Netanjahu - ehemals beste Freunde?
Short title Trump und Netanjahu - ehemals beste Freunde?
Teaser Während Donald Trump in den Golfstaaten Geschäfte macht und einen Waffenstillstand mit den Huthi im Jemen aushandelt, sieht Benjamin Netanjahu von der Seitenlinie zu. Was läuft schief zwischen Israels und den USA?
Short teaser Während Trump mit Golfstaaten Geschäfte macht und Waffenruhe mit den Huthi aushandelt, steht Netanjahu im Abseits.
Full text

"Sie sind der beste Freund, den Israel je im Weißen Haus hatte", umgarnte Israels Premierminister Benjamin Netanjahu den frisch wieder vereidigten US-Präsidenten Donald Trump, als er ihn Anfang Februar in Washington besuchte. Es war jenes Treffen, bei dem Trump Netanjahu und der Welt seine Vision einer "Riviera des Gazastreifens" und die Zwangsumsiedlung der dortigen Bevölkerung verkündete.

Seither scheint sich die Beziehung zwischen dem israelischen Regierungschef und dem amerikanischen Präsidenten abgekühlt zu haben. Das hat sich in dieser Woche einmal mehr manifestiert, als Trump auf seiner Nahost-Reise drei Golfstaaten besuchte, aber keinen Stopp in Israel einlegte.

Trump vertieft Allianzen auf der arabischen Halbinsel

Unter anderem schloss Trump während seines Besuchs auf der arabischen Halbinsel ein Waffengeschäft mit Saudi-Arabien im Wert von 142 Milliarden Dollar (127 Milliarden Euro). Ein zusätzliches Investitionsabkommen über 600 Milliarden Dollar (rund 500 Milliarden Euro) soll das technologische Potenzial des Golfstaates erhöhen. Beides könnte als Bedrohung für Israels militärischen Vorsprung in der Region verstanden werden.

Erste Risse in Israels Sonderstellung in der Außenpolitik der USA deuteten sich bereits im April an. Da wurde Netanjahu zu einem dringenden Treffen in Washington eingeladen. Netanjahu sagte, er habe geglaubt, Trump davon überzeugen zu können, die US-Zölle auf israelische Importe aufzuheben. Doch das gelang ihm nicht. Stattdessen schien Trump Netanjahu mit seiner Ankündigung zu überrumpeln, direkte Gespräche zwischen den USA und dem Iran über das iranische Atomprogramm führen zu wollen.

Ebenfalls für Aufsehen sorgte in Israel Trumps Erklärung am 6. Mai, dass die USA einen Waffenstillstand mit den Huthi im Jemen erreicht hätten. Nur zwei Tage zuvor noch hatten die - dem Iran und Russland verbundenen - Rebellen eine Rakete auf Israels internationalen Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv abgefeuert. Die Huthi-Miliz hat geschworen, Israel mit Raketen zu beschießen, solange der Gaza-Krieg andauert.

Auch die unerwartete Freilassung der amerikanisch-israelischen Geisel Edan Alexander Mitte dieser Woche war Berichten zufolge das Ergebnis direkter Verhandlungen zwischen den USA und der Hamas, die in etlichen Staaten, darunter auch die USA und Israel, als Terrororganisation gilt. Israelische Analysten werteten es als weiteres Zeichen dafür, dass Trump Netanjahu im Zweifel lieber außen vor lässt. Alexander wurde als Soldat während der von der Hamas angeführten Terroranschläge auf Israel am 7. Oktober 2023 von seinem Militärposten entführt.

Steht Netanjahu Trumps Friedensplan im Weg?

Der ehemalige israelische Diplomat und heutiger Kommentator Alon Pinkas vermutet, dass Trump Netanjahus "Manipulationen und ständige Täuschungen sowohl in Bezug auf den Iran als auch auf Gaza" missfallen. Trump betreibe eine Außenpolitik, die auf Leistung und Gegenleistung beruhe. Netanjahu könne Trump mit dessen Deal-getriebener Außenpolitik aber nur zwei Dinge bieten, meint Pinkas, und die habe er ihm bisher verweigert: "Einen Waffenstillstand in Gaza, den Netanjahu im März selbst gebrochen hat - vielleicht hat er Trumps Tatenlosigkeit beziehungsweise Desinteresse als eine Art grünes Licht für einen neuen Angriff missverstanden."

Das Zweite sei der Iran, so Pinkas weiter: "Während Trump immer wieder sagt, dass er ein Abkommen mit dem Iran will und anstreben wird, fährt Netanjahu mit seiner kriegerischen Rhetorik fort." Allerdings hält Pinkas es für unwahrscheinlich, dass Netanjahu Trump in diesen Dingen entgegenkommen wird, weil davon der Zusammenhalt seiner rechts-religiösen Regierungskoalition abhängt.

Was bedeutet das für die Region?

Vieles hängt weiter von den Entwicklungen in Gaza ab. Eine neue Verhandlungsrunde in Katar über ein Abkommen zwischen Israel und der Hamas scheint bislang keine Resultate zu bringen. Israel hat seine Militäroffensive ausgeweitet, und Netanjahu hat wiederholt geschworen, den Krieg nicht zu beenden. Doch genau das ist eine Hauptforderung der Hamas.

Kürzlich hat das israelische Kabinett einen Plan gebilligt, große Teile des Gazastreifens zu besetzen und die bereits vertriebene palästinensische Bevölkerung zu zwingen, in den Süden umzusiedeln, was nach internationalem Recht als Kriegsverbrechen betrachtet wird.

Israel hat zwar einem neuen, wenn auch umstrittenen, humanitären Hilfsplan der USA zugestimmt, die Blockade des Gazastreifens jedoch bisher nicht aufgehoben. Seit März werden den Menschen in dem Gebiet Lebensmittel, Medikamente, Unterkünfte und Treibstoff verweigert - mit verheerenden Folgen. Anfang dieser Woche warnten internationale Experten für Lebensmittelsicherheit, dass im Gazastreifen in den kommenden Wochen die Gefahr einer Hungersnot bestehe.

Will Trump Nahost ohne Netanjahu befrieden?

Der Konflikt in Gaza hält Trump von seinem lang gehegten Ziel ab, die Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien zu normalisieren und die sogenannten Abraham-Abkommen zu erweitern, eine Reihe von bilateralen Abkommen zwischen den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Israel, die von der ersten Trump-Regierung vermittelt wurden.

"Nimmt man den letzten Monat und vor allem die letzte Woche, so hat Trump mit einer Reihe von Schritten und Erklärungen Netanjahu nicht nur außen vor gelassen, er hat Israel ausgegrenzt, als wäre es kein Verbündeter", sagt Ex-Diplomat Pinkas.

Doch nicht alle Beobachter sehen Trumps Verhalten so eindeutig: "Ich denke, es ist komplizierter", sagte Yaki Dayan, ein ehemaliger israelischer Generalkonsul in den USA, der DW. "Ich vermute, dass Trump all die Themen berücksichtigt, die für Israel in Bezug auf die Normalisierung mit den Syrern und den Saudis wichtig sind."

Aber Israel hätte sich längst mehr einbringen müssen, sagt Dayan: "Wir hätten eine zentrale Position bei der Gestaltung des neuen Nahen Ostens einnehmen können, so wie es Trump jetzt tut."

Wie Pinkas glaubt auch Dayan, dass Trump von Israel das Ende des Krieges in Gaza will, Netanjahu dazu aber nicht bereit ist. "Der Krieg beunruhigt Trump wirklich", sagt Dayan. "Aber wenn sie nicht zu einer Einigung kommen, würde letztlich niemand Netanjahu davon abhalten, den Krieg auszuweiten. Die Amerikaner werden es nicht tun."

Und genau danach sieht es derzeit aus, nachdem die israelische Armee in der Nacht auf Samstag eine neue Großoffensive im Gazastreifen begonnen hat.

Item URL https://www.dw.com/de/trump-und-netanjahu-ehemals-beste-freunde/a-72576928?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72169386_302.jpg
Image caption Hinweise auf Spannungen gab es bereits Anfang April bei Netanjahus Besuch im Weißen Haus
Image source Saul Loeb/AFP/Getty Images
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72169386_302.jpg&title=Trump%20und%20Netanjahu%20-%20ehemals%20beste%20Freunde%3F

Item 8
Id 72556350
Date 2025-05-17
Title Online-Betrüger in Südostasien: Warum sind sie so erfolgreich?
Short title Komplexer Kampf gegen Online-Betrüger in Südostasien
Teaser Trotz jüngster Razzien gewinnen Online-Betrugssyndikate in Südostasien weiter an Macht und Einfluss. Die UN versucht, eine gemeinsame Front gegen grenzüberschreitende kriminelle Netzwerke aufzubauen.
Short teaser Trotz Razzien gewinnen Online-Betrugssyndikate in Südostasien weiter an Macht und Einfluss.
Full text

Kriminelle Netzwerke bauen die ohnehin bereits milliardenschwere asiatische Cyberscam-Industrie immer weiter aus. Das stellt nun ein aktueller Bericht des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) fest.

Diese Verbrechersyndikate entwickelten sich ständig weiter, sagt Benedikt Hofmann, stellvertretender UNODC-Regionalvertreter für Südostasien und den Pazifik. "Wir sprechen von organisierter Kriminalität mit hoher Raffinesse und der Fähigkeit zur Nutzung neuer Technologien", so Hofmann zur DW. Die Branche wachse weiter und werde fast täglich komplexer.

Anfang des Jahres gingen Myanmar, Kambodscha und Laos gegen große, meist in den Grenzregionen angesiedelte Betrugszentren vor. Die Behörden schlossen mehrere Standorte und befreiten Tausende Opfer von Menschenhandel. Diese waren dazu verleitet worden, in diese Gebiete zu reisen und dort als Betrüger zu arbeiten. Doch trotz dieser spektakulären Maßnahmen wurden Hofmann zufolge viele Operationen einfach in andere, abgelegenere Teile der Mekong-Region verlagert.

Kriminelle Netzwerke erbeuten jährlich viele Milliarden Dollar

Entstanden ist die südostasiatische sogenannte Cyber-Scamming-Branche aus riesigen chinesischen Offshore-Online-Glücksspielsyndikaten. Dies ermöglichte den Tätern, auf eine bereits bestehende kriminelle Infrastruktur zurückzugreifen, inklusive der etablierten Techniken zur Bestechung von Regierungsbeamten wie auch der Geldwäsche.

Zuletzt hätten sich die Netzwerke auf komplexere Betrügereien verlegt, sagt Jason Tower, zum Zeitpunkt dieses Interviews noch Landesdirektor des Burma-Programms des United States Institute of Peace (USIP)*.

So bauten Betrüger bei einem umgangssprachlich als "Schweineschlachten" bekannten Verfahren online Vertrauen zu ihren Opfern auf. Das kann bis hin zu vermeintlichen Liebesbeziehungen gehen. Anschließend lockten sie die Opfer in gefälschte Investitionen von Kryptowährungen und andere Anlagemodelle.

"Verbrechen dieser Art sind komplex und transnational", sagt Tower. Darum könnten Strafverfolgungsbehörden sie nur dann erfolgreich bekämpfen, wenn sie grenzüberschreitend zusammenarbeiten. "Leider sind viele Länder, darunter auch die USA und Europa, immer noch damit beschäftigt, sich mit dem Problem überhaupt erst vertraut zu machen."

Einer Schätzung des United States Institute for Peace zufolge beträgt der Umsatz aus Cyberbetrug in den Mekong-Ländern über 44 Milliarden US-Dollar pro Jahr - das sind beinahe 40 Prozent des gesamten formalen BIP von Laos, Kambodscha und Myanmar.

"Milliarden und Abermilliarden Dollar fließen in die Taschen von Kriminellen", warnt Tower. Damit würden sie Regierungen untergraben und schürten Konflikte in Ländern wie etwa dem von einem Bürgerkrieg zerrissenen Myanmar.

Singapur: entschlossener Kampf gegen Betrüger

Singapur sagt dem Cyberbetrug nun den Kampf an. In den vergangenen Jahren hatte der Stadtstaat Milliarden an Betrüger verloren. Seitdem verabschiedete er Gesetze zum Schutz der Bürger. Die Gesetze sollen es zudem ermöglichen, betrügerische Banktransaktionen zu stornieren und zurückzuverfolgen. Außerdem sollen sie die Verfolgung krimineller Betrüger erleichtern.

Singapur ist eines der wohlhabendsten und digital am besten vernetzten Länder Asiens - und damit für kriminelle Netzwerke ein besonders attraktives Ziel. Zudem sprechen die Singapurer überwiegend Mandarin-Chinesisch und Englisch - zwei der wichtigsten Sprachen der Betrüger.

"In Singapur ist alles digital", sagt Allison Pytlak, Leiterin des Cyber-Programms am Stimson Center, einer gemeinnützigen, überparteilichen Institution, die sich auf Forschung zu Sicherheit und Frieden konzentriert. "Dadurch ist das Betrugsrisiko zwar gestiegen. Aber dafür stehen den Behörden auch mehr Möglichkeiten zur Verfügung, die Bürger vor Betrug zu schützen."

So hat der Inselstaat inzwischen eine ganze Reihe von Maßnahmen gegen Betrug eingeführt - etwa Sensibilisierungskampagnen, Polizei-Hotlines und sogar eine App, die Nutzer vor betrügerischen Anrufen schützt.

"Die Regierung wird dieser Herausforderung weiterhin energisch entgegentreten", erklärte Sun Xueling vom singapurischen Innenministerium und dem Ministerium für soziale und familiäre Entwicklung im März vor dem Parlament des Stadtstaats. Die Kriminellen seien "gut ausgestattet, technisch versiert und entwickelten ihre Taktiken ständig weiter, um unsere Abwehrmaßnahmen zu umgehen", warnte sie die Abgeordneten.

UN drängen auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit

Das UNODC arbeitet mit Regierungen und Strafverfolgungsbehörden in der Region in Form multilateraler Initiativen zusammen. Diese umfassen gemeinsame Operationen, den Austausch von Informationen sowie Programme zum Kapazitätsaufbau.

"In der Vergangenheit betrachteten die Länder der Region Betrugszentren nicht als Priorität für alle", sagte Benedikt Hofmann. "Das ändert sich gerade." Bei einem Treffen der ASEAN-Außenminister im Januar versprachen die Staats- und Regierungschefs Maßnahmen und nannten Cyberkriminalität und Online-Betrug neben Menschenhandel, Drogen und Geldwäsche als große Bedrohungen.

Allerdings sei ASEAN lediglich ein Kooperationsblock mit autonomen Ländern, sagt Allison Pytlak von der NGO Stimson Center. "Das bedeutet, dass er wenig Einfluss auf Fragen im Zusammenhang mit Betrugszentren hat." Das gelte vor allem mit Blick auf die Rechtsprechung oder Strafverfolgung.

Da aber viele Opfer von Online-Betrug in westlichen Ländern lebten, bestehe in den USA und in Kanada ein wachsendes Interesse daran, mit südostasiatischen Ländern im Kampf gegen Betrugssyndikate zusammenzuarbeiten.

* Im März 2025 wurde das vom Kongress gegründete US Institute of Peace (USIP) von der Trump-Administration zu großen Teilen geschlossen, die Website wurde vom Netz genommen. Die in diesem Artikel erwähnten Berichte und Forschungsergebnisse des INIP wurden über Webarchivierungsplattformen abgerufen.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Item URL https://www.dw.com/de/online-betrüger-in-südostasien-warum-sind-sie-so-erfolgreich/a-72556350?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72556702_302.jpg
Image caption Rund 250 Personen aus 20 Nationen wurden im Februar aus mutmaßlichen Scam-Zentren in Myanmar befreit
Image source Royal Thai Army, by Army Spokesperson/dpa/AP/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/shd/shd20240502_scam_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/72556702_302.jpg&title=Online-Betr%C3%BCger%20in%20S%C3%BCdostasien%3A%20Warum%20sind%20sie%20so%20erfolgreich%3F

Item 9
Id 72573601
Date 2025-05-17
Title "Eine Farce": Wie Kyjiw die Gespräche mit Moskau bewertet
Short title "Eine Farce": Wie Kyjiw die Gespräche mit Moskau bewertet
Teaser Das Treffen zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul hat keinen Waffenstillstand gebracht. Unter welchen Bedingungen kann es zu realen Verhandlungen der Seiten kommen und wann könnte es soweit sein?
Short teaser Unter welchen Bedingungen kann es zu realen Verhandlungen der Seiten kommen und wann könnte es soweit sein?
Full text

Zum ersten Mal seit drei Jahren haben sich ukrainische und russische Delegationen offiziell getroffen. In Istanbul ging es am Freitag um einen Waffenstillstand in dem Krieg, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat. Initiiert hatte das Gespräch der russische Präsident Wladimir Putin. Die Delegation aus Moskau umfasste stellvertretende Leiter mehrerer russischer Ministerien und Behörden, angeführt wurde sie von Putins Berater Wladimir Medinskij. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj kritisierte, Putin habe Leute nach Istanbul geschickt, die "nichts entscheiden" und bezeichnete das Niveau der Delegation als "Farce".

Selenskyj hatte sich am Tag vor dem Delegationstreffen mit seinem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan in der Türkei getroffen und sich zu einem persönlichen Treffen mit dem russischen Präsidenten bereiterklärt. Dies hätte die Gelegenheit geboten, "alle wesentlichen Probleme zu lösen", sagte Selenskyj auf dem Gipfel der Europäischen Politischen Gemeinschaft in Albanien, zu dem er aus der Türkei gereist war. "Aber er (Putin) war nicht bereit dazu."

Was wurde besprochen und was erzielt?

Die ukrainische Delegation zu Gesprächen habe er vor allem "aus Respekt" vor US-Präsident Donald Trump und Erdogan nach Istanbul entsandt, sagte Selenskyj. Nennenswerte Ergebnisse habe er sich von ihr nicht versprochen.

Der Leiter der ukrainischen Delegation, Verteidigungsminister Rustem Umjerow, erklärte, dass für Kyjiw bei den Verhandlungen mit Moskau die Menschen oberste Priorität hätten. Deshalb hätten die ukrainischen Vertreter einen Austausch von jeweils 1000 Gefangenen vereinbart.

Zum Thema Waffenstillstand hätten beide Seiten sich über Modalitäten ausgetauscht, die Einzelheiten seien noch zu erarbeiten. Die Ukraine sei in der Lage, den Kampf fortzusetzen. Der Krieg müsse jedoch beendet werden. "Die dritte Priorität", betonte Umjerow: "Unser Präsident erwartet Gespräche auf höchster Ebene."

Skepsis unter Politikern und Experten

Bei den Verhandlungen in Istanbul habe die russische Seite für die Ukraine inakzeptable Aussagen gemacht, erklärte der Sprecher des ukrainischen Außenministeriums, Heorhij Tychyj, vor Journalisten, ohne Beispiele zu nennen.

Die Co-Vorsitzende der oppositionellen Fraktion "Europäische Solidarität" im ukrainischen Parlament, Iryna Heraschtschenko, schrieb auf Facebook, dass Russland von der Ukraine als "Geste des guten Willens" den Abzug ihrer Truppen von eigenem Staatsgebiet verlangt habe, damit ein Waffenstillstand verkündet werden könne.

"Das ist ein Ultimatum und ein Aufruf zur Kapitulation, die den Grundsätzen des Völkerrechts direkt widersprechen", so die Parlamentarierin weiter, "Das Verhalten der russischen Delegation in Istanbul zeugt von Erpressung statt Verhandlungen, und statt Kompromissen gibt es eine Liste von Ultimaten, einschließlich der Forderung, ukrainisches Territorium an Russland abzutreten."

Iwan Us vom ukrainischen "Nationalen Institut für strategische Studien" wirft der russischen Delegation im Gespräch mit der DW Propaganda vor und betont, dass sie nichts Unerwartetes erklärt habe. "Es gab Verhandlungen, weil die USA sie sehen wollten." Die Ukraine habe dem zugestimmt, weil ihre europäischen Partner darum gebeten hatten, weil Europa nicht bereit sei, die Ukraine ohne die USA zu unterstützen. Moskau wiederum sei vor allem nach Istanbul gekommen, um seine üblichen Narrative zu verkünden, so Us: "Russland will einerseits weiterkämpfen, ist sich aber bewusst, dass es keinen Erfolg haben wird, solange die USA der Ukraine Hilfe gewähren."

Wann kommt es wieder zu Gesprächen?

Nach Angaben des türkischen Außenministers Hakan Fidan vereinbarten die ukrainischen und russischen Vertreter in Istanbul grundsätzlich ein erneutes Treffen. Allerdings könne dies auf sich warten lassen, sagte der Militärexperte und ehemalige Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes der Ukraine, Iwan Stupak, der DW: "Die Russen sind derzeit nicht zu Gesprächen bereit, weil sie an der Front im Vorteil sind."

Solange es an der Kontaktlinie keine Pattsituation gibt, werde sich niemand an den Verhandlungstisch setzen, so Stupak. Dazu werde es wohl frühestens im Oktober kommen - nach der Sommeroffensive, die Wladimir Putin gegen die Ukraine plane. "Beschwichtigungen in Form einer Aufhebung der Sanktionen, einer Anerkennung der Krim als russisches Staatsgebiet oder eines Versprechens zur gemeinsamen Erschließung der Arktis darf es nicht geben", fordert Stupak. Dies habe ohnehin nicht funktioniert. "Deshalb werden die Kämpfe weitergehen."

Auch Iwan Us hält eine Annäherung eher im Herbst für möglich. Studien zu offiziellen russischen Wirtschaftsindikatoren deuteten darauf hin, dass Russlands Wirtschaft gegen Oktober stark einbrechen könnte, erklärt der Experte. Erst dann werde Putin zu einem Dialog über einen Waffenstillstand, zu Zugeständnissen und einer Beendigung des Krieges bereit sein.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

Item URL https://www.dw.com/de/eine-farce-wie-kyjiw-die-gespräche-mit-moskau-bewertet/a-72573601?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72565552_302.jpg
Image caption Gespräche zwischen der Ukraine und Russland in Istanbul
Image source DHA
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72565552_302.jpg&title=%22Eine%20Farce%22%3A%20Wie%20Kyjiw%20die%20Gespr%C3%A4che%20mit%20Moskau%20bewertet

Item 10
Id 72539842
Date 2025-05-17
Title Präsidentenwahl in Polen entscheidet über Tusk-Regierung
Short title Präsidentenwahl in Polen entscheidet über Tusk-Regierung
Teaser Die Regierung von Donald Tusk verliert an Zustimmung, weil Präsident Andrzej Duda ihre Vorhaben blockiert. Kann ein neuer Staatschef die Blockade durchbrechen? An diesem Sonntag wird gewählt.
Short teaser Endspurt im Wahlkampf um das höchste Amt in Polen. Wird die Wahl an diesem Sonntag zum Befreiungsschlag für Tusk?
Full text

Die Wähler in Polen entscheiden am 18. Mai nicht nur, ob der nächste Präsident des Landes der linksliberale Rafal Trzaskowski oder der nationalkonservative Karol Nawrocki sein wird. Es geht um viel mehr. Vom Wahlausgang hängt auch ab, ob die proeuropäische Mitte-Links-Regierung von Donald Tusk die Blockade überwinden kann, die aus dem Präsidentenpalast gesteuert wird und die ihre Arbeit seit dem Amtsantritt vor anderthalb Jahren lähmt.

Denn das polnische Staatsoberhaupt hat zwar nicht so viel Macht wie der französische oder amerikanische Präsident, aber viel mehr als der deutsche Bundespräsident, der hauptsächlich repräsentative und protokollarische Funktionen hat. Mit seinem Vetorecht kann der direkt vom Volk gewählte polnische Präsident die Gesetzesvorhaben der Regierung blockieren. Außerdem hat er die Oberaufsicht über die Streitkräfte, Mitspracherecht in der Außenpolitik und kann eigene Gesetzesentwürfe einbringen.

Enttäuschte Hoffnungen auf Reformen

Als im Dezember 2023 Tusks Koalition die nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jaroslaw Kaczynski nach acht Jahren von der Macht verdrängte, war die Hoffnung auf eine schnelle demokratische Wende groß. Die liberal-konservativen Kräfte hatten im Wahlkampf die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit, die Liberalisierung der Abtreibungsgesetze und mehr Rechte für Homosexuelle versprochen. Außerdem wollten sie eine Reform der öffentlichen Medien in Angriff nehmen und Politiker zur Rechenschaft ziehen, denen Korruption und Machtmissbrauch vorgeworfen wurde.

Doch schon bald stellte sich heraus, dass die meisten Reformversuche am Widerstand des nationalkonservativen Präsidenten scheitern. Andrzej Duda macht von seinem Veto-Recht Gebrauch oder verweist Gesetzesvorhaben der Regierung an das Verfassungsgericht, das aus PiS-Anhängern besteht. Entsprechend bescheiden fällt daher nach anderthalb Jahren die innenpolitische Bilanz der Tusk-Regierung aus. Enttäuschung und Unzufriedenheit machen sich im Lande breit - auch unter den Stammwählern der Koalitionsparteien.

Für Tusk geht es um Kopf und Kragen

"Präsidentenpalast oder Tod", schrieb der Publizist der Wochenzeitschrift Newsweek, Jacek Gadek, nach Beginn des Wahlkampfes im vergangenen Herbst. "Tusk weiß, dass vom Ausgang dieser Schlacht alles abhängt."

Als aussichtsreichen Kandidaten schickte der Regierungschef daher seinen linksliberalen Parteigenossen Rafal Trzaskowski in die Schlacht. Der Oberbürgermeister von Warschau war vor fünf Jahren schon einmal gegen Duda angetreten und hatte damals nur knapp verloren. In der Stichwahl unterlag er dem konservativen Kandidaten mit 48,97 zu 51,03 Prozent.

Der 53-Jährige kann trotz seines für polnische Verhältnisse relativ jungen Alters auf eine lange politische Karriere zurückblicken. Er war schon Digitalminister, saß im Europäischen Parlament und war als Staatssekretär im Außenministerium für Europa-Politik zuständig. Seit 2018 regiert er Polens Hauptstadt.

Der linksliberale Kandidat führt in Umfragen

Trzaskowski gehört zum linken Flügel der Tusk-Partei Bürgerplattform. Er befürwortet ein liberales Abtreibungsrecht, das Schwangerschaftsabbrüche bis zur 12. Woche vorsieht, und hat die Kreuze aus den Amtsstuben im Rathaus entfernt. Als einer von wenigen Politikern in Polen verteidigt er die Klimapolitik der EU. Wenige Tage vor dem Urnengang führt er in den Umfragen, obwohl sein Vorsprung in den letzten Wochen auf einige Prozentpunkte zusammengeschmolzen ist.

Sein wichtigster Gegenspieler ist Karol Nawrocki. Der 42-jährige Historiker aus Danzig leitet das Institut für Nationales Gedenken (IPN), die polnische Version der inzwischen aufgelösten Behörde für die Stasi-Unterlagen. PiS-Chef Kaczynski hatte den parteilosen rechtsnationalen Aktivisten als "Bürgerkandidaten" ins Rennen um das Präsidentenamt geschickt. Sein Kalkül: Nawrocki werde auch rechte Wähler außerhalb des PiS-Milieus gewinnen, weil er nicht als PiS-Apparatschik wie etwa Ex-Regierungschef Mateusz Morawiecki gilt.

Kaczynskis Kandidat in Skandale verwickelt

Doch diese Rechnung scheint nicht aufzugehen - die Zustimmung zu Nawrocki bleibt geringer als die Umfragewerte der PiS, weil selbst viele Parteimitglieder den Kandidaten gar nicht kennen. Aus Journalistenrecherchen geht außerdem hervor, dass Nawrocki Kontakte zur Unterwelt hatte. Und kurz vor dem Wahltag holte ihn ein Immobilienskandal ein. Seine Gegner warfen ihm vor, eine kommunale Wohnung in Danzig erschwindelt zu haben. Nach massiver Kritik übergab er die Einzimmerwohnung inzwischen an eine karitative christliche Organisation, die sich um obdachlose Menschen kümmert. Gleichwohl bestritt er seine Schuld.

Auf den Wahlveranstaltungen teilt Nawrocki gegen Immigranten, gegen den Green Deal der EU und gegen Brüssel aus. Er fordert die Einschränkung der Hilfen für die Ukraine und pflegt das Feindbild Deutschland. "Ich werde kein Lakai, kein Kammerdiener Deutschlands sein", versichert er. Die PiS wirft Tusk vor, ein "deutscher Agent" zu sein.

Trump und Simion als Wahlhelfer

Nawrockis Wahlkampfteam nutzte seine guten Kontakte zu den Republikanern in den USA, um Anfang Mai einen Coup zu landen: ein Fototermin mit US-Präsident Donald Trump im Oval Office. "You will win" - soll Trump zu Nawrocki gesagt haben.

Auch der rechtspopulistische Sieger der ersten Runde der Präsidentenwahl in Rumänien, George Simion, reiste nach Polen, um seinem polnischen Gesinnungsgenossen zu helfen. Auf einer Kundgebung in Zabrze in Oberschlesien am Dienstag (13.05.2025) kündigten die beiden Politiker an, ein "Europa der Vaterländer" bauen zu wollen. "Wir lassen uns nicht von der EU zentralisieren und Polen sowie Rumänien zu Verwaltungsbezirken (der EU) machen", erklärte Nawrocki.

Außenseiterchancen für Kandidat der extremen Rechten?

Eine Zeitlang sah es so aus, als ob Slawomir Mentzen, der Kandidat der rechtsextremen Konfederacja, Nawrocki gefährlich werden könnte. In mehreren Erhebungen im März 2025 näherte sich Mentzen Nawrocki oder überholte ihn sogar. Inzwischen ist er auf knapp zwölf Prozent abgesunken. Der 38-jährige Steuerberater und Unternehmer tourt seit vergangenem Herbst durch Polen und rühmt sich, mehr als 340 Wahlkampftermine absolviert zu haben. Er ist besonders stark in sozialen Medien - auf TikTok hat er 1,6 Millionen Follower.

Mentzens Programm besteht aus Fundamentalkritik an der politischen Wirklichkeit, wobei er in Polen vor allem das Gesundheitswesen und das Rentensystem kritisiert, in Europa dagegen die Migrationspolitik und den "Green Deal" angreift. Auch das Recht auf Waffenbesitz und radikales Verbot von Abtreibungen, auch nach Vergewaltigung, hat Mentzen in seinem Programm. Seine radikalen Parolen ziehen vor allem junge Leute an - auf seinen Veranstaltungen sind Jugendliche im Schulalter überproportional vertreten.

Mentzen macht Kaczynskis PiS und Tusks Bürgerplattform für alle Probleme des Landes verantwortlich und spricht kritisch vom "Duopol" - der Herrschaft der Zwei. Diese Meinung teilen viele der insgesamt 13 Kandidatinnen und Kandidaten, die bei der Wahl am kommenden Sonntag antreten.

Entscheidung fällt wahrscheinlich erst in der Stichwahl

In der Tat hat die Rivalität zwischen Tusk und Kaczynski die polnische Geschichte in den vergangenen 20 Jahren geprägt. Mal regiert die eine Partei (PiS: 2005-2007 und 2015-2023) und mal die andere (Bürgerplattform: 2007-2015 und ab 2023). Für andere Gruppierungen bleibt nicht viel Platz.

Wenn nichts Unerwartetes passiert, wird das Rennen um die Präsidentschaft trotzdem nicht in der ersten Runde entschieden, sondern in der Stichwahl zwischen Trzaskowski und Nawrocki am 1. Juni. Die Umfragen sehen den linksliberalen Kandidaten vorn - doch er kann sich seines Sieges nicht sicher sein. Werden die Wähler der Parteien, die die Regierungskoalition bilden, für Trzaskowski stimmen oder zu Hause bleiben? Und was werden Mentzens Wähler in der zweiten Runde tun? Tusk wird zittern müssen, bis die letzte Stimmkarte gezählt ist.

Item URL https://www.dw.com/de/präsidentenwahl-in-polen-entscheidet-über-tusk-regierung/a-72539842?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72540330_302.jpg
Image caption Liegt in den Umfragen vorn: Der Kandidat der regierenden polnischen Koalition, Rafal Trzaskowski, bei einer Wahlkampfveranstaltung
Image source Jakub Porzycki/Anadolu/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72540330_302.jpg&title=Pr%C3%A4sidentenwahl%20in%20Polen%20entscheidet%20%C3%BCber%20Tusk-Regierung

Item 11
Id 72552914
Date 2025-05-17
Title Rumänien wählt zwischen zwei Welten - mit Folgen für Europa
Short title Rumänien wählt zwischen zwei Welten - mit Folgen für Europa
Teaser In der zweiten Runde der rumänischen Präsidentschaftswahl treten der rechtsextreme "Souveränist" George Simion und der proeuropäische Liberale Nicusor Dan an. Gewinnt Simion, könnte das ganz Europa in eine Krise stürzen.
Short teaser Gewinnt der Rechtsextreme Simion die Präsidentschaftswahl in Rumänien, könnte das ganz Europa in eine Krise stürzen.
Full text

"Demokratie oder Illiberalismus", "Europa oder Isolation", "Mathematik-Champion oder Fußball-Hooligan" - solche Schlagzeilen und Einordnungen liest oder hört man in diesen Tagen in nahezu allen unabhängigen rumänischen Medien. Wenige Tage vor der zweiten, entscheidenden Runde der Präsidentschaftswahl in Rumänien am kommenden Sonntag (18.05.2025) ist die öffentliche Stimmung so zugespitzt wie selten zuvor in den vergangenen Jahrzehnten. Ausnahmslos alle Kommentatoren und Beobachter sehen das Land an einem Scheideweg und in einem wichtigen historischen Moment.

Tatsächlich war noch keine Präsidentschaftswahl seit dem Sturz der kommunistischen Diktatur im Jahr 1989/90 von einer derart radikalen Gegensätzlichkeit der beiden Kandidaten und von so tiefen gesellschaftlichen Gräben geprägt wie die jetzige. Und selten zuvor war der Wahlausgang so unvorhersehbar wie dieses Mal. Dabei legen beide Kandidaten Wert darauf, dass sie nicht "aus dem System" stammen und nicht von den traditionellen postkommunistischen Parteien Rumäniens repräsentiert werden.

Mit Simion ins Chaos

Auf der einen Seite steht George Simion, 38, Chef der rechtsextremen, prorussischen Partei Allianz für die Vereinigung der Rumänen (AUR), ehemals Fußball-Hooligan, heute erklärter "Souveränist" und Fan von US-Präsident Donald Trump und dem ungarischen Regierungschef Viktor Orban. Er war mit großem Abstand Gewinner der ersten Runde der Präsidentschaftswahl am 4.05.2025 und erhielt fast 41 Prozent.

Sein Kontrahent: Nicusor Dan, 55, parteiloser Bürgermeister von Bukarest, Mathematiker, einst Bürgeraktivist gegen Korruption und ein Mann mit klar proeuropäischen, überwiegend liberalen und teils gemäßigt konservativen Ansichten. Er lag in der ersten Runde weit hinter Simion und kam nur auf 21 Prozent.

Es steht viel auf dem Spiel bei der Wahl - für Rumänien und für Europa. Rumänien ist das sechstgrößte EU-Land und das größte in Südosteuropa. Es hat die längste EU-Grenze zur Ukraine, die wichtigste NATO-Basis und den wichtigsten Raketenabwehrschirm der Region. Bislang war Rumänien ein verlässlicher und berechenbarer Partner in der Europäischen Union und der NATO. Mit einem prorussischen, rechtsextremen Präsidenten Simion könnte sich das ändern - und Rumänien in einem ähnlichen Chaos versinken wie die USA unter Trump.

Unklare Umfragen

Der Präsident hat in Rumänien zwar keine starken exekutiven Befugnisse. Doch er ist Oberbefehlshaber der Armee und Chef des Obersten Rates zur Landesverteidigung (CSAT). Er ernennt den Premier, die Chefs der beiden wichtigsten Geheimdienste sowie einen Teil der Verfassungsrichter und repräsentiert Rumänien in der EU und der NATO. Zudem kann er an Regierungssitzungen teilnehmen. All das gibt ihm große Einflussmöglichkeiten in der Innen- wie Außenpolitik.

Die meisten Umfragen der vergangenen zwei Wochen sahen Simion mal leicht, mal auch deutlich vorn. In einer der jüngsten Umfragen liegen die beiden Kandidaten jedoch gleichauf. Wahlprognosen sind in Rumänien allerdings extrem unzuverlässig. Den haushohen Sieg von Simion in der ersten Runde hatte kein einziges Institut vorhergesagt.

Simions plötzliche Wende

Der AUR-Chef machte in den vergangenen Jahren mit wüsten, teils physisch gewalttätigen Auftritten Schlagzeilen und versprach regelmäßig, "das System zu zerstören". Mehr oder weniger direkt versprach er auch einen EU- und NATO-Austritt und einen Anschluss der Republik Moldau und südwestukrainischer Gebiete an Rumänien. Er fiel mit prorussischen Sympathien und nationalistischer Hetze gegen die ungarische Minderheit Rumäniens auf.

Von fast allem ist Simion in jüngster Zeit plötzlich abgerückt. Er tritt für seine Verhältnisse ruhig auf, verzichtet auf vulgäre Ausdrücke und Herumschreien. Statt von EU- und NATO-Austritt spricht er von Respekt und Würde für Rumänien und davon, dass das Land mit ihm als Präsident ein Partner "auf Augenhöhe und nicht mehr auf Knien" sein werde. Geblieben ist die antiukrainische Hetze - so etwa verbreitet er Lügen über die angebliche Bevorzugung ukrainischer Schutzsuchender vor rumänischen Staatsbürgern. Geändert hat sich auch nicht, dass Simion von Staatsverwaltung, Wirtschaft, Europäischer Union und Außen- sowie Verteidigungspolitik kaum Ahnung hat.

Überraschend erhielt Simion unlängst Wahlkampfhilfe von Viktor Orban, der den rechtsextremen Kandidaten in einer Rede für seine Souveränitätspolitik lobte. Das führte erstmals seit vielen Jahren zu einem Konflikt mit der Minderheitenpartei der Ungarn in Rumänien, UDMR, die sich wegen früherer gewalttätiger antiungarischer Aktionen Simions scharf von diesem abgrenzt und die rund 1,2 Millionen Ungarn in Rumänien zur Wahl Nicusor Dans aufruft.

"Systemsprenger" repräsentiert das System

Mit Dan hätten Rumänien und die EU einen Präsidenten, der für einen proeuropäischen Kurs, für Rechtsstaatlichkeit, Transparenz und Berechenbarkeit sowie für eine uneingeschränkte Unterstützung der Ukraine steht. Als Bukarester Bürgermeister hat Dan bewiesen, dass er Reformen durchsetzen kann, auch wenn er einen Teil seiner Versprechen bisher nicht erfüllen konnte. Sein Problem ist, dass er sich mitunter im Gestrüpp von Komplexität verheddert. In den Debatten mit seinem Kontrahenten der vergangenen Wochen reagierte er oft geistreich. Es wurde aber auch sichtbar, dass er an falscher Stelle konfliktscheu ist und sich häufig zu defensiv verhält.

Nicusor Dan hat angekündigt, im Falle seines Wahlsiegs den Interimspräsidenten Ilie Bolojan zum Premier zu machen, einen als weitgehend integer geltenden Politiker, der als Bürgermeister der westrumänischen Stadt Oradea (Großwardein) einen guten Ruf genoss. Als langjähriger Spitzenpolitiker der Nationalliberalen Partei (PNL) repräsentiert er jedoch "das System" - für Dans Wahlchancen eher negativ, denn der Hass großer Teile der rumänischen Gesellschaft auf das Establishment ist in dieser Wahl die treibende Kraft.

Dabei repräsentiert ausgerechnet der selbst ernannte "Systemsprenger" George Simion eine Kontinuität des alten national-stalinistischen Ceausescu-Systems, von dem sich Teile bis in die heutige Zeit gerettet haben - unter anderen in die Partei AUR. Simion würde auch den prorussischen Esoteriker Calin Georgescu zum Premier ernennen. Der Rechtsextremist war von einer erneuten Präsidentschaftskandidatur ausgeschlossenen worden. Und er hat seine gesamte politische Karriere als Protegé ehemaliger Ceausescu-Diplomaten und Mitarbeiter des berüchtigten Geheimdienstes Securitate gemacht.

Bekannt ist das in Rumänien seit langem - doch erst jüngst machte es wieder Schlagzeilen. Georgescu selbst nennt beispielsweise als einen seiner "wichtigsten Mentoren" Mircea Malita, langjähriger UN- und US-Botschafter Rumäniens in der Ceausescu-Zeit und nach 1989 eine graue Eminenz der rumänischen Außenpolitik. Georgescu soll auch Verbindungen zum Netzwerk des Securitate-Generals Mihai Caraman gehabt haben, der in der Ceausescu-Zeit durch das Ausspionieren der NATO Berühmtheit erlangte und von 1990 bis 1992 den rumänischen Auslandsgeheimdienst SIE leitete.

Der Bürgerrechtler und ehemalige Ceausescu-Regimegegner Gabriel Andreescu kommt in einem Essay deshalb zur Schlussfolgerung: "Ein Sieg George Simions wäre die letzte Etappe der Wiederauferstehung der ehemaligen kommunistischen Machtnetzwerke."

Item URL https://www.dw.com/de/rumänien-wählt-zwischen-zwei-welten-mit-folgen-für-europa/a-72552914?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72554372_302.jpg
Image caption Elf Kandidaten sind in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl angetreten. In der Stichwahl geht es um den Sieger der ersten Runde, George Simion (auf dem Foto rechts), und den Zweitplatzierten, Nicosur Dan
Image source Nikolay Doychinov/AFP
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72554372_302.jpg&title=Rum%C3%A4nien%20w%C3%A4hlt%20zwischen%20zwei%20Welten%20-%20mit%20Folgen%20f%C3%BCr%20Europa

Item 12
Id 72571311
Date 2025-05-16
Title Europas Staats- und Regierungschefs treffen sich in Albanien - erstmals mit Bundeskanzler Merz
Short title Bundeskanzler Merz erstmals auf europäischem EPG-Gipfel
Teaser Bei einem Treffen der "Europäischen Politischen Gemeinschaft" treffen sich europäische Staats- und Regierungschefs. Zum ersten Mal dabei ist der neue deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz.
Short teaser In Albanien trifft Friedrich Merz europäische Kollegen. Die Ukraine steht im Zentrum.
Full text

Das Treffen der "Europäischen Politischen Gemeinschaft" ging am Freitagabend planmäßig ohne Beschlüsse zu Ende. Es ist bereits das sechste Mal, dass sich die rund 47 Länder in dieser Konstellation zu einem solchen Gipfel einfinden, bei dem der Austausch im Vordergrund steht. Albanien hatte als erstes Westbalkan-Land diesen Gipfel ausgerichtet.

Neben den 27 EU-Staaten nehmen auch andere europäische Länder wie die des Westbalkans, die Türkei oder das Vereinigte Königreich teil. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj war am Freitag in Tirana. Explizit nicht eingeladen waren Russland und dessen Verbündeter Belarus.

Unter dem Motto: "Neues Europa in einer neuen Welt: Einheit - Zusammenarbeit - Gemeinsam handeln" diskutierten die rund 50 europäische Spitzenpolitiker über europäische Sicherheit, den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, Wettbewerbsfähigkeit und Migration.

Erstes großes Gipfeltreffen mit Merz

"Das ist eine gute Gelegenheit viele der europäischen Staats- und Regierungschefs persönlich zu treffen," sagte Friedrich Merz, als er an dem regnerischen Freitag in Tirana zu seinem ersten großen europäischen Gipfel eintraf. Einige Teilnehmer haben "ziemlich hohe" Erwartungen an den deutschen Bundeskanzler, so wie die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Sie freue sich auf die Zusammenarbeit, sagte sie, vor allem in den Bereichen Sicherheit und Aufrüstung, sowie bei der Migration. Der litauische Premierminister Gintautas Paluckas erwartet wichtigen wirtschaftlichen und politischen Input und sieht Deutschland auf dem richtigen Kurs.

Hohe Erwartungen an den Bundeskanzler

Vor allem mit seinen Reisen nach Paris, Warschau, Brüssel und Kyjw sei Friedrich Merz bislang "sehr stark" auf der europäischen Bühne aufgetreten, sagt der Politikwissenschaftler Janis Emmanouilidis von der Brüsseler Denkfabrik "European Policy Center." Doch sei die Erwartungshaltung an ihn und seine Regierung "extrem hoch." Viele EU-Mitgliedstaaten fänden Deutschland solle auf europäischer Ebene mehr mitführen, Entscheidungen treffen und Dinge vorantreiben, so Emmanouilidis im Gespräch mit der DW.

Ob Merz diese Erwartungen erfüllen könne, hänge jedoch auch damit zusammen, wie stark er als Kanzler national sei, betont der Politikwissenschaftler. Denn so müsse er erst noch das Vertrauen der Bevölkerung und in den eigenen Reihen gewinnen. Manchmal frage er sich, so Emmanouilidis, ob man nicht zu viel von einem Bundeskanzler erwarte, der sich ja auch erst mal in seiner neuen Rolle einfinden müsse.

Ukraine im Zentrum der Gespräche

Mit seinem Platz auf der europäischer Bühne schien Merz jedenfalls nicht zu hadern. Am frühen Nachmittag trat er gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Macron, dem polnischen Premier Tusk und dem britischen Premier Starmer vor die Presse. Bereits am Wochenende zuvor waren die vier Politiker gemeinsam in die Ukraine gereist.

Nach einem Gespräch mit Wolodymyr Selenskyj hätten die vier Regierungschefs mit dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump telefoniert, teilte Keir Starmer mit. Der britische Premier hält die russische Position für "inakzeptabel". Bezüglich einer Reaktion sei man in enger Abstimmung.

Der russische Präsident Wladimir Putin hatte eine 30-tägigen Waffenstillstand verstreichen lassen und kam nicht nach Istanbul, um direkte Gespräche über einen Waffenstillstand mit Selenskyis zu führen. Diese Entscheidung wurde in Tirana mehrfach kritisiert. NATO-Generalsekretär Mark Rutte, nannte die Entsendung einer niederrangigen russischen Delegation zu den Gesprächen einen "Fehler."

Auch der deutsche Bundeskanzler zeigte sich "sehr enttäuscht" von dem Ausgang der Gespräche. Man werde weitere Gesprächsangebote machen und sich auf europäischer Seite absprechen sowie sich mit den Amerikanern koordinieren. Die Beziehung zu den USA war ein wichtiges Thema des Kanzlers bei der Konferenz. "Wir müssen alles tun, um die Amerikaner auf unserer Seite zu halten," rief er seine europäischen Kollegen auf. Denn das, was die USA für die Sicherheit des europäischen Kontinents täten, sei nicht ersetzbar.

Weitere Sanktionen im Gespräch

Der ukrainische Präsident Selenskyj plädierte für weitere Sanktionen gegen den russischen Energie- und Bankensektor, sollte sich herausstellen, dass es die russische Delegation mit den Verhandlungen nicht ernst meine. "Der Druck muss weiter aufgebaut werden, bis echte Fortschritte erreicht sind," forderte Selenskyj die anwesenden Staats- und Regierungschefs auf.

Bereits am Morgen hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt, weitere Sanktionen gegen Russland zu erarbeiten. Diese sollen sich gegen die Erdgas-Pipelines Nordstream 1 und 2 und den Finanzsektor richten. Auch wolle man die Preisobergrenze für Rohöl weiter senken. Ob diese Sanktionen mit den USA abgestimmt werden oder wurden, ist bislang nicht bekannt. Laut der Nachrichtenagentur dpa wurden die USA darauf hingewiesen, dass der Sanktionsdruck auf Russland aufrechterhalten werden müsse.

Grundsätzlich versuche die neue Bundesregierung mehr Druck auf Russland auszuüben, erläutert Janis Emmanouilidis im Gespräch mit der DW. Allerdings, warnt der Politologe, solle man die Einflussmöglichkeiten der Europäer nicht überschätzen. Er schreibt den USA, der Türkei und China einen größeren Einfluss zu.

Item URL https://www.dw.com/de/europas-staats-und-regierungschefs-treffen-sich-in-albanien-erstmals-mit-bundeskanzler-merz/a-72571311?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72567750_302.jpg
Image caption Der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz im Gespräch mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Image source Armend Nimani/AFP
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72567750_302.jpg&title=Europas%20Staats-%20und%20Regierungschefs%20treffen%20sich%20in%20Albanien%20-%20erstmals%20mit%20Bundeskanzler%20Merz

Item 13
Id 72563839
Date 2025-05-16
Title Europa rüstet auf - Wer führt, wer folgt, wer zahlt?
Short title Europa rüstet auf - Wer führt, wer folgt, wer zahlt?
Teaser Deutschlands Außenminister fordert Verteidigungsausgaben von fünf Prozent des BIP - und folgt damit dem Wunsch von US-Präsident Trump. Auch andere europäische Staaten erhöhen massiv ihre Militärbudgets. Ein Überblick.
Short teaser Gibt Deutschland künftig fünf Prozent des BIP für Verteidigung aus? Auch andere Staaten erhöhen ihre Militärbudgets.
Full text

Donald Trump kann sich bestätigt fühlen: Fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), so fordert es Deutschlands neuer Außenminister Johann Wadephul, solle die neue Bundesregierung künftig in ihre Verteidigung investieren. Dies vermeldete er beim Treffen der NATO-Außenminister im türkischen Antalya. Deutschland unterstütze den Vorschlag von NATO-Generalsekretär Mark Rutte, 3,5 Prozent für militärische Zwecke und zusätzlich 1,5 Prozent für verteidigungsnahe Infrastruktur bereitzustellen, so der Minister. Endgültige Klarheit über die Investitionen aller Nato-Staaten wird es aber wohl erst beim entscheidenden Nato-Gipfel Ende Juni in Den Haag geben.

Bereits am Vortag hatte Bundeskanzler Friedrich Merz in seiner Regierungserklärung angekündigt, die Bundeswehr zur "konventionell stärksten Armee Europas" ausbauen zu wollen.

Doch auch andere europäische Staaten formulieren ehrgeizige Ziele:

Polen: Bollwerk an der Ostflanke

Polen investiert seit Jahren massiv in seine Streitkräfte - mit dem Ziel, zur stärksten Landmacht Europas zu werden. Im vergangenen Jahr flossen 4,12 Prozent der Wirtschaftskraft in den Verteidigungsetat. Das erklärte Ziel des größten Staates an der Nato-Ostflanke: die wirksame Abschreckung Russlands.

Aktuell zählt das polnische Militär rund 150.000 Soldaten in Berufsarmee und Territorialverteidigung. Bis 2035 soll die Zahl auf 300.000 steigen. Parallel dazu erfolgt die Ausstattung mit modernem Gerät: Über 600 Kampfpanzer - bestellt unter anderem in Südkorea und den USA - sowie HIMARS-Raketen, Drohnen und künftig auch F-35-Kampfjets sollen das polnische Heer und die Luftverteidigung stärken. Die polnische Marine hingegen gilt als eher schwach.

Deutschland: Vom Zauderer zur Führungsrolle?

Mit der angekündigten Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts würde Deutschland eine sicherheitspolitische Kehrtwende historischen Ausmaßes vollziehen. Seit dem Ende des Kalten Krieges hatte sich die Bundesrepublik auf internationale Kooperation, Diplomatie und eine "Kultur der militärischen Zurückhaltung" gestützt. Den Wendepunkt markierte die sogenannte "Zeitenwende"-Rede von Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022, drei Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine.

Bereits im Anschluss an diese Rede stellte die Bundesregierung ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereit. 2024 beliefen sich die regulären Verteidigungsausgaben auf etwa 90 Milliarden Euro, rund 2,1 Prozent des BIP. Ein Anstieg auf fünf Prozent würde künftig einen Verteidigungshaushalt von über 160 Milliarden Euro jährlich erfordern. Diese Verdopplung hätte enorme haushaltspolitische Auswirkungen und ist bislang nicht gegenfinanziert.

Aktuell umfasst die Bundeswehr etwa 182.000 aktive Soldatinnen und Soldaten. Das Verteidigungsministerium strebt bis 2031 eine Personalstärke von mindestens 203.000 an, wobei vereinzelt sogar eine Zielmarke von 240.000 diskutiert wird. Die laufende Modernisierung betrifft alle Teilstreitkräfte: veraltete Panzer, Flugzeuge und Schiffe sollen ersetzt, Digitalisierung und Führungsfähigkeit ausgebaut werden. Als industrielle Schlüsselakteure gelten in Deutschland Rheinmetall, Airbus Defence and Space sowie die Diehl-Gruppe, die gemeinsam mit ausländischen Partnern zunehmend exportorientiert agieren.

Frankreich: Nuklearmacht mit globalem Anspruch

Frankreich ist die einzige Atommacht in der EU und verfolgt eine Strategie der globalen Präsenz und militärischen Eigenständigkeit. Rund 203.000 Soldaten dienen in der Armee, hinzu kommen 175.000 Angehörige von Paramilitärischen Einheiten wie der Gendarmerie sowie gut 26.000 Reservisten.

Die französische Marine verfügt mit dem atomgetriebenen Flugzeugträger Charles de Gaulle und strategischen U-Booten über eine schlagkräftige Komponente zur nuklearen Abschreckung. Rafale-Kampfjets sollen die Lufthoheit sichern und sind ebenfalls für den Einsatz von Atomwaffen ausgerüstet.

Präsident Emmanuel Macron hat seit seinem Amtsantritt 2017 für eine deutliche Erhöhung des Verteidigungsbudgets gesorgt. In einer dramatischen Fernsehansprache Anfang März informierte der Präsident die Bevölkerung ausführlich über die "russische Bedrohung", die über Europa schwebe. Der französische Verteidigungshaushalt solle daher fast verdoppelt werden.

In der Vergangenheit hat Frankreich ein mit Deutschland vergleichbares Militärbudget unterhalten, aber damit eine kampfkräftigere Armee aufgebaut - nicht zuletzt, weil der Staat die Rüstungsindustrie seit jeher strategisch fördert und an ihr beteiligt ist.

Großbritannien: Hochgerüstet, aber verletzlich

Mit einem Zielwert von knapp 2,4 Prozent des BIP will auch Großbritannien seine Verteidigungsausgaben steigern, mit Fokus auf Hightech: Drohnen, künstliche Intelligenz und Lasersysteme. Die Royal Navy mit zwei Flugzeugträgern, von denen aber in der Regel nur einer operativ einsatzbereit ist, und die Luftwaffe gelten als hochmodern. Rückgrat der Luftstreitkräfte sind F35B-Kampfjets aus den USA, von denen die Regierung insgesamt 138 Exemplare beschaffen möchte.

Allerdings sind die britischen Streitkräfte mit rund 140.000 aktiven Soldaten (darunter 4000 Gurkhas) relativ klein. Anders als in vielen EU-Staaten sind aktuell auch keine signifikanten Personalaufstockungen vorgesehen.

Premierminister Keir Starmer betont die Bündnistreue und globale Einsatzfähigkeit Großbritanniens. Stärker als viele EU-Staaten ist die militärische Ausrüstung Großbritanniens abhängig von US-Technologie. Das gilt nicht zuletzt für die auf U-Booten stationierten Atomwaffen.

Italien: Maritime Stärke, Landmacht mit Nachholbedarf

Italien liegt mit 1,49 Prozent des BIP laut NATO im Jahr 2024 noch deutlich unter dem bisherigen Zielwert von mindestens zwei Prozent. Dennoch zählt das Land mit 165.000 aktiven Soldaten, zwei Flugzeugträgern und einer leistungsfähigen Luftwaffe (Eurofighter, F-35) zu den militärischen Schwergewichten Europas.

Die Landstreitkräfte jedoch gelten als veraltet und reformbedürftig. Das soll sich ändern: Ministerpräsidentin Giorgia Meloni will Italien zur stärksten Panzermacht Europas machen. Dafür wurden bei Rheinmetall mehr als 1000 Kampf- und Mehrzweckpanzer bestellt. Strategisch fokussiert sich Italien auf den Mittelmeerraum und die Sicherung globaler Handelsrouten.

Globale Kräfteverhältnisse bleiben bestehen

Die milliardenschweren Aufrüstungsprogramme in Europa ändern an der weltweiten Rangordnung der Militärmächte mittelfristig wenig. Die USA führen das Ranking klar an, gefolgt von Russland, China und Indien. Erst auf Platz sechs folgt mit Großbritannien die erste europäische Macht. Frankreich belegt Rang neun, Deutschland liegt aktuell auf Platz elf.

Die Plattform Global Firepower wertet über 60 Indikatoren aus, von Panzerzahlen über Marinekapazitäten bis zur Größe der wehrfähigen Bevölkerung, um die globale militärische Stärke vergleichbar zu machen.

Item URL https://www.dw.com/de/europa-rüstet-auf-wer-führt-wer-folgt-wer-zahlt/a-72563839?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71955355_302.jpg
Image caption Schwerpunkt Artillerie: Mit dem Bundeswehr-Sonderverrnögen sollen auch Weiterentwicklungen des Waffensystems "Panzerhaubitze 2000" beschafft werden
Image source Florian Wiegand/Eibner-Pressefoto/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/71955355_302.jpg&title=Europa%20r%C3%BCstet%20auf%20-%20Wer%20f%C3%BChrt%2C%20wer%20folgt%2C%20wer%20zahlt%3F

Item 14
Id 72564159
Date 2025-05-16
Title Glitter, Glamour, Politik: der ESC vor der Endrunde
Short title Glitter, Glamour, Politik: der ESC vor der Endrunde
Teaser Der Eurovision Song Contest (ESC) geht auf die Zielgerade: Nach der zweiten Zwischenrunde stehen die 26 ESC-Finalisten fest. Die große Show am Samstagabend verspricht Glanz und Glamour, hat aber weiter Konfliktpotential.
Short teaser Das ESC-Finale naht: Die große Show am Samstagabend verspricht Glanz und Glamour, birgt aber weiter Konfliktpotential.
Full text

Zehn weitere Länder schafften am Donnerstagabend in der St. Jakobshalle in Basel den Sprung in die Endrunde des Eurovision Song Contest, darunter auch die israelische Sängerin Yuval Raphael. Sie ist eine Überlebende des Hamas-Terrors im Oktober 2022 und zählt - ungeachtet aller Proteste gegen Israel - zu den Favoritinnen. Weiter kamen neben Israel auch die Länder Litauen, Armenien, Dänemark, Österreich, Luxemburg, Finnland, Lettland, Malta und Griechenland. Die Heimreise antreten müssen allerdings Australien, Montenegro, Irland, Georgien, Tschechien und Serbien. Der Partystimmung tat das keinen Abbruch. Schon beim ersten ESC-Halbfinale am Dienstag zeigte das Pop-Publikum eine Sehnsucht nach Ausgelassenheit, im fröhlichen Kontrast zu einer Welt voller schlechter Nachrichten.

Erster Auftritt von Abor & Tynna

Für Deutschland trat erstmals - zunächst noch außer Konkurrenz - das Wiener Geschwisterpaar Abor & Tynna an. Abor &Tynna heißen mit bürgerlichem Namen Attila (26) und Tünde (24) Bornemisza. Deutschland ist neben Italien, England, Frankreich und Spanien für das Finale gesetzt, weil es zu den Geberländern des ESC gehört. Abor & Tynna brachten ihren Elektrohit "Baller" auf die Bühne, angereichert mit stakkatoartigen "Vocal Chops" [kurze Ausschnitte aus anderen populären Songs, Anm.d.R.]. Stroboskhafte Effekte rückten die Inszenierung ins rechte Licht. Abor traktierte dazu ein LED-beleuchtetes Cello.

Großer Baller-Faktor beim ESC

Welchen Erfolg "Baller" damit am Samstagabend einfährt, ist allerdings offen: Bei den Buchmachern verharrt Baller bisher im Mittelfeld. Überhaupt scheint der Baller-Effekt beim diesjährigen ESC angesagt, übrigens auch so manche Zweideutigkeit: "Ich komme" jubelt etwa die Finnin Erika Vikman, untermalt von erotisch aufgeladenen Verbiegungen. Als schriller Paradiesvogel gab sich der Australier Go-Jo, bei dessen Gaga-Song namens "Milkshake Man" es jedenfalls nicht um Kuhmilchprodukte ging. An den Start gingen auch ein lettisches Elfen-Sextett, das aussah wie aus einem Stamm geschnitzt, ein Schlosser aus Armenien, der sich als "Survivor" ausgab und, nicht zu vergessen, drei Disney-Barbies aus Großbritannien, die griechische Sängerin Klavdia mit großer Brille und schließlich eine weibliche Dracula aus Georgien. Die Schweden treten mit einem Spaß-Trio aus Finnland an. Die Gruppe KAJ frönt mit ihrem Spaßsong "Bara bada bastu" (Einfach in die Sauna gehen) genau dem: dem Saunagang. Schweden also ein heißer Favorit?

Eine Versöhnungshymne aus Israel

Gewinnchancen im Finale am Samstag könnte die israelische Sängerin Yuval Raphael haben. Ihre Versöhnungshymne "New Day Will Rise" wird in Israel als Erlösungslied gefeiert. Darin geht es um Verlust und Hoffnung. Bei einer Probe vor Publikum kam es am Donnerstag Berichten zufolge zu Störungen durch Israel-Kritiker mit Trillerpfeifen und Palästinenserfahnen. Größere Zwischenfälle blieben aber bislang aus, anders als 2024 in Malmö. Sängerin Yuval Raphael (24) hat die Anschläge in Israel durch Terroristen der Hamas am 7. Oktober 2023 als Besucherin des Nova-Musikfestivals überlebt, stundenlang versteckt unter Leichen, wie es heißt.

Der Eurovision Song Contest ist mit 160 Millionen TV-Zuschauern das meistgesehene Musikspektakel der Welt. In diesem Jahr kommt es aus Basel. 37 Länder wetteifern am Samstagabend ab 21.00 Uhr in der St. Jakobshalle um die Siegestrophäe. In der Schweizer Stadt direkt an der deutschen Grenze ist seit Tagen Rambazamba mit Live-Bühnen, Quiz- und Fernsehshows direkt aus der Fußgängerzone und ESC-Selfieboxen für schräge Fotos mit viel Glitter. Bei bestem Wetter tanzen die ESC-Fans bis in die Nacht.

Basel rechnet mit einer halben Million Besuchern, auch wenn nur rund 60.000 live bei den neun Shows dabei sein können. Im vergangenen Jahr hatte in Malmö die nonbinäre Person Nemo den ECS-Pokal in die Schweiz geholt.

Item URL https://www.dw.com/de/glitter-glamour-politik-der-esc-vor-der-endrunde/a-72564159?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71823733_302.jpg
Image caption Bunt, bunter, ESC: Die offizielle Flagge des Eurovision Song Contest 2025 in Basel
Image source Philipp von Ditfurth/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/71823733_302.jpg&title=Glitter%2C%20Glamour%2C%20Politik%3A%20der%20ESC%20vor%20der%20Endrunde

Item 15
Id 72564521
Date 2025-05-16
Title Wie entwickelt sich die sexuelle Orientierung?
Short title Wie entwickelt sich die sexuelle Orientierung?
Teaser Sexualität ist vielfältig. Zu welchem Geschlecht man sich hingezogen fühlt, entscheidet sich in der Pubertät. Ein Zusammenspiel aus biologischen und psychosozialen Faktoren ist entscheidend.
Short teaser Wen man begehrt, entscheidet sich in der Pubertät. Die sexuelle Orientierung ist Schicksal und nicht Wahl.
Full text

Vor 35 Jahren, am 17. Mai 1990, wurden weltweit Millionen von Menschen plötzlich "gesund". Denn an diesem Tag strich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Homosexualität von der Liste der menschlichen Krankheiten.

Bis dahin galt die gleichgeschlechtliche Liebe als eine Art "Geisteskrankheit". Betroffene wurden vielfach in Heilanstalten oder Gefängnisse gesperrt und mit Stromstößen oder fragwürdigen Psychotherapien "behandelt".

Heute sei völlig klar, dass homo-, bi- oder transsexuelle Menschen nicht krank sind und nie waren, sagt Prof. Dr. med. Klaus M. Beier, der Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Berliner Charité. Die menschliche Sexualität zeichne sich durch ihre Vielfalt aus.

"Mittlerweile ist klar: Kein Mensch sucht sich seine sexuelle Ausrichtung aus. Das ist Schicksal und nicht Wahl. Unter dem Einfluss der Geschlechtshormone in der Pubertät entfaltet sich das, was Fachleute als "sexuelle Präferenzstruktur" bezeichnen. Und da ist dann ab der Jugend einprogrammiert, auf welches Geschlecht die Ausrichtung besteht, wie das Körperschema der begehrten Person ist und welche sexuelle Interaktionen man sich mit dieser wünschen würde."

Nach dieser Entwicklungsphase in der Jugend bleibt die jeweilige sexuelle Präferenz stabil, so Beier. "Es ist in der Jugend entstanden und ist dann stabil über das Leben, trotz des bei manchem vorhandenen Wunsches, dass sich die sexuelle Orientierung ändern möge, etwa vor dem Hintergrund, dass ein gesellschaftlicher Druck erzeugt wird, so zu sein wie alle anderen."

Nicht-Heterosexualität wird vielerorts zum Problem gemacht

Die universellen Menschenrechte schließen das Recht auf freie sexuelle Orientierung ein. Sexualität ist und war schon immer vielfältig. Sie ist weder eine Modeerscheinung, noch zum Beispiel auf besonders liberale Gesellschaften beschränkt.

"Die gleichgeschlechtliche Orientierung liegt nach den Daten, die wir haben, etwa in einem Umfang von drei bis fünf Prozent in der Bevölkerung vor, und das gilt kulturübergreifend. Menschliche Sexualität ist anders nicht zu haben. Sie ist durch diese Vielfalt gekennzeichnet - und nicht anders zu haben", so der Sexualwissenschaftler Beier. Deshalb sei es falsch, jemanden wegen seiner sexuellen Ausrichtung zu bewerten oder sogar zu verurteilen.

Trotzdem polarisiert die sexuelle Orientierung Einzelner ganze Gesellschaften. Dies führt zum Teil zu deren Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung. Homosexualität zum Beispiel ist in mindestens 67 Ländern strafbar, in sieben droht für gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen sogar die Todesstrafe.

Fast die Hälfte aller Länder weltweit, in denen Homosexualität verboten ist, liegt in Afrika. Nur 22 der 54 offiziellen afrikanischen Staaten haben Homosexualität legalisiert. In einigen Ländern wird sie mit Gefängnis bestraft, in vier Ländern - Mauretanien, Nigeria, Somalia und Südsudan – droht die Todesstrafe, hier gilt die Scharia, das islamische Recht.

Wie entsteht die sexuelle Orientierung?

Eine einfache Frage, auf die es keine einfache und keine abschließende Antwort gibt. Es gibt nicht die eine Ursache für die sexuelle Orientierung, sondern verschiedene genetische, hormonelle Erklärmodelle und soziokulturelle Interpretationen.

"Nach dem jetzigen Wissensstand das ist ein multifaktorielles Geschehen. Niemand hat bisher irgendeinen einzelnen Faktor ausfindig machen können, der als Ursache dafür benannt werden könnte, dass ein Mensch gleichgeschlechtlich orientiert ist und ein anderer gegengeschlechtlich", so Beier.

Deshalb sei davon auszugehen, das ein komplexes Zusammenspiel aus biologischen und sozialen Faktoren für die Entwicklung der sexuellen Orientierung verantwortlich ist.

Biologische Einflussfaktoren

Zu den untersuchten biologischen Einflussfaktoren auf die Entwicklung der sexuellen Orientierung zählen die Gene, also die Erblichkeit sowie (pränatale) Hormone und chemische Substanzen.

Die sexuelle Orientierung ist nicht angeboren, also nicht erblich. Familien- und Zwillingsstudien zeigen zwar in manchen Familien ein Häufung von Homosexualität. Die gefundenen genetischen Marker sind allerdings wenig aussagekräftigt, es gibt kein einzelnes "Homosexualität-Gen".

Hormone und andere chemische Substanzen

Möglicherweise sind auch Hormone wie Testosteron und chemische Substanzen wie Pheromone bei der Entwicklung der sexuellen Orientierung mitverantwortlich. Pheromone sind Duftstoffe, die zum Beispiel das Sexualverhalten beeinflussen.

Studien belegen, dass männliche Pheromone sowohl bei heterosexuellen Frauen als auch bei homosexuellen Männern die Aktivität des Hypothalamus stimulieren - nicht aber bei heterosexuellen Männern. Der Hypothalamus ist eine Drüse im Zwischenhirn, die unser Instinktverhalten und die Sexualfunktionen beeinflusst.

Soziale Einflüsse auf die sexuellen Orientierung

Puppen und Kleider für Mädchen, Werkzeuge und Autos für Jungs – typisch weibliche oder männliche Spielsachen haben keinen Einfluss auf die sexuelle Orientierung. Gleiches gilt auch für die Erziehung.

Zwar leben manche Menschen ihre tatsächliche sexuelle Orientierung erst spät aus. Grundsätzlich aber ändert sich die sexuelle Präferenz im Laufe des Lebens nicht.

"Wir haben ganz starke Hinweise dafür, dass das nicht geht. Es gibt Verlaufsuntersuchungen zur sexuellen Orientierung. Es gab diese bedauerlichen `Umwandlungsversuche´ bei gleichgeschlechtlich orientierten Männern. Das war in den 70er-Jahren in den Vereinigten Staaten in einer größeren Studie versucht worden. Ohne jeden Erfolg. Ein starker Belege dafür, dass die sexuelle Orientierung sehr stabil ist."

Während sich die sexuelle Orientierung in der Pubertät entwickelt, beginnt die Entwicklung der Geschlechtsidentität bereits im Kindesalter und ist bei den meisten Menschen mit fünf bis sechs Jahren abgeschlossen, so Prof. Beier. Ab diesem Alter könnten sich Kinder "in ihrer Geschlechtlichkeit auch in der Zukunft sehen und dadurch Annahmen treffen über ihre Zukunft als Mann oder Frau".

Ist die sexuelle Orientierung einmal festgelegt, ändert sie sich nicht mehr. Auch nicht durch "Verführung" oder durch frühe sexuelle Kontakte. "Da ist nichts dran", so Sexualwissenschaftler Beier. "Ein wichtiger Beleg hierfür: Es gibt viele Menschen, die in der Jugend sexuelle Kontakte gleichgeschlechtlicher Art gehabt haben, die aber nicht gleichgeschlechtlich orientiert sind."

Entscheidend für die Identitätsentwicklung ist, ob Kinder von ihren Eltern Unterstützung oder Ablehnung erfahren. Stoßen Kinder und Jugendliche auf starke Ablehnung, entwickeln sie im Vergleich oftmals ein schwächeres Selbstwertgefühl. Bezieht sich die elterliche Ablehnung auf die sexuelle Identität oder Orientierung des Kindes, kann sie zu Depressionen und Selbstmordgedanken führen.

Sexualität ist vielfältig

Gerade in Gesellschaften, in denen sexuelle Minderheiten ausgegrenzt und verfolgt werden, sei eine vorurteilsfreie Debatte über die sexuelle Vielfalt sehr wichtig, so der Direktor der Instituts für Sexualwissenschaften und Sexualmedizin an der Berliner Charité.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist keine sexuelle Orientierung eine Krankheit oder "unnatürlich". Was toleriert wird, oder was als "normal" oder "widernatürlich" gilt, bestimmen die gesellschaftlichen Normen. Diese Normen können sich je nach Zeit und Kontext stark verändern. Aber die Natur des Menschen ändert sich nicht.

Item URL https://www.dw.com/de/wie-entwickelt-sich-die-sexuelle-orientierung/a-72564521?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/69563395_302.jpg
Image caption Liebe ist bunt, trotzdem polarisiert die sexuelle Orientierung Einzelner ganze Gesellschaften
Image source DyD Fotografos/Geisler-Fotopress/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/md/md220531_diversity_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/69563395_302.jpg&title=Wie%20entwickelt%20sich%20die%20sexuelle%20Orientierung%3F

Item 16
Id 72555373
Date 2025-05-16
Title Zu wenig Regen: Was tun gegen Dürre in Deutschland?
Short title Zu wenig Regen: Was tun gegen Dürre in Deutschland?
Teaser Selten war es im Frühjahr so trocken wie 2025. Landwirtschaft, Grundwasser und sogar Verbraucherpreise leiden darunter, Pflanzen und Ökosysteme geraten frühzeitig unter Stress. Was kann man dagegen tun?
Short teaser Selten war es im Frühjahr so trocken wie 2025. Pflanzen und Ökosysteme geraten frühzeitig unter Stress.
Full text

Eine alte Bauernweisheit besagt: "Ist der Mai kühl und nass, füllt's dem Bauern Scheun' und Fass". Aber der Regen, der dafür nötig wäre, ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Es ist deutlich zu trocken. Im Zeitraum von Anfang Februar bis Mitte April fiel in knapp 100 Jahren noch nie so wenig Regen wie 2025. Im März waren es fast 70 Prozent weniger Niederschlag als üblich und es gab so viele Sonnenstunden wie sonst nur im Sommer.

Die Folgen: Immer wieder war die Waldbrandgefahr erhöht, in Thüringen, und Nordrhein-Westfalen wurden erste Brände gemeldet. Auf Europas wichtigster Binnenwasserstraße, dem Rhein, konnten Schiffe aufgrund des niedrigen Wasserstands teilweise nur mit 25 Prozent ihrer üblichen Fracht fahren. Dadurch verteuerten sich die Transportkosten spürbar, Experten warnten vor höheren Verbraucherpreisen. Der Deutsche Städtetag rief dazu auf, sparsam mit Trinkwasser umzugehen.

Außergewöhnliche Dürre im ganzen Boden

Besonders im Norden und Nordosten des Landes und in Teilen Bayerns breiten sich auf dem Dürremonitor des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung tiefrote Flecken aus - das bedeutet Trockenheit im gesamten Boden, außergewöhnlich dürr sind aber vor allem die oberen 25 Zentimeter des Bodens. "Der ist vor allem wichtig für die Landwirtschaft und die Nutzpflanzen wie Getreide, Grünland, die ja nur sehr flach wurzeln", erklärt Borchardt. Mit zunehmender Erderwärmung wird das in Zukunft häufiger so sein, bestätigen auch der Deutsche Wetterdienst und das Umweltbundesamt.

Grundwasser: Die Ampel steht auf Gelb

Ein Alarmzeichen, sagen Experten. Denn wenn der Boden trocken ist, weist er Wasser ab - genau wie das Wasser beim Gießen einer trockenen Zimmerpflanze von der Erde abperlt. So kann Regen, selbst wenn er fällt, schlecht einsickern. Besonders bei Starkregen ist das ein Problem. "Starkregenereignisse tragen so gut wie nicht zur Grundwasserneubildung bei, sie fallen bei Trockenheit sozusagen auf versiegelte Flächen, denn auf ausgetrockneten Böden fließt das Wasser oberflächlich ab in Bäche und Flüsse."

Für das Grundwasser war die Trockenheit der vergangenen Monate besonders verheerend. Das bildet sich vor allem von November bis März neu, erklärt Borchardt, weil die Pflanzen dann noch nicht wachsen und demnach wenig Wasser brauchen. "In Sachsen haben mittlerweile 80 Prozent der Messstellen einen deutlich abgesunkenen Grundwasserspiegel," sagt Borchardt. "Die Ampel steht auf Gelb."

Um den Boden wenigstens temporär wieder zu befeuchten, reiche schon ein Tag Landregen - also sanfter, anhaltender Regen - meldet das Helmholtz-Institut. Damit hingegen Niederschlag im Grundwasser ankommt, bräuchte es mehrere Wochen stetigen Regen. Der darf aber nicht mehr lange auf sich warten lassen, gibt Borchardt zu Bedenken. "Wenn wir im Sommer Regen bekommen, kommt kaum ein Tropfen im Grundwasser an."

Pflanzen geraten unter Trockenstress

Vor allem die Natur benötigt ihn dringend. "Jetzt wollen die Pflanzen austreiben und blühen und dafür brauchen sie natürlich Wasser", sagt Verena Graichen von der Umweltorganisation BUND. Bekommen sie das nicht, geraten sie frühzeitig unter Trockenstress, wie schon jetzt flachwurzelnde Bäume wie die Birke. Pflanzen seien dann anfälliger für Schädlinge und Stürme, sagt Graichen. Das begünstige einen Teufelskreis: "Wenn Wälder oder Moore durch Trockenstress geschwächt sind, können sie weniger Kohlenstoff binden, was wiederum den Klimawandel anheizt."

Wenn nicht bald Regen fällt, leidet vor allem die Landwirtschaft. "Was die Pflanzen richtig unter Stress setzen würde, wäre eine Frühsommertrockenheit, wenn die Fruchtbildung einsetzt," mahnt Meike Mieke vom Landesbauernverband Brandenburg. "Dann wird’s schlimm für die Landwirte. Momentan hofft man einfach: Es wird schon alles werden." Aber die Prognosen des Deutschen Wetterdienstes sind nicht vielversprechend: die Bodenfeuchte soll weiter abnehmen.

Wie Deutschland mit Wasser umgeht, wird offiziell gemessen. Wenn mehr als 20 Prozent des Wassers verbraucht werden, welches sich im Laufe eines Jahres natürlich regeneriert, spricht man von Wasserstress. Die Zahlen geben zunächst Entwarnung: Die Wassernutzung ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangen. 2022 wurden nur knapp 10 Prozent der Ressource genutzt.

Problem Niedrigwasser

Blickt man auf die Zahlen, so hat der Energiesektor den größten Durchsatz. 6,6 Milliarden Liter Flusswasser wurden 2022 abgeleitet, um thermische Kraftwerke zu kühlen, meldet das Statistische Bundesamt. Aber: Das Wasser wird fast unverändert zurückgeleitet. Niedrigwasser in Flüssen ist dabei problematisch - bei der verehrenden Trockenheit im Sommer 2018 mussten Kraftwerke gedrosselt werden, erklärt Borchardt.

Einen Lichtblick bringt hier die Energiewende, weil immer mehr thermische Kraftwerke abgestellt werden: "Die Transformation der Energieversorgung hin zu Erneuerbaren bewirkt, dass wir bis zur Jahrhundertmitte kaum noch einen Bedarf für die Kühlung der Energieversorgung haben", sagt Kirschbaum. Ein Bonuspunkt grüner Energie: Solar- und Windkraftanlagen müssen nicht gekühlt werden.

An zweiter Stelle steht die Trinkwasserversorgung. Viel Wasser fließt auch in das verarbeitende Gewerbe: Rund fünf Milliarden Liter Fluss- und Grundwasser werden vor allem in der Chemie- und Metallindustrie und zum Herstellen von Papier verwendet - der Großteil auch hier zur Kühlung. In Zukunft werden auch Serverzentren einen wachsenden Bedarf an Kühlwasser haben.

Für die Landwirtschaft reicht der Regen noch

Für die Landwirtschaft hat bisher der Regen gereicht. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Flächen wird in Moment bewässert.

Das Problem ist: Mit voranschreitendem Klimawandel wird sich das ändern. Prognosen sagen, dass bis 2100 für das Anbauen von Lebensmitteln bis zu viermal so viel Wasser gebraucht wird - weil weniger Regen fällt und vor allem, weil Wasser bei zunehmender Hitze schneller verdunstet. "Mit anderen Worten: Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass für alle Wünsche genug Wasser da ist", resümiert Borchardt.

Wie Wasser sparen?

Wenn Trockenperioden immer häufiger werden, wer kann dann in Zukunft Wasser sparen, und wie? "An erster Stelle steht der Wasserrückhalt in der Fläche," sagt Bernd Kirschbaum vom Umweltbundesamt. Das kann beispielsweise geschehen, in dem Flüssen, Wäldern und Auen wieder mehr Raum gegeben wird.

"Ein mäandernder Flussverlauf, der etwa bei Regen mehr Wasser aufnimmt und sich bei Trockenheit zusammenzieht, kann das Wasser viel besser in der Landschaft halten", erklärt Graichen. Auch in Städten kann Entsiegelung und Begrünung von Flächen helfen, dass das Wasser besser versickert.

Großes Einsparpotenzial sieht Kirschbaum auch in Betrieben. "Auf großen Betriebs- und Dachflächen kann Regenwasser gesammelt, über bestimmte Filter aufbereitet und dann in technischen Prozessen wieder als Betriebswasser genutzt werden. Genauso ist es mit den dort anfallenden Abwässern."

Für die Landwirtschaft schlägt Graichen Investitionen in Tröpfchenbewässerung und dürreresistente Pflanzen vor. "Kichererbsen und Linsen können mit weniger Wasser auskommen als Beeren."

Item URL https://www.dw.com/de/zu-wenig-regen-was-tun-gegen-dürre-in-deutschland/a-72555373?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72556904_302.jpg
Image caption Zu wenig Regen: Risse im trockenen Boden eines Weizenfeldes
Image source Sina Schuldt/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72556904_302.jpg&title=Zu%20wenig%20Regen%3A%20Was%20tun%20gegen%20D%C3%BCrre%20in%20Deutschland%3F

Item 17
Id 72564615
Date 2025-05-16
Title Orban will Kritik an seinem Regime gesetzlich verbieten
Short title Orban will Kritik an seinem Regime gesetzlich verbieten
Teaser Ungarns Regierungspartei Fidesz legt ein Gesetz vor, das Kritiker des Orban-Systems mit weit auslegbaren Regelungen mundtot machen kann. Opposition und unabhängige Medien sprechen von der "Putinisierung" des Landes.
Short teaser Ungarns Regierungspartei Fidesz legt ein Gesetz vor, das Kritiker des Orban-Systems vollständig mundtot machen kann.
Full text

Viktor Orban nannte sie "Wanzen, die überwintert haben". Er versprach, sie zu "liquidieren", während eines "Großreinemachens an Ostern". Gemeint waren Journalisten und zivile Aktivisten, die "mit korrupten Dollars Ungarns Souveränität verletzen" - eine Sprachregelung für alle, die Orban und sein Regime in irgendeiner Weise kritisieren.

Mit etwas Verspätung ist es nun soweit: Orbans Partei Fidesz hat einen Gesetzentwurf zum "Großreinemachen" und "Liquidieren" vorgelegt. Und der hat es in sich. So sehr, dass Telex, Ungarns größtes unabhängiges News-Portal, sonst in seiner Wortwahl eher vorsichtig und unpathetisch, diesmal schrieb: "Wir haben Europa verlassen." Dazu zeigte das Portal die Grafik einer schwarzen Stiefelsohle, auf der das Logo von Orbans Regierungspartei Fidesz und das des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB prangen.

Tatsächlich würden mit dem in der Nacht zum Mittwoch (14.05.2025) vorgelegten Gesetzentwurf in Ungarn russische Verhältnisse geschaffen werden. Der Entwurf trägt den harmlosen Namen "Über die Transparenz des öffentlichen Lebens". Er sieht ein strenges Vorgehen gegen alle Organisationen vor, die "Ungarns Souveränität dadurch verletzten, dass sie mit ausländischer Unterstützung eine Tätigkeit ausführen, die das öffentliche Leben beeinflusst".

Was bedeutet Souveränitätsverletzung?

Eine Souveränitätsverletzung kann demnach bedeuten, Werte und Bestimmungen der Verfassung "zu verletzen, in negativer Weise darzustellen oder das Auftreten gegen sie zu unterstützen". Dazu zählen die Einheit und den Zusammenhalt aller Ungarn, die christliche Kultur Ungarns, die Ehe als ausschließlicher Bund zwischen Mann und Frau oder das Streben nach Frieden und Zusammenarbeit mit anderen Völkern und Ländern. Organisationen im Sinne des Gesetzes sind sowohl juristische Personen als auch Organisationen ohne rechtlichen Status. Tätigkeiten, die das "öffentliche Leben beeinflussen", können wiederum darin bestehen, "staatliche und gesellschaftliche Entscheidungsprozesse" oder "den Wählerwillen zu beeinflussen".

Das Anfang 2024 neu geschaffene ungarische Amt zum Schutz der Souveränität erhält laut dem Gesetzentwurf die Befugnis, Organisationen als "ausländisch unterstützt" einzustufen, wenn sie Zuwendungen jeglicher Art aus dem Ausland erhalten, wobei es dafür keine Untergrenzen gibt. Selbst ein schlichtes Buchgeschenk wäre dem Entwurf zufolge eine "ausländische Unterstützung". In diese Kategorie fallen auch EU-Fördergelder.

Registereintrag mit Folgen

Auf Antrag der Souveränitätsbehörde kann die Regierung die betroffenen Organisationen in ein spezielles Register eintragen lassen. Mit weitreichenden Folgen: Einmal im Register, dürfen sie nicht mehr mittels der Ein-Prozent-Einkommenssteuer-Regelung unterstützt werden - die sieht vor, dass Privatpersonen ein Prozent ihrer jährlichen Einkommenssteuer an gemeinnützige Organisationen spenden können.

Spender müssen zudem schriftlich erklären, dass ihre Spende keine "ausländischen Zuwendungen" enthält. Ohne staatliche Genehmigung dürfen im Register eingetragene Organisationen auch keine ausländischen Zuwendungen mehr erhalten. Falls eine betroffene Organisation doch nicht genehmigte Zuwendungen aus dem Ausland erhält, muss sie eine hohe Geldstrafe zahlen, ihre Tätigkeit und sie selbst können verboten werden.

Eine rechtliche Einspruchsmöglichkeit gegen einen Eintrag in das Register sieht der Entwurf nicht vor. Zusammengefasst: Von einer Internetseite bis hin zu einer Partei kann also prinzipiell alles und jeder betroffen sein - und praktisch kann jegliche Kritik an Orban und seinem Regime kriminalisiert und verboten werden.

"Mittel gegen ukrainische Propaganda"

Orbans Regierung hat bereits mehrfach Gesetze verabschiedet, mit denen kritische Stimmen in Ungarn diskreditiert werden sollten, etwa das "Stop-Soros"-Gesetz von 2018. Der jetzige Gesetzentwurf ist jedoch mit Abstand der weitreichendste - was von der Orban-Regierung auch nicht verschwiegen wird.

"Die Regierung hat klargemacht, dass es nicht nur um Aufsicht geht", schreibt der Staatssekretär für Kommunikation, Zoltan Kovacs. "Es geht um Ungarns Recht auf Selbstbestimmung angesichts des koordinierten internationalen Drucks." Früher hätten ausländisch finanzierte Nichtregierungsorganisationen und Medien Propaganda für Migration und für Gender-Themen verbreitet, jetzt würden sie Kriegs- und proukrainische Propaganda betreiben. "Das Transparenzgesetz ist das beste Mittel gegen ukrainische Propaganda", so Kovacs.

Vernichtende Kritik

Unabhängige Medien, zivile Organisationen und Oppositionsparteien sind sich einig in ihrer vernichtenden Kritik des Gesetzentwurfes. "Die Macht will alles kontrollieren, sie duldet keine Stätten des freien Wirkens", schreibt das Portal Telex. "Alles, was frei ist, was nicht unter ihrem Einfluss steht: das schließen sie, nehmen es weg, machen es unmöglich." Die Gesellschaft für Freiheitsrechte (TASZ), eine der wichtigsten Bürgerrechtsorganisationen Ungarns, sagt in einer Stellungnahme: "Es geht nicht um den Schutz der Souveränität. Die Regierung zittert vor dem Machtverlust."

Der ungarische Oppositionsführer Peter Magyar von der Tisza-Partei bezeichnet das Gesetz als "neuen Schritt auf dem Putin-Weg", Orban übernehme die Dinge von seinem Lehrer Wladimir Putin. Der Budapester Bürgermeister Gergely Karacsony schreibt auf Facebook: "Vergeblich versucht die Regierung aus unserer Heimat Russland zu machen, Budapest ist nicht Moskau und wird es niemals sein".

Sollte das Gesetz in Kraft treten, würden seine Bestimmungen die Arbeit von unabhängigen Medien und Nichtregierungsorganisationen extrem erschweren, denn viele von ihnen sind für ihre Arbeit auf die Ein-Prozent-Steuer-Regelung angewiesen. Auch könnte die Regierung beim geringfügigsten Verstoß Medien oder Organisationen verbieten lassen. Ein Beispiel ist das Investigativportal Direkt36. Ihm wurde bereits vor längerem vorgeworfen, im Auftrag des ukrainischen Geheimdienstes zu arbeiten. Der Anlass: Direkt36 hatte den Dokumentarfilm "Die Dynastie" über Korruption und milliardenschwere Selbstbereicherung der Orban-Familie veröffentlicht.

Die eigentliche Stoßrichtung des Gesetzes könnte aber die Oppositionspartei Tisza sein, die derzeit in Umfragen deutlich vor Orbans Fidesz liegt. Damit deutet sich bei der kommenden Parlamentswahl im Frühjahr 2026 ein Machtwechsel an.

Schon seit längerem behauptet Orban, die Tisza-Partei sei von der EU und der Ukraine gekauft, um einen Machtwechsel in Ungarn herbeizuführen. Nun drehen der Premier und seine Regierung das Narrativ noch weiter. Am Dienstag schrieb Orban auf Facebook, "eine ungarische Oppositionspartei hat eine aktive Rolle in einer ukrainischen Geheimdienstaktion übernommen". Konkret wirft Orban seinem Kontrahenten Peter Magyar und dessen Partei vor, zusammen mit dem wegen angeblich proukrainischer Positionen entlassenen ehemaligen Generalstabschef der ungarischen Armee, Romulusz Ruszin-Szendi, Aktionen gegen die ungarische Armee gestartet zu haben. Belege dafür gibt es nicht.

Das "Transparenz-Gesetz" soll nun in der kommenden Woche debattiert werden. Wann eine Abstimmung darüber stattfindet, ist unklar. Klar ist hingegen, dass es vom Europäischen Gerichtshof mit großer Wahrscheinlichkeit für rechtswidrig erklärt werden würde. Doch das könnte Jahre dauern. Bis dahin könnte Orban sein Ziel des Machterhalts um jeden Preis erreicht haben.

Item URL https://www.dw.com/de/orban-will-kritik-an-seinem-regime-gesetzlich-verbieten/a-72564615?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72107400_302.jpg
Image caption Fürchtet einen Machtverlust: Ungarns Premier Viktor Orban
Image source Ludovic Marin/AFP/Getty Images
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72107400_302.jpg&title=Orban%20will%20Kritik%20an%20seinem%20Regime%20gesetzlich%20verbieten

Item 18
Id 72531972
Date 2025-05-15
Title Roma Resistance Day: Widerstand von der Nazi-Zeit bis heute
Short title Roma Resistance Day: Widerstand von der Nazi-Zeit bis heute
Teaser Europaweit erinnern Sinti und Roma am 16. Mai an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus und NS-Völkermord. Bis heute kämpfen sie gegen Antiziganismus.
Short teaser Am 16. Mai erinnern Sinti und Roma an den Widerstand gegen den NS-Völkermord. Heute kämpfen sie gegen Antiziganismus.
Full text

"Wenn sie kommen, nehmen wir ein paar mit." Der Überlebende Mano Höllenreiner schilderte, wie sich 1944 sein Vater, seine Onkel und andere Sinti und Roma zum Kampf auf Leben und Tod gegen die SS verbünden. Ein Jahr zuvor waren sie aus München nach Auschwitz deportiert worden.

Er ist 1944 erst zehn Jahre alt. Über die Männer aus seiner Familie sagt er: "Die waren ja beim Militär gewesen, die haben keine Angst gehabt."

Sie wehren sich gemeinsam gegen den Transport in die Gaskammern im nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, das werden mehrere Überlebende später berichten.

Auschwitz 1944: Widerstand unter unerträglichen Bedingungen

Die Männer verabreden den Widerstand im Lagerabschnitt BIIe in Auschwitz-Birkenau. Dort leiden sie und ihre Familien im sogenannten "Zigeunerlager" unter Hunger und Durst, Kälte, Krankheiten, brutaler Gewalt und unerträglichen hygienischen Bedingungen. Die Kinder sterben zuerst.

Im Lager haben alle die Flammen aus den Schornsteinen der Krematorien vor Augen und den furchtbaren Geruch in der Nase, wenn Menschen nach ihrer Ermordung in den Gaskammern verbrannt werden.

Nach einer Warnung vor einer großen SS-Aktion, so berichten später Überlebende, bewaffnen sich die Häftlinge mit Steinen, Stöcken, Schaufeln und allem, was sie von der Zwangsarbeit in die Baracken schmuggeln können. Kampfbereit verschanzen sie sich hinter dem Eingang, weigern sich herauszukommen.

Manos Cousin Hugo Höllenreiner (1933-2015) berichtet später der Autorin Anja Tuckermann: "Die SS hat gedacht, wenn sie reinkommen, vielleicht schießen sie ein paar zusammen, aber dass unsere von denen auch ein paar umbringen." Die Wachmannschaften ziehen schließlich ab, erinnert sich Höllenreiner: "Das hast du als Kind schon gewusst, jetzt merken die halt mal, die Leute kämpfen diesmal und von uns gehen ein paar drauf. Die können wir nicht ohne Probleme vergasen."

"Frauen sind die härtesten Kämpferinnen"

Viele arbeitsfähige Häftlinge und ehemalige Wehrmachtssoldaten mit ihren Familien werden in andere Konzentrationslager verlegt. Auch die Cousins Hugo und Mano Höllenreiner mit Eltern und Geschwistern entkommen so der Ermordung in Auschwitz.

Die etwa 4300 verbliebenen Häftlinge aber, Kinder, Mütter, Alte und Kranke, werden in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 auf LKW getrieben. Sie wehren sich mit aller Macht, beobachtet ein polnischer Häftling: "Frauen sind die härtesten Kämpferinnen - sie sind jünger und stärker - und verteidigen ihre Kinder."

Doch die SS zerrt Kinder brutal an den Beinen heraus und tritt alte Menschen nieder. Alle werden in den Gaskammern ermordet. Noch in derselben Nacht, so der Beobachter, zieht schwarzer Rauch über das Lager.

Sinti und Roma kämpfen gemeinsam ums Überleben

Der Widerstand der Sinti und Roma in Auschwitz sei nicht ansatzweise erforscht, sagt Karola Fings der DW. Lange habe sich niemand dafür interessiert. Die Historikerin von der Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg ist Herausgeberin der "Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa". Diese soll das vorhandene Wissen online verfügbar machen und neue Forschung anregen.

Die atmosphärisch dichten Berichte der Überlebenden und eines polnischen Häftlingsschreibers ließen sich nicht eindeutig datieren, sagt Fings. Sie zeigten aber den Kampf ums Überleben und die gemeinsame Suche nach Strategien: "Wie können wir hier lebend rauskommen, wie können wir unsere Angehörigen schützen?" Angesichts des Grauens in Birkenau sei es bewundernswert, wie Menschen solidarisch versuchten, gemeinsam zu überleben.

Briefe an Hitler - Frauen protestieren in Berlin

Sinti- und Roma-Familien in Auschwitz werden nicht wie andere Häftlinge in Männer- und Frauenblocks aufgeteilt. Das habe auch mit ihrem früheren Widerstand gegen die Verfolgung zu tun, analysiert Fings: Wenn Familien von Sinti und Roma getrennt werden, gibt es heftige Gegenwehr.

Schon 1938, als mehrere hundert Männer in Konzentrationslager deportiert werden, protestieren vor allem die Frauen: "Die Ehefrauen, die Mütter, die Schwestern, die Töchter sind nach Berlin gereist, haben sich eingesetzt, dass ihre männlichen Angehörigen wieder freigelassen werden. Sie haben oft in Kauf genommen, dass sie selbst in Konzentrationslager verschleppt werden, weil sie so widerspenstig waren."

Rechtsanwälte werden eingeschaltet und es gibt Protestschreiben an alle Instanzen, von der Kriminalpolizei bis hin zu Diktator Adolf Hitler.

Nach der Nazi-Zeit: Der Widerstand geht weiter

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die rassistische Verfolgung und der NS-Völkermord an den Sinti und Roma verleugnet. Täter machen weiter Karriere und schikanieren die Angehörigen der Minderheit, bei der Polizei und als Gutachter in Entschädigungsverfahren. "Das war für Überlebende ein furchtbarer Kampf", sagt Historikerin Fings. Trotzdem formiert sich Widerstand.

Heinz Strauß hat die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald überlebt, er hat viele Angehörige verloren. Aus Angst tue er alles, um nicht als Sinto aufzufallen, sagt sein Sohn Daniel. Romanes, die Sprache der Minderheit, sollen seine Kinder nicht öffentlich sprechen.

Doch zwei ältere Brüder und später auch er engagieren sich in der Bürgerrechtsbewegung. Mit Erfolg, sagt Daniel Strauß der DW: "Wir haben die Anerkennung als nationale Minderheit erreicht, wir haben die Anerkennung des Völkermords erreicht." Strauß ist heute Vorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma in Baden-Württemberg.

Roma Resistance Day: "Wir feiern das Überleben, das Widerständige"

Zum Roma Resistance Day lädt der Verband vor allem junge Menschen ein. Sie beschäftigen sich mit Biografien wie die der Auschwitz-Überlebenden Zilli Schmidt (1924-2022), die lebenslang gegen Rassismus und Verfolgung gekämpft hat.

Im Jahr 2004 etablierte der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma den 16. Mai als Tag des Widerstands durch eine Gedenkveranstaltung im Auswärtigen Amt. Der damalige Bundespräsident und mehrere Minister lobten den großen Mut der Minderheit.

Dieser Tag ist wichtig für Sinti und Roma, sagt Strauß: "Wir feiern das Überleben, das Widerständige, das Sich-Weigern, alles mit sich machen zu lassen. Es ist ein Plädoyer für das Leben und für das Handeln für das eigene Leben."

Der Landesverband hat Staatsverträge mit dem Land Baden-Württemberg geschlossen, um die Minderheit zu stärken und Antiziganismus zu bekämpfen. Im Jahr schule der Verband 1300 Polizisten und Polizistinnen zum Thema Sinti und Roma.

Drei bis vier Schulklassen besuchten pro Woche das Kulturhaus RomnoKher, sagt Strauß. Es gibt Lehrer-Fortbildungen und Workshops für Studierende. "Wir bauen gerade eine Romanes-Akademie auf, gemeinsam mit der Bundesvereinigung der Sinti und Roma". Sie soll bundesweit Sprachkurse anbieten. "Das ist auch Widerstand", sagt Strauß: "Wir stehen für unsere Rechte und für unsere Pflichten ein."

Was tut die deutsche Regierung für Sinti und Roma?

Im Koalitionsvertrag bekennt sich die neue Bundesregierung zum Kampf gegen Antisemitismus und dem Schutz jüdischen Lebens. Sinti und Roma kommen aber nicht vor und auch nicht der Kampf gegen Antiziganismus. Das besorge ihn, sagte Mehmet Daimagüler der DW kurz vor dem Regierungswechsel.

Bis dahin hat er sich als Beauftragter gegen Antiziganismus für die Rechte der Sinti und Roma in Deutschland eingesetzt. Viele Maßnahmen - erarbeitet von der Unabhängigen Kommission Antiziganismus - wurden in seiner Amtszeit beschlossen, aber die müssten jetzt auch umgesetzt werden.

Der Beauftragte war eine wichtige Brücke zwischen der Regierung und den Angehörigen der Minderheit, sagt Roma-Aktivistin Renata Conkova der DW. Das Amt abzuschaffen, wäre ein Fehler.

Sie stammt aus der Slowakei und kümmert sich für den Verband RomnoKher im ostdeutschen Bundesland Thüringen um zugewanderte Roma-Familien, vor allem aus der Ukraine. Ihr Großvater hat wie viele Roma in den von Nazi-Deutschland überfallenen Ländern als Partisan gegen die Deutschen gekämpft und ist gefallen.

Seine Enkelin erlebt in Deutschland das, was Studien seit Jahren belegen. Trotz vieler Fortschritte und politischer Bekenntnisse werden Menschen aus der Minderheit diskriminiert - in Kindergärten und Schulen, von Behörden, bei der Wohnungssuche, am Arbeitsplatz. Die Probleme lösen könne man nur zusammen mit Politikern und Behörden.

Wird es wieder eine/n Antiziganismusbeauftragte/n geben? CDU-Ministerin Karin Prien hat das bisher zuständige Ministerium für Familie, Frauen, Senioren und Jugend übernommen, erweitert um das Thema Bildung. Auf DW-Anfrage nach einer Neubesetzung teilt eine Sprecherin mit, der Ministerin sei der Schutz von Minderheiten sehr wichtig. "Das Thema soll auch in Zukunft im Haus verankert werden."

Roma-Aktivistin Renata Conkova macht sich Sorgen über rechte und rassistische Tendenzen in Deutschland. Sie erinnert an die Zeit der Verfolgung: "Wir leben nicht mehr in den 40er Jahren. Wir haben unseren Stolz, unsere Kultur, Traditionen. Wir lassen uns nicht mehr töten oder in Gaskammern schicken. Wir kämpfen."

Item URL https://www.dw.com/de/roma-resistance-day-widerstand-von-der-nazi-zeit-bis-heute/a-72531972?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70120842_302.jpg
Image caption Gedenken an den Völkermord an den europäischen Sinti und Roma im früheren Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau
Image source Wojciech Grabowski/SOPA Images/ZUMA Press Wire/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/70120842_302.jpg&title=Roma%20Resistance%20Day%3A%20Widerstand%20von%20der%20Nazi-Zeit%20bis%20heute

Item 19
Id 72554666
Date 2025-05-15
Title Kaschmir-Konflikt droht die religiösen Spannungen zu verschärfen
Short title Kaschmir-Konflikt droht religiöse Spannungen zu verschärfen
Teaser Das brutale Massaker von Pahalgam vor drei Wochen im von Indien verwalteten Teil Kaschmirs richtete sich gegen die Hindus. Die Folge sind Hass und Gewalt gegen Muslime.
Short teaser Der Angriff im von Indien verwalteten Kaschmir richtete sich gegen Hindus. Die Folge sind Hass und Gewalt gegen Muslime.
Full text

Am 8. Mai stand Indiens Außenminister Vikram Misri vor einem Meer von Reportern in der Hauptstadt Neu-Delhi, um sich nach dem tödlichen Angriff in Pahalgam, einem malerischen Urlaubsort in Kaschmir, mit einem Statement an die Nation zu wenden. Misri zeigte sich dabei überzeugt, dass die Angreifer "Zwietracht zwischen den Bevölkerungsgruppen zu provozieren" wollten, sowohl im indischen Bundesstaat Jammu und Kaschmir als auch im Rest des Landes.

Islamistische Militante hatten am 22. April 26 Zivilisten im von Indien verwalteten Teil Kaschmirs getötet. Die meisten von ihnen erschossen sie vor den Augen ihrer Familienmitglieder, nachdem sie gefragt hatten, ob sie Muslime oder Hindus seien.

Misri wollte mit seiner Rede ein Bild der Einheit präsentieren - zwischen den religiösen Gemeinschaften, Geschlechtern und zwischen dem Militär und seiner Regierung. Symbolträchtig standen neben ihm Oberst Sophia Qureshi, eine Muslima, und Luftwaffen-Kommandantin Vyomika Singh, eine Hindu.

"Es ist ein Verdienst der Regierung und des indischen Volkes, dass diese Angriffspläne vereitelt wurden", betonte er. So glaubwürdig seine Worte erscheinen mögen, es gibt auch eine andere Realität.

Anstieg von Hassreden

Die indische Regierung beschuldigt Pakistan, den grenzüberschreitenden Terrorismus zu unterstützen. In der Folge hat dabei auch der Hass gegen Muslime allgemein zugenommen - oft angeheizt durch ultranationalistische Social-Media-Konten, in denen auch indische Muslime angegriffen und als "Eindringlinge" oder "Verräter" bezeichnet werden.

So veröffentlichte die Vishva Hindu Parishad (VHP), eine rechtsgerichtete hindu-nationalistische Gruppe, eine Erklärung, in der sie die Regierung aufforderte, "pakistanische Bürger und ihre Schläferzellen" zu vertreiben. VHP-Führer Surendra Jain sagte, es sei "durch diesen Vorfall deutlich sichtbar geworden, dass der Terrorist definitiv ein religiöses Motiv hat". Das berichteten indische Medien. Auf die Bitte der DW um eine Stellungnahme reagierte die VHP nicht.

Der Hass im Internet ist auch auf das reale Leben übergeschwappt. Die "Karachi Bakery" in der südindischen Stadt Hyderabad wurde von wütenden Demonstranten verwüstet, die eine Namensänderung der Bäckerei forderten, da Karachi der Name einer Stadt in Pakistan ist.

Lokale Medien berichteten, dass die Polizei mehrere Personen wegen des Vorfalls angeklagt habe, darunter Mitglieder der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi.

Die Ironie dabei ist, dass die Eigentümer der Bäckerei Karachi Hindus sind. Ihre Vorfahren waren im Zuge der Teilung des Subkontinents in Indien und Pakistan nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft im Jahr 1947 von Karachi nach Indien ausgewandert.

In den ersten zehn Tagen nach dem Angriff in Pahalgam wurden nach Angaben der Nichtregierungsorganisation India Hate Lab mindestens 64 antimuslimische Hassreden in neun Bundesstaaten und der Region Jammu und Kaschmir registriert.

Aufgeheizte Stimmung nach Pahalgam-Angriff

In der Stadt Agra, wo sich das bekannte Mausoleum Taj Mahal befindet, wurde ein Biryani-Ladenbesitzer als "Vergeltung" für den brutalen Angriff etwa 1.000 Kilometer entfernt in Pahalgam erschossen. In Aligarh, etwa drei Stunden von Delhi in Richtung Südosten entfernt, wurde Berichten zufolge ein 15-jähriger muslimischer Junge angegriffen und gezwungen, auf eine pakistanische Flagge zu urinieren. Videos des Angriffs kursierten tagelang in den sozialen Medien.

"Die Leute heizen sich auf, wenn sie über die Terroranschläge sprechen, sagen islamophobe Dinge und vergessen oft, dass ich anwesend bin", sagt Anuj*, ein indischer Muslim aus Mumbai, im Gespräch mit der DW. "Sie sehen mich anders an." Anuj macht sich auch Sorgen um seine Eltern, die in einer Stadt im westlichen Bundesstaat Gujarat leben.

"Die rechten Gruppen halten Kundgebungen mit antimuslimischen Parolen ab. Meine Eltern haben Angst davor, was in den kommenden Tagen passieren könnte", sagte er und fügte hinzu, dass sie darüber diskutiert hätten, Indien endgültig zu verlassen.

In der hügeligen Stadt Nainital, sieben Stunden nördlich von Delhi, verwandelte sich ein Protest gegen die Vergewaltigung einer 12-Jährigen in religiös-ethnisch motivierte Gewalt.

"Der Mann, der der Vergewaltigung beschuldigt wird, ist ein Muslim", sagte Shahid*, ein Geschäftsinhaber aus der Stadt. "Am 1. Mai erhöhte sich der Druck aus der Gemeinde, gegen diesen Mann vorzugehen, was verständlich und richtig ist. Aber Männer von den rechten Hindu-Gruppen schlossen sich bald an".

Shahid erzählte, wie sich die Wut sowohl der hinduistischen als auch der muslimischen Gemeinschaft auf die Straße ergoss. In der Folge wurden mehrere Geschäfte in muslimischem Besitz zerstört. "In den nächsten zwei Tagen wurde auf dem Markt eine Ausgangssperre verhängt. Meine Familie flehte mich an, nicht zur Arbeit zu gehen."

Randgruppen schüren Ressentiments

Dass ein indisch-pakistanische Konflikt den Hass gegen Minderheiten auf beiden Seiten schüre, sei zwar kein neues Phänomen. "Aber ein solches Ausmaß der Vorfälle nach dem Pahalgam-Angriff hat es noch nie gegeben", so Ghazala Wahab, Herausgeberin des indischen Magazin für nationale Sicherheit "Force".

"Es gibt einen großen Unterschied zwischen allen vorherigen Regierungen und der jetzigen. Es gab den Krieg von 1965 und 1971. Und dann hatten wir eine Art permanenten Konflikt in den umstrittenen Gebieten. Trotz alledem hatten wir nie ein Problem mit der Kommunikation zwischen den Menschen in Indien und Pakistan", sagt sie der DW.

Nach den Anschlägen am 22. April schloss Indien seine Grenzen zu Pakistan und annullierte alle Visa, die pakistanischen Staatsangehörigen ausgestellt wurden. Reisen und Handel wurden ausgesetzt.

"Es gab schon vorher sporadische Fälle von Gewalt. Aber das ging von Elementen am rechten Rand aus. Wenn Sie sich erinnern, haben sie 1991 den Cricketplatz im Wankhede-Stadion in Mumbai ausgehoben, Tage vor einem Spiel zwischen Indien und Pakistan", sagte sie. Die Lage habe sich aber verändert: "Jetzt sind die Ränder Mainstream."

Die Journalistin Nirupama Subramanian sagte der DW, dass rechte Randgruppen in den letzten Jahren durch eine Kultur der Straflosigkeit ermutigt worden seien. Es gebe aber noch Anlass zur Hoffnung. Sie weist darauf hin, dass es als Reaktion auf den Angriff in Pahalgam "vereinzelte Akte von Mobbing, Belästigung und sogar Gewalttaten gegeben hat, aber es ist nicht zu einem Aufruhr gekommen, was wahrscheinlich die Absicht des Angriffs war. Das ist nicht passiert. Und ich sehe das als Silberstreif am Horizont", sagte sie. Die DW hatte einen BJP-Sprecher dazu um einen Kommentar gebeten, eine Reaktion bleib aber aus.

Es droht eine "Psyche der Angst"

Tanika Sarkar, eine ehemalige Professorin an der Jawaharlal Nehru Universität, die mehrere Bücher über die Schnittstelle von Politik, Religion und Gesellschaft in Indien geschrieben hat, befürchtet dagegen, dass das Misstrauen lang anhalten könnte. "Der Krieg führt nicht sofort zu Gewalt im eigenen Land, aber zu sehr bitteren Erinnerungen, Geschichten und Anschuldigungen. Ich weiß nicht, wie es auf pakistanischer Seite ist. Ich nehme an, dass es ziemlich genau das Gleiche ist", sagt sie der DW.

Im jüngsten Konflikt waren auch Indiens Nachrichtensender nicht sehr hilfreich. Zwischen dem 8. und 10. Mai verbreiteten einige der populärsten Kanäle sensationsgetriebene ungeprüfte Informationen, die sich später als falsch herausstellten. Gepaart mit den Nachrichten, die auf WhatsApp zirkulierten, schuf auch das ein Umfeld der Angst.

"Das ist eine Situation, in der man nicht mehr weiß, was man glauben oder nicht glauben kann. Und wer diese Situation so aufnimmt, wird möglicherweise anfangen, jeden Muslim mit Misstrauen zu betrachten", sagte Sarkar und fügte hinzu, dass "Angst eben Angst erzeugt." Auch wenn diese Angriffe nicht die Norm seien, "erzeugen sie eine Psyche der Angst in den Herzen jedes Muslims, der in Indien lebt."

*Name auf Bitte des Interviewpartners geändert.

Item URL https://www.dw.com/de/kaschmir-konflikt-droht-die-religiösen-spannungen-zu-verschärfen/a-72554666?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72524315_302.jpg
Image caption Proteste nach Terroranschlägen in Kaschmir - Anhänger verschiedener Religionen, darunter auch Muslime. protestieren gegen das Massaker in Pehalgam
Image source Debarchan Chatterjee/NurPhoto/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72524315_302.jpg&title=Kaschmir-Konflikt%20droht%20die%20religi%C3%B6sen%20Spannungen%20zu%20versch%C3%A4rfen

Item 20
Id 72554653
Date 2025-05-15
Title Ukraine erwägt Bindung ihrer Währung an Euro statt US-Dollar
Short title Ukraine erwägt Bindung ihrer Währung an Euro statt US-Dollar
Teaser In der Ukraine werden die Überlegungen laut, den US-Dollar als Referenzwährung durch den Euro zu ersetzen. Welche Vor- und Nachteile könnten sich für die Wirtschaft ergeben und wie schnell wäre die Idee umsetzbar?
Short teaser Welche Vor- und Nachteile hätte es, wenn die Ukraine den US-Dollar als Referenzwährung durch den Euro ersetzen würde?
Full text

Die Ukraine erwägt eine Abkehr vom US-Dollar und stattdessen eine stärkere Bindung ihrer Währung an den Euro. Das erklärte jüngst Nationalbank-Chef Andrij Pyschnyj gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Die Zersplitterung des Welthandels und zunehmende Verbindungen zu Europa würden die Ukraine zu einem solchen Schritt drängen.

Ein Wechsel vom US-Dollar zum Euro als Referenzwährung würde bedeuten, dass die Nationalbank künftig die ukrainische Hrywnja gegen Euro handeln würde und alle anderen Währungskurse über den Kreuzkurs bestimmt würden. Damit würde sich ihr Kurs nicht direkt zum Wert des Hrywnja ergeben, sondern würde über den jeweiligen Wert zum Euro berechnet. Derzeit wird der Handel im Verhältnis zum US-Dollar abgewickelt und der Euro-Hrywnja-Wechselkurs durch den Kreuzkurs bestimmt.

"Diese Arbeit ist komplex und erfordert eine hochwertige, umfassende Vorbereitung", räumte Pyschnyj ein. Transaktionen in US-Dollar würden weiterhin alle Segmente des Devisenmarktes dominieren, doch der Anteil der in Euro denominierten Transaktionen habe sich in den meisten Segmenten erhöht, wenn auch "bisher moderat".

Eine Wiederbelebung der Investitions- und Konsumtätigkeit dank engerer Verbindungen mit Europa und einer Normalisierung der Wirtschaft dürfte dazu beitragen, dass das Wirtschaftswachstum der Ukraine in den nächsten zwei Jahren leicht auf 3,7 bis 3,9 Prozent anziehe, so der Chef der Nationalbank. Allerdings hänge ihm zufolge die wirtschaftliche Entwicklung stark vom Verlauf des Krieges Russlands gegen die Ukraine ab.

Euro-Bindung als langfristige Perspektive

"Es ist klar, dass schwere, komplexe Störungen des Finanzsystems in Kriegszeiten, während großer Militäroperationen, nicht von allein vorbeigehen werden", sagt der ukrainische Wirtschaftsexperte Wasyl Poworosnyk im DW-Gespräch. Ein Übergang zum Euro würde mindestens fünf bis zehn Jahren brauchen.

Finanzexperten bewerten die Initiative der Nationalbank positiv, geben jedoch zu bedenken, dass sie nicht schnell umgesetzt werden könne. "Ich denke, dass die Bindung der Hrywnja an den Euro eher eine politische Entscheidung mit einem Zeithorizont von zehn Jahren ist", sagt der Ökonom Witalij Schapran gegenüber der DW. "Wenn sich die Ukraine in die Europäische Union integrieren möchte, dann ist die Annäherung an die Eurozone ein logischer und vorhersehbarer Schritt", so der Experte, der einst dem Aufsichtsrat der Nationalbank angehörte. Langfristig halte er diese Entscheidung für alternativlos, insbesondere vor dem Hintergrund der russischen Aggression.

Obwohl die Ukraine hauptsächlich Handel mit EU-Ländern treibe und ein Teil davon in Euro abgewickelt werde, sei die Überlegung, die Hrywnja an die europäische Währung zu koppeln, eher eine politische Richtlinie als eine wirtschaftlich begründete Notwendigkeit, findet Dmytro Bojartschuk vom Center for Social and Economic Research (CASE-Ukraine). Seiner Meinung nach hänge der Nutzen einer Euro-Bindung von der globalen Entwicklung des Dollarkurses ab. Wenn der US-Dollar gegenüber dem Euro an Wert verliere, könne das von Vorteil sein, wenn er aber stärker werde, könne das Panik in der Gesellschaft auslösen.

"Ich glaube nicht, dass die Bindung definitiv umgesetzt wird", sagt Bojartschuk. Das hänge höchstwahrscheinlich davon ab, wie sich die Ereignisse in der Welt entwickeln, so der Experte. Es würde sich um eine langfristige Perspektive handeln.

Wer würde profitieren und wer verlieren?

"Wenn in der gegenwärtigen Situation der Euro zur Ankerwährung der Hrywnja gemacht wird, dann werden davon Exporteure und Importeure profitieren, die Verträge in Euro haben und vielleicht würde dies zu einer Zunahme von Verträgen in Euro führen", sagt Schapran. Aber die Unternehmen, die ihre Produkte in US-Dollar verkauften, würden verlieren, und davon gebe es in der Ukraine viele. Nach Schätzungen seien das bis zu 70 Prozent, wenn man die Umsätze in der Schattenwirtschaft mitberücksichtige, so Schapran.

Die Schwächung des US-Dollars und damit auch der Hrywnja gegenüber dem Euro habe ukrainische Exporte für die Eurozone bereits attraktiver gemacht, betont der Experte. Eine sofortige Änderung der Leitwährung in der Ukraine wäre aber ohne strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft unmöglich, sonst würde dies zu Unzufriedenheit führen.

Schrittweise Maßnahmen erforderlich

Ein Wechsel zum Euro dürfte für die Wirtschaft generell schwierig werden, da der US-Dollar nach wie vor die wichtigste globale Reservewährung sei, über die die meisten internationalen Zahlungen abgewickelt werden. Die ukrainischen Exporte werden größtenteils in US-Dollar abgerechnet und eine Umstellung auf den Euro würden die Zahlungsprozesse ersteinmal verkomplizieren, meinen Experten. Für Unternehmen würde das zusätzliche Transaktionskosten und Belastungen bedeuten.

"Die Auswirkungen auf die Ersparnisse der Bürger werden zwar geringer sein, da sie den Dollar nicht aufgeben und weiterhin in Dollar sparen werden. Mit der Zeit wird es jedoch zu einer Umorientierung auf Ersparnisse in Euro kommen", prognostiziert Wasyl Poworosnyk.

Um den Anteil des Euro am Zahlungsverkehr schrittweise zu erhöhen, sind nach Ansicht von Experten gewisse Maßnahmen erforderlich. Erstens seien weichere Handelsregeln zwischen den Staaten der Eurozone und der Ukraine nötig. Zweitens müssten die ukrainischen Währungshüter den ukrainischen Unternehmen einen ungehinderten Zugang zu Instrumenten gewähren, mit denen die Risiken reduziert werden können, die sich aus Veränderungen des Euro-Dollar-Wechselkurses ergeben. Und drittens sollte die ukrainische Regierung Investitionen aus der Eurozone fördern, was den Anteil des Euro am ukrainischen Außenhandel automatisch erhöhen würde. "So werden wir den Euro von Jahr zu Jahr zu einer beliebteren Währung in der Ukraine machen", glaubt Witalij Schapran.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

Item URL https://www.dw.com/de/ukraine-erwägt-bindung-ihrer-währung-an-euro-statt-us-dollar/a-72554653?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/62443024_302.jpg
Image caption Bisher ist die Währung der Ukraine an den US-Dollar gekoppelt. In Zukunft könnte der Euro die Referenzwährung werden.
Image source Klaus-Dieter Esser/agrarmotive/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/62443024_302.jpg&title=Ukraine%20erw%C3%A4gt%20Bindung%20ihrer%20W%C3%A4hrung%20an%20Euro%20statt%20US-Dollar

Item 21
Id 72550563
Date 2025-05-15
Title Afghanistan: Kein Platz für Vielfalt unter den Taliban
Short title Afghanistan: Kein Platz für Vielfalt unter den Taliban
Teaser Frauenrechte, kulturelle und religiöse Pluralität werden immer weiter eingeschränkt. Die Taliban dulden kaum etwas außerhalb ihrer religiösen und ethnischen Ordnung. Doch Abschiebungen nach Afghanistan gehen weiter.
Short teaser Frauen, kulturelle und religiöse Pluralität verschwinden aus dem öffentlichen Leben Afghanistans unter den Taliban.
Full text

Im Schatten globaler Krisen gerät die Menschenrechtslage in Afghanistan zunehmend in Vergessenheit. Dabei leiden Millionen Menschen weiterhin unter den gravierenden Folgen systematischer Menschenrechtsverletzungen durch die De-facto-Behörden, wie der aktuelle Bericht der UNAMA zeigt.

Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) ist eine politische Mission mit Mandat des UN-Sicherheitsrats. Sie beobachtet unter anderem die Menschenrechtslage im Land und berichtet regelmäßig darüber.

In ihrem aktuellen Bericht zur Lage im ersten Quartal 2025, dem Zeitraum von Januar bis März, dokumentiert UNAMA nicht nur Fälle geschlechtsspezifischer Gewalt und regelmäßiger öffentlicher Auspeitschungen. Auch der Druck auf eine der letzten religiösen Minderheiten, die Ismailiten, hat zugenommen.

Die Ismailiten gehören zur schiitischen Glaubensrichtung des Islam und leben vor allem in den nördlichen Provinzen wie Badachschan, Baghlan und im Wakhan-Korridor. In Badachschan wurden Mitglieder der Gemeinde unter Androhung von Gewalt und Tod zur Konversion gezwungen.

"Erst wenn sie sich unter Gewalt zur sunnitischen Konfession bekennen, werden sie als Muslime akzeptiert", sagt Professor Yaqoob Yasna im Gespräch mit der DW. Yasna, der selbst Ismailit ist, wurde nach der Machtübernahme der Taliban der Blasphemie beschuldigt, weil er sich für Aufklärung und Toleranz in der Gesellschaft einsetzte. Er sah sich gezwungen, seine Professur an der Universität aufzugeben, und musste aus Angst vor Repressalien das Land verlassen.

Gewalt gegen Minderheiten

Die Toleranz gegenüber der Minderheit der Ismailiten in der Gesellschaft sei weiter gesunken, betont Yasna. Bereits vor der Machtübernahme der Taliban sei diese Toleranz begrenzt gewesen, doch das damalige politische System habe zumindest ihre Bürgerrechte geschützt.

"Wenn ihre Rechte heute verletzt werden, wissen sie nicht, an wen sie sich wenden können. Ihre Kinder werden mit Gewalt gezwungen, sich zum sunnitischen Glauben zu bekennen", sagt Yasna und betont weiter: "Unter der Herrschaft der Taliban gilt nur eine Glaubensrichtung als legitim. Alles, was von ihrer Auslegung des Islam abweicht, wird abgelehnt und schafft damit den Nährboden für Gewalt gegen religiöse Minderheiten."

Auch der afghanische Menschenrechtsaktivist Abdullah Ahmadi bestätigt den zunehmenden Druck auf eine der letzten verbliebenen religiösen Minderheiten des Landes: "Uns liegen mehrere Berichte vor, die zeigen, wie Kinder der ismailitischen Gemeinschaft gezwungen werden, religiöse Schulen unter sunnitischer Leitung zu besuchen. Wenn sie sich weigern oder nicht regelmäßig am Unterricht teilnehmen, müssen ihre Familien hohe Strafzahlungen leisten."

Die internationale Gemeinschaft reagiere nur zögerlich auf die anhaltenden Menschenrechtsverletzungen, beschwert sich Ahmadi und fordert gezielte Sanktionen gegen Taliban-Funktionäre: "Die Taliban müssen für diese Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden."

In Afghanistan gibt es heute nur noch sehr wenige Angehörige anderer Religionen als des Islam. Dabei war das Land historisch ein bedeutendes Zentrum religiöser Vielfalt. Der Buddhismus hinterließ unter anderem die berühmten Buddha-Statuen von Bamiyan, die im Jahr 2001 von den Taliban zerstört wurden. Die jüdische Gemeinde löste sich mit der Ausreise ihres letzten Mitglieds im September 2021 auf, und Christen praktizieren ihren Glauben nahezu ausschließlich im Verborgenen. Gewalt gegen die Hazara, eine schiitische Volksgruppe, hat ebenfalls zugenommen.

Unter den Taliban gilt nur eine religiöse Auslegung als zulässig, auch kulturelle Feste und Rituale werden unterdrückt. Sie haben sogar das Frühlingsfest Nowruz verboten. Das Fest wurde als "unislamisch" eingestuft und aus dem afghanischen Feiertagskalender gestrichen.

Angst, Armut, Abschiebung

Die Lage der Frauen verschärft sich zudem weiter. Die Hälfte der Gesellschaft ist damit systematischer Unterdrückung ausgesetzt. Laut dem aktuellen UNAMA-Bericht bleiben auch im Jahr 2025 weiterführende Schulen für Mädchen ab der 6. Klasse geschlossen. Der Zugang zu Universitäten und dem Arbeitsmarkt bleibt Frauen verwehrt, ihre Bewegungsfreiheit im öffentlichen Raum wird zunehmend eingeschränkt.

In der Stadt Herat etwa haben die Taliban mehrere Rikschas beschlagnahmt und die Fahrer gewarnt, keine Frauen ohne einen sogenannten Mahram, einen männlichen Begleiter aus der Familie, zu transportieren.

Trotz dieser desaströsen Lage werden geflüchtete Afghaninnen und Afghanen in den Nachbarländern weiterhin massenhaft abgeschoben, darunter zahlreiche Frauen und Kinder. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden allein innerhalb eines Monats rund 110.000 Menschen aus Pakistan ausgewiesen. Auch aus dem Iran erfolgen Abschiebungen in großer Zahl.

"Wir leben täglich in Angst, nach Afghanistan abgeschoben zu werden. Was soll ich dort mit meinen Kindern anfangen?", sagt die afghanische Journalistin Marzia Rahimi im Gespräch mit der DW. "Niemand hört unsere Stimme." In Afghanistan, sagt sie, warteten Elend und Terror. Unter der Herrschaft der Taliban konnte sie ihre Arbeit als Journalistin nicht fortsetzen und ihrer Tochter keine Bildung ermöglichen. Unabhängige Medien wurden weitgehend verboten oder unter staatliche Kontrolle gestellt. Journalistinnen wie Marzia Rahimi riskieren Verhaftung oder Folter, wenn sie regimekritisch berichten.

Seit der Machtübernahme der Taliban ist das Land in eine dramatische sozioökonomische Krise gestürzt. Nach Angaben der Vereinten Nationen leben rund 64 Prozent der Bevölkerung in Armut. Etwa die Hälfte der 41,5 Millionen Afghaninnen und Afghanen ist auf humanitäre Hilfe angewiesen, um zu überleben. 14 Millionen Menschen leiden unter akutem Hunger.

Item URL https://www.dw.com/de/afghanistan-kein-platz-für-vielfalt-unter-den-taliban/a-72550563?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/58943926_302.jpg
Image caption Vor 24 Jahren zerstörten die Taliban die berühmten Buddha-Statuen von Bamiyan
Image source Naqeeb Ahmed/EPA/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/58943926_302.jpg&title=Afghanistan%3A%20Kein%20Platz%20f%C3%BCr%20Vielfalt%20unter%20den%20Taliban

Item 22
Id 72512828
Date 2025-05-15
Title Cognac in der Krise: Frankreichs Exportschlager zwischen Handelskonflikt und Klimawandel
Short title Frankreich: Cognac zwischen Handelskonflikt und Klimawandel
Teaser Cognac aus Frankreich gilt als der edelste Traubenschnaps der Welt. 98 Prozent der Produktion wird in über 150 Länder exportiert. Inzwischen kämpfen die Produzenten mit Zöllen, Absatzrückgängen und Klimawandel.
Short teaser Cognac-Erzeuger stehen unter Druck. Zölle drohen den Absatz in den USA und in China zu schwächen.
Full text

Weinreben, soweit das Auge reicht. 24 Hektar davon gehören Alain Reboul. Der 62-Jährige ist Winzer in der siebten Generation. Sein Weingut "Earl des Bois nobles" ist eines der kleineren in der französischen Region von Cognac und liegt rund 100 Kilometer nördlich von Bordeaux. In der streng reglementierten Anbauregion sind 4350 Weinbauern ansässig. Nur Trauben aus den sechs Anbaugebieten ("crus") von genau definierten Weißweinsorten dürfen für Cognac verwendet werden.

Der größte Markt für den edlen Branntwein sind die USA: Präsident Donald Trump hat 200 Prozent Zölle auf europäische Spirituosen angedroht. Der zweitgrößte Markt ist der chinesische: Xi Jinping hat bereits im Herbst 2024 die Importe verteuert und ein Antidumping-Verfahren angestrengt - als Vergeltung für die Schutzzölle der EU gegen chinesische E-Autos. Der Alkohol darf dort auch nicht mehr in den Duty-free-Shops verkauft werden.

Nach Angaben des Branchen-Verbands BNIC (Bureau National Interprofessionell du Cognac) sanken die Lieferungen nach China um die Hälfte: Über 50 Millionen Euro monatlich gehen dadurch verloren. BNIC appelliert an die französische Regierung, die rund 70.000 Jobs, die direkt und indirekt am Cognac hängen, nicht zu vergessen.

Reben pflanzt man für Generationen

Während seines ganzen langen Berufslebens hat Reboul Land dazu gekauft und Reben gepflanzt. Und jetzt soll er einen Teil davon entfernen? Das hatten BNIC wie auch die Winzer-Gewerkschaft empfohlen, um Kosten für Maschinen, Dünger und Pestizide zu sparen. Reboul will keine Reben herausreißen. "Die pflanzt man für mindestens 30 Jahre, für Generationen!", sagt der große, wettergegerbte Mann. "Und warum sollen wir dieselben Dummheiten begehen wie unsere Vorfahren?" In der Ölkrise stieg sein Vater auf Rotwein um: Gelohnt habe es sich nicht.

Vor ein paar Jahren hieß es noch: "Pflanzen, pflanzen, pflanzen!" Der Durst nach Cognac schien schier unstillbar. 2022 wurden trotz Pandemie und Krieg in der Ukraine knapp 213 Millionen Flaschen weltweit verkauft: laut BNIC ein Rekordjahr.

Der aktuelle Einbruch sei der größte Schock seit der Ölkrise. Reboul kennt Kollegen, die mehrere Hektar Rebstöcke gerodet haben. Statt Weinberge sieht man nun mancherorts Oliven- oder Trüffelplantagen. "An meiner Philosophie wird das nichts ändern", beteuert er. Krisen habe es schon immer gegeben.

Weltpolitik und Klimawandel belasten Winzer

Chinesische und US-amerikanische Vergeltungszölle sind nicht die erste Herausforderung für die Region Cognac. Umsatzeinbrüche gab es zeitweise auch durch die Pandemie, die Inflation und den Wegfall des wichtigen russischen Marktes. Auch der Klimawandel belastet die Winzer. Die verlängerte Hitzeperiode macht die Trauben zuckerhaltiger. Cognac braucht aber eine gewisse Säure. Außerdem treiben die Reben früher aus, wodurch das Risiko steigt, die Ernte wegen Hagel, Spätfrost oder Schädlingen zu verlieren.

Reboul bewirtschaftet das Gut mit Hilfe von Familienmitgliedern und Saisonarbeitern. Den gesamten Wein-Ertrag verkauft er an Hennessy. "Ich liebe meinen Beruf!", sagt er stolz. Und die achte Winzer-Generation steht auch schon bereit.

Holzfässer für Cognac - viel Handarbeit und Knowhow

Cassandra Allary führt mit ihrem Bruder ebenfalls einen Familienbetrieb: die Küferei Allary. Mit 26 Mitarbeitenden fertigen sie Eichenfässer und -tonnen aller Größenordnungen für Wein und Hochprozentiges. Zwischen Cognac und Bordeaux gibt es rund 50 Fasshersteller: Ihr Handwerk wurde zum Weltkulturerbe erklärt.

Es steckt viel Handarbeit und Knowhow in den Fässern. Zuerst werde das Eichenholz viele Monate lang im Freien getrocknet, damit Wind und Regen die Tannine besser zur Geltung bringen, erklärt die junge Firmenchefin. Später würden die Fass-Rohlinge befeuchtet, erhitzt, mit Böden, Deckeln und Ringen versehen, poliert und entgratet.

"Vom Grad der Erhitzung hängt ab, welche Aromen wir aus dem Holz herauskitzeln", verrät Allary. "Das machen wir je nach Kundenwunsch." Bei niedriger Hitze dufte es nach Kokosnuss. Mittlere Hitze bringe einen Schuss Vanille hinein und stärkere Mokka- bzw. Kakaonoten. Ursprünglich belieferte Allary nur die Cognac-Firmen, diversifizierte jedoch in den 90ern das Portfolio. In diesem Jahr sei die kleine Firma noch gut ausgelastet, doch die Aufträge werden weniger.

Cognac brachte der Region Wohlstand

Fast jeder in der Region produziert oder vermarktet Wein, Cognac, Fässer, Gläser, Flaschen oder Etiketten. Die 20.000 Einwohner Stadt Cognac, die den selben Namen trägt wie ihr berühmtes Produkt, ist durch den Branntwein reich geworden.

Cognac verdankt seine Existenz dem Handel: Die Destillation macht Weine haltbarer und so konnten sie auf dem Seeweg in weit entfernte Länder exportiert werden. Viele Cognac-Häuser wurden von Einwanderern gegründet - wie Bache Gabrielsen, aber auch Hennessy und Martell. Heute beherrschen die großen Vier Cognac-Brennereien Hennessy, Rémy Martin, Martell und Courvoisier rund 90 Prozent des Marktes und sind meist Teil von großen Konzernen wie LVMH und Pernod-Ricard.

Konsumenten stellen andere Ansprüche

Im Empfangsraum des "Maison Bache Gabrielsen" hängt eine Ahnengalerie über Schubladen voller historischer Flaschenetiketten. Das Haus wurde 1905 gegründet und gehört zu den vergleichsweise jungen Cognac-Produzenten. Bache Gabrielsen ist immer noch im Familienbesitz und produziert ungefähr eine Million Flaschen jährlich. Das ist im Vergleich zu den berühmten Marken wenig, für einen Betrieb mit gerade einmal 23 Beschäftigten jedoch eine ganze Menge.

Winzer wie Reboul liefern den Wein, Cognac-Produzenten wie Bache Gabrielsen machen daraus durch doppelte Destillation im ersten Schritt ein hochprozentiges "eau de vie" (Wasser des Lebens). Mindestens zwei Jahre muss dieses "Wasser des Lebens" dann in Eichenfässern reifen und die Holzaromen aufnehmen. Das bernsteinfarbene Endprodukt ist eine Mischung aus verschiedenen Jahrgängen und Crus.

Kellermeister Jean-Philippe Bergier ist die "Nase" von Bache Gabrielsen. Bergier komponiert seit 35 Jahren die Produkte des Hauses aus bis zu 15 Destillaten aus allen Crus der Region. Rebsorten, die früher nur in winzig kleinen Anteilen beigemischt wurden, sind jetzt wieder gefragt, weil sie mehr Säure bringen, erklärt Bergier, "eine Reaktion auf den Klimawandel".

Der kreative Kopf hat schon etliche Geschmack-Trends kommen und gehen gesehen. Bache Gabrielsen hat auch eine kleine Charge Bio-Cognac in recycelten Flaschen abgefüllt, um ein neues Segment zu testen. Zudem versuchen die Produzenten mit Cocktails, Likören und Aperitifs weitere Zielgruppen zu erschließen.

Heute wollten vor allem die Jüngeren wissen, wie ein Produkt gemacht wird. Es werde zwar weniger Alkohol getrunken als noch vor einer Generation, aber man lege mehr Wert auf Qualität. Und weil Cognac ein Qualitätsprodukt sei, glaubt Bergier fest an seine Zukunft.

Item URL https://www.dw.com/de/cognac-in-der-krise-frankreichs-exportschlager-zwischen-handelskonflikt-und-klimawandel/a-72512828?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72517701_302.jpg
Image caption Frankreichs Cognac Branche muss Exporteinbußen verkraften
Image source Shaiith/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/vps/webvideos/DEU/2025/BUSI/BUSIDEU250326_DWIWEINZOLL_04SMW_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/72517701_302.jpg&title=Cognac%20in%20der%20Krise%3A%20Frankreichs%20Exportschlager%20zwischen%20Handelskonflikt%20und%20Klimawandel

Item 23
Id 72545385
Date 2025-05-15
Title Frankreichs Atombomben für Europa: Was Macron wirklich will
Short title Frankreichs Atombomben für Europa: Was Macron wirklich will
Teaser Vor 60 Jahren präsentierte Frankreichs erstmals seine Atomraketen. Heute will Präsident Macron damit nicht nur Frankreich, sondern auch Europa schützen. Doch sein Angebot ist politisch aufgeladen - und voller Hürden.
Short teaser Präsident Macron will notfalls französische Atomwaffen in Europa stationieren - doch Frankreich behält die Kontrolle.
Full text

Paris, 14. Juli 1965: Nationalfeiertag in Frankreich. Zwischen Kavallerie, Marschmusik und Panzerkolonnen fährt plötzlich etwas Ungewöhnliches über die Prachtstraße der französischen Hauptstadt: Atomraketen auf mobilen Startrampen. Darüber donnern Mirage-Bomber. Zum ersten Mal präsentiert Frankreich der Weltöffentlichkeit seine nukleare Abschreckung - die Force de Frappe.

In den folgenden Jahrzehnten wird sie zum strategischen Herzstück der französischen Verteidigungspolitik - rein national kontrolliert, vollständig unabhängig. Die Bombe verschafft Frankreich nicht nur einen festen Platz im exklusiven Club der Nuklearmächte, sondern auch ein machtpolitisches Werkzeug. Doch sie ist teuer: Über zehn Prozent des Verteidigungshaushalts fließen jährlich in ihren Erhalt und die Modernisierung - eine erhebliche Belastung angesichts der hohen französischen Staatsverschuldung.

Frankreichs Abschreckung: souverän, minimal, defensiv

Die Nukleardoktrin der Force de Frappe (Französische Atomstreitmacht) hat sich seit Charles de Gaulle kaum verändert. Sie dient dem Schutz der "vitalen Interessen" Frankreichs - ein bewusst vager Begriff, der im Ernstfall auch europäische Partner einschließen kann, aber nicht muss. Der Einsatz von Atomwaffen ist laut Doktrin nur in extremen Fällen der Selbstverteidigung vorgesehen. Die Entscheidung liegt allein beim Präsidenten der Republik.

Französische Staatschefs, von de Gaulle bis Nicolas Sarkozy, haben mehrfach betont, dass diese vitalen Interessen auch eine europäische Dimension besitzen. Doch ihre Aussagen blieben symbolisch. Ein echter Wille zur Teilung der Bombe war zumindest öffentlich nicht zu erkennen. Bis Emmanuel Macron kam.

Macrons Zeitenwende

Seit seinem Amtsantritt 2017 hat Macron Frankreichs Nuklearstrategie nicht verändert - aber europäisch aufgeladen. In einer Grundsatzrede an der École de Guerre im Februar 2020 erklärte er, dass die französische Abschreckung auch Europas Sicherheit diene und bot einen strategischen Dialog mit europäischen Partnern an. In Berlin wurde das weitgehend ignoriert, aus Sorge, das US-amerikanische Schutzversprechen für Europa zu untergraben.

Doch nun ändert sich der Ton: "Frankreich hat das Angebot gemacht, wenigstens darüber zu reden - ein solches Angebot nehme ich an", erklärte Friedrich Merz kurz nach seiner Vereidigung zum Bundeskanzler. Merz kann sich vorstellen, den US-amerikanischen Schirm durch französische und britische Raketen zu ergänzen: "Wir können den nuklearen Schutz der Vereinigten Staaten innerhalb des NATO-Bündnisses nicht aus eigener Kraft in Europa ersetzen", so der Kanzler. Ob die Force de Frappe im Notfall auch als Ersatz für den US-Schirm in Frage käme, lässt Merz bislang offen.

Was Frankreich konkret anbietet

Frankreich schlägt keine gemeinsame europäische Atombombe vor - aber eine abgestufte nukleare Mitverantwortung. Im Zentrum steht Macrons Angebot eines strategischen Dialogs: Europäische Partner sollen eingeladen werden, die in "strategischer Ambiguität" formulierte französische Nukleardoktrin besser zu verstehen, an Szenarien mitzudenken und an Manövern in einer Beobachterrolle teilzunehmen. Bereits 2024 nahm ein italienisches Tankflugzeug an einer französischen Übung teil.

Die lange theoretische Debatte wird aber zunehmend greifbarer. So erklärte Macron in einem Fernsehinterview am Dienstag, Polen habe den Wunsch geäußert, französische Atomwaffen auf seinem Staatsgebiet zu stationieren - analog zur nuklearen Teilhabe in Deutschland, wo US-Atombomben im rheinland-pfälzischen Büchel lagern, die im Ernstfall von Bundeswehr-Jets ins Ziel geflogen werden. Er sei bereit, über eine Ausweitung des französischen Atomschirms zu sprechen "mit allen Partnern, die dies wünschen". Macron schloss dabei zum ersten Mal öffentlich die Stationierung französischer Atomwaffen in anderen EU-Ländern nicht aus.

Doch wie Frankreichs führender Sicherheitsexperte Bruno Tertrais analysiert, steckt in Macrons Offenheit ein stilles Signal: "Solange die US-Atomwaffen in Europa stationiert sind, gibt es aus französischer Sicht keinen Grund, überhaupt darüber zu diskutieren, ob französische Bomben in Deutschland oder anderswo lagern sollten."

Trotzdem arbeitet Frankreich bereits daran, seine nukleare Infrastruktur stärker auf Europa auszurichten. In Luxeuil-Saint Sauveur, nur 100 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, wird in den kommenden Jahren ein Militärstützpunkt als Atomwaffenbasis für Rafale-Kampfjets modernisiert. Ein Signal, dass Frankreich seine nukleare Handlungsfähigkeit nicht nur erhalten, sondern gezielt ausbauen will und die Force de Frappe näher an Mitteleuropa heranrückt.

Was das Projekt bremst

Derzeit verfügt Frankreich über rund 300 nukleare Sprengköpfe. Sie sind ausreichend für die nationale Abschreckung, aber nicht für ein gesamteuropäisches Schutzsystem. Die Trägersysteme, U-Boote mit ballistischen Raketen und luftgestützte Systeme sind auf französische Einsatzprofile zugeschnitten.

"Ich will eine Debatte führen, aber Frankreich wird nicht für die Sicherheit der anderen zahlen", stellt der französische Präsident nun klar. "Es wird nicht zu Lasten dessen gehen, was wir für uns selbst brauchen. Und die endgültige Entscheidung liegt beim Präsidenten der Republik, dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte." Die implizite Botschaft: Eine glaubwürdige Erweiterung des französischen Abschreckungsschirms erfordert höhere Kapazitäten - mehr Trägersysteme, zusätzliche Infrastruktur, intensivere Übungen. Frankreich kann das leisten, ist aber nicht bereit, es allein zu finanzieren. Wer mitgeschützt werden will, muss sich beteiligen - politisch, logistisch, finanziell.

Eine Kontrolle oder Mitentscheidung der Partner über den Atomwaffen-Einsatz schließt Macron allerdings kategorisch aus. Doch das ist bei der aktuell vorhandenen Nuklearen Teilhabe kaum anders. In der Nuclear Planning Group (NPG) der NATO wird beraten, aber nicht entschieden. Die finale Einsatzentscheidung liegt allein beim US-Präsidenten und damit aktuell bei Donald Trump.

Historische Parallelen

Die aktuelle Atomdebatte kennt ein historisches Vorbild: In den 1960er-Jahren gab es in Washington Pläne für eine multilaterale Atomstreitmacht (MLF) - eine NATO-Flotte mit gemeinsamen Atomwaffen. Charles de Gaulle lehnte das Projekt ab und warb in Bonn für eine Alternative: "Sie glauben doch wohl nicht, dass die Amerikaner Ihnen einen wirklichen Einfluss bei der MLF einräumen werden. Warum beteiligen Sie sich nicht bei uns?" soll der französische Präsident 1964 dem Staatssekretär des Auswärtigen Amts gesagt haben. Doch weder die MLF noch eine deutsch-französische Nuklearkomponente wurde je verwirklicht.

Am 14. Juli 1965 präsentierte Frankreich der Weltöffentlichkeit eine rein nationale Atomstreitmacht. Ob die Force de Frappe 60 Jahre später europäischer wird, liegt nicht nur an Paris, sondern auch an Berlin, Warschau - und Washington.

Item URL https://www.dw.com/de/frankreichs-atombomben-für-europa-was-macron-wirklich-will/a-72545385?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/61041561_302.jpg
Image caption Abschreckung heute: französisches Atom-U-Boot "Le Triomphant"
Image source Barbier/AFP/epa/dpa/picture-alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/61041561_302.jpg&title=Frankreichs%20Atombomben%20f%C3%BCr%20Europa%3A%20Was%20Macron%20wirklich%20will

Item 24
Id 72539450
Date 2025-05-14
Title Die Palästinenser und Israel: Was ist die Nakba, und warum ist sie so bedeutsam?
Short title Die Palästinenser und Israel: Was ist die Nakba?
Teaser Angesichts des anhaltenden Krieges im Gazastreifen und der israelischen Pläne zur Vertreibung der Palästinenser fühlen sich viele an die Nakba erinnert. An welches Trauma erinnern sich die Palästinenser am 15. Mai?
Short teaser Am 15. Mai gedenken Palästinenser des Verlusts ihrer Heimat vor 77 Jahren, der sogenannten Nakba. Wofür steht das Wort?
Full text

Was bedeutet Nakba?

Das arabische Wort Nakba bedeutet Katastrophe oder Unglück. In Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt wird der Begriff Nakba (auch: al-Nakba) verwendet, um daran zu erinnern, dass Hunderttausende Palästinenser zwischen 1947 und 1949 ihre Heimat verloren haben - vor der Unabhängigkeitserklärung Israels wie auch während und nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg von 1948.
Man geht davon aus, dass damals etwa 700.000 Menschen aus dem heutigen Israel vertrieben wurden oder fliehen mussten. Der Begriff Nakba erinnert zudem daran, dass viele palästinensische Flüchtlinge bis heute staatenlos sind und Israel ihnen kein Rückkehrrecht gewährt.

Was ist der Nakba-Tag?

Der 15. Mai 1948, der Tag nach der Ausrufung der Unabhängigkeit Israels, markiert den Beginn des ersten arabisch-israelischen Krieges. Seit langem ist der 15. Mai ein Tag, an dem Palästinenser auf die Straße gehen und gegen den Verlust ihrer Heimat protestieren. Viele tragen palästinensische Flaggen, bringen die Schlüssel ihrer ehemaligen Häuser mit oder tragen Transparente mit einem aufgemalten Schlüssel, ein Symbol für die Hoffnung auf eine Rückkehr in ihre Heimat. Ein Recht, das erstmals von den Vereinten Nationen in der Resolution 194 bekräftigt wurde. Diese besagt, dass "Flüchtlinge, die in ihre Heimat zurückkehren und in Frieden mit ihren Nachbarn leben wollen, dies gestattet werden sollte".

In der Vergangenheit kam es bei Protesten auch immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen militanten Palästinensern und der israelischen Armee. Israel wirft der Hamas und anderen Organisationen, die unter anderem von der EU als Terrororganisationen eingestuft werden, vor, den Tag für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Der Begriff Nakba-Tag wurde 1998 vom damaligen Palästinenserführer Jassir Arafat geprägt. Er legte das Datum als offiziellen Tag des Gedenkens an den Verlust der palästinensischen Heimat fest.

Warum mussten die Palästinenser fliehen oder wurden vertrieben?

Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs befand sich Palästina als Teil des Osmanischen Reichs unter türkischer Herrschaft. Danach fiel das Gebiet unter britische Kontrolle, als britisches Mandatsgebiet. Besonders in dieser Zeit - die in Europa von wachsendem Antisemitismus geprägt war - zog eine steigende Zahl von Juden aus aller Welt in das Land, das für sie Eretz Israel war, das gelobte Land der Bibel und die Heimat ihrer Vorfahren, in der immer schon Juden gelebt hatten, wenn auch in geringerer Zahl.

Auch unter dem Eindruck des Holocaust in Nazi-Deutschland nahm die UN-Generalversammlung 1947 einen Teilungsplan für das britische Mandatsgebiet Palästina an. Die Arabische Liga lehnte den Plan ab. Die Jewish Agency for Palestine akzeptierte ihn. Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel ausgerufen.

Als Reaktion darauf griff eine Koalition aus fünf arabischen Staaten Israel an, wurde aber 1949 von dem jungen Staat militärisch besiegt. Bereits vor dem Krieg wurden 200.000 bis 300.000 Palästinenser vertrieben oder haben das Land verlassen. Während der Kämpfe kamen weitere 300.000 bis 400.000 hinzu. Die Gesamtzahl der Vertriebenen und Geflüchteten wird auf etwa 700.000 Palästinenser geschätzt.

Vor und während des Krieges wurden mehr als 400 arabische Dörfer zerstört und Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten begangen. Das Massaker von Deir Yassin - einem Dorf an der Straße zwischen Tel Aviv und Jerusalem - ist bis heute wichtiger Bestandteil der palästinensischen Erinnerung. Mindestens 100 Menschen, darunter Frauen und Kinder, wurden bei diesem Angriff getötet, der noch vor dem offiziellen Ausbruch des arabisch-israelischen Krieges stattfand. Das Massaker steigerte die Angst unter vielen Palästinensern und trieb viele zusätzlich zur Flucht. Zwischen 1947 und 1949 fanden über ein Dutzend weiterer Massaker an Palästinensern statt, verübt von Milizen und der israelischen Armee. Am Ende des Krieges besaß Israel etwa 40 Prozent des Gebiets, das im UN-Teilungsplan von 1947 für die Palästinenser vorgesehen war.

Wo wurden Palästinenser aufgenommen?

Die meisten Palästinenser landeten seinerzeit als staatenlose Flüchtlinge im Gazastreifen, im Westjordanland und in arabischen Nachbarländern - nur eine Minderheit zog damals ins weiter entfernte Ausland. Bis heute hat nur ein Bruchteil der nachwachsenden Generationen von Palästinensern in der Region eine andere Staatsbürgerschaft erhalten. Infolgedessen ist die Mehrheit der inzwischen rund acht Millionen Palästinenser im Nahen Osten bis in die dritte oder vierte Generation staatenlos.

Wo leben sie heute?

Nach Angaben des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge UNRWA leben die meisten Palästinenser in der Region immer noch in Flüchtlingslagern. Diese haben sich im Laufe der Zeit zu Flüchtlingsstädten entwickelt. Nachkommen palästinensischer Flüchtlinge leben heute hauptsächlich im Gazastreifen, im besetzten Westjordanland, im Libanon, in Syrien, Jordanien und in Ostjerusalem.

Die internationale palästinensische Diaspora außerhalb der Region des Nahen Ostens ist Schätzungen zufolge inzwischen auf rund 7,4 Millionen Menschen angewachsen. Falls dies zutrifft, betrüge die Gesamtzahl der Palästinenser insgesamt heute rund 15 Millionen Menschen. Es gibt jedoch keine offizielle Stelle, die die Zahl von Palästinensern in der Diaspora verlässlich erfasst.

Gibt es ein Recht auf Rückkehr?

Gemäß der Resolution 194 der UN-Generalversammlung aus dem Jahr 1948 sowie der UN-Resolution 3236 aus dem Jahr 1974 und der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention) haben Palästinenser, die als palästinensische Flüchtlinge gelten, ein "Recht auf Rückkehr".
Israel lehnt ein Recht auf Rückkehr für Palästinenser und ihre Nachkommen hingegen ab - mit der Begründung, dies bedeute das Ende der Identität Israels als jüdischer Staat. Israel lehnt zudem eine Verantwortung für Flucht oder Vertreibung der Palästinenser ab und verweist darauf, dass zwischen 1948 und 1972 rund 800.000 Juden aus arabischen Ländern wie Marokko, Irak, Ägypten, Tunesien und dem Jemen vertrieben wurden oder fliehen mussten.

Warum haben so viele den Eindruck, dass die Geschichte sich wiederholt?

In den vergangenen 77 Jahren gab es verschiedene Ansätze zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Der wichtigste ist nach wie vor die Zweistaatenlösung, die einen künftigen Staat Palästina neben dem israelischen Staat vorsieht und Jerusalem in zwei Hauptstädte teilen würde. Allerdings gibt es auf beiden Seiten massiven Zweifel daran, dass diese Option noch realistisch ist. Kritiker verweisen in diesem Zusammenhang unter anderem auf die wachsende Zahl jüdischer Siedlungen im besetzten Westjordanland, die ein zusammenhängendes palästinensisches Gebiet als Grundlage eines künftigen Staats unmöglich machen könnten.

Nach Angaben der UN sind mindestens 1,9 Millionen Menschen - oder etwa 90 Prozent der Bevölkerung - im gesamten Gaza-Streifen seit Beginn des jüngsten Krieges vertrieben worden. Viele wurden mehrfach vertrieben, manche zehn Mal oder öfter. Seit den jüngsten Vertreibungsbefehlen sind noch mehr Menschen gezwungen, auf der Suche nach Sicherheit zu fliehen.

Im Zuge des Krieges zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen, der durch die Terrorangriffe der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ausgelöst wurde, hat die israelische Regierung erneut wiederholt eine Zwei-Staaten-Lösung ausgeschlossen.

Stattdessen hat sich Israel für Pläne ausgesprochen, die den Gaza-Streifen unter israelische Kontrolle stellen und die dort lebenden Palästinenser gewaltsam vertreiben würden. Die UN haben diese Pläne als "ethnische Säuberung" bezeichnet. So haben viele Palästinenser das Gefühl, die Geschichte der "Nakba" wiederhole sich.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Dieser Artikel wurde erstmals am 15. Mai 2023 veröffentlicht und zuletzt am 14. Mai 2025 um neuere Zahlen aktualisiert.

Item URL https://www.dw.com/de/die-palästinenser-und-israel-was-ist-die-nakba-und-warum-ist-sie-so-bedeutsam/a-72539450?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/67368693_302.jpg
Image caption Der Schlüssel gilt den Palästinensern als Symbol ihrer Rückkehr in die Heimat
Image source Nasser Nasser/AP Photo/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/67368693_302.jpg&title=Die%20Pal%C3%A4stinenser%20und%20Israel%3A%20Was%20ist%20die%20Nakba%2C%20und%20warum%20ist%20sie%20so%20bedeutsam%3F

Item 25
Id 72539197
Date 2025-05-14
Title Kanye West: Nazi-Symbole und die Macht der Plattformen
Short title Kanye West provoziert mit Nazi-Inhalten
Teaser Kanye West sorgt mit Nazi-Referenzen in seinem neuen Song für Empörung. Warum das Video in Deutschland verboten ist, in den USA aber nicht – und was das über Social Media und Meinungsfreiheit verrät.
Short teaser Kanye West sorgt mit Nazi-Referenzen in seinem neuen Song für Empörung.
Full text

Obwohl Kanye West - inzwischen nennt er sich Ye - auf den meisten Social-Media-Plattformen gesperrt ist, geht sein neuer, provokanter Song auf Elon Musks Plattform X (ehemals Twitter) gerade durch die Decke. Das Video hat dort bereits Millionen Aufrufe.

Der Track sorgt für Aufregung, weil er unter anderem den Nazi-Gruß "Heil Hitler" aufgreift. Auf dem Cover ist ein Hakenkreuz abgebildet, und am Ende des Songs hört man Hitlers Stimme mit Auszügen aus einer seiner Reden.

Yes Account war in der Vergangenheit schon öfter wegen antisemitischer Aussagen von X gesperrt worden. Auch Adidas hat die Zusammenarbeit mit seiner Modemarke Yeezy beendet, nachdem er mehrfach mit antisemitischen Äußerungen aufgefallen war.

Kurz nach Veröffentlichung des Songs haben Plattformen wie Spotify, YouTube und SoundCloud das Lied wegen seines Inhalts gesperrt. Obwohl Ye das Video offenbar nicht selbst auf anderen Seiten hochgeladen hat, ist es trotzdem millionenfach auf Facebook, Instagram, Reddit und Co. geteilt worden.

Das Ganze zeigt: Große Tech-Unternehmen haben entweder nicht genug Macht - oder nicht genug Interesse - solche Inhalte schnell und wirksam zu entfernen. Sind sie erst einmal online, können sie sich schnell weiterverbreiten.

In Deutschland ist Yes Video nicht direkt auf seinem X-Profil sichtbar - zumindest nicht, wenn man sich aus Deutschland einloggt. Wer aber per VPN seinen Standort auf die USA ändert, kann sie weiterhin sehen.

Nazisymbole sind in Deutschland verboten

Der Spruch "Heil Hitler" war im Dritten Reich, zur Zeit des Hitler-Regimes, der offizielle "deutsche" Gruß. Die dazugehörige Geste - rechter Arm gerade nach vorne, Handfläche nach unten - soll ursprünglich aus dem alten Rom stammen. In den 1920ern wurde sie dann von Mussolini übernommen, dem faschistischen Diktator Italiens.

Später machte Hitler den Gruß zum Markenzeichen der NSDAP, der Partei, die Deutschland von 1933 bis 1945 regierte.

Nach dem Krieg beschlossen die Behörden in Westdeutschland, solche Gesten und Symbole zu verbieten - als Teil der Aufarbeitung der Nazi-Zeit und des Holocausts, bei dem Millionen Menschen ermordet wurden.

Heute ist in Deutschland das öffentliche Zeigen oder Verbreiten von Nazi-Symbolen wie dem Hitlergruß oder Parolen aus der Zeit des Nationalsozialismus strafbar. Paragraf 86a des Strafgesetzbuchs richtet sich gegen jegliche Zeichen "verfassungswidriger Organisationen". Darunter fallen zum Beispiel Hakenkreuze, SS-Runen, der Hitlergruß und ähnliche Nazi-Slogans. Wer dagegen verstößt, muss mit bis zu drei Jahren Haft oder einer Geldstrafe rechnen.

Auch das Leugnen des Holocaust ist in Deutschland verboten - wie auch in vielen anderen Ländern Europas, sowie in Kanada und Israel. Auch 80 Jahre nach Kriegsende bleibt so der Umgang mit Nazi-Inhalten streng geregelt.

In den USA zählen Nazi-Symbole zur Meinungsfreiheit

Um dem Erstarken rechter Gruppierungen und dem wachsenden Antisemitismus entgegenzuwirken, haben auch weitere Länder Hass-Symbole verboten - einige sogar erst vor Kurzem. In Australien etwa wurden nach einer Reihe von antisemitischen Vorfällen im Februar neue Gesetze gegen Hassverbrechen beschlossen. Für das Zeigen des Hitlergrußes droht dort nun eine Haftstrafe von bis zu zwölf Monaten.

In den USA sieht das ganz anders aus: Dort schützt die Verfassung die Meinungsfreiheit sehr stark - und dazu zählt auch Hassrede.

Auch wenn der Hitlergruß eine der am meisten tabuisierten Gesten der westlichen Welt ist, ist es in den USA nicht illegal, ihn zu zeigen oder ein Hakenkreuz zu tragen.

Seit dem Zweiten Weltkrieg wird der Gruß immer wieder von Neonazis und weißen Nationalisten verwendet. 2016 ging zum Beispiel ein Video viral, in dem eine rechtsextreme Gruppe den Wahlsieg von Donald Trump feierte - mit erhobenen rechten Armen.

Elon Musks umstrittene Geste

Im Januar geriet auch Elon Musk in die Kritik, weil er bei Donald Trumps Amtseinführung eine Bewegung machte, die stark an den Hitlergruß erinnerte. Musk, der offen Sympathien für die rechtspopulistische deutsche Partei AfD zeigt, wurde von vielen beschuldigt, die Geste absichtlich gemacht zu haben, was er bestritt - andere meinten, es sei ein Versehen gewesen.

Als Reaktion darauf stellten die Aktivistengruppen "Led by Donkeys" und das "Zentrum für politische Schönheit" Fotos ins Netz, auf denen ein großes Bild an der Wand der Tesla-Fabrik bei Berlin zu sehen war: Musk in eben dieser Pose, daneben der Schriftzug "Heil Tesla". Die Aktion sollte zeigen: Wenn deutsche Behörden das wirklich als Hitlergruß werten, müsste Musk sich laut deutschem Strafrecht strafbar gemacht haben.

Musk steht ohnehin wegen antisemitischer Äußerungen in der Kritik. 2023 antwortete er auf X einem Nutzer, der behauptete, Jüdinnen und Juden würden Weiße hassen - eine gängige Verschwörungserzählung unter Rechtsextremen. Musks Antwort: "Du hast die Wahrheit gesagt."

Tech-Konzerne tun sich schwer mit Regulierung

Das neue Kanye-West-Video und der hektische Versuch, es überall wieder offline zu nehmen, haben erneut die Richtlinien großer Tech-Firmen bezüglich sensibler Inhalte in den Fokus gerückt - vor allem der Plattformen, die zu Meta gehören, darunter Facebook, Instagram, Threads oder WhatsApp.

Angesichts des Videos startete die Anti-Defamation League (ADL), eine US-Organisation, die sich weltweit gegen Antisemitismus, Hass und Diskriminierung einsetzt, eine Petition. Darin fordern sie Facebook und Instagram auf, ihre Schutzrichtlinien gegen Desinformation und Hassrede wieder einzuführen - die sind nämlich Anfang des Jahres stark abgeschwächt worden.

Meta hatte im Januar bekannt gegeben, dass sie keine Faktenchecker mehr einsetzen wollen. Auch die Regeln gegen Hassrede und Missbrauch wurden gelockert - mit dem Verweis auf die "jüngsten Wahlen", was offenbar auf Donald Trumps Wahlerfolg anspielt.

Trotzdem würde Yes Hitler-Botschaft laut Metas eigener Richtlinie eigentlich gegen die Regeln verstoßen - dort heißt es nämlich, man verbiete "schädliche Stereotype, die historisch mit Einschüchterung verbunden sind", darunter Blackfacing und das Leugnen des Holocaust.

Jedoch: Während Spotify, YouTube oder SoundCloud schnell reagierten und das Lied von Kanye West sperrten, bleiben andere Plattformen - besonders X - ein Rückzugsort für problematische Inhalte.

Der Fall zeigt, dass es global kein einheitliches System gibt, wie man mit Hass und Hetze im Netz umgeht. Und er wirft die Frage auf, wie viel Verantwortung Tech-Firmen übernehmen müssen.

Adaption aus dem Englischen: Silke Wünsch

Item URL https://www.dw.com/de/kanye-west-nazi-symbole-und-die-macht-der-plattformen/a-72539197?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/63961594_302.jpg
Image source Jonathan Brady/PA Wire/empics/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/63961594_302.jpg&title=Kanye%20West%3A%20Nazi-Symbole%20und%20die%20Macht%20der%20Plattformen

Item 26
Id 72529773
Date 2025-05-14
Title Geheimtipp aus Deutschland: Mascha Schilinski in Cannes
Short title Mascha Schilinski bei den Filmfestspielen von Cannes
Teaser Nach neun Jahren Pause hat es wieder eine deutsche Regisseurin in den Wettbewerb von Cannes geschafft: Mascha Schilinski zeigt ihren Film "In die Sonne schauen". Nicht nur sie ist überrascht.
Short teaser Die Berliner Filmemacherin zeigt im Wettbewerb "In die Sonne schauen".
Full text

"Ich bin sehr aufgeregt", verrät die 41-jährige Regisseurin und Drehbuchautorin im Interview des RBB, "ich freue mich wahnsinnig, aber die Aufregung überwiegt." Natürlich habe sie sich gewünscht, dass "In die Sonne schauen" auf einem großen Festival läuft. Der Film habe es schließlich verdient. "Aber gerechnet habe ich nicht wirklich damit. Das ist ein Filmemachertraum!"

In Erfüllung geht dieser Traum nun bei den 78. Internationalen Filmfestspielen von Cannes (bis 25. Mai). Hier sind deutsche Filmemacher, wie die Süddeutsche Zeitung süffisant bemerkt, "manchmal schwerer zu finden als ein vernünftiges Mittagessen unter 20 Euro." Doch diesmal trifft man sie an, wenn auch anders als gedacht.

Bekannte Regisseure wie Fatih Akin ("Amrum") und Christian Petzold ("Miroirs No. 3") stellen an der Croisette ihre neuen Filme vor, doch lediglich in Nebenreihen und nicht im Hauptwettbewerb. Im Rennen um die Goldene Palme steht, neben Autorenfilmstars wie Wes Anderson oder Kelly Reichardt, nur eine deutsche Filmkünstlerin - nämlich Mascha Schilinski. Zuletzt war das 2016 Maren Ade mit ihrem Film "Toni Erdmann" gelungen.

Ein Vier-Generationen-Porträt

Worum geht es in "In die Sonne schauen"? Der Film lenkt unseren Blick auf einen alten Vierseitenhof in einem kleinen Dorf der ostdeutschen Altmark. Dort leben beziehungsweise lebten früher vier Frauen, deren Geschichten das Filmdrama durch Zeitsprünge miteinander verwebt. So geschickt, dass im Laufe der Handlung die Grenzen zwischen den Figuren verschwimmen. Aus einem Vier-Generationen-Portrait entsteht ein Jahrhundertbild.

"Wenn wir durch die Räume des Hofes gegangen sind, haben wir die Jahrhunderte gespürt", erzählt Mascha Schilinski, "da kam eine ganz alte Kindheitsfrage von mir auf". Schon als kleines Mädchen, das in einer Berliner Altbauwohnung groß wurde, habe sie sie immer gefragt: "Was ist in diesen Wänden wohl alles schon passiert, wer genau saß schon mal an dieser Stelle, an der ich jetzt sitze? Was für Schicksale sind hier passiert? Was haben die Menschen hier schon alles erlebt und gefühlt?" Viele stellen sich solche Fragen, doch die Wenigsten machen einen Film daraus.

Der weibliche Blick im Film

Bei Mascha Schilinski kommt hinzu, dass sie, wie schon in ihrem Debutfilm "Die Tochter" (2017), einem Psychodrama über eine komplizierte Eltern-Beziehung, nun erneut auf einen weiblichen Blick abhebt. Dieser weibliche Blick sei ihr und auch ihrer Ko-Autorin Louise Peter sehr wichtig, sagt Mascha Schilinski, weil er viel zu selten vorkomme. "In die Sonne schauen" erzählt die Geschehnisse denn auch aus Sicht von Frauen. "Es geht im Film viel um Blicke, welchen Blicken Frauen über ein Jahrhundert hinweg ausgesetzt sind, wie es sich heute anfühlt und auch wie sich das weiterträgt, in die Körper einbrennt."

Mascha Schilinskis Weg zum Film klingt wie vorgezeichnet: Sie ist die Tochter einer Filmemacherin, die sie schon als Kind zu Drehorten und Filmsets begleitet. Während ihrer Schulzeit schauspielert sie in Fernseh- und Kinofilmen. Danach arbeitet sie als Casterin, absolviert Praktika in der Filmindustrie, reist durch Europa und arbeitet als Zauberin und Feuertänzerin für einen kleinen Wanderzirkus. Nach einer Autorenausbildung an der Filmschule Hamburg lässt sie sich als freie Autorin für Serien und Filme in Berlin nieder.

Schon ihr Erstlingsfilm "Die Tochter", der auf der Berlinale 2017 lief, brachte Mascha Schilinski viel Aufmerksamkeit. Die Nominierung für Cannes dürfte ihrer Karriere erst recht einen gehörigen Schub verleihen. Als die Einladung aus Cannes kam, habe sie es gar nicht glauben können. "Ich musste erstmal nachlesen, ob 'Official Selection' irgendeine Nebenreihe ist oder wirklich der Wettbewerb", erzählt Mascha Schilinski. "Wir haben den Film bei allen drei A-Festivals eingereicht. Also in Berlin, Venedig und Cannes. Wir wussten noch nicht mal, ob die jeweiligen Auswahlselektionen den Film überhaupt angucken. Niemand kennt uns." Doch kurz vor Weihnachten sei die Nachricht gekommen, darin stand: "Herzlichen Glückwunsch, Ihr seid im Wettbewerb von Cannes!"

Item URL https://www.dw.com/de/geheimtipp-aus-deutschland-mascha-schilinski-in-cannes/a-72529773?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72530649_302.jpg
Image caption Die Berliner Regisseurin und Drehbuchautorin Mascha Schilinksi hat es in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes geschafft
Image source Fabian Gamper
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72530649_302.jpg&title=Geheimtipp%20aus%20Deutschland%3A%20Mascha%20Schilinski%20in%20Cannes

Item 27
Id 72521498
Date 2025-05-14
Title Weltraum: Neue deutsche Raumkapsel startet für die Forschung
Short title Weltraum: Neue deutsche Raumkapsel startet für die Forschung
Teaser Sie heißt Nyx, wie die griechische Göttin der Nacht. Der erste Auftrag für Deutschlands erstes Raumschiff: wissenschaftliche Experimente in der Schwerelosigkeit, vor allem mit Schimmelsporen.
Short teaser Sie heißt Nyx, wie die griechische Göttin der Nacht. Erster Auftrag: Versuche in der Schwerelosigkeit - mit Schimmel.
Full text

"Mission possible" (Mission möglich) - diesen hoffnungsvollen Namen hat die deutsche Entwicklerfirma, The Exploration Company (TEC), dem Jungfernflug ihres Raumschiffs gegeben. Voraussichtlich Anfang Juni 2025 wird eine Demo-Variante in den Weltraum geschossen.

"Die Kapsel wird an Bord einer SpaceX-Rakete vom Typ Falcon 9 von der Vandenberg Space Force Base in Kalifornien starten. Die Rakete bringt die Kapsel bis zum gewünschten Orbit, wo sie sie entlässt", erklärt Catharina Carstens vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Carstens ist dort zuständig für Forschung unter Weltraumbedingungen.

Der kleine unbemannte Nyx-Raumtransporter hat gerade einmal einen Durchmesser von 2,5 Metern. An Bord: Material für wissenschaftliche Experimente. 160 Kilogramm wiegt die Fracht, die das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) durch "Nyx" in den Orbit bringen lässt. Auf dem Testflug soll erforscht werden, wie sich Schimmelpilzsporen unter Weltraumbedingungen, also etwa der Strahlung, verhalten.

Schimmel ist in der Raumfahrt ein echtes Problem

Schimmelpilze wurden bereits auf der Internationalen Raumstation ISS und der russischen Raumstation Mir gefunden. In den abgeschlossenen Systemen von Raumstationen oder Raumschiffen ist Schimmelbefall ein echtes Problem. Schließlich kann man im Weltraum nicht lüften, die Sporen bleiben also vor Ort und können sich munter vermehren. Desinfektionsmittel helfen kaum, ebenso wenig scheint die Strahlung sie zu stören. Diese lässt die Pilze möglicherweise sogar noch besser wachsen.

Bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem kann Schimmel Allergien und Krankheiten hervorrufen. Und Schimmel sorgt dafür, dass Lebensmittel verderben - ein weiteres Problem, wenn man nicht mal eben neu einkaufen gehen kann.

Durch die Experimente auf dem ersten Nyx-Flug erhoffen sich die Forschenden neue Erkenntnisse, wie sich das Wachstum von Schimmelpilzen in der Raumfahrt verhindern oder eindämmen lässt.

"Nyx": deutscher Hin-und-Rück-Service für die ISS

Ab 2028 soll dann eine größere Nyx-Version für die Europäische Weltraumorganisation ESA​​​​​​​ die Internationale Raumstation ISS versorgen. "Nyx Earth" soll einen Durchmesser von vier Metern haben und deutlich mehr Ladung transportieren können: vier Tonnen hin und drei Tonnen wieder zurück zur Erde.

Denn die Raumkapseln des deutsch-französischen Start-Ups TEC sind so gebaut, dass sie die große Hitze überstehen, die beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre entsteht - bis zu 2100 Grad Celsius. Anschließend werden die Kapseln laut TEC eingesammelt und für neue Missionen im All wiederaufbereitet. So entsteht weniger Müll im Weltraum.

Damit wäre TEC die einzige Firma in Europa, die künftig solche Flüge anbietet. Derzeit bringen russische Progress- und US-amerikanische Cygnus-Transportraumschiffe (Orbital Sciences) Material auf die ISS. Sie sind allerdings nicht wieder verwendbar. Beladen mit Abfällen der Raumstation verglühen sie beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre. Hin- und Rücktransporte werden aktuell nur vom US-amerikanischen Raumtransporter Dragon (SpaceX) durchgeführt.

Deutschland will Grundlagenforschung im Weltraum fördern

Auf den Transportflügen von "Nyx" zur ISS sollen gleichzeitig wissenschaftliche Experimente durchgeführt werden. Die Forschung habe großen Bedarf an Experimenten in der Schwerelosigkeit, so das DLR.

"Mit den Flügen auf der deutschen Nyx-Kapsel eröffnen wir der Wissenschaft die Möglichkeit, auf einer neuen Plattform ihre Forschung unter Weltraumbedingungen vorantreiben zu können", erklärt Walther Pelzer, Generaldirektor der Deutschen Raumfahrtagentur im DLR. Vorteilhaft sei, dass "Nyx" schwere und voluminöse Ladung transportieren könne.

Die Nutzung der Nyx-Kapseln wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz gefördert. Damit will Deutschland laut DLR die Forschung unter Weltraumbedingungen in den Bereichen Biologie, Medizin, Humanphysiologie, Physik und Materialforschung voranbringen. So könnten etwa Experimente für die Entwicklung von neuen Navigationssystemen durchgeführt werden. Geplant seien außerdem zellbiologische Experimente zu grundlegenden Fragestellungen aus der Krebs- und Alternsforschung.

Quellen:

https://www.dlr.de/de/aktuelles/nachrichten/2025/neue-moeglichkeiten-fuer-die-weltraumforschung

https://elib.dlr.de/129880/

Item URL https://www.dw.com/de/weltraum-neue-deutsche-raumkapsel-startet-für-die-forschung/a-72521498?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72522099_302.jpg
Image caption So sieht sie aus - zumindest im Modell: die neue deutsche Nyx-Raumkapsel
Image source Matthias Balk/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/md/md20230627_spacetrash_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/72522099_302.jpg&title=Weltraum%3A%20Neue%20deutsche%20Raumkapsel%20startet%20f%C3%BCr%20die%20Forschung

Item 28
Id 72528568
Date 2025-05-14
Title Wie deutsche Autobauer mit Trumps Zöllen umgehen
Short title Wie deutsche Autobauer mit Trumps Zöllen umgehen
Teaser Donald Trumps Zölle haben die deutsche Automobilbranche stark verunsichert. Kurzfristig versuchen Unternehmen noch viele Autos in die USA zu liefern, bevor die Zölle greifen. Doch die Unsicherheit erschwert die Planung.
Short teaser Donald Trumps Zölle haben die deutsche Automobilbranche stark verunsichert. Die Unsicherheit erschwert die Planung.
Full text

Seitdem Donald Trump wieder als US-Präsident ins Weiße Haus eingezogen ist, hält er die Welt in Atem. Nur ein Teil seiner Agenda sind dabei seine Zollpläne. Doch allein die haben bereits zu Milliardenverlusten durch Börsencrashs geführt und sie bedrohen den globalen Handel in seinen Grundfesten. Das trifft gerade das exportabhängige Deutschland und besonders seine Automobilindustrie.

Zwar zeigt eine Studie der Commerzbank, die die Nachrichtenagentur Reuters zitiert, dass Deutschland nicht einmal die meisten Autos auf dem nordamerikanischen Markt bring. Mexiko, Japan, Südkorea und Kanada liefern noch mehr fertige Autos in die USA. Laut Statistischen Bundesamt hat Deutschland 2024 rund 3,4 Millionen Pkw exportiert. Und das größtes Abnehmerland waren eben die USA.

Daher beträfen die Zölle für Autos das "wichtigste Exportgut Deutschlands", so Ifo-Präsident Clemens Fuest laut Reuters. "Das ist für sich genommen eine große Belastung für die deutsche Wirtschaft."

"Export auf Vorrat"

Seit dem "Liberation Day", wie Donald Trump den Tag der Veröffentlichung seiner Zollpläne nennt, ist ein merkwürdiger Trend zu beobachten: Es werden gerade mehr Autos für die USA produziert und ausgeliefert als zuvor. Für den Autoexperten Ferdinand Dudenhöffer, Direktor des privatwirtschaftlichen Instituts Center Automotive Research in Bochum, ist das ein "Export auf Vorrat".

Die Autohersteller wollten ihre Lager in den USA "aufstocken", sagt er im DW-Gespräch. Sie wollten noch so viele Fahrzeuge wie möglich ohne die angedrohten hohen Zölle einführen. Aus diesem Grund käme es "kurzfristig zu einer antizyklischen Produktion".

Das sieht auch Stefan Bratzel so. Die Autohersteller hätten noch "möglichst viele Fahrzeuge in die USA geschafft, bevor die Zölle wirksam wurden". Der DW sagte der Direktor des Center of Automotive Management (CAM) weiter: "Am Ende werden die Preise erhöht werden müssen. Grundsätzlich wird die Nachfrage in den USA sinken - und in der Folge Umsatz und Gewinn."

Hoffnung in London

Was Politiker und Ökonomen am meisten fürchten, ist die Unberechenbarkeit der Trumpschen Politik. Will man es aber positiv sehen, könnte man auch von "Flexibilität" reden, wie die unerwartete Verständigung Washingtons mit Peking zeigt. Oder wie es das Beispiel von Großbritannien nahelegt.

Zwischen Washington und London sei, so berichtet die BBC, eine vorläufige Einigung auf bilaterale Autozölle verhandelt worden. Demnach würde der Zollsatz für maximal 100.000 britische Autos auf zehn Prozent gesenkt. Das entspricht mehr oder weniger genau der Anzahl der Autos, die Großbritannien im vergangenen Jahr exportierte. Für alle über diese Quote hinaus exportierten Autos wird jedoch eine Einfuhrsteuer von 27,5 Prozent erhoben.

Ganz schön kompliziert, aber Trump versprach außerdem, dass Rolls-Royce-Motoren und Flugzeugteile zollfrei aus Großbritannien in die USA exportiert werden können. Das jedoch, so die BBC, sei noch nicht in Stein gemeißelt, denn es fehle an der Zustimmung des Kongresses. Der US-Präsident könne keine über einen langen Zeitraum geltenden Handelsabkommen im Alleingang abschließen.

Unsicherheit als Gift für die Wirtschaft

Die Trumpsche Wirtschaftspolitik ist ein stetes Hüh und Hott: Heute Zolldrohung, morgen ein Moratorium. Kann man so überhaupt arbeiten? Nein, meinen alle von der DW befragten Experten: "Flexibilität ist Trumpf, insbesondere bei Trump", bemerkt Stefan Bratzel. Allerdings sei sie "Gift für Hersteller und Zulieferer, die langfristig investieren und Lieferketten organisieren müssen".

Dirk Dohse vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel sieht in der Unsicherheit ein großes Problem für Europas Autobauer. Die kämpften zudem noch mit anderen Herausforderungen. Generell hohe Produktionskosten und ein Mangel "an attraktiven Modellen, gerade im Bereich der Elektromobilität" bedeuteten auch einen "Verlust an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der chinesischen Konkurrenz".

Um hohen Zöllen langfristig entgehen zu können, wollten einige deutsche Autobauer Produktion in die USA verlagern. "Audi überlegt gar ein Werk dort zu errichten. Perspektivisch könnte auch ein gemeinsames Audi-Porsche-Werk in den USA interessant werden", so Dohse gegenüber der DW.

Das Konzept der "Arbeitsteilung"

Doch Investitionen in den USA sind bestimmt nicht der Königsweg aus der Zollfalle, denn um in Amerika Autos zu bauen, ist man auf importierte Teile angewiesen. Das gilt auch für US-Firmen. Viele Teile "amerikanischer" Autos stammen aus anderen Ländern. Ist dieses Konzept industrieller "Arbeitsteilung" in den USA noch nicht erkannt worden? Oder ist das der Politik egal?

"Trump hat das Konzept und die Vorzüge der internationalen Arbeitsteilung nicht wirklich verstanden", glaubt Stefan Bratzel. Die Konsequenz: "Am Ende könnte die America-First-Parole den Wohlstand der USA empfindlichen Schaden zufügen."

Dirk Dohses Eindruck ist, "dass die Zölle und ihre vielfältigen Auswirkungen nicht wirklich gut durchdacht sind. Darauf deuten auch das ständige Hin- und Her bei Trumps Ankündigungen und die nachträglichen Korrekturen bei bereits verkündeten Zöllen hin."

Bei Ferdinand Dudenhöffer löst der Gedanke, Donald Trump habe die globale Arbeitsteilung nicht verstanden, schon fast Empörung aus: "Das kennen doch alle!" Aber er habe den Eindruck, Donald Trump halte "sich für den klügsten Menschen der Welt. Und er macht die größten Fehler!"

Neue Märkte erschließen!

Angesichts der Verwerfungen, die die Trumpsche Wirtschaftspolitik nach sich zieht, müssen sich Deutschlands Autobauer Antworten einfallen lassen. Ferdinand Dudenhöffer rät erst mal zu Zurückhaltung: "Abwarten! Zunächst gar nicht reagieren!" Weil die Lage noch nie so unsicher gewesen sei, sollte man bei zukünftigen Investitionen lieber nach Asien schauen, so der Autoexperte.

"Die wichtigste Konsequenz ist eine stärkere räumliche Diversifizierung der Produktion", sagt entsprechend auch Dirk Dohse: "Die Unternehmen sollten ihre Produktion auf mehr Länder ausweiten, um unabhängiger von den Handelsbestimmungen einzelner Länder zu werden."

Stephan Bratzel zitiert das Prinzip des "Build where you sell", also dort zu produzieren, wo auch verkauft wird. Es sei bereits zu beobachten, "dass immer mehr Wertschöpfung in die Regionen verlagert wird, in denen die Fahrzeuge verkauft werden." Einen weiteren Vorschlag erwähnte Automobilanalyst Frank Schwope gegenüber DW: "Langfristig könnten die Autohersteller sich stärker Perspektivmärkten in Südostasien zuwenden, um die Abhängigkeit sowohl von China als auch von den USA zu verringern."

Item URL https://www.dw.com/de/wie-deutsche-autobauer-mit-trumps-zöllen-umgehen/a-72528568?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70662272_302.jpeg
Image caption Wird sich die Importflut ausländischer Autos durch US-Zölle verringern?
Image source Car Research Institute
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/vps/webvideos/DEU/2025/BUSI/BUSIDEU250417_CMS_Engineering_01SMW_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/70662272_302.jpeg&title=Wie%20deutsche%20Autobauer%20mit%20Trumps%20Z%C3%B6llen%20umgehen

Item 29
Id 72527904
Date 2025-05-13
Title ESC 2025: Politik, Skandale und Favoriten
Short title ESC 2025: Politik, Skandale und Favoriten
Teaser Trotz aller Bemühungen der Organisatoren ist auch der Eurovision Song Contest in Basel nicht frei von Politik. Ein Überblick über einen ungewöhnlichen Auftakt, Proteste gegen Israels Sängerin und umstrittene Songs.
Short teaser Trotz aller Bemühungen der Organisatoren ist auch der Eurovision Song Contest in Basel nicht frei von Politik.
Full text

Mit dem ersten Semifinale geht es beim Eurovision Song Contest ans Eingemachte. Über eine Woche haben die Künstler aus den 37 Teilnehmerländern auf der Bühne der St. Jakobshalle in Basel ihre Auftritte geprobt. Am letzten Sonntag vor dem Wettbewerb in der Schweiz trafen sich alle bei der offiziellen Eröffnungsfeier, die den festlichen und inklusiven Charakter des Wettbewerbs wiedergeben sollte. Doch ungetrübt blieb sie nicht.

Gestörter Auftakt des ESC

Diesmal hatten sich die Organisatoren etwas Besonderes ausgedacht. Statt die Künstlerinnen und Künstler im Beisein der akkreditierten Journalistenschar und ausgewählter Fans über einen türkisen ESC-Teppich laufen zu lassen, veranstalteten sie eine Parade durch die Innenstadt. Die Teilnehmenden präsentierten sich auf einem türkisen Laufsteg vor dem Rathaus, setzten sich dann in Oldtimer oder Retro-Trams und fuhren die fast 1,5 Kilometer lange Strecke über die Rheinbrücke zu den Messehallen - begleitet von Blaskapellen, Trachten- und Karnevalsvereinen und vorbei an rund 100.000 Zuschauern.

Am Straßenrand hielten die Menschen aber nicht nur die Flaggen der Teilnehmerländer oder die beim ESC üblichen Fahnen der LGBTQ+-Community hoch, sondern teilweise auch palästinensische Flaggen. Auf Plakaten wurde dem ESC Mittäterschaft am Völkermord vorgeworfen.

Grund für die Proteste ist die Teilnahme Israels. Die israelische Künstlerin Yuval Raphael wurde schon vor dem Rathaus ausgebuht. Es gab Drohgebärden und einen Versuch, die Tram, in der sie saß, zu stoppen. Zu größeren Zwischenfällen kam es aber nicht. Es blieb bei einigen Hundert Protestierenden - im Gegensatz zum letztjährigen ESC im schwedischen Malmö, wo Tausende mehrere Tage lang durch die Innenstadt zogen. Die damalige Vertreterin Israels, Eden Golan, bekam den Zorn anderer ESC-Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu spüren.

EBU greift ein und schweigt

Um zu verhindern, dass sich in diesem Jahr ähnliche Vorfälle beim ESC wiederholen, hat der Veranstalter, die Europäische Rundfunkunion (EBU), von Künstlern, Mitgliedern offizieller Delegationen und Journalisten verlangt, einen Verhaltenskodex zu unterzeichnen, der einen respektvollen Umgang miteinander sicherstellen soll. Einer der zentralen Punkte dieses Regelwerks ist das Verbot jeglicher politischer Äußerungen. "Der ESC respektiert die Meinungsfreiheit als Grundrecht. Die Teilnehmer behalten ihr Recht auf freie Meinungsäußerung außerhalb des Wettbewerbs", heißt es in dem Dokument.

Wegen der strikten Haltung der EBU wird im Artikel auf der offiziellen ESC-Website über Yuval Raphael offenbar mit keinem Wort ein wichtiges Schlüsselerlebnis im Leben der 24-Jährigen erwähnt. Die Sängerin überlebte den Terroranschlag der Hamas auf das Supernova-Festival am 7. Oktober 2023, weil sie mehrere Stunden unter den Leichen ermordeter junger Menschen lag.

Israels Militäroperation im Gazastreifen als Reaktion auf den Hamas-Angriff hatte beim ESC in Malmö Proteste ausgelöst. In diesem Jahr forderte der spanische Sender RTVE erstmals eine Debatte über die Teilnahme des israelischen Senders KAN am Wettbewerb [Nicht ein Land, sondern eine Rundfunkanstalt nimmt laut der offiziellen Regelung am ESC teil, Anmerkung. d. Red.]. Wenige Tage vor Beginn des ESC forderten mehr als 70 ehemalige Teilnehmer, Musiker und Songwriter, Israel auszuschließen. Sie warfen der EBU Doppelmoral vor, angesichts dessen, dass Russland nach dem Angriff auf die Ukraine im Jahr 2022 vom Wettbewerb ausgeschlossen wurde. Dieser Forderung schloss sich später auch der Sieger des letztjährigen ESC, der Schweizer Nemo, an.

Daraufhin erneuerte ESC-Direktor Martin Green seine Unterstützung für den israelischen Sender und betonte, es sei nicht Aufgabe der EBU, Konflikte zu vergleichen. Die EBU hatte den Ausschluss des russischen Ersten Kanals und des Senders Rossija vom ESC übrigens mit der Nichteinhaltung der Grundsätze öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten begründet.

Skandale und Favoriten

Verglichen mit dieser Debatte ist die Empörung des Vizepräsidenten des italienischen Senats, Gian Marco Centinaio, von der rechtspopulistischen Partei "Lega" über den estnischen Rapper Tommy Cash nichts weiter als ein Sturm im Wasserglas. Im Song "Espresso Macchiato" macht er sich über gängige Italien-Klischees und Italiener lustig. "Ich arbeite rund um die Uhr, also schwitze ich wie ein Mafioso" - dieser Satz störte Centinaio besonders und er forderte, den Esten vom Wettbewerb auszuschließen. Estland muss aber kaum mit Sanktionen rechnen.

Auch das für Schweden auftretende finnische Trio KAJ nimmt eine nationale Eigenart aufs Korn: im Song "Bara Bada Bastu" macht es sich über die Liebe der Finnen fürs Saunieren lustig. Bisher ist diese Folk-Pop-Komposition, fast schon im Genre eines Volksliedes, der absolute Favorit der Buchmacher. Damit könnte Schweden den achten Sieg in diesem Wettbewerb erringen - was Rekord wäre.

Erika Vikman, ebenfalls aus Finnland, singt auf Deutsch den brachial-eingängigen Schlager "Ich komme", womit sie ziemlich eindeutig auf den sexuellen Höhepunkt anspielt. Berichten zufolge forderten die ESC-Organisatoren von ihr, die Inszenierung, ihr Kostüm und die Choreografie etwas weniger erotisch zu gestalten. Ob sie sich daran hält?

Die 24-jährige Malteserin Miriana Conte hingegen musste den Titel ihres Songs im R&B-Stil ändern: Der ursprüngliche Titel "Kant", was auf maltesisch "Gesang" bedeutet, ist im Englischen eine vulgäre Bezeichnung für das weibliche Geschlechtsorgan - wenn auch anders geschrieben. "Serving Kant" sei geschmacklos für eine Familienshow, monierte die britische Rundfunkanstalt BBC. Und so heißt der Song jetzt nur noch "Serving" (dienen), das Wort "Kant" kommt nicht mehr vor.

Den Prognosen der Buchmacher zufolge können Miriana Conte, Erika Vikman und Tommy Cash eine Woche vor dem ESC-Finale ihre Plätze unter den Top Ten der Favoriten behaupten. Beste Erfolgschancen geben sie jedoch den Balladen "Maman" der Französin Louane und "New Day Will Rise" der Israelin Yuval Raphael und natürlich dem Countertenor JJ, der Österreich mit der Pop-Arie "Wasted love" vertritt.

ESC-Trends in Basel

Deutschland hofft auf einen Erfolg der Elektro-Pop-Komposition "Baller" des Duos Abor & Tynna; das sind die Geschwister Attila und Tünde Bornemisza aus Wien. Diesmal liegt Deutschland voll im Trend des aktuellen ESC: Für Schweden treten Finnen an, für Irland eine Norwegerin, für Tschechien ein Slowake und für San Marino ein Italiener - und das mit dem Titel "Tutta l'Italia" ("Ganz Italien").

Eine weitere Besonderheit des diesjährigen Wettbewerbs ist die Anzahl der Lieder, die gar nicht oder nur teilweise auf Englisch vorgetragen werden - mehr als die Hälfte der insgesamt 37 Songs kommen in anderen Sprachen daher. Der Sieger oder die Siegerin wird anhand der Ergebnisse des ersten und zweiten Halbfinales am 13. bzw. 15. Mai sowie beim Finale am Samstag, dem 17. Mai, ermittelt.

Item URL https://www.dw.com/de/esc-2025-politik-skandale-und-favoriten/a-72527904?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71823579_302.jpg
Image source SOPA Images/Sipa USA/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/71823579_302.jpg&title=ESC%202025%3A%20Politik%2C%20Skandale%20und%20Favoriten

Item 30
Id 72519475
Date 2025-05-13
Title Trumps Zollchaos - China positioniert sich in Lateinamerika
Short title Trumps Zollchaos - China positioniert sich in Lateinamerika
Teaser Während die USA unter Donald Trump auch ihre südlichen Nachbarn mit Zöllen überziehen, wächst in Südamerika der Wunsch nach einer stärkeren Zusammenarbeit mit China.
Short teaser Während die USA unter Trump auch ihre südlichen Nachbarn mit Zöllen überziehen, wird China in Südamerika präsenter.
Full text

Brasilien plant eine Eisenbahnverbindung zum neuen peruanischen Großhafen Chancay, den China finanziert hat. Damit will das Land seine Exporte und Importe langfristig neu ordnen und die Warenströme absichern. Das brasilianische Wirtschaftsmagazin Valor prognostiziert, dass das chinesische Interesse an Investitionen in Brasilien wieder wachse. Kolumbien denkt nach Medienberichten zumindest darüber nach, dem sogenannten chinesischen Seidenstraßenprojekt beizutreten und Venezuela strebt eine engere Kooperation mit chinesischen Ölkonzernen an.

Solche Meldungen aus den letzten Tagen deuten darauf hin, dass die von US Präsident Donald Trump verhängten Strafzölle gegen lateinamerikanische Länder dafür sorgen, dass sich die Region eher weiter an China annähert, als sich von Peking zu lösen.

China verfolgt langfristigere Ziele

Derzeit sorgt der Handelskonflikt vor allem für Ungewissheiten: "Das Wichtigste vor allem für Lateinamerika ist zu lernen, wie die neuen Spielregeln jetzt funktionieren. Was wir derzeit beobachten, ist eine Menge Unsicherheit, ständige Veränderungen und das Fehlen von klar definierten Spielregeln", sagt Vladimir Rouwinski von Research Center der Universität Icesi in Cali (Kolumbien) im Gespräch mit der Deutschen Welle. Praktisch jede Woche gibt es aus Washington neue Meldungen, Ankündigungen und Forderungen, die es für die andere Seite schwer macht, sich auf die ständig verändernde Lage einzustellen.

China dagegen scheint an seiner langfristigen Strategie festzuhalten. "China wird nicht darauf erpicht sein, seine Strategien einfach von einer Woche auf die andere zu ändern", meint Rouwinski. Peking sei eher dafür bekannt seine Pläne und Ziele langfristig zu verfolgen und umzusetzen. "Es besteht allerdings die Möglichkeit, dass China seine Präsenz ausbaut und Lateinamerika kurzfristig als Stützpfeiler nutzt", so Rouwinski.

China erscheint vertrauenswürdiger

Ähnlich sieht es Enrique Dussel-Peters, Koordinator des Zentrums Mexiko-China-Studien der Universität UNAM in Mexiko-Stadt: "China ist seit mehreren Jahrzehnten besonders aktiv in seiner Süd-Süd-Kooperationsstrategie. Der chinesische Außenminister Wang Yi betonte Anfang März die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen China und Lateinamerika: eine Beziehung, die auf gegenseitigem Respekt, Gleichheit und gegenseitigem Nutzen basiert. Der Kontrast zu den Exekutivverordnungen des US-Präsidenten seit seinem Amtsantritt im Januar könnte nicht größer sein."
Handel, Investitionen und Infrastrukturprojekte mit China hätten heute einen erheblichen Einfluss auf die Region Lateinamerika und die Karibik, so der Experte. "In der aktuellen Konfrontation zwischen den USA und China hat sich Peking als vertrauenswürdiger und langfristiger Partner erwiesen."

Lateinamerika - Problem oder Chance?

Es gebe zwischen der Betrachtungsweise der Region unterschiedliche Ansätze, sagt der brasilianische Politikwissenschaftler und China-Experte Mauricio Santoro gegenüber der DW: "Die US-Regierung betrachtet Lateinamerika als Problem. Die chinesische Regierung sieht dagegen eine Region mit wirtschaftlichen Chancen."

Dieses Muster habe nicht erst mit Trump begonnen, sondern tauche mindestens seit Beginn dieses Jahrhunderts immer wieder auf. "Die politische Agenda des derzeitigen US-Präsidenten hat jedoch verschiedene Spannungen mit Lateinamerika in Bereichen wie Handel, Migration und organisierte Kriminalität verschärft. Die Agenda Washingtons für die Region ist stark negativ geprägt, konzentriert sich auf Schwierigkeiten und hat wenig zu bieten in Bezug auf vorteilhafte Abkommen und Perspektiven für gegenseitigen Nutzen", sagt Santoro.

USA und China bleiben beides wichtige Handelspartner

Im Gegensatz dazu habe das rasante Wirtschaftswachstum Chinas in den letzten Jahrzehnten zu einem exponentiellen Anstieg seines Handels mit Lateinamerika geführt. Oft sind die Chinesen der größte oder zweitgrößte Handelspartner der Länder der Region. Mit Brasilien beispielsweise sei der Umfang des bilateralen Handels von 1 Milliarde US-Dollar im Jahr 2000 auf derzeit über 130 Milliarden US-Dollar gestiegen.
"Die lateinamerikanischen Länder wollen und können sich nicht zwischen den USA und China entscheiden", sagt Santoro, denn beide Länder seien für jeweiligen Wirtschaftsräume sehr wichtig. Derzeit sei jedoch ein Rückgang des amerikanischen Einflusses und ein Anstieg der chinesischen Präsenz in der Region zu beobachten. "Der Umgang mit dieser neuen Situation stellt für Washington eine größere Herausforderung dar, da die in der Vergangenheit eingesetzten Zwangsmittel zumindest für die größten und vielfältigsten Nationen der Region wie Brasilien, Mexiko und Argentinien nicht mehr funktionieren."

Lateinamerika: künftig wichtiger Absatzmarkt für China

Ähnlich sieht es der brasilianische Autor und Wirtschaftsjournalist Gilvan Bueno: "Chinas Exporte sind seit Beginn des Handelskrieges um mehr als 60 Prozent zurückgegangen", sagt Bueno im Gespräch mit der DW. "Lateinamerika wird ein Ziel der Chinesen sein, da sie neue Strategien und eine geopolitische Diversifizierung entwickeln müssen, um nicht so abhängig von der amerikanischen Wirtschaft zu sein."

Auf dieser Grundlage sei davon auszugehen, dass Afrika und Lateinamerika jene neuen Akteure sein könnten, um die eigene Produktion abzusetzen und den Rückgang der chinesischen Exporte um mehr als 60 Prozent aufzufangen.

Item URL https://www.dw.com/de/trumps-zollchaos-china-positioniert-sich-in-lateinamerika/a-72519475?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70785485_302.jpg
Image caption China hat den Megahafen Chancay in Peru finanziert
Image source Angela Ponce/REUTERS
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/70785485_302.jpg&title=Trumps%20Zollchaos%20-%20China%20positioniert%20sich%20in%20Lateinamerika

Item 31
Id 72516821
Date 2025-05-13
Title Cannes 2025: Film-Highlights im Schatten der US-Zollpolitik
Short title Cannes 2025: Film-Highlights im Schatten der US-Zollpolitik
Teaser Wes Anderson, Diane Kruger, Spike Lee: Dies sind nur einige der Größen, die zum wohl wichtigsten Filmfestival der Welt nach Frankreich kommen. Doch die Zukunft ist ungewiss - auch die der Filmbranche.
Short teaser Neben all dem Glanz in Frankreich steht auch die Frage im Raum: Wie geht es weiter für die Filmbranche?
Full text

Die 78. Filmfestspiele von Cannes (13. bis 24. Mai) sollten die spektakulärsten seit Jahren werden. Die Elite Hollywoods und des internationalen Films wird sich an der Côte d’Azur versammeln, um zwei Wochen lang das Kino zu feiern. Doch es gibt einen Haken.

Donald Trump als Spielverderber?

Die Ankündigung des US-Präsidenten Donald Trump vom 4. Mai, "Hollywood wieder groß machen" zu wollen, indem er hundertprozentige Zölle auf "im Ausland hergestellte Filme" erhebt und US-Studios bestraft, die ihre Filme im Ausland drehen, hat Filmemacher und Kinofans verunsichert und beunruhigt.

Was genau der US-Präsident damit bezwecken will, bleibt unklar. Der Schauspieler Jon Voight, einer von Trumps "Sonderbotschaftern" für die Unterhaltungsindustrie, hat einen Plan mit einer ganzen Reihe von Vorschlägen vorgestellt. Dazu gehören Steueranreize für Filme, die in den USA gedreht werden, ein neuer "Kulturtest", der den Filmen einen Beitrag zur amerikanischen Kultur abverlangen soll, aber auch Geldstrafen für Kino-Produktionen, die im Ausland gedreht werden.

Diese Vorhaben würden die Geschäfte der Filmindustrie stark beeinträchtigen; besonders die Produktion unabhängiger Filme könnte erschwert oder sogar unmöglich gemacht werden.

"Alle reden über Zölle, aber niemand weiß, was sie genau bedeuten werden, wie sie sich auf das Geschäft auswirken und ob es dadurch schwieriger wird, Filme zu produzieren", sagt Pia Patatian, Präsidentin von Cloud9 Studios, einer unabhängigen Produktionsfirma mit Sitz in den USA.

Hollywoods internationale Produktionen unter Druck

Viele der größten und am meisten erwarteten amerikanischen Filme, die in Cannes gezeigt werden, sind genau die Art von "im Ausland hergestellten" Filmproduktionen, gegen die Trump mit seiner Zolldrohung wettert.

Tom Cruise wird etwa mit "Mission: Impossible - Die Abrechnung" für Action auf der Festival-Promenade sorgen. Der achte und vermutlich letzte der Mission-Impossible-Filme wird in Cannes außer Konkurrenz laufen. Wie schon in den vorherigen Teilen rast Cruise als Agent Ethan Hunt durch diverse nicht amerikanische Großstädte dieser Welt, springt von nicht amerikanischen Klippen und klammert sich an das Fahrwerk nicht in den USA produzierter Propellerflugzeuge, während diese über nicht amerikanische Landschaften fliegen.

Wes Andersons "The Phoenician Scheme" ("Der phönizische Meisterstreich"), das neueste Werk des Regisseurs von "Rushmore" und "Grand Budapest Hotel", wurde im Studio Babelsberg vor den Toren Berlins gedreht. Der Film wartet mit einer für Anderson typischen Starbesetzung auf, darunter Benicio del Toro, Michael Cera, Scarlett Johansson, Tom Hanks und Jeffrey Wright.

"Nouvelle Vague", ein Blick auf die Entstehung von Jean-Luc Godards Klassiker "Atemlos" aus dem Jahr 1960, von der amerikanischen Indie-Film-Legende Richard Linklater ("Before Sunrise", "Boyhood"), wurde komplett in Paris gedreht und - quelle horreur! - auf Französisch!

"Eddington", der neue Film vom Großmeister des Genre-Kinos Ari Aster ("Hereditary", "Midsommar"), wurde zumindest in den USA gedreht. Aber der Handlungsstrang des Films aus der Covid-Ära, in dem ein Sheriff im MAGA-Stil (gespielt von Joaquin Phoenix), gegen den örtlichen Bürgermeister (gespielt von Pedro Pascal) antritt, könnte als Provokation gegen den aktuellen US-Präsidenten verstanden werden.

Cannes 2025: Raubüberfälle, Horror und bewährte Film-Duos

Wenn es dem Festival-Publikum jedoch gelingt, Trump für eine Weile zu vergessen, hat die 78. Ausgabe von Cannes viel zu bieten.

Das Programm des Spielfilmwettbewerbs 2025 ist vollgepackt mit Schwergewichten, die für ihren einzigartigen Stil bekannt sind.

Dazu gehört die US-amerikanische Indie-Regisseurin Kelly Reichardt, die mit "The Mastermind", einem Kunstraubdrama mit Josh O'Connor, Alana Haim und John Magaro in den Hauptrollen, das vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs spielt, in den Wettbewerb von Cannes zurückkehrt.

Der iranische Regisseur und Dissident Jafar Panahi, der endlich aus dem Gefängnis entlassen wurde und reisen kann, wird mit seinem neuesten Drama "Un Simple Accident" ("Ein einfacher Unfall") ebenfalls im Rennen sein.

Auch Julia Ducournau, die 2021 mit ihrem explosiven wie kontroversen Körperhorrorfilm "Titane" die Goldene Palme gewann, ist mit "Alpha" wieder im Wettbewerb von Cannes vertreten. Der Film spielt in den 1980er-Jahren und handelt von einem jungen Mädchen, das von ihren Mitschülern abgelehnt wird. Grund dafür ist das Gerücht, sie sei mit einer neuartigen Krankheit infiziert.

Deutschlands Anwärterin auf die Goldene Palme, Cannes Haupttrophäe, ist Mascha Schilinski, die ihren zweiten Spielfilm "In die Sonne schauen" ("Sound of Falling") im Wettbewerb vorstellt. Das Drama handelt von vier Frauen aus vier verschiedenen Epochen, deren Leben auf unheimliche Weise miteinander verwoben sind.

Außer Konkurrenz wird in Cannes der neue Film von Spike Lee zu sehen sein. Der Regisseur - der Donald Trump bekanntlich als "Agent Orange" bezeichnet - arbeitete wieder mit Denzel Washington zusammen, der die Hauptrolle in "Highest 2 Lowest" spielt. Der Krimi ist eine Neuinterpretation des japanischen Klassikers "Zwischen Himmel und Hölle" ("High and Low") von Akira Kurosawa aus dem Jahr 1963.

Ein weiteres berühmtes Team auf dem roten Teppich kommt aus Deutschland: Der Filmemacher Fatih Akin und die Schauspielerin Diane Kruger, die auf eine durchaus erfolgreiche Hollywood-Karriere zurückblicken kann. Beide kehren mit "Amrum", einem Drama aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, dessen Handlung auf der gleichnamigen friesischen Insel spielt, nach Cannes zurück. Ihre letztes gemeinsames Werk "Aus dem Nichts" ("In the Fade") feierte 2017 in Cannes Premiere und brachte Kruger den Preis für die beste Schauspielerin ein.

Mehrere berühmte Persönlichkeiten der Filmbranche haben sich auch hinter die Kamera gestellt, um Regie zu führen. Marvel-Star Scarlett Johansson wird in Cannes in der Sparte "Un Certain Regard" ihr Regiedebüt mit "Eleanor the Great" vorstellen. In der gleichen Sparte läuft "Urchin", ein britisches Sozialdrama unter der Regie von Harris Dickinson; er wurde als schüchternes, aber durchaus attraktives männliches Model in Ruben Östlunds "Triangle of Sadness" bekannt (der Film gewann 2022 die Goldene Palme).

Aktuelle wie auch weiter zurückliegende historische Ereignisse werden in Cannes auch in Nebenveranstaltungen beleuchtet.

In der unabhängigen Sparte "The Director's Fortnight", die parallel zum Festival stattfindet, wird unter anderem "Militantropos" gezeigt: ein Dokumentarfilm eines ukrainischen Regieteams, der die Auswirkungen des andauernden Krieges auf das Alltagsleben untersucht.

Cannes Premiere, eine Galasektion ohne Wettbewerb, zeigt "The Wave", ein spanischsprachiges Musical des chilenischen Regisseurs Sebastián Lelio. Der Film ist von den feministischen Protesten inspiriert, die 2018 in ganz Chile ausbrachen. In der Galasektion wird auch das "Das Verschwinden des Josef Mengele" ("The Disappearance of Josef Mengele") gezeigt. Der Film erzählt aus dem Leben des berüchtigten Lager-Arztes von Auschwitz (gespielt von August Diehl), der der Justiz entkam und 30 Jahre lange unerkannt in Südamerika lebte.

Es gibt in Cannes dieses Jahr also jede Menge Filme zu sehen, zu debattieren und zu diskutieren - auch ohne "Agent Orange" zu erwähnen.

Adaption aus dem Englischen: Anastassia Boutsko

Item URL https://www.dw.com/de/cannes-2025-film-highlights-im-schatten-der-us-zollpolitik/a-72516821?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72491244_302.jpg
Image caption Im Schein der Kameras: Der rote Teppich wird zur Bühne für Glamour, Eleganz - und große Filmkunst
Image source David Boyer/ABACA/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72491244_302.jpg&title=Cannes%202025%3A%20Film-Highlights%20im%20Schatten%20der%20US-Zollpolitik

Item 32
Id 72514956
Date 2025-05-12
Title Waffen statt Autos: Rüstungsindustrie in Tschechien boomt
Short title Waffen statt Autos: Rüstungsindustrie in Tschechien boomt
Teaser Die tschechische Waffenproduktion erlebt goldene Zeiten und gewinnt rapide an Bedeutung. Sie könnte als Motor der tschechischen Wirtschaft die Automobilindustrie ergänzen oder sogar ersetzen.
Short teaser Die Waffenindustrie in Tschechien erlebt goldene Zeiten und gewinnt rapide an Bedeutung.
Full text

In den letzten dreißig Jahren hat sich die Tschechische Republik zum Land mit der höchsten Pro-Kopf-Produktion von Autos in der Welt entwickelt. Das Jahr 2024 war ein Rekordjahr: In dem Zehnmillionen-Einwohnerland wurden mehr als 1,4 Millionen Fahrzeuge hergestellt, eine Steigerung von fast vier Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Doch im ersten Quartal 2025 brach die Produktion um 7,1 Prozent ein, hauptsächlich aufgrund der gesunkenen Nachfrage in Westeuropa. Die wiederum hängt mit den Problemen in der europäischen Automobilindustrie, dem schleppenden Übergang zur Elektromobilität und den US-Zöllen zusammen.

Während die Autoproduktion schrumpft, erlebt die Rüstungsindustrie einen Boom. In den letzten drei Jahren weiteten tschechische Waffenfabriken ihre Produktion massiv aus und steigerten ihre Gewinne erheblich.

Nach Ansicht von Ales Rod vom Zentrum für Wirtschafts- und Marktanalysen könnte der Anteil der tschechischen Rüstungsindustrie an der Wirtschaft in den nächsten Jahren von derzeit etwa einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf ein Vielfaches steigen. "Das Potenzial dafür sehen wir", sagte Rod dem Tschechischen Rundfunk. "Wir sehen eine Nachfrage in der Waffenindustrie für ein Jahrzehnt oder sogar 15 Jahre voraus. Wir sehen leere Lagerhallen. Was wir produzieren, hat kaum Zeit auszukühlen und ist weg."

Die Rüstungsindustrie als neuer Wirtschaftsmotor?

Danuse Nerudova, ehemalige Rektorin der Mendel-Universität in Brünn und Mitglied des Haushaltsausschusses des Europäischen Parlaments, sieht das ähnlich. "Die Rüstungsindustrie kann ein neuer Motor der tschechischen und europäischen Wirtschaft werden. Sie kann die frei werdenden Lieferkapazitäten und Arbeitskräfte des Automobilsektors nutzen, das Wirtschaftswachstum ankurbeln und gleichzeitig unsere Sicherheit stärken", so Nerudova gegenüber der DW.

Ein anderer prominenter tschechischer Wirtschaftswissenschaftler, Petr Zahradnik, ist etwas skeptischer. "Die tschechischen Waffenfabriken erleben goldene Zeiten, das stimmt. Ihre Kapazitäten werden ausgebaut, die tschechischen Rüstungsbetriebe expandieren mit ihrem Kapital in die fortschrittlichsten Teile der Welt", sagt der Berater des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses in Brüssel der DW. Aber: "Ich glaube nicht, dass sie den Automobilsektor als Motor der tschechischen Wirtschaft ersetzen werden." Und, so fügt er hinzu: "Ich möchte das auch nicht erleben, dass die Waffenproduktion die zivile Produktion verdrängt."

Tschechien - traditionelle Waffenschmiede

Das Gebiet der heutigen Tschechischen Republik war bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein Zentrum der Rüstungsproduktion. Und auch zwischen den beiden Weltkriegen und danach gehörte die Tschechoslowakei zu den führenden Waffenproduzenten und -exporteuren der Welt. Lange Zeit machten die Waffenexporte etwa ein Zehntel aller tschechoslowakischen Ausfuhren aus.

So produzierte die Tschechoslowakei zwischen 1958 und 1989 zehntausend Kampf- und Übungsjets. Experten zufolge waren die tschechoslowakischen Waffen damals die besten des Ostblocks und wurden in Dutzende von Ländern in aller Welt exportiert.

Doch Bedarf gab es auch zuhause, denn die Tschechoslowakei verfügte Ende der 1980er Jahre über eine schwer bewaffnete Armee von mehreren Hunderttausend Mann und gab bis zu 20 Prozent ihres Staatshaushalts für Verteidigungsausgaben aus.

Das Ende des Warschauer Paktes und der Konfrontation in Europa sowie die allgemeine Abrüstung zu Beginn der 1990er Jahre, die mit einer erheblichen Kürzung des Militärhaushalts einherging, trafen die tschechischen Rüstungsbetriebe hart. Der letzte große Rüstungsauftrag der Tschechoslowakei war ein Exportvertrag über 250 T72-Panzer nach Syrien, der im Jahr 1991 von der ersten nichtkommunistischen Regierung genehmigt worden war.

Nach dem Ende der Tschechoslowakei

Die Auflösung der Tschechoslowakei in ihre beiden Einzelstaaten im Jahr 1992 führte auch zu einer Aufteilung der Rüstungsindustrie: Die Produktion von Panzern und schweren Maschinen verblieb hauptsächlich in der Slowakei, während die Flugzeugindustrie, die Produktion von Kleinwaffen, Munition, Radarsystemen und vor allem von Handfeuerwaffen in Tschechien blieb.

Die nicht immer gelungenen Privatisierungen, die Reduzierung der tschechischen Verteidigungsausgaben auf ein Prozent des BIP, die Professionalisierung und Verkleinerung der Armee auf nur noch etwa 20.000 Soldaten - all dies hat die tschechische Rüstungsindustrie erheblich geschwächt.

Wachstumsfaktor Ukraine-Krieg

Nach der Vollinvasion Russlands in das Nachbarland Ukraine im Februar 2022 steigerten die tschechischen Waffenfabriken ihre Produktion, oft um Hunderte Prozent pro Jahr. Vor allem die Herstellung von Munition, die Modernisierung von Panzern, die Produktion von Militärfahrzeugen, selbstfahrenden Haubitzen sowie von Drohnen, Radargeräten und den weltberühmten Maschinengewehren und Patronen erleben seither einen Aufschwung. Die Flugzeugfabrik Aero, der Stolz der tschechischen Rüstungsindustrie, entwickelte das neue Kampf- und Trainingsflugzeug Skyfox, das zur Ausbildung ukrainischer F-16-Kampfpiloten eingesetzt werden soll.


Vierzig Prozent der Produktion der tschechischen Waffenfabriken gehen in die Ukraine, wo auch Joint Ventures gegründet werden. Insgesamt werden bis zu 90 Prozent der Produktion exportiert. Gleichzeitig nehmen aber auch die Käufe der tschechischen Armee zu. Im vergangenen Jahr erreichten die tschechischen Verteidigungsausgaben erstmals zwei Prozent des BIP. Premierminister Petr Fiala kündigte an, dass sie in einigen Jahren drei Prozent ausmachen sollen.

Auch die Gewinne der privaten Eigentümer der Rüstungskonzerne steigen: Der Eigentümer der Czechoslovak Group, Michal Strnad, hat sein Vermögen seit dem vergangenen Jahr mehr als verdoppelt, und zwar um 129,5 Mrd. Kronen (etwa 5 Mrd. Euro) auf 230,5 Mrd. Kronen (etwa 9 Mrd. Euro). Ähnlich erging es im vergangenen Jahr auch anderen großen tschechischen Waffenherstellern.

Waffenfabriken stellen Tausende von Mitarbeitern ein

Und für die nächsten Jahre soll der Boom anhalten. Der Munitionshersteller STV Group wird seine Produktion von großkalibriger Artilleriemunition, die er hauptsächlich an die Ukraine liefert, in diesem Jahr von 100.000 Stück auf das Dreifache erhöhen. Die PBS Group will die Herstellung von Triebwerken für Raketen und Drohnen ebenfalls verdoppeln.

Auch die Zahl der Beschäftigten in den Unternehmen steigt deutlich an. Allein die STV-Group plant die Einstellung von 1000 zusätzlichen Beschäftigten. Der größte tschechische Rüstungskonzern, die Czechoslovak Group, zu dem neben der Munitionsproduktion auch das militärische Automobilwerk Tatra gehört, beschäftigt laut ihrem Jahresbericht bereits 14.000 Mitarbeiter.

Zum Vergleich: Der größte Automobilkonzern Skoda-Auto beschäftigt in seinem Stammwerk in Mlada Boleslav rund 20.000 Mitarbeiter. Doch die weniger anspruchsvolle Herstellung von Elektroautos wird in Zukunft zu einem Abbau der Beschäftigtenzahlen führen. Skoda-Auto-Chef Klaus Zellmer sagte Ende Februar 2025 dem Branchendienst "Automobilwoche", seine Firma mit derzeit 41.000 Angestellten plane einen Personalabbau von fünfzehn Prozent.

Viele dieser Beschäftigten dürften von der Rüstungsindustrie aufgenommen werden. Tschechischen Personalagenturen zufolge werden sie beim Wechsel keine größeren Umschulungen benötigen.

Item URL https://www.dw.com/de/waffen-statt-autos-rüstungsindustrie-in-tschechien-boomt/a-72514956?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72515941_302.jpg
Image caption L-39 Skyfox Kampf- und Trainingsjets sind der Stolz der tschechischen Rüstungsindustrie
Image source Josef Vostarek/CTK/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72515941_302.jpg&title=Waffen%20statt%20Autos%3A%20R%C3%BCstungsindustrie%20in%20Tschechien%20boomt

Item 33
Id 72442154
Date 2025-05-11
Title ME/CFS: Sterben bei lebendigem Leib
Short title ME/CFS: Sterben bei lebendigem Leib
Teaser Weltweit leben geschätzt 17 Millionen Menschen mit ME/CFS. Sie sind völlig erschöpft und können kaum etwas dagegen tun. Nun kämpfen sie für Aufmerksamkeit – im Liegen. Der 12. Mai ist der internationale ME/CFS-Tag.
Short teaser Weltweit leben ca. 17 Millionen Menschen mit ME/CFS. Sie sind völlig erschöpft und sie können kaum etwas dagegen tun.
Full text

Wenn Larissa* sich mit Freundinnen und Freunden trifft, stellt sie sich vorher einen Wecker auf 20 Minuten. Mehr ist nicht drin. Wenn sie über ihre Grenze geht, folgt der Crash. Das fühle sich dann ein bisschen so wie Sterben an, sagt sie.

Menschen mit ME/CFS sind permanent erschöpft. So erschöpft, dass sie kein normales Leben führen können. Mehr als die Hälfte der Betroffenen kann nicht mehr arbeiten. Larissa verbringt die meiste Zeit im Liegen. In einem abgedunkelten Raum, mit Stöpseln in den Ohren und Maske auf den Augen. Nach allem, was sie tut, braucht sie 30 bis 45 Minuten Pause. Aufwachen – ausruhen. Zur Toilette gehen – ausruhen. Zähneputzen – ausruhen. Essen – ausruhen. Als sie vor Kurzem mal eine Viertelstunde lang gebadet hat, war sie danach fünf Tage lang k.o.

Was ist ME/CFS?

ME/CFS, das steht für Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronisches Fatigue Syndrom. Die neuroimmunologische Erkrankung führt oft zu schwerer körperlicher Behinderung. Viele Betroffene haben starke Schmerzen, Muskelkrämpfe und Herz-Kreislauf-Probleme, sie fühlen sich grippig und haben Schlafstörungen. Aufrechtes Sitzen oder Stehen ist schwierig. Und auch das Gehirn spielt nicht mehr richtig mit: “Gedanken verschwinden einfach aus meinem Kopf", sagt Larissa. “Ich finde sie dann nicht mehr." Sich mehrere Dinge gleichzeitig zu merken, fällt ihr schwer. Mit Anfang 30 liest sie wieder Kinderbücher, mit großer Schrift und vielen Bildern.

Für diesen Artikel hat Larissa über Wochen hinweg in vielen kurzen Sprachnachrichten ihr Leben beschrieben. “Manche von uns sagen, man kann sein Leben verlieren, ohne zu sterben", schreibt sie. “Ich kann verstehen, was sie meinen".

Die Ursache: Wie kommt es zu ME/CFS?

Meist beginnt ME/CFS nach einer Infektionskrankheit, zum Beispiel nach dem Pfeifferschen Drüsenfieber oder einer Grippe. Bei Larissa war es COVID-19. Innerhalb weniger Wochen ging es ihr extrem schlecht. Sie hatte das Gefühl, sich wie durch Wasser zu bewegen, so schwer war auf einmal die Luft. Stehen wurde zur Herausforderung. Selbst Fernsehgucken war zu anstrengend. Es folgten Muskelschmerzen, Gelenkschmerzen, Nervenschmerzen, Kopfschmerzen. Dann Schlafstörungen und Tinnitus, schließlich Übelkeit und Probleme beim Laufen.

Larissa tingelte von Arzt zu Arzt. Sie solle positiv denken, Gemüse essen, Yoga machen. Als man ihrer Erschöpfung mit Physiotherapie, Ergotherapie und kalten Kniegüssen heilen will, bricht ihr Körper vollends zusammen. Larissa sitzt fortan im Rollstuhl.

Es ist typisch für ME/CFS, dass bereits geringen Belastungen die Symptome verstärken. Post-Exertionelle Malaise (PEM) heißt das. Manchmal bleiben die Symptome danach dauerhaft schlechter. Als wäre sie einen Berg hochgerannt, sagt Larissa. Dabei hat sie nur Zähne geputzt. Andere beschreiben den Zustand, als hätte man gleichzeitig Grippe, Kater und Jetlag.

"Weil ich mich mit meinem ganzen Sein danach sehne, zu leben"

Was das Leben für Larissa ausmacht: Entscheidungen treffen, Pläne machen, Dinge erleben. Licht, Geräusche, Gefühle. Sich unterhalten. Nachdenken.

Was ihr Körper toleriert: In Stille liegen. Möglichst nichts denken. Möglichst nichts fühlen.

“Eigentlich ist alles, was ich tue, ein Kampf", sagt Larissa. “Aber ich verliere diese Kämpfe ständig." Zum Beispiel den Kampf der Körperhygiene. Einmal pro Woche eine Gesamtwäsche ist nur eine ihrer Fronten. Larissa muss sich entscheiden: “PEM oder Saubersein."

Dass das nicht für immer so weiter geht, ist für sie inzwischen eine beruhigende Aussicht. “Falls ich einmal Sterbehilfe in Anspruch nehmen sollte, dann nicht, weil ich sterben möchte. Sondern aus Liebe zum Leben", sagt sie. “Weil ich mich mit meinem ganzen Sein danach sehne, zu leben. Aber ich kann es nicht mit dieser Erkrankung."

Larissas Fall ist schwer. Es gibt mildere Verläufe, bei denen die Betroffenen noch arbeiten und ein einigermaßen selbständiges Leben führen können. Manchen geht es aber noch schlechter als ihr: so schlecht, dass sie nicht einmal mehr ihren Arm heben können. Dass bereits die reine Anwesenheit einer anderen Person ihren Zustand verschlechtert.

Ein Erklärungsansatz: Die gestörte Durchblutung

Auch wenn man ME/CFS schon seit mehr als 50 Jahren kennt, ist immer noch nicht ganz klar, was genau dabei im Körper passiert. Lange gab es zwar viele unzusammenhängende Befunde, aber keine Erklärung für das große Ganze.

Ein vielversprechender Ansatz: “Wir wissen, dass bei ME/CFS die Durchblutung nicht angepasst wird", sagt Carmen Scheibenbogen. Sie leitet in Berlin das Charité Fatigue Centrum und gilt in Deutschland als führende Expertin für die Multisystemerkrankung. Gerade die Durchblutung des Gehirns und der Muskulatur leidet. “Wenn man die Durchblutungsstörung als einen zentralen Krankheitsmechanismus ansieht, kann man auch das Krankheitsbild gut erklären." Das Muskelkater-ähnliche Gefühl, die Konzentrationsstörungen, die Erschöpfung. Der Körper funktioniert nur gut, wenn ausreichend Sauerstoff im Gewebe ankommt und ausreichend Energie produziert wird.

Das Team von Carmen Scheibenbogen untersucht derzeit, ob ein Medikament, das man bei Herzinsuffizienz einsetzt, auch ME/CFS-Patienten helfen kann. Dieses Medikament unterstützt die Blutgefäße dabei, sich zu weiten. Ein Mechanismus, der bei ME/CFS-Betroffenen nicht mehr gut funktioniert.

Das Immunsystem richtet sich gegen den Körper

Außerdem kommt bei ME/CFS-Patienten das Immunsystem nach der auslösenden Infektion nicht zur Ruhe, kleine Entzündungen lodern weiter. Antikörper, die eigentlich gegen die Infektion gerichtet waren, richten sich manchmal gegen den Körper selbst, zum Beispiel gegen Nervenzellen. Besonders betroffen scheint das autonome Nervensystem zu sein, das all jene Prozesse steuert, die wir gar nicht mitkriegen: unseren Herzschlag oder Blutdruck.

Viele Studien fokussieren sich auf spezielle Antikörper, die an Stressrezeptoren andocken und die Stressantwort des Körpers stören. Passend zu den Symptomen: ME/CFS-Patienten fühlen sich oft wie im Dauerstress oder sind schnell erschöpft. Ihre angemessene Reaktion auf Stress ist außer Gefecht. Da Stressrezeptoren auch die Durchblutung steuern, kann das dazu führen, dass der Körper diese bei Belastung nicht richtig anpasst.

Vor rund zehn Jahren hat Carmen Scheibenbogen bereits untersucht, was passiert, wenn man diese Antikörper aus dem Kreislauf der Betroffenen auswäscht. Tatsächlich ging es vielen damit schnell besser. Eine Übersetzung in die Standard-Therapie haben Studien wie diese jedoch noch nicht erreicht. Und dies ist nur ein Erklärungsansatz, der wahrscheinlich nicht für alle Patienten zutrifft.

Was kann man tun?

Bis heute gibt es für ME/CFS keine Therapie, die an den Wurzeln ansetzt. Meist wird versucht, die Symptome zu lindern. Die wichtigste Maßnahme ist das “Pacing", bei dem Betroffene lernen, die eigenen Grenzen zu erkennen und sie nicht zu überschreiten. Für Larissa heißt das oft: Ohrstöpsel rein. Augenmaske auf. Leben im Liegen.

Es fehlen klinische Studien, die sich auf die fehlgeleitete Immunantwort des Körpers stürzen, genauer gesagt auf B-Zellen, die die Auto-Antikörper herstellen. Medikamente, die das können, gibt es eigentlich – allerdings sind sie für andere Erkrankungen zugelassen. Pharmafirmen zeigten geringes Interesse, Studien für ME/CFS durchzuführen, sagt Carmen Scheibenbogen.

Bis bessere Medikamente zur Verfügung stehen, werde es noch Jahre dauern, sagt die Ärztin. Sie sei aber zuversichtlich, dass ME/CFS gut behandelbar sei. “Ich halte das für Erkrankungen mit einer großen Chance auf eine vollständige Heilung".

Langer Kampf um Aufmerksamkeit

ME/CFS ist seit 1969 eine offiziell anerkannte Erkrankung. Weltweit sind geschätzt 17 Millionen betroffen, Frauen deutlich häufiger als Männer. Keine seltene Erkrankung also. Es ist die “häufigste nicht verstandene schwere Erkrankung", sagt Carmen Scheibenbogen.

Lange wurde ME/CFS als psychiatrische oder psychosomatische Erkrankung fehlgedeutet. Das ist manchmal noch heute so. Auch bei Larissa stand erst einmal Burnout im Raum. An Universitäten werde die Erkrankung oft häufig nicht oder falsch gelehrt, sagt die Ärztin Carmen Scheibenbogen. “Und wenn man das Krankheitsbild nicht kennt, geht man gerne mal davon aus, dass das so eigentlich alles gar nicht sein kann und es sich wahrscheinlich um eine funktionelle Erkrankung handelt".

Larissa sagt: “Wir werden unsichtbar gemacht”. Für sie trägt auch das Gesundheitssystem Schuld daran, dass es ihr immer schlechter geht. Kritische Momente: Als sie in der Long-COVID-Ambulanz im Licht der Neonröhren ausharren musste. Als die Ergotherapeutin sie zur Tanztherapie motivieren wollte. Als sie im Kognitionstest nicht mehr konnte. Larissa hält das Gesundheitssystem für ME/CFS-Patientinnen gar für gefährlich. “Weil es von uns abverlangt, über unsere Grenzen zu gehen.“

Um wieder sichtbar zu werden, gibt es den internationalen ME/CFS-Tag am 12. Mai. Bereits am 10. Mai legten sich in ganz Deutschland Betroffene auf die Straße, um auf ME/CFS aufmerksam zu machen. Larissa hat die Demonstration mit organisiert. Teilnehmen konnte sie nicht. Ihr fehlt sogar zum Liegen die Kraft.

*Name von der Redaktion geändert.

Item URL https://www.dw.com/de/me-cfs-sterben-bei-lebendigem-leib/a-72442154?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72511263_302.jpg
Image caption Bis heute gibt es für ME/CFS keine wirkliche Therapie. Meist wird versucht, die Symptome zu lindern.
Image source Privat
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72511263_302.jpg&title=ME%2FCFS%3A%20Sterben%20bei%20lebendigem%20Leib

Item 34
Id 72502695
Date 2025-05-10
Title "Alles ultra!" - Beethovenfest präsentiert das Programm 2025
Short title "Alles ultra!" - Beethovenfest präsentiert das Programm 2025
Teaser Vom 28. August bis 27. September präsentiert das Beethovenfest Bonn rund 100 Veranstaltungen. Einen Vorgeschmack gab es bei der Programmvorstellung.
Short teaser Vom 28.8. bis 27.9. präsentiert das Beethovenfest Bonn rund 100 Veranstaltungen. Nun gab es einen Vorgeschmack.
Full text

"Alles ultra!" - an diesem Festival-Slogan 2025 ist Goethe schuld: "Alles, mein Teuerster, ist jetzt ultra, alles transzendiert unaufhaltsam, im Denken wie im Tun”, schrieb der Weimarer Dichterfürst 1825 - also vor genau zweihundert Jahren - an einen alten Freund, den Komponisten Carl Friedrich Zelter.

Alles außer Mittelmäßigkeit

Nein, das ist keine Beschwerde Goethes über TikTok und KI. Es sind eher die "Eisenbahnen, Schnellposten, Dampfschiffe" etc., die den damals 75-Jährigen mit Skepsis erfüllten. Allerdings wäre es zu simpel, Goethes Worte als alterstypische Ablehnung des Neuen zu interpretieren. Es ist eine Vorahnung der Moderne: Die "gebildete Welt” sei dabei, so Goethe, "sich zu überbieten, zu überbilden und dadurch in der Mittelmäßigkeit zu verharren."

Ach wirklich? Mittelmäßigkeit als einzige Konsequenz von "ultra"? Das junge Team um Steven Walter, der seit 2021 als Intendant das Beethovenfest Bonn fröhlich und unbeugsam durch schwierige Gewässer in Zeiten der Pandemie, internationaler Konflikte und politischer Umwälzungen lotst, wagt den Widerspruch zum großen Goethe. Es wäre interessant, einen anderen großen Geist, Ludwig van Beethoven, dazu zu befragen, "was er von Goethes Aussage gehalten hätte", so Steven Walter.

Ohne "Beethovens Drang, die Zukunft aktiv zu gestalten, würden wir nicht seine Musik und Innovationskraft in jährlich 100 Konzerten des Beethovenfestes feiern". Als Ultra-Komponist und Ultra-Typ ist Beethoven der ideale Weggefährte für all diejenigen, die, wie die Zukunftsforscherin Florence Gaub es ausdrückt, wissen: "Der Mensch braucht Utopien, um glücklich zu sein."

So soll das Beethovenfest 2025 "eine Feier der Vielseitigkeit, der unvernünftigen Liebe zu allem Möglichen und Menschlichen, ein Fest der Überraschungen und des Positiven werden" - und das in Zeiten, wo man sich die sogenannte Normalität "bestenfalls nur vorgaukeln kann". Die Festivalsausgabe 2025 will "überraschend, schick, ergreifend" - also eben "ultra" sein.

Hochkulturtrifft trifft Underground

Einen Vorgeschmack auf das Kommende gab es bereits am 9. Mai. Zum ersten Mal wurde das Programm der kommenden Saison nicht in Form der üblichen Pressekonferenz, sondern in einem bunten Konzertprogramm vorgestellt. Und zwar dort, wo man klassische Hochkultur womöglich am wenigsten erwartet - am Rande der Bonner Innenstadt, in der "Fabrik45" mit ihrem postindustriellen Underground-Charme.

Einige der Headliner des kommenden Festivals haben ihren Weg dorthin gefunden - etwa die Bass-Posaunistin Maxine Troglauer, der Schlagzeuger Bernhard Schimpelsberger oder der Violinist Jonian Ilias Kadesha, die sich aus dem Anlass mit zu einer "Bethovenfest-Showband" zusammengewürfelt haben.

Bis in die Nacht hinein ging es weniger um Wissenstransfer als vielmehr um Vorfreude auf das Musikfeuerwerk im Herbst. "Alles ultra!" sei "mehr ein Gefühl als eine Dramaturgie", räumt Intendant Steven Walter ein.

Ein Feier der Unangepasstheit

Die Fortsetzung folgt am 29. August mit dem feierlichen Eröffnungskonzert des Aurora Orchestra unter der Leitung von Nicholas Collon in der Oper Bonn und mit der Geigerin Alena Baeva als Solistin. Parallel wird der Rapper Samy Deluxe den Bonner Marktplatz, über den Beethoven in jungen Jahren fast täglich zu seinem ungeliebten Job am fürstlichen Hofe latschte, zum Tanzen bringen.

In den darauffolgenden 31 Tagen werden sich Künstler wie der Shootingstar der Musikszene, die Cellistin Anastasia Kobekina, eine Residenzkünstlerin des Festivals, der Stardirigent Maxim Emelyanychev sowie Iveta Apkalna, Hausorganistin der Elbphilharmonie in Hamburg, die Ehre geben.

Das Jerusalem Quartet widmet sich sämtlichen Streichquartetten von Dmitri Schostakowitsch, die zwölf Cellisten der Berliner Philharmoniker spielen auf und bringen einen Vorgeschmack auf die baldige Wiederreröffnung der Beethovenhalle - der Hauptbühne des Festivals, die fast neun Jahre lang "under reconstruction" im Dornröschenschlaf verweilte.

"Ultra-Campus 2025": Ein Hauch von Lagos in Bonn

Auch die Macherinnen und Macher des Campus-Projektes, der gemeinsamen Unternehmung des Beethovenfestes und der DW, ließen sich von der "Ultra"-Ausrichtung des Festivals inspirieren und entschieden sich für ein ultra-spannendes Land: Nigeria.

Am 11. September trifft Afrobeat auf Beethoven - in einem Konzert, bei dem junge Mitglieder des Bundesjugendorchesters zusammen mit Musikerinnen und Musikern aus der nigerianischen Metropole Lagos auftreten werden. "Beethoven meets Afrobeat” lautet das Motto. Und damit ist nicht zu viel versprochen!

Item URL https://www.dw.com/de/alles-ultra-beethovenfest-präsentiert-das-programm-2025/a-72502695?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72501082_302.jpeg
Image caption Bring jeden zum Singen: Juri de Marco ist Fachmann für "Community music"
Image source Ivan Dyachenko/DW
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72501082_302.jpeg&title=%22Alles%20ultra%21%22%20-%20Beethovenfest%20pr%C3%A4sentiert%20das%20Programm%202025

Item 35
Id 72481946
Date 2025-05-09
Title Sind Temu und Shein Europas neue Handelsbedrohung?
Short title Sind Temu und Shein Europas neue Handelsbedrohung?
Teaser Donald Trump hat ein Schlupfloch geschlossen, durch das chinesische Einzelhändler Waren ohne Einfuhrzölle direkt an US-Verbraucher liefern konnten. Könnten Temu und Shein nun Europa mit Billigexporten überschwemmen?
Short teaser Werden chinesische Online-Händler Europa mit Waren überschwemmen, nachdem Trump US-Zoll-Schlupflöcher geschlossen hat?
Full text

Seit Jahren bestand das Geschäftsmodell von Temu und Shein darin, massenhaft Waren in die USA zu liefern, die mit einem Wert von weniger als 800 US-Dollar (rund 710 Euro) von Einfuhrzöllen befreit waren.

Allein im Jahr 2024 wurden 1,36 Milliarden Sendungen im Rahmen dieser sogenannten De-minimis-Regel in die USA eingeführt. Das war eine Verneunfachung gegenüber den 153 Millionen im Jahr 2015.

Diese bei Temu und Shein bestellten Waren, die im vergangenen Jahr insgesamt 30 Prozent der täglichen US-Pakete mit geringerem Wert ausmachten, unterliegen nun einem Zoll von 30 Prozent oder Pauschalgebühren von bis zu 50 US-Dollar. Dazu kommt noch der von Trump im vergangenen Monat erhobene Zoll von 145 Prozent auf Importe aus China.

Weil sich damit die Preise für US-Verbraucher mehr als verdoppelt haben, bröckeln jetzt die Gewinnmargen der chinesischen Online-Händler. Es wäre also keine Überraschung, wenn Temu und Shein jetzt Europa ins Visier nehmen und ein ähnliches Zoll-Schlupfloch der Europäischen Union ausnutzen, um ihr Geschäftsmodell aufrechtzuerhalten.

Europa will Zoll-Schlupfloch abschaffen

Obwohl die EU-Steuerbefreiung bei Waren bis 150 Euro (170 US-Dollar) niedriger ist als bislang in den USA, hat sie das explosive Wachstum von Temu und Shein nicht gebremst. Im Jahr 2024 überschwemmten 4,6 Milliarden Pakete mit geringerem Wert den EU-Markt - eine Verdoppelung gegenüber 2023 und eine Verdreifachung gegenüber 2022, wobei 91 Prozent aus China stammten.

Diese 12,6 Millionen Pakete pro Tag werden zollfrei zugestellt und unterbieten damit die Preise europäischer Einzelhändler, die durch höhere Arbeits-, Lieferketten- und Compliance-Kosten belastet werden.

Obwohl die EU-Kommission vor zwei Jahren vorgeschlagen hat, diese EU-Ausnahmeregelung abzuschaffen, muss das Vorhaben noch von den 27 EU-Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament gebilligt werden. Die Zollausnahme-Regel wird damit laut der Nachrichtenagentur Bloomberg frühestens 2027 fallen.

Diese Verzögerung ist schlecht für die europäischen Unternehmen, die bereits mit einem harten chinesischen Wettbewerb konfrontiert sind - vom E-Commerce über Solarmodule bis hin zu Elektrofahrzeugen. Sie stehen zusätzlich unter Druck, weil durch die drastischen US-Zölle gegen chinesische Produkte mehr billige Waren aus China nach Europa umgeleitet werden könnten.

Viele Einzelhändler in der EU befürchten, dass Temu und Shein künftig noch mehr Billigprodukte auf den europäischen Märkten abladen und sie aus dem Geschäft drängen.

Chinesische Waren fallen oft bei Sicherheitstests durch

Abgesehen davon, dass die Flut von Billiggütern aus dem Reich der Mitte auf die Gewinnmargen drückt und so Entlassungen bei EU-Unternehmen drohen, lässt die oft mangelhafte Produktsicherheit noch viel größere Alarmglocken schrillen.

Agustin Reyna, Generaldirektor von BEUC, einer in Brüssel ansässigen Lobby europäischer Verbraucherorganisationen, sagt, Gruppen wie seine hätten "umfangreiche Beweise" dafür gesammelt, dass chinesische Waren - von giftigem Make-up und Kleidung bis hin zu fehlerhaftem Spielzeug und Geräten - die EU-Sicherheitsstandards nicht erfüllen.

"Wir brauchen zusätzliche Instrumente, um den Zustrom unsicherer Produkte zu bewältigen, die über kleine Pakete nach Europa gelangen, die oft auf Plattformen wie Temu gekauft werden", sagt Reyna gegenüber der DW. "Die Verbraucher setzen unwissentlich ihre Gesundheit und Sicherheit aufs Spiel."

Im Januar versprach die EU-Kommission neue strenge Kontrollen für chinesische Einzelhandelsplattformen, um zu verhindern, dass "unsichere, gefälschte oder sogar gefährliche" Produkte nach Europa gelangen. EU-Handelskommissar Maros Sefcovic forderte die europäischen Gesetzgeber auf, eine Bearbeitungsgebühr für chinesische Pakete zu erheben, um steigende Compliance-Kosten zu decken.

Viele politische Entscheidungsträger wollen Online-Plattformen direkt für den Verkauf gefährlicher und gefälschter Produkte verantwortlich machen. Derzeit agieren Marktplätze wie Temu als Vermittler und nicht als Verkäufer. So entziehen sie sich einer direkten Haftung, was bei Zoll- und Regulierungsbehörden für große Kopfschmerzen sorgt.

"Bei über zwölf Millionen Paketen, die täglich in den EU-Binnenmarkt gelangen, ist es einfach unrealistisch zu erwarten, dass der Zoll als letzte Verteidigungslinie fungiert", unterstreicht Reyna. "Daher ist es wichtig, Online-Marktplätze für die Sicherheit und Konformität der Produkte, die sie an europäische Verbraucher verkaufen, zur Rechenschaft zu ziehen."

Mehrwertsteuerbetrug ein wachsendes Problem

Es gibt immer mehr Beweise für andere illegale Praktiken chinesischer Verkäufer, einschließlich der Unterdeklaration des Warenwerts, um Verkaufs- oder Mehrwertsteuern (MwSt.) zu vermeiden. Diese liegen je nach EU-Staat zwischen 17 und 27 Prozent.

"Es gibt viele Fälle, in denen Importeure einen falschen Wert für ihre Sendungen angeben, um die Schwelle zu unterschreiten und Zollformalitäten zu umgehen", sagt Momchil Antov, Ökonom und Zollexperte an der D. A. Tsenov Wirtschaftsakademie in Bulgarien, gegenüber der DW. "Das ist Betrug."

Im vergangenen Monat deckten das EU-Betrugsbekämpfungsamt OLAF und die polnischen Behörden ein ausgeklügeltes Mehrwertsteuerbetrugssystem auf, bei dem chinesische Waren in die EU importiert wurden. Betrüger behaupteten, die Waren seien für andere EU-Staaten bestimmt, um Steuern und Zölle zu vermeiden. In Wirklichkeit blieben die Waren größtenteils in Polen.

Ein weiteres Beispiel: Ab 2023 nutzten chinesische Exporteure den belgischen Flughafen Lüttich, um Steuern in Höhe von 303 Millionen Euro zu hinterziehen, indem sie ein komplexes System nutzten, an dem private Zollagenturen und Scheinfirmen in anderen EU-Ländern beteiligt waren.

Frankreich plant Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung

Während der Plan der Kommission in Brüssel, die 150-Euro-Zollausnahme der EU abzuschaffen, noch nicht umgesetzt ist, haben einige EU-Staaten den Vorschlag von Sefcovic aufgegriffen. Die französische Regierung kündigte Anfang Mai an, die Kontrollen von importierten Waren mit geringerem Wert zu verstärken.

Diese Importgüter werden auf Produktsicherheit, Kennzeichnungsstandards und Umweltstandards geprüft und Paris wird auf jedes Paket eine pauschale "Verwaltungsgebühr" erheben.

Die europäischen Entscheidungsträger stehen vor der kniffligen Aufgabe, Betrug einzudämmen und die Einhaltung von Vorschriften sicherzustellen. Gleichzeitig müssen sie fairen Wettbewerb sicherstellen, ohne den Zugang der EU-Verbraucher zu erschwinglichen Waren aus China einzuschränken.

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert

Item URL https://www.dw.com/de/sind-temu-und-shein-europas-neue-handelsbedrohung/a-72481946?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71731844_302.jpg
Image caption Billig war gestern: In den USA steigen die Preise für chinesische Waren von Temu oder Shein drastisch an
Image source Philippe Turpin/Photononstop/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/vps/webvideos/DEU/2025/BUSI/BUSIDEU250306_PLAGIAT_CMS_01SMW_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/71731844_302.jpg&title=Sind%20Temu%20und%20Shein%20Europas%20neue%20Handelsbedrohung%3F

Item 36
Id 72446103
Date 2025-05-09
Title Architekturbiennale Venedig: Vom Kampf gegen zu heiße Städte
Short title Architekturbiennale Venedig: Vom Kampf gegen zu heiße Städte
Teaser Wenn Städte überhitzen, sind Alte, Kranke und Kinder die ersten Opfer. Die 19. Architekturbiennale in Venedig sucht daher nach Antworten auf den Klimawandel. Die Deutschen laden gar zum Stresstest.
Short teaser Die 19. Architekturbiennale in Venedig sucht nach Antworten auf den Klimawandel. Die Deutschen laden zum Stresstest.
Full text

Ob Starkregen oder Hitze, Überschwemmungen oder Dürre: Extremwetter ist längst keine Seltenheit mehr - und das gilt für den gesamten Globus. In Europa, dem Kontinent, der sich durch den menschgemachten Klimawandel am schnellsten erwärmt, starben 2022 über 60.000 Menschen an den Folgen der Hitze. Die meisten hatten zwar eine Vorerkrankung, doch die heißen Temperaturen belasteten den Körper zusätzlich. Im Jahr darauf, dem wärmsten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, gab es mehr als 47.000 Hitzetote.

Zahlen, die auch Architekten und Stadtplaner nicht mehr kaltlassen: "Um einer brennenden Welt zu begegnen, muss die Architektur die gesamte Intelligenz um uns herum nutzen", sagt Carlo Ratti, Kurator der 19. Architekturbiennale von Venedig (10. Mai bis 23. November). Die Bauwelt müsse liefern, so der Turiner, nicht irgendwann, sondern jetzt!

"Intelligens. Natural. Artificial. Collective" (Intelligenz. Natürlich. Künstlich, Kollektiv) - der etwas sperrige Slogan verrät denn auch die Idee hinter der diesjährigen Biennale: Die gebaute Welt soll auf den Prüfstand. Dafür muss die Branche ihre Kräfte und vor allem ihr Wissen bündeln - von der Bauindustrie bis zur Stadt- und Gebäudeplanung. Alle Generationen und alle Disziplinen sollen an den Tisch, die Naturwissenschaften ebenso wie die Künste. Grund gibt es allemal: Mit fortschreitendem Klimawandel steigt die Zahl der heißen Tage und damit das Gesundheitsrisiko für die Menschen - besonders in Städten, wo die Hälfte der Weltbevölkerung lebt.

Versiegelte Städte erhitzen sich

Größte Sorgen macht die Überhitzung der Ballungsräume. Die Hauptursache: Viele Städte sind stark versiegelt. Plätze, Einfahrten und andere Flächen sind zugepflastert, betoniert oder asphaltiert. Es gibt zu wenig Bäume, die Schatten spenden und zur Abkühlung der Stadt beitragen. Dunkle Oberflächen speichern die heißen Temperaturen des Tages. Es entstehen Wärmeinseln, die Stadt überhitzt. Hinzu kommt: Bei Starkregen verhindern versiegelte Flächen die Versickerung. Die Kanalisationen kollabieren. Ein Teufelskreis.

Was also tun? "Die Probleme sind bekannt, Lösungen liegen längst auf dem Tisch", sagt Peter Cachola Schmal, Direktor des Deutschen Architekturmuseums in Frankfurt am Main, "aber es fehlt an der Umsetzung. Wir sind zu langsam!" Als Beispiel nennt er den Paul-Arnsberg-Platz im Frankfurter Stadtteil Ostend, früher gefürchtet für sein Backofenklima. Nach dem Umbau durchziehen jetzt Beete mit kleinen Bäumchen das Pflastermeer. Die Stadt Frankfurt spricht von einer "dringend notwendigen Klimaanpassung". Architekt Schmal ist noch nicht überzeugt, er findet das Projekt halbherzig: "Ja, die Bäumchen werfen einen ordentlichen Schatten - in 30 Jahren."

Die Verkehrswende von Paris

Klimaanpassung, soviel scheint sicher, ist das Gebot der Stunde. Dafür müssen Kommunen wie auch Bürger zuweilen viel Geld in die Hand nehmen. Woran es mangelt, sind schnelle, unbürokratische Entscheidungen - wie etwa in Paris, das besonders viele Hitzetote zu beklagen hatte. Bürgermeisterin Anne Hidalgo reagierte, indem sie ihrer Stadt eine radikale Verkehrswende verpasste. Das Stadtzentrum wurde verkehrsberuhigt, die Parkgebühren für SUVs wurden verdreifacht, Straßenparkplätze reihenweise entsiegelt und in atmende Grünflächen umgewandelt. In Paris kochte die Volksseele, doch europaweit erntete Hidalgo viel Beifall.

Andere Städte wie Kopenhagen oder Rotterdam bauen sich - auch das vorbildhaft - derweil zur wolkenbruchsicheren "Schwammstadt" um. Dabei wird Regenwasser nicht kanalisiert und abgeführt, sondern Grünflächen und Feuchtgebiete saugen das Wasser wie ein Schwamm auf.

Nichts weniger als eine weltweite "Bauwende" fordert Elisabeth Endres, Professorin für Gebäudetechnologie an der Universität Braunschweig, im DW-Gespräch. Gemeinsam mit der Münchener Architektin Nicola Borgmann, der Landschaftsarchitektin Gabriele G. Kiefer und dem Architekten Daniele Santucci kuratiert sie den Auftritt Deutschlands bei der Architekturbiennale in Venedig. Wer den deutschen Pavillon am Lido betritt, kann am eigenen Leib spüren, wie sich das künftige Stadtklima anfühlt - heiß, bedrückend, gefährlich! "Stresstest", so heißt die immersive Ausstellung, die von einer Filmcollage, reichlich Informationen und Kunstwerken begleitet wird - darunter eine Videoarbeit von Christoph Brech, in der eine Glocke als Mahnung ertönt.

Klimawandel zum Probefühlen

Bei vielen Menschen aber ist die Botschaft, wie es scheint, schon angekommen. In Frankfurt etwa haben sich Klimabewegte verschiedenen Alters zum "Stadt-Farming" zusammengeschlossen. Als selbsternannte "GemüseheldInnen" beackern sie Verkehrsinseln und andere Grünflächen, bauen Obst und Gemüse an. Ein Beitrag zum Klimaschutz sind aber auch Schilder an Berliner Stadtbäumen, die händeringend bitten: "Gieß mich!" Längst ist klimagerechtes Bauen auch Thema von Museumsausstellungen. So führt das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt von Juni an eine ganze Reihe gelungener Projekte vor. Titel der Schau: "Architecture and Energy - Bauen in Zeiten des Klimawandels".

Reicht die Architekturbiennale als Ruck zum Aufbruch? "Der Anstoß wird ganz automatisch kommen", sagt die Braunschweiger Kuratorin Endres. Die Zahlen und Prognosen sprächen für sich: "Wir werden leiden." Und wo der Leidensdruck hoch genug sei, werde auch schnell gehandelt. "Städte, die sich gut vorbereitet haben, werden da gut rauskommen. Andere nicht." Ko-Kuratorin Nicola Borgmann, die die Münchener Architekturgalerie leitet, sagt: "Die Hoffnung, dass sich was bewegt, ist da - nur eben viel schneller, sonst sind die europäischen Städte in ein paar Jahrzehnten nicht mehr bewohnbar."

Item URL https://www.dw.com/de/architekturbiennale-venedig-vom-kampf-gegen-zu-heiße-städte/a-72446103?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72448505_302.jpg
Image caption Ein Hitzebild der Münchner Innenstadt - solche Aufnahmen häufen sich
Image source Gustav Goetze
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72448505_302.jpg&title=Architekturbiennale%20Venedig%3A%20Vom%20Kampf%20gegen%20zu%20hei%C3%9Fe%20St%C3%A4dte

Item 37
Id 72472918
Date 2025-05-08
Title Wildtierschmuggel: 5000 Ameisen und ein globales Problem
Short title Wildtierschmuggel: 5000 Ameisen und ein globales Problem
Teaser In Kenia wurden 5000 Ameisen geschmuggelt. Wildtierhandel im Kleinen sozusagen - aber nicht ungefährlicher. Biopiraterie bedroht Arten, Ökosysteme und am Ende auch uns.
Short teaser Warum Ameisen geschmuggelt werden – und welche Risiken der Wildtierhandel für Artenvielfalt und Gesundheit birgt.
Full text

Hier krabbelts gewaltig. In Kenia wurden vier junge Männer wegen des versuchten Schmuggels von Ameisen schuldig gesprochen. Die zwei Belgier, ein Vietnamese und ein Kenianer erhielten Geldstrafen von rund 6150 Euro. Zwar gaben die Männer den Besitz der Insekten zu, bestritten aber die Schmuggelabsicht.

Der Fall flog im April am Jomo Kenyatta Flughafen in Nairobi auf, als Sicherheitskräfte in Gepäckstücken der Männer insgesamt über 5000 Ameisen entdecken, verpackt in 2244 kleinen Röhrchen, welche die beiden Belgier mit sich führten. Die beiden anderen Verurteilten lagerten ihre Ameisen in mit Baumwolle gefüllten Spritzen.

Seltene Ameisenarten aus Ostafrika

Die Polizei schätzte den Wert der Ameisen, die die Belgier mit sich führten, auf über 6800 Euro. Eine eher konservative Schätzung. Denn unter den Ameisen waren auch Tiere der seltenen Ameisenart Giant African Harvester Ant (Messor cephalotes). Eine einzelne Königin dieser Art wird umgerechnet auf mindestens 87 Euro geschätzt. Doch Liebhaber zahlen weit mehr dafür. Der Gewinn der beiden Schmuggler hätte also durchaus in die Hunderttausende gehen können.

Die beiden Fälle stehen in keinem Zusammenhang, wurden aber gemeinsam verhandelt. Einer der Belgier ist laut der Anklageschrift ein "Ameisen-Fan", der Zuhause ganze Ameisenkolonien hielt und Mitglied der Facebook-Gruppe "Ameisen und Ameisenhaltung" war. Er sagte im Polizeiverhör aus, nicht gewusst zu haben, dass der Transport von Ameisen illegal ist.

Biopiraterie im Kleinen

Die kenianische Wildtierbehörde (KWS) sprach von einem Präzedenzfall. Sie wirft den jungen Männern Biopiraterie vor, so die Deutsche Press-Agentur (dpa). Der Schmuggel verstoße gegen das Nagoya-Protokoll.

Biopiraterie bezeichnet die kommerzielle Nutzung oder den Export von biologischem Material - wie Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen - ohne angemessene Entschädigung oder Vorteilsausgleich für das Ursprungsland. Damit würden lokalen Gemeinden und Forschungseinrichtungen potenzielle ökologische und wirtschaftliche Vorteile genommen.

Wildtierschmuggel wandelt sich

Der Fall in Kenia zeigt nach Einschätzung der dortigen Wildtierbehörde auch: Der illegale Handel könnte sich von den ikonischen, leicht erkennbaren Säugetieren künftig auf unbekanntere Arten verlagern.

Laut "World Wildlife Crime Report 2024" des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) zählen Nashorn, Pangolin und Elefant noch immer zu den am häufigsten betroffenen Tierarten. Die Wildtierkriminalität gilt als das viertgrößte Delikt des organisierten Verbrechens weltweit.

Insekten machen bislang noch den kleineren Teil aus. Doch dass die Giant African Harvester Ant so begehrt ist, hat laut KWS folgenden Grund: Ihr Verhalten sei einzigartig und sie verfügten über komplexe Fähigkeiten bei der Koloniebildung. Sammler halten sie zur Beobachtung in sogenannten Formicarien. Die Giant African Harvester Ant ist die größte ihrer Art und kann bis zu 20 mm groß werden, wobei die Königin bis zu 25 mm groß wird.

"Schmuggler unterschätzen den ökologischen Wert"

In ihrer Urteilsbegründung betonte die Richterin Njeri Thuku, auch jede kleine Tierart müssen geschützt werden: "Unsere Wildtiere, von Ameisen bis zu Elefanten, erhalten unsere Ökosysteme und unser nationales Erbe", so Thuku. Auch KWS stimmt dem zu. "Schmuggler unterschätzen oft den ökologischen Wert kleinerer Arten, aber ihre Rolle in unserem Ökosystem ist unersetzlich", hieß es in einer Stellungnahme.

Das stimmt. Ameisen sind wichtige Akteure in Ökosystemen: Sie verbessern Böden, regulieren Schädlinge, verbreiten Samen und leben in ökologisch wertvollen Symbiosen. Werden sie in neue Lebensräume eingeschleppt, kann dies unter Umständen fatale Folgen haben.

Die Rote Feuerameise ist ein Paradebeispiel dafür. Heimisch in Südamerika, breitet sich heute bis nach Europa aus, verdrängt andere Arten und richtet massive Schäden in Landwirtschaft und Natur an. Doch es gibt auch andere Vertreter, wie der Japankäfer, die Pazifische Auster, die Bisamratte und viele mehr.

Gefahr für Mensch und Tier

Allerdings erhöht der illegale Handel mit Wildtieren nicht nur den Druck auf bedrohte Arten und Ökosysteme, sondern birgt auch ernsthafte Gesundheitsrisiken für den Menschen.

Beim Transport und der Haltung lebender Tiere - oft unter unhygienischen Bedingungen - kann es zur Übertragung sogenannter Zoonosen kommen, Krankheiten, die von Tieren auf Menschen überspringen können. Beispiele sind Salmonellen, einige Coronaviren, Mpox, Vogelgrippe oder Ebola.

Rund drei Viertel aller neuartigen Infektionskrankheiten sind Zoonosen. Forschende gehen aktuell davon aus, dass allein in Säugetieren und Vögeln 540.000 bis 850.000 bisher unentdeckte Viren schlummern, die das Potenzial haben, Menschen zu infizieren.

Der Naturschutzbund (NABU) nennt Wildtierhandel ein "Rezept für Pandemien". Fast die Hälfte aller neuen zoonotischen Krankheiten, die seit 1940 vom Tieren auf den Menschen übergesprungen sind, ließen sich auf Veränderungen in der Landnutzung, der Landwirtschaft oder der Jagd auf Wildtiere zurückführen. Und dazu gehört auch der Handel mit Wildtieren oder ihren Produkten, selbst den kleinsten.

Item URL https://www.dw.com/de/wildtierschmuggel-5000-ameisen-und-ein-globales-problem/a-72472918?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72256806_302.jpg
Image caption Ende der Reise: Am Flughafen in Nairobi, Kenia, wurden über 5000 Ameisen in Spritzen und Röhrchen verpackt sichergestellt.
Image source Monicah Mwangi/REUTERS
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/ea/ea230524_Spanien_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/72256806_302.jpg&title=Wildtierschmuggel%3A%205000%20Ameisen%20und%20ein%20globales%20Problem

Item 38
Id 72470975
Date 2025-05-08
Title Dirigent Leon Botstein: "Freiheit bedeutet ständige Arbeit"
Short title Dirigent Leon Botstein: "Freiheit bedeutet ständige Arbeit"
Teaser Man müsse ständig davor warnen, wie leicht das Böse akzeptabel und legalisiert werde: Das ist die Botschaft des US-amerikanischen Dirigenten Leon Botstein beim Gedenkkonzert zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Nürnberg.
Short teaser Das Böse darf nicht legalisiert werden. Das ist die Botschaft Botsteins beim Konzert zum Ende des Zweiten Weltkriegs.
Full text

Während Donald Trump und seine Regierung die Europäer seit Amtsantritt regelmäßig verprellen, kommen jetzt Botschafter eines ganz anderen Amerikas nach Deutschland: das Orchestra Now (TŌN), angesiedelt am Bard College im US-Bundesstaat New York, unter der Leitung des Dirigenten und Musikwissenschaftlers Leon Botstein.

Sie haben Werke von Felix Mendelssohn Bartholdy und Max Bruch im Gepäck - und eine klare Botschaft: Kultur und Musik sind die wahre tragende Kraft des transatlantischen Bündnisses.

Konzertort von historischer Bedeutung

Höhepunkt der allerersten Auslandreise des jungen Orchesters ist der Auftritt beim Gedenkkonzert zum 80. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai in der Nürnberger Kongresshalle - einem von den Nazis erbauten Monumentalbau, wo sie ihre Parteitage abhielten. Der Titel: "Verleih uns Frieden!"

Für den Dirigenten und Orchestergründer Leon Botstein, der 1946 in Zürich als Kind jüdischer Migranten aus Polen zur Welt kam, ist die Kongresshalle von historischer Bedeutung. "Sie erinnert an eine Vergangenheit, die man bewältigen kann, ohne sie auszulöschen", sagte er der DW. Für ihn ist ein starkes Zeichen, mit dem TŌN gerade an diesem Ort zu spielen - vor allem mit Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy, der damals verboten war.

Es wäre heute wie kaum je zuvor wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Nazis "ein moralisch und ethisch verbrecherisches Regime" anführten, sie aber eben "eine legale Regierung Deutschlands bildeten, als die Kongresshalle gebaut wurde", analysiert Leon Botstein. Man müsse ständig davor warnen, "wie leicht es ist, das radikal Böse akzeptabel und legal zu machen".

Bard: Wo die Freiheit zur Schule geht

Seit 1975 ist Leon Botstein Präsident des Bard College und gehört damit nicht nur zu den Patriarchen, sondern auch zu den treibenden Kräften an der Hochschule - ob als Wissenschaftler, Lehrer, Festivalleiter oder eben als Gründer des "TŌN", des Orchestra Now.

Das Bard College, eine renommierte Ausbildungsstätte in Annandale-on-Hudson unweit von New York, erlangte schon kurz nach seiner Gründung 1860 durch das Ehepaar Bard den Ruf, Keimzelle liberalen Gedankenguts zu sein. Zahlreiche Musiker, Schriftsteller, bildende Künstler, aber auch Politiker und Journalisten haben hier studiert.

Hannah Arendt gehörte, neben vielen weiteren europäischen Intellektuellen, zu den Bard-Professoren und ist auch auf dem College-Friedhof begraben. Der berühmte kanadisch-US-amerikanische Architekt Frank Gehry entwarf für die von ihm hochgeschätzte Hochschule den neuen Konzertsaal - "Fisher Center at Bard". Und eben ein Zuhause für das TŌN-Orchester.

TŌN gibt den Ton an

Im "TŌN" spielen hochtalentierte junge Musikerinnen und Musiker, die an einem dreijährigen Ausbildungsprogramms des Bard College teilnehmen. Die meisten haben ihre Ausbildung am Konservatorium bereits abgeschlossen, viele haben bereits Stellen in führenden Orchestern der Vereinigten Staaten.

Diese nächste Generation von Musikprofis bekommt im Bard College eine umfassende Aus- beziehungsweise Weiterbildung, zu der neben musikalischen Fächern auch Philosophie, Sozialwissenschaften und einiges mehr gehören - wie etwa die aktuelle Reise nach Europa.

Botstein: "Eine gefährliche Zeit für uns alle"

Zwar ist das Bard College als privat geführte Hochschule nicht direkt von den Launen der Regierung in Washington abhängig, dennoch ist Leon Botstein alarmiert: "Es ist eine gefährliche Zeit für uns alle, für die Demokratie in der Welt und in unserem Land, weil unsere Regierung gegen die Wissenschaft, gegen die Wahrheit ist", sagt er in fast makellosem Deutsch. "Wenn man sich nicht darüber einig ist, wie man eine Lüge von einer Wahrheit unterscheidet, ist man irgendwann in der Situation, dass man gar nicht mehr miteinander reden kann."

Die Trump-Regierung, so Botstein weiter, handele zunehmend autokratisch und bringe die Aufteilung der Gewalten, das Grundprinzip nicht nur der US-amerikanischen Demokratie, in Gefahr. Damit "verstoße Trump gegen Grundprinzipien der Bill of Rights und der Unabhängigkeitserklärung. Der Missbrauch von Macht führt zu Angst, und Angst führt wiederum zu Selbstzensur", analysiert Leon Botstein. "Die Menschen schränken ihre Freiheit selbst ein."

Demokratie als Fleißarbeit

Zumindest eine Teilverantwortung für diese Entwicklung gibt er auch der intellektuellen Elite seines Landes und sich selbst: "Wir waren irgendwie zu faul, die Gefahr wirklich wahrzunehmen und eine richtige Kommunikation mit unseren Mitbürgern aufzubauen." Das zu ändern sei nun Gebot der Stunde.

In Europa und speziell in Deutschland sieht der US-Amerikaner wichtige, ja entscheidende Mitstreiter im Kampf für die Demokratie-Idee weltweit: "Deutschland besitzt sehr viele Möglichkeiten und ist eine zentrale Kraft - etwa beim Kampf um Demokratie und Freiheit in der Ukraine und im Widerstand gegen Putin, Orban oder Erdogan."

Entscheidend dabei sei der Kampf um die eigenen Mitbürger, so der Dirigent: "Man muss verstehen: Autoritäre Herrschaften sind immer irgendwie attraktiv. Demokratie dagegen ist schwierig. Freiheit bedeutet eben eine ständige Arbeit."

Der Musik misst Leon Botstein dabei eine ganz besondere Bedeutung bei. Denn Werke von Beethoven, Bach, Bruckner oder eben Mendelssohn seien keine Unterhaltung - sie seien eine "Anweisung zum freien Denken".

Item URL https://www.dw.com/de/dirigent-leon-botstein-freiheit-bedeutet-ständige-arbeit/a-72470975?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72471359_302.jpg
Image caption Leon Botstein setzt sich seit Jahrzehnten für vergessene jüdische Komponistinnen und Komponisten ein
Image source Matt Dine
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72471359_302.jpg&title=Dirigent%20Leon%20Botstein%3A%20%22Freiheit%20bedeutet%20st%C3%A4ndige%20Arbeit%22

Item 39
Id 72445553
Date 2025-05-06
Title Vornamen: Warum wir aussehen, wie wir heißen
Short title Vornamen: Warum wir aussehen, wie wir heißen
Teaser Unsere Namen formen mehr als nur unsere Identität - sie können sogar das Gesicht prägen. Eine Studie aus Israel zeigt: Wir sehen oft so aus, wie unser Name klingt. Zufall?
Short teaser Unsere Namen formen mehr als nur unsere Identität. Wir sehen sogar oft so aus, wie unser Name klingt. Zufall?
Full text

"Ist doch nur ein Name…". Nun ja, tatsächlich ist es viel mehr als das. Unser Name ist meist die erste Information, die Fremde über uns erfahren, er prägt unsere Identität, unser Selbstbild – und sogar unser Gesicht. Denn wir passen im Laufe des Lebens das Aussehen sogar an unseren Namen an.

So lautet zumindest das Ergebnis einer israelischen Studie. Die Forschenden wollten herausfinden, ob Eltern bei der Namenswahl unbewusst das Aussehen ihres Babys berücksichtigen – oder ob sich umgekehrt das Gesicht eines Menschen im Laufe der Jahre an den gegebenen Namen anpasst.

Um dies zu untersuchen, baten die Forschenden neun- und zehnjährige Kinder sowie Erwachsene, Fotos von Gesichtern mit passenden Namen zu versehen.

Das Ergebnis: Bei Fotos von Erwachsenen lagen die Teilnehmenden überdurchschnittlich oft richtig – die Gesichter wurden dem korrekten Namen zugeordnet. Bei Kindern hingegen funktionierte das nicht: Hier konnten weder Erwachsene noch Kinder passende Namen erkennen.

Auch der Computer sieht es so

Zufall? In der Studie wurde auch ein maschinelles Lernsystem mit über 1000 Porträts und den dazugehörigen Namen gefüttert. Der Computer erkannte, dass sich Erwachsene mit demselben Vornamen im Gesicht auffallend ähnlich sehen – deutlich mehr als Personen mit unterschiedlichen Namen. Bei Kindern zeigte sich hingegen keine vergleichbare Ähnlichkeit.

Nicht nur wir selbst, auch unsere Umwelt reagiert auf Namen – oft früher als uns liebt ist. Schon im Grundschulalter können Vornamen das Bild prägen, das Lehrerinnen und Lehrer von ihren Schülern haben: Kinder mit bestimmten Vornamen werden häufiger als weniger leistungsfähig oder auffällig wahrgenommen. So können Vorurteile bereits mit der Namenswahl ungleiche Chancen im Bildungssystem schaffen.

Auch andere Studien zeigen: Die Wahrnehmung eines Namens – ob er modern oder altmodisch klingt– kann Einfluss auf die Einschätzung der Person haben. Je moderner der Name, desto attraktiver erscheine der Mensch, – und Attraktivität wiederum wird häufig mit Intelligenz gleichgesetzt.

Sogar im digitalen Raum zeigt sich dieser Effekt: Wer einen als unvorteilhaft empfundenen Vornamen trägt, erhält beim Online-Dating weniger Klicks. Nur wenige Beispiele von vielen. Die Forschung zur Wirkung von Namen ist vielfältig – und zeigt immer wieder, wie weitreichend ihre Bedeutung sein kann.

Die beliebtesten Vornamen für Kinder waren 2024 in Deutschland übrigens Sophia und Noah. Diese würden gewählt, weil sie vertraut, modern und gleichzeitig zeitlos wirkten, so die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS). Sie veröffentlicht die jährlichen Namens-Hitlisten.

Wenn der Name das Gesicht formt

Zurück zur ursprünglichen Studie: Die Forschenden sehen in der Gesicht-Namen-Ähnlichkeit das Ergebnis einer sogenannten selbsterfüllenden Prophezeiung – also einer Vorhersage, die ihre Erfüllung selbst bewirkt.

So passe sich das Gesicht über viele Jahre hinweg – bewusst oder unbewusst – den gesellschaftlichen Erwartungen an, die mit einem Namen verbunden sein können. Diese Erwartungen entstehen zum Beispiel durch prominente Namensvetter, kulturelle oder religiöse Konnotationen oder eben schlichtweg durch stereotype Vorstellungen.

"Unsere Forschung unterstreicht die allgemeine Bedeutung dieses überraschenden Effekts – die tiefgreifende Wirkung sozialer Erwartungen", so Studienautorin Dr. Yonat Zwebner von der Reichman Universität. "Die soziale Strukturierung ist so stark, dass sie das Aussehen einer Person beeinflussen kann."

Doch der Name allein macht sicherlich keinen Menschen aus. Die Erkenntnisse könnten auch ein neues Licht auf die Rolle anderer persönlicher Faktoren werfen – etwa Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit – und wie sehr auch sie den heranwachsenden Menschen prägen können, so die Forschenden.

Quellen:

Y. Zwebner, M. Miller, N. Grobgeld, J. Goldenberg, & R. Mayo, Can names shape facial appearance?, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 121 (30) e2405334121, https://doi.org/10.1073/pnas.2405334121 (2024).

Item URL https://www.dw.com/de/vornamen-warum-wir-aussehen-wie-wir-heißen/a-72445553?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72448864_302.jpg
Image caption Daniel? Marius? Leo? Unser Gesicht kann unseren Namen verraten.
Image source Peopleimages/Colourbox
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/Events/mp4/fit/fit20121003_studiogast_sd.mp4&image=https://static.dw.com/image/72448864_302.jpg&title=Vornamen%3A%20Warum%20wir%20aussehen%2C%20wie%20wir%20hei%C3%9Fen

Item 40
Id 72443372
Date 2025-05-06
Title Hitlers Günstlinge – Wie NS-Künstler nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Fuß fassten
Short title Kultur: Nach 1945 machten Hitlers Günstlinge Karriere
Teaser Wieland Wagner, Herbert von Karajan oder Arno Breker: Viele Musiker, Künstler und Bildhauer profitierten vom Nationalsozialismus. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg machten sie Karriere. Wie konnte das passieren?
Short teaser Viele Künstler und Musiker der Nationalsozialisten konnten auch nach dem Zweiten Weltkrieg unbescholten Karriere machen.
Full text

Beispiele gibt es viele. Hitlers großer Architekt und späterer Rüstungsminister Albert Speer beispielsweise verbüßte zwar 20 Jahre Haft wegen seiner NS-Vergangenheit. In den 1970er Jahren aber schrieb er erfolgreich Bücher über sein Leben im Nationalsozialismus. Wieland Wagner, Zögling von Adolf Hitler, machte sich in den 1950er Jahren als großer Bühnenerneuerer der Bayreuther Festspiele einen Namen und Herbert von Karajan, der gleich zweimal in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) eintrat (einmal in Österreich und einmal in Deutschland), wurde nach dem Krieg als einer der größten Dirigenten aller Zeiten gefeiert.

Der Komponist Richard Strauss, der Dirigent Wilhelm Furtwängler, die Bildhauer Arno Breker und Willy Meller, sie alle haben vom Nationalsozialismus profitiert und konnten bis auf Ausnahmen fast nahtlos nach Kriegsende wieder an ihre Erfolge aus der NS-Zeit anknüpfen. Ihre Namen standen auf der sogenannten Liste der "Gottbegnadeten", die Adolf Hitler im August 1944, in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, noch zusammenstellen ließ. Diese begünstigten Personen aus dem kulturellen Leben standen unter besonderem Schutz und wurden nicht zum Militärdienst eingezogen.

Der Übergang in die Demokratie nach dem Krieg

Wer Hitler so nah stand, musste ab 1945 ein sogenanntes Entnazifizierungsverfahren der Alliierten durchlaufen. Wilhelm Furtwängler durfte erst nach zwei Jahren Berufsverbot seine Berliner Philharmoniker wieder offiziell dirigieren. Die Bayreuther Festspielleiterin Winifred Wagner konnte ihre Position nach 1945 nicht behalten und musste die Leitung abgeben.

"Es war im Zuge der Demokratisierung ein Sicherheitsverfahren, bei dem die Menschen sehr genaue Fragebögen ausfüllen mussten, um festzustellen, wer in welchen Berufen bleiben darf", erläutert die Historikerin Hanne Leßau im Gespräch mit der DW. Das galt besonders für öffentliche Bedienstete oder hochrangige Personen. Falsche Angaben in den Fragebögen, etwa zum Eintritt in die NSDAP, wurden gerade von den amerikanischen Alliierten hart bestraft.

Der Fall Wieland Wagner

Auch Wieland Wagner stand auf der Gottbegnadeten-Liste der Nationalsozialisten. Sein Großvater, der Komponist Richard Wagner, hatte die berühmten Bayreuther Festspiele gegründet, die 1876 zum ersten Mal stattfanden. 1908 übernahmen Sohn Siegfried Wagner und später die Schwiegertochter Winifred Wagner die Leitung. Bereits in den 1920er Jahren unterstützte das Ehepaar Adolf Hitler, noch bevor dieser an die Macht kam.

"Hitler hatte freundlichsten Familienanschluss. Wieland, der Erstgeborene von Siegfried und Winifred Wagner, war als designierter Kronprinz im Zentrum der Aufmerksamkeit und durch Hitler persönlich privilegiert", sagt Sven Friedrich, Leiter des Richard Wagner Museums in Bayreuth. Für Friederich war der Bühnenbildner und Opernregisseur ein typischer Vertreter seiner Generation. "Er tut genau das, was Millionen seiner Altersgenossen auch getan haben, er verdrängt alles. Er hat nach dem Krieg immer gesagt: 'Hitler ist für mich erledigt'."

Da ist oft die Rede vom Einzelnen, der in einem totalitären System ja nichts ausrichten könne, sagt Hanne Leßau. In ihrem Buch "Entnazifizierungsgeschichten" beschäftigt sich die Historikerin damit, wie Menschen mit ihrer eigenen NS-Vergangenheit umgehen. Bei ihren Recherchen hat sie erfahren, welche Handlungsspielräume es in der Diktatur gab. "Menschen konnten sich zum Beispiel in Position bringen, um im negativen Sinne jemand anderen zu verdrängen. Sie konnten aber auch kleine Widerstände leisten, indem sie etwa Zwangsarbeitern heimlich Brot zusteckten."

Wieland Wagner gehörte zu denen, die das NS-System zu ihren Gunsten nutzten. Er wollte seinem Konkurrenten, dem erfolgreichen Bühnenbildner Emil Preetorius schaden. "Für mich ist die Grenze immer da, wo Leute Dinge zu ihrem eigenen Vorteil machen, die sie nicht hätten tun müssen. Bei Wieland Wagner war das der Umstand, dass er Emil Preetorius denunziert hat, um ihn loszuwerden", sagt Wagnerexperte Sven Friedrich. Dennoch kam Wieland Wagner im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens mit einem Bußgeld davon und übernahm zusammen mit seinem Bruder Wolfgang nach dem Krieg die Leitung der Bayreuther Festspiele. Mit seinen kargen, abstrakten Bühnenbildern erschuf er das sogenannte Neu-Bayreuth.

Neuanfang in der Kultur nach 1945?

2021 hat Wolfgang Brauneis die Ausstellung "Die Liste der ‚Gottbegnadeten Künstler' des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik" kuratiert. Er war bei Nachforschungen darauf gestoßen, das zahlreiche renommierte Akteure des nationalsozialistischen Kunstbetriebs auch nach 1945 hauptberuflich als bildende Künstler in der Bundesrepublik arbeiteten. "Der neue progressive Kunstbetrieb hat diese Künstler eigentlich ignoriert", sagt Brauneis im Gespräch mit der DW. "Diese Künstler bekamen dennoch nach 1945 im öffentlichen Raum, in Rathäusern, in Schulen, in Theatern oder Krankenhäuser und in der Industrie unfassbar viele Aufträge, die gut bezahlt wurden", sagt der Kunsthistoriker und Kurator. Die Vergangenheit spielte hier keine große Rolle, zumal auch einige Auftraggeber einen nationalsozialistischen Hintergrund hatten.

Künstler wie Hermann Kaspar oder Willy Meller profitierten in beiden Systemen. Willy Meller schuf im Auftrag der Nationalsozialisten die Monumentalfigur eines Fackelträgers für die NS-Ordensburg Vogelsang. 1962 präsentierte er im Rahmen eines Wettbewerbs seine Großskulptur "Die Trauernde" zur Eröffnung der NS-Gedenkhalle Oberhausen.

Wie konnte das passieren?

Proteste gegen diese Künstler gab es kaum. "Es hat sich keiner gemeldet, der interveniert hätte in der Kunstgeschichtsschreibung oder Kunstkritik", sagt Kunsthistoriker und Kurator Wolfgang Brauneis.

Besonders prekär sind für Brauneis Aufträge zur Ausstattung von Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus, die an Künstler aus der NS-Zeit vergeben wurden. So im Fall der "Trauernden" von Willy Meller. "Da steht man vor dem ersten NS-Dokumentationszentrum, das 1962 in Oberhausen eröffnet wurdel, und dann wird eine monumentale Figur von einem der wichtigsten Vertreter aus dem Nationalsozialismus enthüllt. Das ist unbegreiflich."

In Oberhausen ist die Arbeit von Willy Meller heute von überdimensionalen Erklärungstafeln umstellt, die Zusammenhänge erklären. "Auf diese Weise steht die Arbeit an sich nicht mehr so im Zentrum", sagt Brauneis. Für ihn ein positives Beispiel der Geschichts-Aufarbeitung - das allerdings selten ist.

Wie man heute mit den "Gottbegnadeten" umgehen sollte

Nach der Ausstellung zur "Gottbegnadeten"-Liste gab es viel Aufmerksamkeit für das Thema. In der lokalen Presse wurde an Stadträte appelliert zur Aufklärung über diese Werke beizutragen. "Ich habe den Eindruck, nach den drei Jahren ist das alles wieder in den Hintergrund geraten. Man lässt viele dieser Skulpturen dann doch so unkommentiert stehen", bedauert Wolfgang Brauneis. "Wenn da nichts getan wird, kann man wirklich das ein oder andere Werk abbauen. Diese Künstler werden sonst immer noch geehrt, indem ihre großen Arbeiten im öffentlichen Raum stehen."

Item URL https://www.dw.com/de/hitlers-günstlinge-wie-ns-künstler-nach-dem-zweiten-weltkrieg-wieder-fuß-fassten/a-72443372?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/59064637_302.jpg
Image caption Arno Breker-Büsten des Sammler-Ehepaars Irene und Peter Ludwig. Hier in der Ausstellung "Die Liste der 'Gottbegnadeten'". Breker arbeitete als Bildhauer auch für die Nationalsozialisten.
Image source Wolfgang Kumm/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/59064637_302.jpg&title=Hitlers%20G%C3%BCnstlinge%20%E2%80%93%20Wie%20NS-K%C3%BCnstler%20nach%20dem%20Zweiten%20Weltkrieg%20wieder%20Fu%C3%9F%20fassten

Item 41
Id 72430591
Date 2025-05-06
Title Met Gala: Shah Rukh Khan gibt sein Debüt in New York
Short title Met Gala: Shah Rukh Khan gibt sein Debüt
Teaser Schwarzer Dandy-Style: Bei der Met Gala haben auch Stammgäste wie Rihanna und Zendaya ihren inneren Dandy ausgepackt - und mit ihren Looks erneut Modegrenzen gesprengt. Erstmals dabei: Bollywood-Star Shah Rukh Khan.
Short teaser Motto Schwarzer Dandy-Style - wie immer bei der Met Gala wurden auch in diesem Jahr Modegrenzen gesprengt.
Full text

Bollywood-Legende Shah Rukh Khan hat Geschichte geschrieben: Als erster männlicher Bollywood-Star flanierte er am Montag über den roten Teppich der Met Gala 2025. Er trug ein schwarzes Outfit, das vom indischen Stardesigner Sabyasachi Mukherjee eigens für ihn entworfen wurde - bestehend aus einem Seidenhemd, einer Hose und einem Satin-Kummerbund. Dazu kombinierte er einen auffälligen Spazierstock mit einem Bengalischen Tiger aus 18-karätigem Gold, besetzt mit Turmalinen, Saphiren und Diamanten, sowie eine mit Kristallen verzierte "K"-Kette und eine diamantbesetzte Sternbrosche.

Der 59-jährige Shah Rukh Khan präsentierte sich ganz im Stil eines echten Dandys - passend zum Thema der neuen Ausstellung des Costume Institute "Superfine: Tailoring Black Style", die ab dem 10. Mai für die Öffentlichkeit zugänglich ist.

Designer Sabyasachi Mukherjee ist weltweit bekannt dafür, traditionelle indische Handwerkskunst mit modernem Luxus zu verbinden. Er hat nicht nur Bollywood-Bräute eingekleidet, sondern auch mit großen Marken wie H&M, Christian Louboutin und Estée Lauder zusammengearbeitet. Letztes Jahr schrieb auch er Met-Gala-Geschichte: Als erster indischer Designer lief er selbst über den roten Teppich - er hatte den traumhaften, juwelenbesetzten Sari mit einer sieben Meter langen Schleppe entworfen, den Schauspielerin Alia Bhatt bei der Gala trug.

Extravagantester Laufsteg der Modewelt

Jeden ersten Montag im Mai verwandeln sich die Stufen des Metropolitan Museum of Art in New York in den extravagantesten Laufsteg der Modewelt. Nicht selten reiben sich Beobachter die Augen angesichts dessen was dort präsentiert wird.

Die offiziell als "Costume Institute Benefit" bezeichnete Met Gala ist nicht nur eine Parade atemberaubender Outfits, sondern eben auch eine Wohltätigkeitsveranstaltung. Die gesammelten Spenden gehen an die Modeabteilung des Museums, die sich selbst finanzieren muss. Die Gala findet zeitgleich mit der Eröffnung der jährlichen Modeausstellung des Instituts statt.

Was 1948 als bescheidenes Mitternachtsessen für die New Yorker Elite begann, hat sich seit 1995 unter der Leitung von Anna Wintour, der legendären Chefin der amerikanischen "Vogue", zu einem mit Spannung erwarteten jährlichen Ereignis entwickelt - der "größten Nacht der Mode" weltweit. Und die Karten für die Met Gala - die nur auf Einladung erhältlich sind und von Frau Wintour genehmigt werden - kosten ein Vermögen.

Das Time Magazine berichtete kürzlich, dass die Stars im letzten Jahr 75.000 US-Dollar (66.000 Euro) pro Person bezahlt haben: Ein großer Unterschied zu den 50 US-Dollar pro Kopf im Jahr 1948.

Dandyismus neu definiert

Jedes Jahr gibt das Thema der Met Gala den Ton an, sowohl für die Ausstellung als auch für die Kleiderwahl der prominenten Gäste. Das diesjährige Thema, ausgewählt von Andrew Bolton, dem Chefkurator des Costume Institute, lautet "Superfine: Tailoring Black Style". Es geht um die Kleidung schwarzer Männer, aber auch um die Geschichte des Rassismus in der Vergangenheit und Gegenwart.

Inspiriert von Monica L. Millers 2009 erschienenem Buch "Slaves to Fashion: Black Dandyism and the Styling of Black Diasporic Identity" (etwa: Mode-Sklaven: Schwarzer Dandy-Stil und Identität Schwarzer Menschen in der Diaspora) erforscht die Ausstellung, wie die Mode schwarze Identitäten geprägt hat.

Miller, Professorin für Afrika-Studien am Barnard College, war auch Gastkuratorin der Ausstellung. "Dandyismus kann frivol und oberflächlich erscheinen, aber er stellt oft eine Herausforderung oder eine Überwindung sozialer und kultureller Hierarchien dar", so Miller in einer Pressemitteilung. "Er stellt Fragen zu Identität, Repräsentation und Mobilität in Bezug auf Ethnie, Klasse, Geschlecht, Sexualität und Macht. Die Ausstellung erforscht dieses Konzept sowohl als Aussage als auch als Provokation."

Bei der diesjährigen Gala steht erst das zweite Mal, nach "Bravehearts: Männer in Röcken" von 2003, die Herrenmode im Rampenlicht.

Jedes Jahr organisiert ein neu besetztes Team um die Vorsitzende Anna Wintour die spektakuläre Veranstaltung: In diesem Jahr sind es der Oscar-nominierte Schauspieler Colman Domingo, der Formel-1-Rennfahrer Lewis Hamilton, Rapper A$AP Rocky sowie Pharrell Williams - Sänger und Kreativchef der Männerlinie des französischen Modeunternehmens Louis Vuitton. Aber auch Frauen sind im diesjährigen Gastgeber-Team vertreten, so sind die Sängerin Janelle Monae und die nigerianische Schriftstellerin und Aktivistin Chimamanda Ngozi Adichie dabei.

Spaziergang durch die Modegeschichte der Met Gala

Im Laufe der Jahre haben zahlreiche Gäste der Met Gala die Modegrenzen verschoben, atemberaubende Mode zu einer Kunstform erhoben und Wellen in den sozialen Medien geschlagen. Hier ein Rückblick auf einige herausragende und ungewöhnliche Auftritte auf dem roten Teppich:

Rihanna: ein Popstar, der dem Papst Konkurrenz macht

Als die Sängerin Rihanna zur Met Gala 2018 kam, stellte sie das Thema "Heavenly Bodies: Fashion and the Catholic Imagination" buchstäblich auf den Kopf. Ihr maßgeschneidertes Maison Margiela-Ensemble von John Galliano bestand aus einem kunstvollen verzierten Kleid, für dessen Herstellung 250 Stunden Näharbeit und 500 Stunden Stickerei-Handwerk auf höchstem Niveau nötig waren. Sie krönte das Outfit mit einer funkelnden juwelenbesetzten Mitra – einer liturgischen Kopfbedeckung, die von römisch-katholischen Bischöfen getragen wird.

Katy Perry: Vom Kronleuchter zum Cheeseburger

Bei der "Camp: Notes on Fashion"-Gala 2019 hat Katy Perry allen anderen die Show gestohlen: Erst kam die Sängerin als lebensgroßer Kronleuchter mit funktionierenden Glühbirnen, der von Jeremy Scott von Moschino entworfen wurde. Für die After-Party zog sie sich dann ein Cheeseburger-Kostüm an. Scott erzählte der Vogue damals, dass er die Idee hatte, etwas zu kreieren, das "reich und streng ist, wie ein schickes altes Herrenhaus", und fügte hinzu, dass der Kronleuchter "das perfekte Ding für Katy wäre, das niemand sonst tragen würde".

Jared Leto: Seine eigene Begleitperson

Bei der selben Gala 2019 gewann der Schauspieler Jared Leto den Preis für das ausgefallenste Accessoire: eine abgetrennte Nachbildung seines eigenen Kopfes (Artikelbild). Gekleidet in ein hochgeschlossenes, rubinrotes Gucci-Kleid, das mit Juwelen besetzt war, brachte Leto eine Prise Surrealismus auf den Laufsteg.

Kim Kardashian und das (wohl) berühmteste Kleid der Welt

Für das Thema des Jahres 2022 "In America: Eine Anthologie der Mode" entschied sich Kim Kardashian für eine Legende der Popkultur: Sie zog das ikonische Jean-Louis-Kleid von 1962 an, das Marilyn Monroe trug, als sie John F. Kennedy "Happy Birthday, Mr. President" vorsang. Um in das hautenge, mit Kristallen besetzte Kleid zu passen, nahm Kardashian in drei Wochen etwa sieben Kilo ab. Eine wirklich dramatische Verwandlung. Damit zog Kardashian nicht nur alle Blicke auf sich, sondern löste auch eine Diskussion über Mode, Körperbild und die Erhaltung historischer Kleidungsstücke aus.

Doja Cat: Die perfekte Verwandlung

Die Rapperin Amalaratna Zandile Dlamini, besser bekannt unter ihrem Künstlernamen Doja Cat, sorgte 2023 für Aufsehen: Bei der Gala unter dem Motto "Karl Lagerfeld: A Line of Beauty" (mit der gleichnamigen Ausstellung ehrte das Museum den 2019 verstorbenen Modezar) verwandelte sie sich in eine (fast) echte Katze.

Und zwar nicht in eine beliebige: Ihr figurbetontes Katzenkostüm war eine Hommage an Lagerfelds geliebte Katze Choupette. Oscar de la Renta kreierte dieses spektakuläre Kostüm. Die Künstlerin verwandelte sich auch innerlich in eine Katze – sie ahmte die Bewegungen des grazilen Haustieres nach und beantwortete jede Frage mit einem gnädigen "Miau".

Adaption aus dem Englischen: Anastassia Boutsko und Silke Wünsch

Item URL https://www.dw.com/de/met-gala-shah-rukh-khan-gibt-sein-debüt-in-new-york/a-72430591?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72444366_302.jpg
Image caption Bollywood-Legende Shah Rukh Khan zeigt seine berühmte Pose bei der Met Gala 2025
Image source Evan Agostini/Invision/AP Photo/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72444366_302.jpg&title=Met%20Gala%3A%20Shah%20Rukh%20Khan%20gibt%20sein%20Deb%C3%BCt%20in%20New%20York

Item 42
Id 72415543
Date 2025-05-02
Title Kommt das Universal-Gegengift für Schlangenbisse?
Short title Kommt das Universal-Gegengift für Schlangenbisse?
Teaser Hunderte Male ließ sich ein US-Amerikaner absichtlich von Giftschlangen beißen oder injizierte sich Schlangengift. Aus seinen Antiköpern entwickelten Forschende ein breit wirksames Gegenmittel.
Short teaser Jahrelang ließ sich ein Mann von Giftschlangen beißen. Aus seinen Antiköpern wurde ein Gegengift entwickelt.
Full text

Die Angst vor Schlangen ist uns angeboren. Diese Tiere gruseln viele Menschen - selbst in Ländern, in denen man ihnen kaum begegnet. Bereits wenige Monate alte Babys zeigen Stressreaktionen beim Anblick der Tiere.

Die Urangst vor Schlangen kommt nicht von ungefähr: Jährlich verursachen Schlangenbisse 81.000 bis 138.000 Todesfälle und 300.000 bis 400.000 dauerhafte Schädigungen.

Bisse von Giftschlangen können bisher nur mit spezifischen Gegengiften, sogenannten Antivenomen, behandelt werden. Die meisten davon wirken allerdings nur gegen eine einzige oder wenige verwandte Schlangenarten.

Zudem wissen Betroffene und entsprechend auch das medizinische Personal oftmals nicht, welche Schlange tatsächlich gebissen hat. Immerhin gibt es weltweit etwa 600 giftige Schlangenarten.

Jetzt haben US-Forschende die Grundlage für ein möglicherweise breit wirkendes Gegengift bei Schlangenbissen gefunden. Die Ergebnisse veröffentlichten sie im Fachjournal "Cell". Ein Antivenom, das gegen mehrere Schlangengifte wirkt, könnte die Behandlung stark vereinfachen.

BITTE NICHT NACHMACHEN!

Die US-Forschenden verwendeten dafür das Blut eines Spenders, der sich innerhalb von 18 Jahren freiwillig 856 Mal dem Gift von diversen Schlangen ausgesetzt hat. Timothy Friede hat sich absichtlich mehr als 200 Mal von Giftschlangen beißen lassen und sich hunderte Injektionen mit tödlichem Schlangengift verabreicht.

Bereits als Schüler kam der Amateur-Schlangensammler aus dem US-Bundesstaat Wisconsin auf die lebensgefährliche Idee, irgendwie eine Immunität gegen Giftschlangen zu entwickeln, um vor giftigen Bissen geschützt zu sein. So molk er das Gift seiner Haustiere und injizierte sich das Gift verdünnt.

Mit Erfolg: Sein Körper entwickelte entsprechende Antikörper. Wie jeder andere Mensch blutet natürlich auch Friede nach den schmerzhaften Bissen und die Bissstellen schwellen an. Aber er überlebt die Bisse von Nattern, Kobras, Mambas oder Klapperschlangen.

Die Suche nach dem Universalgegengift

Da Friede seine schmerzhaftes Hobby seit 1998 filmt und bei YouTube hochlädt, wurde irgendwann der Immunologe Jacob Glanville auf die Videos aufmerksam. Wenig später gründeten der Pharmaexperte und der ehemalige LKW-Mechaniker Tim Friede für die gemeinsame Suche nach einem universellen Gegengift die Firma CentiVax.

18 Jahre und hunderte Bisse später identifizierten die Forschenden in Friedes hyperimmunem Blut zwei breit neutralisierende Antikörper: LNX-D09 und SNX-B03. Das daraus gewonnene Gegenmittel wirkt in Mausexperimenten gegen das Gift von 19 der weltweit giftigsten Schlangen.

"Ohne diesen sehr besonderen Spender Timothy Friede wäre die Entwicklung des Antivenoms nur schwer möglich gewesen", urteilt der nicht an der Studie beteiligte Prof. Dr. Michael Hust, Direktor der Abteilung Medical Biotechnology an der Technischen Universität Braunschweig.

Langer Weg bis zum Medikament

Nicht jede Giftschlange ist gleich gefährlich. Abhängig von der Gefährlichkeit werden sie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in zwei Kategorien eingestuft: 109 der giftigsten Schlangenarten gehören in die Kategorie 1, der Rest in Kategorie 2.

Durch das von den US-Forschenden entwickelte Gegengift entsteht im Maus-Experiment ein vollständiger Schutz gegen zehn Schlangen der WHO-Kategorie 1 und drei Schlangen der Kategorie 2 sowie ein Teilschutz gegen fünf Schlangen der Kategorie 1 und eine Schlange der Kategorie 2.

"In den nächsten Schritten sollte der Cocktail auch an größeren Tieren getestet werden, da sich die Toxizität der einzelnen Schlangengifte bei größeren Säugetieren und Mäusen unterscheiden kann." Es sei aber noch ein langer Weg, bis daraus ein potenzielles Medikament entwickelt werde, das für Menschen nicht gefährlich ist, so Hust.

Forschung an Gegengiften lohnt sich nicht

Zudem sei es laut Hust fraglich, ob sich die Entwicklung von Gegengiften für die Pharmafirmen lohne. "Die größte Herausforderung bei der Entwicklung von Therapeutika gegen 'vernachlässigte Krankheiten', wie zum Beispiel Vergiftungen durch Schlangenbisse, ist nicht wissenschaftlicher, sondern ökonomischer Natur. Überspitzt ausgedrückt: Krebs, Autoimmunkrankheiten und Haarausfall sind wirtschaftlich lukrativ. Ist aber auch ein Medikament gegen Schlangenbisse wirtschaftlich tragbar? Ich wünsche Glanville und Friede, dass es ihnen gelingt, dieses Medikament weiterzuentwickeln, um mehr als 100.000 Menschen jährlich zu helfen."

Dass solch ein Medikament allerdings gegen Bisse sämtlicher Schlangenarten wirksam sein kann, bezweifelt Dr. Andreas Laustsen-Kiel, Professor und Leiter der Section for Biologics Engineering an der Technical University of Denmark.

Für die Untersuchung wurden nur Gegengifte ausgewählt, bei denen es den gewünschten Effekt gab. "Man hat einfach diejenigen ausgewählt, die funktionieren. Die Arbeit ist dennoch großartig, allerdings sollten aus der Studie nicht mögliche Übertreibungen über ein 'universelles Gegengift, das kurz vor der Markteinführung steht' resultieren." Statt der Suche nach einem 'universellen Gegengift' wären "regional breit wirksame Gegengifte" sinnvoll.

Prof. Laustsen-Kiel würdigt Friedes Verdienste zwar, warnt gleichzeitig aber, dass seine lebensgefährlichen Selbstversuche "andere Menschen dazu inspiriert, 'im Namen der Wissenschaft' ähnliche Dinge zu tun", die dann wohlmöglich kein gutes Ende nehmen.

Quellen:

Snake venom protection by a cocktail of varespladibvand broadly neutralizing human antibodies. Cell. DOI:10.1016/j.cell.2025.03.050.
Itsy Bitsy Spider…: Infants React with Increased Arousal to Spiders and Snakes
https://www.frontiersin.org/journals/psychology/articles/10.3389/fpsyg.2017.01710/fullSchlangen
,

Item URL https://www.dw.com/de/kommt-das-universal-gegengift-für-schlangenbisse/a-72415543?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72416425_302.jpg
Image caption Weltweit gibt es etwa 600 giftige Schlangenarten und die Gegenmittel wirken meist nur gegen eine einzige Schlangenart.
Image source Dikky Oesin/Zoonar/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72416425_302.jpg&title=Kommt%20das%20Universal-Gegengift%20f%C3%BCr%20Schlangenbisse%3F

Item 43
Id 72400082
Date 2025-05-01
Title Warum Russlands Wirtschaft Sekundärsanktionen so fürchtet
Short title Warum Russland Sekundärsanktionen so fürchtet
Teaser Bis jetzt hat sich die russische Wirtschaft trotz der westlichen Sanktionen als relativ widerstandsfähig präsentiert. Was passiert aber, wenn die USA den Sanktionsdruck erhöhen?
Short teaser Bis jetzt wirkte die russische Wirtschaft trotz Sanktionen relativ stabil. Neue US-Sanktionen könnten das ändern.
Full text

Seit mehr als drei Jahren rätseln die Beobachter im Westen, in welcher Verfassung die russische Wirtschaft ist. Mal scheint sie unter dem Druck der westlichen Sanktionen zu ächzen, dann wieder macht sie einen überraschend widerstandsfähigen Eindruck mit Wachstumsraten von zuletzt über vier Prozent. So war das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2023 um 4,1 Prozent und 2024 um 4,3 Prozent gewachsen.

Doch mittlerweile scheint der durch die Umstellung auf Kriegswirtschaft befeuerten Konjunktur die Puste auszugehen. Von einer Halbierung auf nur noch zwei Prozent ist bei vielen Ökonomen die Rede. Für das laufende Jahr sieht das Kieler Institut für Weltwirtschaft das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur noch um 1,5 Prozent steigen, für 2026 erwarten die Forscher nur noch ein Plus von 0,8 Prozent.

Selbst die Russische Zentralbank rechnet mit einer Abkühlung der Konjunktur und hält nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax "an ihrer Wachstumsprognose für das russische BIP von 1,0 bis 2,0 Prozent für 2025 und 0,5 bis 1,5 Prozent für 2026 fest". Besonders pessimistisch ist das Münchner Ifo-Institut, das davon ausgeht, dass die russische Wirtschaft nach einem kleinen Plus in diesem Jahr 2026 um 0,8 Prozent schrumpfen wird.

Schwieriges Umfeld

Der Zinssatz der russischen Notenbank liegt mit aktuell 21 Prozent extrem hoch, was die Investitionen der Privatwirtschaft ausbremst. Vor allem im Automobilsektor und im Maschinenbau herrscht Flaute. Auch die Baubranche und die Stahlindustrie kriseln.

Dass der Rubel das Kunststück fertig gebracht hat, seit Jahresanfang gegenüber dem US-Dollar um rund 40 Prozent zuzulegen, war vor allem eine Reaktion auf die Russland-freundliche Haltung von US-Präsident Donald Trump, erklärt Vasily Astrov, Russland-Experte am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) im Interview mit der DW.

"Als Präsident Trump an die Macht gekommen ist, hat er gesagt, er werde einen radikal anderen Kurs gegenüber Russland fahren als sein Vorgänger, Präsident Biden." Er habe eine verstärkte Zusammenarbeit mit Russland und die Lockerung oder sogar die Aufhebung der US-Sanktionen gegen Russland in Aussicht gestellt, so Astrov. "Das alles hat zu einer Euphorie auf den russischen Finanzmärkten geführt und die russischen Aktienkurse sind massiv gestiegen, der russische Rubel hat aufgewertet." Was aber passiert, wenn diese Euphorie ins Gegenteil umschlägt?

Banken-Sanktionen treffen Russland hart

Im November 2024 hatten die USA die seit 2014 bestehenden Sanktionen gegen die russische Gazprombank verschärft und das Finanzinstitut aus dem US-Bankensystem ausgeschlossen. Ihr Handel mit US-Partnern wurde unterbunden und ihr Vermögen in den USA eingefroren. Die Sanktionen trafen die Gazprombank, weil sie als zentraler Akteur bei der Abwicklung von Zahlungen für Gaslieferungen und der Finanzierung militärischer Projekte fungiert. Die EU hatte die Gazprombank bis Ende 2024 von Sanktionen ausgenommen, um europäischen Gasimporteuren weiterhin die Zahlung für russisches Gas zu ermöglichen.

Nach Verkündung der US-Sanktionen gegen die Gazprombank im Herbst verlor der Rubel innerhalb kurzer Zeit ein Viertel seines Werts gegenüber dem US-Dollar. Am Aktienmarkt gab es regelrechte Panikverkäufe und massive Kursverluste - besonders im Finanz- und Energiesektor.

Kein Wunder, dass Russlands Entscheidungsträger genau hingehört haben, was Donald Trump nach seinem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Ende April in Rom andeutete: Vielleicht sei es an der Zeit, "mit ihm (Wladimir Putin, Anm. d. Red.) anders umzugehen" und über Maßnahmen im "Bankenbereich oder Sekundärsanktionen" nachzudenken.

Mit "Sekundärsanktionen" sind Maßnahmen gegen Drittländer, Unternehmen oder Einzelpersonen gemeint, die weiterhin mit Russland Geschäfte machen.

Neue Sanktionen im US-Senat in Vorbereitung

Der republikanische Senator und Trump-Vertraute Lindsey Graham reagierte auf Trumps Äußerungen mit einem Post auf der Kurznachrichtenplattform X. Graham und mehrere Dutzend Unterstützer aus Republikanern und Demokraten seien bereit, die Sanktionen auf Länder ausweiten, die russische Energieprodukte importieren.

Es gebe einen "parteiübergreifenden Gesetzesentwurf mit fast 60 Mitunterzeichnern, der Sekundärzölle auf jedes Land erheben würde, das russisches Öl, Gas, Uran oder andere Produkte kauft", schrieb Graham in seinem Tweet am 26. April.

China, Indien und die Türkei im Visier

Das würde vor allem Indien und China treffen, erklärt der Wiener Experte Astrov. "China ist mittlerweile der wichtigste Handelspartner Russlands und war 2024 für rund 40 Prozent der russischen Importe und 30 Prozent der russischen Exporte verantwortlich. Auch die Einfuhr wichtiger Importgüter für die Militärindustrie findet über China und Hongkong statt." Daneben spiele auch Indien eine zentrale Rolle. "China und Indien absorbieren mehr als die Hälfte der gesamten russischen Ölexporte", so Astrov.

Dass sich China nicht an den westlichen Sanktionen gegen Russland beteiligt, sei absehbar gewesen. Dass Indien neutral bleiben würde, sei ebenfalls keine große Überraschung gewesen. "Die große Überraschung war die Türkei. Weil sich die Türkei den westlichen Sanktionen ebenfalls nicht angeschlossen hat, obwohl die Türkei Nato-Mitglied ist und eine Zollunion mit der Europäischen Union hat."

Zahlungsverkehr mit Russland wird komplizierter

Unter US-Präsident Biden sei die Einhaltung der Sekundärsanktionen streng überwacht und ihre Nichteinhaltung mehrmals bestraft worden, so Astrov. "Da geht es um Banken, chinesische Banken, türkische Banken, die Importzahlungen aus Russland angenommen haben. Sie wurden stark unter Druck gesetzt von der US-Regierung unter Joe Biden."

Unter Trump habe es dann eine massive Abkehr von der früheren US-Politik gegenüber Russland gegeben, nicht nur bei der Rhetorik. "So ist zum Beispiel die Abteilung im Finanzministerium, die früher für Maßnahmen gegen die Vermögenswerte russischer Oligarchen in den USA zuständig war, inzwischen aufgelöst worden und die Überwachung der Einhaltung der Sekundärsanktionen wurde ebenfalls massiv gelockert", sagt Astrov.

Wie stark eine Verschärfung der US-Sekundärsanktionen durch Donald Trump Russlands Partner treffen würden, lässt sich trotzdem nur schwer voraussagen. Denn nach aktuellen Recherchen der Nachrichtenagentur Reuters haben russische Banken ein spezielles Verrechnungssystem namens "China Track" aufgebaut, um den Zahlungsverkehr mit China abzuwickeln und westlichen Sanktionen zu entgehen.

Umgehung der Sanktionen mit "China Track"

Laut Banken-Insidern gebe es das System schon seit einiger Zeit, es werde von mehreren sanktionierten russischen Banken betrieben. Dabei kommen Zwischenhändler in Ländern zum Einsatz, die weiter mit Russland Handel treiben. Das Netzwerk arbeitet den Reuters-Recherchen zufolge bereits seit einiger Zeit ohne größere Störungen.

Würden damit mögliche US-Sanktionen gegen chinesische Banken ins Leere laufen? "Ich schließe nicht aus, dass die chinesischen Partner bald keine Angst mehr vor sekundären Sanktionen haben werden", zitiert Reuters Alexander Schokhin, Chef des russischen Unternehmerverbands "Union of Industrialists and Entrepreneurs" (RSPP), der an den Handelsgesprächen mit China teilnimmt.

Item URL https://www.dw.com/de/warum-russlands-wirtschaft-sekundärsanktionen-so-fürchtet/a-72400082?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70638565_302.jpg
Image caption Ein Drittel des russischen Staats-Budgets stammt aus dem Energiesektor und dabei vor allem aus dem Ölexport
Image source Greenpeace NORDIC - Denmark, Fin/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/jd/jd20240705_Schattenflotte_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/70638565_302.jpg&title=Warum%20Russlands%20Wirtschaft%20Sekund%C3%A4rsanktionen%20so%20f%C3%BCrchtet

Item 44
Id 72399436
Date 2025-04-30
Title Faktencheck: Hat zu viel Solarstrom den Blackout ausgelöst?
Short title Faktencheck: Hat zu viel Solarstrom den Blackout ausgelöst?
Teaser Mehr als einen Tag dauerte der großflächige Stromausfall in Spanien und Portugal. Die Ursachenforschung läuft noch. Eine der Thesen: Zu viel Solarstrom habe den Stromausfall verursacht. Stimmt das?
Short teaser Die Ursachenforschung nach dem Blackout in Spanien und Portugal läuft noch. Eine Annahme: zu viel PV-Strom. Stimmt das?
Full text

Kaum waren in Spanien und Portugal die Lichter ausgegangen, da schossen schon die Spekulationen ins Kraut: Eine Cyberattacke, atmosphärische Störungen und sogar Außerirdischewurden als mögliche Erklärung herangezogen. Während die spanische Regierung die Möglichkeit eines Cyber-Angriffs auf das spanische Stromnetzuntersucht, schloss der Chef des spanischen Übertragungsnetzbetreibers REE, Eduardo Prieto, dies aus.

Extreme Frequenzschwankung

Laut Prieto haben offenbar zwei separate Zwischenfälle im Südwesten Spaniens binnen 1,5 Sekunden die Netzfrequenz derart aus dem Gleichgewicht gebracht, dass daraufhin in kürzester Zeit Kraftwerke mit einer Leistung von 15 Gigawatt (GW) ausfielen - fast die Hälfte der zu dem Zeitpunkt aktiven Kraftwerksleistung.

Bei sehr großen und plötzlich auftretenden Abweichungen kann es zu einer Fehlerkaskade kommen. Dabei löst eine extreme Frequenzschwankung Mechanismen bei anderen Kraftwerken (und Großverbrauchern) aus, die diese Anlagen dann automatisch vom Netz nehmen.

Prieto bezeichnete es als "sehr gut möglich", dass dieser Dominoeffekt durch Solarkraftwerke ausgelöst worden sein könnte. Haben also Kritiker von erneuerbaren Energien recht, wenn sie sagen, ein Überangebot an Solarstrom hätte den Blackout ausgelöst?

Behauptung: "Die Erneuerbaren, hier Solar, haben in Spanien gerade den ersten größeren #Stromausfall verursacht, konkret durch ein Überangebot an Solar", schreibt ein angeblicher Physiker mit deutschem Accountauf X (ehemals Twitter) und erreicht damit fast 100.000 Views (Stand 30.04.2025, 16:40).

Er beruft sich unter anderem den deutschen Chemieprofessor, Manager und Energiewendekritiker Fritz Vahrenholt. Dieser hatte in einem X-Postmit mehr als 400.000 Views erklärt, dass vor dem Netzausfall in Spanien die Erzeugung von Erneuerbaren Energien, insbesondere Solar, stärker als der Bedarf anstiegen sei.

DW-Faktencheck: Unbelegt

Die Ursache des Stromausfalls ist nach wie vor nicht abschließend geklärt. Richtig ist, dass die Solarenergie zum Zeitpunkt des Stromausfalls mit 19,3 GW etwa 60 Prozent der im spanischen Netz verfügbaren Leistung bereitstellte. Zudem dominierten im Südwesten Spaniens allem Anschein nach die Solarkraftwerke die Stromproduktion.

Haben sich plötzlich alle PV-Anlagen abgeschaltet?

Für Energiewendekritiker Fritz Vahrenholt steht fest, dass der Überschuss von PV-Strom im spanischen Netz die "primäre Ursache" war, wie er der DW auf Anfrage per E-Mail mitteilte. Dadurch sei Spanien gezwungen gewesen, Strom nach Frankreich zu exportieren.

Die "sekundäre Ursache" sei dann gewesen, dass die Exportleitung wegfiel. In der Folge seien dann "alle" PV-Anlagen "schlagartig" vom Netz gegangen.

Dass sich die PV-Anlagen abrupt abschalten, dürfte eigentlich nicht passieren. Denn seit 2016 gelten in der EU einheitliche Vorschriften für Stromerzeuger.

Diese sehen vor, dass PV-Anlagen nach und nach ihre Einspeisung reduzieren müssen, wenn die Netzfrequenz aufgrund eines Stromüberhangs den Grenzwert von 50,2 Hertz übersteigt.

"In Spanien hat man bereits Ende der 2000er Jahre begonnen mit entsprechenden Netzanschlussrichtlinien dafür zu sorgen, dass sich PV-Anlagen plötzlichen Netzstörung nicht einfach vom Netz trennen", erklärt Sönke Rogalla, der am Fraunhofer Institut ISE die Netzintegration von erneuerbaren Erzeugungsanlagen erforscht. Diese Eigenschaften würden vor der Inbetriebnahme im Rahmen von Zertifizierungsverfahren überprüft.

Auch die verfügbaren Daten widersprechen Vahrenholts These: Wären alle Solaranlagen gleichzeitig vom Netz gegangen, hätten nicht 15 GW, sondern mindestens 20,4 GW Strom gefehlt. Die PV-Leistung betrug zum Zeitpunkt des Blackouts nämlich mindestens 17 GW. Vorsorglich vom Netz genommen wurden aber auch die Kernkraftwerke, die 3,4 GW einspeisten.

Ist viel PV-Strom ein Problem für Stromnetze?

Dass Spaniens Stromnetzverbindungen zu Frankreich und Portugal beim Stromausfall gekappt wurden, ist dokumentiert. Ob dies aber der Auslöser der Probleme in Spanien war oder eher einer der Dominosteine, ist noch nicht abschließend geklärt.

Fest steht: Spanien exportierte kurz vor der Netztrennung im Saldo 3 GW. So viel Strom stand durch die Unterbrechung der Stromleitungen also in Spanien plötzlich mehr zur Verfügung. Ein solcher Vorfall stellt zweifellos eine große Belastung für jedes Stromnetz dar.

Vahrenholt meint, der geringe Anteil von Kohle- und Kernkraftwerken in Spanien sei dabei ein zusätzliches Problem gewesen. Die Turbinen solcher Kraftwerke wirken nämlich frequenzglättend.

Diesen stabilisierenden Effekt nennt man Momentanreserve, und daran habe es in Spanien vermutlich gefehlt, schreibt auch Enrique Garralaga, Managing Director bei einer Tochter des deutschen PV-Komponenten-Herstellers SMA, in einem Beitrag auf LinkedIn.

"Die technischen Lösungen liegen vor"

Auch Fraunhofer-Forscher Rogalla bestätigt, dass dies zum Blackout beigetragen haben könnte. Dennoch wirft er einen ganz anderen Blick auf den Vorfall in Spanien: "Der Blackout in Spanien ist kein PV-Versagen, sondern vermutlich ein Systemversagen. Insofern sehe ich das als dringende Erinnerung an, dass der Umbau des Energiesystems große Herausforderungen birgt."

Mit den heute verbauten Anlagen ist es nicht möglich, allein mit Solar- und Windkraft ein Stromnetz zu betreiben. Die Darstellung, dass ein hoher Anteil erneuerbarer Energie ein unlösbares Problem sei, weist Rogalla zurück: "Wir lernen ständig dazu. Die technischen Lösungen liegen mittlerweile vor, nun müssen wir uns daran machen, sie zu implementieren."

Die scheidende Bundesregierung hat einen möglichen Weg dazu bereits in einer Roadmap beschrieben. Für die Implementierung neuer Lösungen auf EU-Ebene hat die Regulierungsbehörde ACER bereits einen Vorschlag vorgelegt.

Fazit: Die These, dass "ein Überangebot an Solar(strom)" der Grund für den Blackout war, lässt sich nicht belegen. Ein hoher Anteil erneuerbaren Stroms im Netz gehört zwar zu den großen Herausforderungen der Energiewende, er ist aber kein unlösbares Problem.

Item URL https://www.dw.com/de/faktencheck-hat-zu-viel-solarstrom-den-blackout-ausgelöst/a-72399436?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72384215_302.jpg
Image caption Ungewohnte Kulisse: Während des Stromausfalls lag die andalusische Stadt Granada fast im Dunkeln
Image source Fermin Rodriguez/NurPhoto/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72384215_302.jpg&title=Faktencheck%3A%20Hat%20zu%20viel%20Solarstrom%20den%20Blackout%20ausgel%C3%B6st%3F

Item 45
Id 72395946
Date 2025-04-30
Title Globale Studie: Was Menschen wirklich zufrieden macht
Short title Glück: Was Menschen wirklich zufrieden macht
Teaser Spaß und Reichtum sind nicht alles: Eine neue globale Studie zeigt, wer in welchen Ländern besonders glücklich ist. Die beunruhigende Botschaft: Junge Menschen sind durchweg unzufriedener.
Short teaser Spaß und Reichtum sind nicht alles. Eine neue globale Studie zeigt, wer in welchen Ländern besonders glücklich ist.
Full text

Bin ich zufrieden? Was macht mich glücklich? Meine Partnerschaft? Meine Familie? Meine Arbeit? Das Bruttosozialprodukt eines Landes sagt nichts darüber aus, wie es den Menschen dort geht. Geld allein macht also nicht glücklich. Auch in reichen Ländern können Menschen einsam und unzufrieden sein.

Gleichzeitig braucht es einen gewissen Wohlstand und Sicherheit, damit Menschen hoffnungsvoll sind und sich wohlfühlen. Ob und wann wir zufrieden sind, hängt dabei von unseren subjektiven Einschätzungen, von unserem persönlichen Wohlbefinden ab.

Was ein glückliches Leben ausmacht und in welchen Ländern Menschen besonders zufrieden sind, hat ein internationales Team mittels neuer Umfragedaten im Rahmen einer "Global Flourishing Study" (GFS) erforscht. "Flourishing" bedeutet, nach einem Leben zu streben, das mit Bedeutung, Freude und persönlichem Fortkommen erfüllt ist.

Wissenschaftliche Suche nach einem erfüllten Leben

Die im Fachjournal "Nature Mental Health" veröffentlichten Ergebnisse unterscheiden sich je nach Land ganz erheblich. Es geht dabei nicht um ein Länderranking, schreiben die Forschenden. Denn es muss nicht nur am Land, sondern auch an den Antworten der Befragten aus den Ländern liegen. Und Ergebnisse aus 22 Ländern bilden auch nicht die ganze Welt ab.

Aber einige generelle Aussagen gelten dennoch fast überall: Personen, die eine Arbeit haben, die in einer Partnerschaft leben oder die regelmäßig an religiösen Veranstaltungen teilnehmen, haben zumeist ein erfüllteres Leben.

"Geschlechterunterschiede sind gering; Verheiratete berichten durchweg von höherem Flourishing als Personen anderer Familienstände; Erwerbstätige und Personen im Ruhestand schneiden besser ab als Nichterwerbstätige; ein höherer Bildungsstand sowie häufigere Teilnahme an religiösen Veranstaltungen - zum Beispiel Gottesdiensten - gehen mit höherem Flourishing einher", erklärt die nicht an der Studie beteiligte Leonie Steckermeier, Juniorprofessorin für Angewandte Soziologie an der Universität Kaiserslautern-Landau.

Globale Umfrage widerspricht dem World Happiness Report

Neben demografischen Angaben und Fragen zur Kindheit wurden unterschiedliche Bereiche des Lebens abgeklopft: Die Gesundheit, das subjektive Wohlbefinden, der Lebenssinn, der Charakter, Beziehungen und finanzielle Sicherheit.

Daraus ergibt sich ein "Flourishing"-Index. Das "Flourishing"-Konzept soll übergreifend die Qualität aller Lebensbereiche einer Person erfassen. Dazu wurden weltweit mehr als 200.000 Personen befragt - unter anderem auch in Deutschland. Diese Befragungen werden mit denselben Personen in den kommenden Jahren jeweils jährlich wiederholt, um Veränderungen im Zeitverlauf analysieren zu können.

Forschende würdigen vor allem den umfangreichen Datensatz der neuen Studie, dessen Resultate sich zum Teil auch erheblich von dem jährlich erscheinenden World-Happiness Report unterscheiden, so Prof. Dr. Hilke Brockmann, Assoziierte Professorin für Soziologie an der Constructor University Bremen: "So deckt sich das Ranking der Länder nicht mit dem des diesjährigen World Happiness Reports (WHP), der die reichen skandinavischen Nationen (immer) ganz oben sieht. Und umgekehrt rangiert Indonesien auf Platz 1 in der GFS, beim WHP 2025 jedoch auf Platz 83."

Glück im Alter, Sorgen in der Jugend

Besonders überraschend sind auch die Befunde zum "Flourishing" im Lebensverlauf: Viele Glücksforscher gehen von einem U-förmigen Verlauf der Lebenszufriedenheit aus.

Allerdings variiert das subjektive Wohlbefinden im Lebensverlauf je nach Land deutlich: So steigt das "Flourishing" mit dem Alter zum Beispiel in Australien, Brasilien, Japan, Schweden und den USA an. In Indonesien, Kenia und der Türkei bleibt es im Lebensverlauf gleich, während es in Indien oder Tansania im Laufe des Lebens sinkt.

"Das ist spannend und rätselhaft. Eine Erklärung jenseits der Vermutung, dass sich hier eine neue Entwicklung abzeichnet, können die Autoren nicht geben.

Überhaupt hält die neue Studie wenig Erklärungen über mögliche Ursachen bereit. Sie liefert auch keine Empfehlungen. "Rätselhaft bleiben auch die verschiedenen länderspezifischen Unterschiede. Das liegt daran, dass das 'Flourishing'-Konzept sehr allgemein von Kontexten spricht, ohne diese genauer auszubuchstabieren", so Steckenmeier. Die erhobenen Daten können aber dabei helfen, die nationalen Unterschiede "dezidiert aufzuschlüsseln und kausal zu erklären".

Jugend ist prägend fürs ganze Leben

Besonders traurig und auch besorgniserregend ist, dass jüngere Generationen "sowohl in ihrem subjektiven als auch in ihrem mentalen Wohlbefinden deutlich hinter dem Niveau früherer Generationen zurückbleiben", so die Juniorprofessorin für Angewandte Soziologie an der Universität Kaiserslautern-Landau.

Insgesamt "findet sich ein überraschend niedriges Flourishingniveau in den jüngeren Altersgruppen. Dies ist, wie die Autor:innen auch selbst anmerken, aus wissenschaftlicher Perspektive überraschend und aus Policy-Perspektive beunruhigend."

Die neue Studie zeigt anschaulich, wie stark die Zufriedenheit von einer psychischen und physischen Gesundheit, von engen sozialen Beziehungen und der finanziellen und materiellen Stabilität anhängig ist.

Und dass "belastende Lebensumstände in der Kindheit mit einem geringeren 'Flourishing' im Erwachsenenalter verbunden sind", so Steckenmeier, wie etwa die Beziehung zu den Eltern, die finanzielle Situation im Haushalt oder die eigenen Gesundheit im frühen Jugendalter. "Dabei wird auch der lange Schatten früherer Kindheitsereignisse - wie etwas Kindesmissbrauch - sichtbar", so die Soziologin Hilke Brockmann.

Quelle:

The Global Flourishing Study: Study Profile and Initial Results on Flourishing. Nature Mental Health. DOI: 10.1038/s44220-025-00423-5.

Item URL https://www.dw.com/de/globale-studie-was-menschen-wirklich-zufrieden-macht/a-72395946?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70692456_302.jpg
Image caption Partnerschaften, sicheres Einkommen und religiöse Gemeinschaften fördern laut neuer Studie ein erfülltes Leben
Image source Matthias Balk/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/emd/emd20241116_01HappinessHacker_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/70692456_302.jpg&title=Globale%20Studie%3A%20Was%20Menschen%20wirklich%20zufrieden%20macht

Item 46
Id 72397790
Date 2025-04-30
Title Mysteriöser Mord: Wer war die Autorin Alexandra Fröhlich?
Short title Alexandra Fröhlich: Wer war die deutsche Autorin?
Teaser Die deutsche Schriftstellerin Alexandra Fröhlich wurde letzte Woche tot auf ihrem Hausboot in Hamburg aufgefunden. Ihre halb-autobiografischen Romane greifen persönliche Verbindungen in die Ukraine und nach Russland auf.
Short teaser Die erfolgreiche deutsche Schriftstellerin wurde vergangene Woche tot auf ihrem Hausboot in Hamburg aufgefunden.
Full text

Noch ist vieles unklar. Der leblose Körper der 58-jährigen Bestsellerautorin Alexandra Fröhlich wurde am 22. April in ihrem Zuhause, einem Hausboot am Holzhafenufer im Hamburger Stadtteil Moorfleet, entdeckt. Die Polizei hat inzwischen bestätigt, dass sie durch Gewalteinwirkung ums Leben kam. Es wird wegen Mordes ermittelt, ein Tatverdächtiger wurde bislang nicht öffentlich benannt.

Ehe mit einem Russen inspirierte erste Romane

In ihren ersten Romanen verarbeitete Alexandra Fröhlich ihre gescheiterte Ehe mit einem Russen. Der literarische Durchbruch gelang ihr 2012 mit dem Roman "Meine russische Schwiegermutter und andere Katastrophen". In dem halb-autobiografischen Werk erzählt sie die Geschichte der deutschen Anwältin Paula, die sich in einen russischen Mann verliebt - und sich plötzlich im chaotischen Kosmos seiner dominanten Mutter wiederfindet.

Mit Witz und Selbstironie nahm Fröhlich kulturelle Klischees und familiäre Missverständnisse aufs Korn, die sie selbst als Teil einer deutsch-russischen Familie erlebt hatte.

Der Roman verkaufte sich in Deutschland über 50.000 Mal und schaffte es somit auf die "Spiegel"-Bestsellerliste - quasi das deutsche Pendant der "New York Times Best Sellers". 2015 erschien unter dem Titel "Ma belle-mère russe et autres catastrophes" auch eine französische Ausgabe.

Zwei Jahre später folgte die Fortsetzung "Reisen mit Russen". Darin reist Paula nach Kyjiw, um sich mit ihrem Ehemann Artjom zu versöhnen - nur um festzustellen, dass er spurlos verschwunden ist. Was folgt, ist eine ebenso komische wie nachdenkliche Reise, gespickt mit skurrilen Begegnungen und vielen Fragen zum Thema Identität und Entwurzelung.

Wie schon ihr Debüt basierte auch dieser Roman stark auf Fröhlichs eigenen Erfahrungen als einstige Ehefrau eines Russen.

Familiendramen mit Tiefgang und schwarzem Humor

Mit ihrem dritten Roman "Gestorben wird immer" - erschienen 2016 bei Penguin - wagte sich Alexandra Fröhlich an eine Familiengeschichte mit Krimi-Elementen und bewies dabei erneut ihr Gespür für feine Zwischentöne und schrägen Witz.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die 91-jährige Agnes Weisgut, die Matriarchin eines Hamburger Steinmetzbetriebes. "Der Tod war Agnes' Geschäft", heißt es im Klappentext des Buches. Die alternde Frau beschließt, vor ihrem Tod ein umfassendes Geständnis über die Geheimnisse ihres Lebens abzulegen. Der Roman handelt von den Traumata der Kriegsgeneration in Ostpreußen und wurde für seinen schrägen Humor gelobt.

"Ich liebe einfach Familiengeschichten, gerade wenn eine Sippe wie die der Weisguts so herrlich dysfunktional ist", sagte die Autorin damals in einem Interview mit ihrem Verlag.

2019 erschien mit "Dreck am Stecken" ein weiterer Roman über familiäre Verstrickungen. Diesmal geht es um vier entfremdete Brüder, die sich nach dem Tod des Großvaters wiedersehen. Ein geheimnisvoller Koffer mit alten Dokumenten konfrontiert sie mit bislang verdrängten Wahrheiten.

Bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete, arbeitete Fröhlich als Redakteurin bei verschiedenen Frauenzeitschriften. Ihre journalistische Laufbahn begann sie jedoch in Kyjiw, wo sie in der frühen postsowjetischen Zeit ein Frauenmagazin gründete.

Alexandra Fröhlich hinterlässt drei Söhne.

Adaption aus dem Englischen: Petra Lambeck

Item URL https://www.dw.com/de/mysteriöser-mord-wer-war-die-autorin-alexandra-fröhlich/a-72397790?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72381216_302.jpg
Image caption Alexandra Fröhlich - Porträt von 2013
Image source Melanie Dreysse/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72381216_302.jpg&title=Mysteri%C3%B6ser%20Mord%3A%20Wer%20war%20die%20Autorin%20Alexandra%20Fr%C3%B6hlich%3F

Item 47
Id 72398250
Date 2025-04-30
Title Ein Leben im Exil: Zum Tod des Dichters Daud Haider
Short title Ein Leben im Exil: Zum Tod des Dichters Daud Haider
Teaser Ein einziges Gedicht führte Daud Haider in die Verbannung. Er sollte nie wieder in seine Heimat Bangladesch zurückkehren. Jetzt starb er in Berlin.
Short teaser Ein einziges Gedicht führte Haider in die Verbannung. Zurück nach Bangladesch durfte er nie. Jetzt starb er in Berlin.
Full text

Eigentlich sah die Zukunftsperspektive rosig aus für den jungen Daud Haider, Sohn einer großen, wohlhabenden Familie von Dichtern und Schriftstellern im damaligen Ostbengalen. Er war eine Art Shooting-Star der dortigen Lyrikszene, 1973 wurde eins seiner Gedichte von der Londoner Society of Poetry als "Best Poem of Asia" ausgezeichnet.

Aber schon ein Jahr später zerstörte ein einziges regierungskritisches Gedicht das Leben des damals 22-jährigen Studenten. Er wurde verhaftet und wenige Monate später ins Flugzeug nach Kolkata in Indien gesetzt. Seitdem lebte er im Bann der Fatwa, lange vor seinen Schriftstellerkollegen Salman Rushdie und Taslima Nasreen. Über 50 Jahre ein Leben im Exil - der Schmerz darüber, seine Sehnsucht nach der Heimat, verließen ihn nie.

In Kolkata schrieb Daud Haider ununterbrochen weiter, studierte, baute sich eine Existenz auf, erinnert sich ein alter Bekannter der Familie Haider, der Journalist Abdullah Al-Farooq, der später noch einmal eine wichtige Rolle spielen sollte.

Günter Grass bringt Haider nach Deutschland

Zwölf Jahre blieb Haider in Indien. Aber dann sollte er auch seine neue Heimat verlassen, die indischen Behörden wollten sein Visum nicht verlängern. Ein Fall, der sogar international Wellen schlug. Die Schriftstellervereinigung PEN America, namentlich Susan Sontag und Kurt Vonnegut, schrieben einen Appell an den damaligen indischen Premierminister Rajiv Gandhi - vergeblich. Dadurch jedoch wurde ein deutscher Schriftsteller auf Daud Haider aufmerksam: Günter Grass, damals schon weltbekannt, lebte zu dieser Zeit in Kolkata. Er schrieb höchstpersönlich einen Brief an den damaligen Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. So kam Daud Haider 1986 nach Berlin.

Am Anfang war das Interesse an Daud Haider groß. Er erhielt Stipendien, Einladungen, wurde interviewt. Aber irgendwann wurde es stiller um ihn. Der Alltag kam und damit auch finanzielle Sorgen - bis eines Tages die Deutsche Welle anrief. Abdullah Al-Farooq, der alte Bekannte aus Bangladesch, suchte für die neu gegründete Bengali-Redaktion Mitarbeiter. Und Daud Haider war immer noch ein bekannter Name in seiner Heimat, ein Coup also. 1989 schrieb Daud Haider die ersten Artikel für die DW. Seine Themen: Heimat und Heimatlosigkeit. Er war in allem leidenschaftlich, sagt Al-Farooq: als Dichter, als Journalist, als Dissident.

Die Sünde, in Bangladesch geboren zu sein

Debarati Guha, Direktorin der Asien-Programme der Deutschen Welle, erinnert sich an viele Gespräche mit Daud Haider, mit dem sie bis zuletzt im regen Austausch stand: "Er sagte: In Bangladesch geboren zu sein, war seine Sünde. Eine Sünde, weil er sich kritisch gegenüber dem Islam geäußert hatte. Die Sünde aber hatte er nur aus Liebe für sein Land begangen. Diesen Zwiespalt trug er bis an sein Lebensende mit sich, und dieser verlieh Daud eine besondere Sensibilität, wenn er dichtete oder als Journalist für die DW arbeitete."

An die 30 Bücher hat Daud Haider im deutschen Exil geschrieben, die meisten davon erschienen in Indien, einige in Bangladesch, nur einzelne Gedichte wurden ins Deutsche übersetzt. Richtig heimisch wurde er in Deutschland nie. Aber wohin hätte er gehen können? Auch die deutsche Staatsbürgerschaft, die ihm angeboten wurde, lehnte er ab. Stattdessen besaß er ein spezielles UN-Visum, das ihn als "staatenlos (Bangladesch)" auswies. So empfand Daud Haider seine Identität.

Einer der bedeutendsten Dichter Bangladeschs

Obwohl Daud Haider mehr als 50 Jahre lang nicht nach Bangladesch zurückkehren durfte, wird er dort bis heute verehrt. Zu seinem Tod am 26. April 2025 erschienen dort und auch in indischen Zeitungen zahlreiche Nachrufe, die sein Werk und die Person würdigten. Amit Chaudhuri, indischer Schriftsteller, Musiker und Literaturkritiker, schrieb: "Sein Weggang lässt uns in einer seltsam gewordenen Welt zurück."

Item URL https://www.dw.com/de/ein-leben-im-exil-zum-tod-des-dichters-daud-haider/a-72398250?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72398372_302.jpeg
Image caption Dichter und DW-Mitarbeiter im Exil: Daud Haider
Image source Mubashar Hasan
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72398372_302.jpeg&title=Ein%20Leben%20im%20Exil%3A%20Zum%20Tod%20des%20Dichters%20Daud%20Haider

Item 48
Id 72396270
Date 2025-04-30
Title 100 Tage Trump: Boom oder drohende Rezession?
Short title 100 Tage Trump: Boom oder drohende Rezession?
Teaser Trump hat in den ersten 100 Tagen mit Zöllen und Dekreten Chaos verursacht. Märkte stürzten ab, weltweites Vertrauen ging verloren. Hat er die US-Wirtschaft gestärkt oder Risiken verschärft?
Short teaser Hat Donald Trump mit seiner Wirtschaftspolitik die US-Wirtschaft gestärkt oder die wirtschaftlichen Risiken verschärft?
Full text

Schon vor der US-Wahl im November 2024 war die Sorge groß, dass eine zweiten Präsidentschaft von Donald Trump Turbulenzen und Spannungen innerhalb der USA und auch mit anderen Ländern bringen könnte. Wie sehr er dann in den ersten 100 Tagen tatsächlich die Weltwirtschaft durcheinanderwirbelte, hat aber doch viele überrascht.

Mit einer Flut von Durchführungsverordnungen hat er begonnen, seine radikale Agenda umzusetzen, den Welthandel umzukrempeln und Massenabschiebungen zu initiieren. Außerdem wurden unter seiner Ägide die Bundesausgaben gekürzt und Bürokratie drastisch abgebaut durch die neu gegründete Behörde für Regierungseffizienz (Department of Government Efficiency, DOGE).

Trump hat der amerikanischen Öffentlichkeit ein "goldenes Zeitalter" des Wohlstands versprochen. Doch mit noch nie dagewesenen Zöllen auf importierte Waren hat seine Politik Unternehmen und Verbraucher stark verunsichert.

Trumps Rhetorik steht im Widerspruch zur Realität

Am stärksten betroffen sind Käufer von in China hergestellten Produkten, da auf solche Importe nun 145 Prozent Zoll anfallen.

Auch an den Finanzmärkten lief es anders als erwartet. Viele hatten damit gerechnet, dass die Aktienmärkte unter Trump 2.0 neue Allzeithochs erreichen würden und seine Unterstützung für Kryptowährungen eine neue Welle von Bitcoin-Käufen auslösen würde.

Doch die unberechenbare Art und Weise, wie Trump seine Zollpolitik vorantrieb, brachte Anleger dazu, dem normalerweise sicheren Hafen USA den Rücken zu kehren. Die Finanzmärkte gerieten ins Taumeln, der US-Dollar hat sich abgeschwächt und der Welthandel ist ins Wanken geraten.

Statt der "Bonanza für Amerika", die Trump in den sozialen Medien versprochen hat, gibt es nun das Risiko einer Rezession in den USA und der Weltwirtschaft.

Etwa die Hälfte der von der National Association for Business Economics (NABE) befragten Ökonomen meinen, dass die USA in diesem Jahr mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 bis 49 Prozent in eine Rezession schlittern. Bei den von der Nachrichtenagentur Reuters befragten Ökonomen warnen zwei Drittel vor einer "hohen" oder "sehr hohen" Wahrscheinlichkeit eines globalen Abschwungs.

Trump testet "strategisches Chaos" bis zum Äußersten

Das von Trump verursachte "strategische Chaos", wie einige Analysten sagen, hat Investoren, Verbündete und Gegner in die Defensive gedrängt. Nur China stellt sich im Zollstreit hart gegenüber den USA auf. Die Europäische Union (EU) hat dagegen Null-zu-Null-Zölle auf Industriegüter angeboten, also die Abschaffung aller Zölle auf beiden Seiten. Der US-Börsenindex S&P 500 liegt unterdessen immer noch zehn Prozent unter seinem Allzeithoch vom Februar.

Breite Zustimmung findet Trump damit im eigenen Land nicht. Sein Politikstil, die unorthodoxen Entscheidungen und die provokante Rhetorik mögen seine Stammwähler ansprechen, doch bei den meisten Amerikanern verfangen sie nicht: In einer neuen Umfrage von Pew Research wird Trump von 59 Prozent der Befragten abgelehnt.

Trump selbst lobt seine Wirtschaftspolitik und behauptet, sie werde Produktion zurück in die USA bringen und Arbeitsplätze schaffen. Viele Politiker und Experten sind dagegen überzeugt, dass die Politik des US-Präsidenten erheblichen wirtschaftlichen, sozialen und diplomatischen Schaden anrichtet.

"Es waren 100 Tage der Zerstörung", sagte der ehemalige demokratische Vizepräsidentschaftskandidat Tim Walz am Montagabend auf einer Veranstaltung der Harvard University. "Glauben Sie, wir können weitere 550 Tage überleben? Das ist die eigentliche Herausforderung, so lange dauert es noch bis zu den Zwischenwahlen."

Wie steht es um den Ruf der USA?

Der Ruf als stabilisierende Wirtschaftsmacht, den die USA in der Welt genossen, hat unter Trump ebenfalls erheblich gelitten. Das Anzweifeln des Klimawandels und die nachlassende Unterstützung internationaler Institutionen wie IWF und Weltbank tragen weiter dazu bei, das der Glaube an Amerikas Engagement für die globale Zusammenarbeit schwindet.

Der schwedische Wirtschaftswissenschaftler Lars Palsson Syll sieht die Schuld beim oft unberechenbaren Führungsstil des Präsidenten. "Trump hat unablässig neue Zölle verhängt, um sie dann auszusetzen und mehr als einmal wieder einzuführen", so der Wirtschaftshistoriker am Malmö University College zur DW. "Wie wir aus seiner ersten Amtszeit wissen, sind Trumps Entscheidungen sehr schwer vorherzusehen, was an sich schon zu größeren Turbulenzen beiträgt."

Zudem hat Trump geholfen, dass die Republikanische Partei im US-Kongress die Mehrheit hat. So wurden nahezu alle von ihm nominierten Kabinettsmitglieder rasch bestätigt, und beide Kammern billigten die Verlängerung des Bundeshaushalts bis September. Eine signifikante Opposition gegen Trumps Wirtschaftspolitik habe es dadurch nach Ansicht einiger Analysten nicht gegeben.

"Obwohl der Kongress theoretisch die finanziellen Fäden in der Hand hält und die Höhe der Ausgaben festlegt, gab es von den Mitgliedern so gut wie keinen Widerstand gegen Trumps Maßnahmen, die Größe des Staatsapparates radikal zu reduzieren", schrieb Paul Ashworth, Chefökonom für Nordamerika bei Capital Economics in London, in einem Forschungsbericht. "Die Demokraten haben keinerlei Widerstand geleistet."

Bereit für die nächsten 100 Tage?

Trumps Befürworter loben sein Handeln bei von ihnen empfundenen Problemen wie illegale Einwanderung und staatliche Verschwendung. Kritiker verweisen dagegen auf die zahlreichen rechtlichen Anfechtungen seiner Durchführungsverordnungen. Sie werden als Zeichen gesehen, dass der Präsident versucht, demokratische Normen auszuhebeln. Seit dem 20. Januar hat Trump mehr als 140 solcher Verordnungen erlassen.

"Während seiner Präsidentschaftskampagne sagte Trump offen, dass er im Falle seiner Wiederwahl wie ein Diktator handeln würde", so Palsson Syll. "In dieser Hinsicht scheint er sein Wort gehalten zu haben." Wenn Trump diesen Weg weiterverfolge, warnt der schwedische Wissenschaftler, "wird er wahrscheinlich die größte Bedrohung für die amerikanische Demokratie sein, die es im letzten Jahrhundert gegeben hat".

Noch nicht eingelöst hat Trump sein Wahlversprechen, die "größten Steuersenkungen in der Geschichte" durchzuführen. Sie sollen einen Wirtschaftsboom auslösen. Es gibt immer mehr Spekulationen, dass diese Senkungen in den nächsten Wochen angekündigt werden, nachdem Finanzminister Scott Bessent erklärt hat, er wolle das mehrere Billionen Dollar schwere Paket bis Anfang Juli verabschieden.

Harte Arbeit kommt erst noch

Capital Economics prognostizierte unterdessen, dass die kommenden Monate eher von der Finanzpolitik als von Zöllen geprägt sein werden, da der Kongress mit dringenden Fristen für den Bundeshaushalt und die Schuldenobergrenze der USA zu kämpfen hat. Sollten diese Fristen nicht eingehalten werden, könnte dies zu weiterer finanzieller Unsicherheit führen, warnen die Analysten.

"Jetzt beginnt die wirklich harte Arbeit. Die republikanische Führung sucht eine Einigung zwischen den Defizit-Falken, die drastische Kürzungen bei den obligatorischen Ausgaben wollen, und den Gemäßigten, die das nicht wollen", so Ashworth von Capital Economics. "Wenn die Republikaner keine Einigung erzielen können, werden die Märkte wegen der Schuldenobergrenze, die im August oder September einen Krisenpunkt erreicht, nervöser werden."

Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt.

Item URL https://www.dw.com/de/100-tage-trump-boom-oder-drohende-rezession/a-72396270?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72391828_302.jpg
Image caption US-Präsident Donald Trump startete einen Zollkrieg mit seinen am 2. April verkündeten weltweiten sogenannten reziproken Zöllen
Image source Scott Olson/Getty Images/AFP
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72391828_302.jpg&title=100%20Tage%20Trump%3A%20Boom%20oder%20drohende%20Rezession%3F

Item 49
Id 72336289
Date 2025-04-30
Title Hängt der Zahlungsverkehr in Europa ab von US-Unternehmen?
Short title Hängt der Zahlungsverkehr in Europa ab von US-Unternehmen?
Teaser Visa, Mastercard, Paypal - US-Unternehmen dominieren den bargeldlosen Zahlungsverkehr in vielen Ländern der EU. Die Europäische Zentralbank warnt vor dieser Abhängigkeit. Was aber sind die Alternativen für Europa?
Short teaser Visa, Mastercard, Paypal - US-Firmen dominieren den bargeldlosen Zahlungsverkehr in vielen EU-Ländern. Gibt es Lösungen?
Full text

Seit Donald Trump erneut an der Macht ist, wird überall besorgt geschaut, wo Abhängigkeiten von den USA bestehen und ob sie gefährlich werden könnten. In den Blick gerät dabei auch der digitale Zahlungsverkehr.

Christine Lagarde, die Direktorin der Europäischen Zentralbank (EZB) ist alamiert. "Wir müssen diese Verwundbarkeit mindern und sicherstellen, dass es ein europäisches Angebot gibt - für alle Fälle. Man kann nie wissen…", sagte sie kürzlich in einem Interview mit Newstalk. "Es ist wichtig, digitale Zahlungen unter unserer Kontrolle zu haben."

Unterschiedliche Abhängigkeit in der EU

In Europa werden sehr viele Zahlungsvorgänge bargeldlos gemacht. Von den bargeldlosen Zahlungen im ersten Halbjahr 2024 wurden 56 Prozent per Karte durchgeführt. Das waren mehr als 40 Milliarden Transaktionen, so die EZB. Beim Blick auf den Zahlungsverkehr zwischen Konsumenten und Unternehmen zeigt sich, dass die einzelnen EU-Länder in unterschiedlichem Maß abhängig von amerikanischen Kartenzahlungssystemen wie Visa oder Mastercard sind.

Einige Länder wie Irland oder die Niederlande haben sich nach Angaben der EZB in totale Abhängigkeit von Visa und Mastercard begeben. Andere, wie Deutschland oder Frankreich haben eigene Kartenzahlungssysteme implementiert und hängen somit weniger von US-Unternehmen ab. In Deutschland hat die Girocard (früher EC-Karte) einen Marktanteil bei Kartensystemen von über 70 Prozent. In Frankreich haben nationale Kartensysteme einen Anteil von fast 80 Prozent.

Wie groß ist das Problem wirklich?

Einer, der einen kritischen Blick auf diese Zahlen wirft, ist Hugo Godschalk, ein Berater, der seit rund 40 Jahren im Bereich Zahlungsverkehr tätig ist. Er betont, wenn man sich den europäischen Gesamtzahlungsverkehr anschaue, also auch Transaktionen zwischen Unternehmen mit einbeziehe, würde wertmäßig weniger als ein Prozent über US-Systeme abgewickelt. "Da kann man natürlich nicht von einer Dominanz reden", so der Geschäftsführer des Beratungsunternehmens PaySys Consultancy.

Auch das Argument der EZB, bei grenzüberschreitenden Zahlungen würden nationale Systeme nicht funktionieren, stimme nur für den Kauf an der Kasse im Ausland, aber nicht für den Onlinehandel innerhalb Europas, so Godschalk.

Pay per App

Aber auch an anderer Stelle ist Europa verwundbar. Neben Kartenzahlungen werden immer öfter Einkäufe per Handy mittels Apps beglichen. Hier dominieren ebenfalls Produkte von US-Technologiekonzernen wie Apple Pay, Google Pay oder PayPal. Diese Zahlungen machten schon fast ein Zehntel der Transaktionen im Einzelhandel aus, wie Philip Lane, Chefökonom der EZB bei einem Vortrag in Irland im März sagte. Das jährliche Wachstum sei hier zweistellig.

Diese US-Konzerne unterliegen den Regulierungen und geopolitischen Interessen der US-Regierung. Auch Datenschutz und die Kontrolle über Zahlungsdaten sind problematisch, da viele Transaktionen über Server in den USA laufen und damit der US-Gesetzgebung unterliegen. "Diese Abhängigkeit setzt Europa dem Risiko wirtschaftlichen Drucks und Zwangs aus und hat Auswirkungen auf unsere strategische Autonomie", warnte Lane.

Russlands Lösung für die EU?

Was für Europa bisher nur ein Gedankenspiel ist, wurde in Russland nach dem Angriff auf die Ukraine 2022 zur Realität. Im März 2022 stellten Visa, Mastercard, American Express und Paypal ihre Geschäfte in Russland ein. Doch Wladimir Putin hatte vorgesorgt.

"Er hat schon vor Jahren angeordnet, dass das Processing der inländischen Transaktionen mit Visa und Mastercard innerhalb von Russland stattfinden soll", erklärt Godschalk. Das heißt: Die Autorisierung der Zahlung, das Clearing und das Settlement erfolgen über russische Prozessoren. Damit konnte auch weiterhin mit von russischen Banken ausgestellten Visa und anderen Kreditkarten innerhalb Russlands bezahlt werden - allerdings nicht im Ausland.

Das könnte auch eine vorübergehende Lösung sein für Europa, meint Godschalk. In diesem Fall müssten Zahlungen nicht mehr über Visa oder Mastercard laufen. So könnten US -Unternehmen innereuropäische Kartenzahlungen nicht boykottieren.

Kurzfristig funktioniert so etwas allerdings nicht. Auf europäischer Ebene eine entsprechende Richtlinie oder Verordnung zu erstellen, würde mindestens 2 bis 3 Jahre dauern, vermutet Godschalk.

Warten auf den digitalen Euro

Godschalk hält die Warnungen der EZB vor der Abhängigkeit im Zahlungsverkehr als Verkaufsargument für die Idee des digitalen Euros. Der digitale Euro ist Geld der Zentralbank, ebenso wie Bargeld, und damit risikofrei.

Das digitale Geld auf Bankkonten ist dagegen Geschäftsbankengeld, also von den Banken geschaffenes Geld. Theoretisch ist es weniger sicher, denn geht die Bank Pleite, wäre das Geld weg. Praktisch sichert aber die Einlagenversicherung der Banken die Kunden vor so einem Verlust.

Das Projekt digitaler Euro wird von der EZB seit 2021 vorangetrieben. Seit Juni 2023 liegt dazu ein Gesetzesvorschlag der EU-Kommission dem Europäische Parlament vor. Eine Entscheidung fehlt bis heute. Sie aber muss das Rahmenwerk liefern, unter welche Bedingungen der digitale Euro kommt, beispielsweise ob alle Banken verpflichtet sind, ein digitales Eurokonto anzubieten und ob die Händler das akzeptieren müssen. Daher ist auch die Einführung des Digitalen Euro ungewiss und wird im Zweifel noch Jahre dauern.

Bislang seien weder die Banken begeistert, da ihnen Teile ihres Geschäfts weggenommen werde, und auch für die Konsumenten gebe es keine überzeugenden Gründe, auf ein neues System zu setzten, so Godschalk.

Bezahlsystem Wero noch in den Anfängen

Ein eigenes europäisches Zahlungssystem als Konkurrenz zu US-amerikanischen Systemen will auch die European Payments Initiative (EPI) einführen. Dafür haben sich Ende 2020 europäische Zahlungsdienstleister und Banken aus mehreren Ländern zusammengeschlossen.

Ihr neues Bezahlsystem Wero ist im Juli 2024 gestartet. Einige deutsche Banken ermöglichen bereits mobile Zahlungen mit Wero. Anders als bei normalen Überweisungen braucht es bei Wero keine 22-stellige Kontonummer (IBAN) des Empfängers. Für die Geldübertragung kann eine Mobiltelefonnummer oder E-Mail-Adresse genutzt werden - ähnlich wie bei Paypal.

Das Problem ist nur: Wer kennt schon Wero? Bei einer Umfrage im Auftrag des Vergleichsportals Verivox Ende Oktober 2024 haben fast 90 Prozent der 1000 in Deutschland Befragten angegeben, dass sie nicht wissen, was Wero ist.

Und ein eigenes europäisches Kreditkartensystem?

Bleibt die Frage, warum es Europa kein eigenes Kreditkartensystem parallel zu den amerikanischen aufstellt. "In der Vergangenheit gab es mehrere Anläufe, um ein europäisches Kartensystem zu etablieren", sagt Godschalk. Aber gerade in Deutschland und Frankreich sei das Interesse an großen Investitionen in ein europäisches Kartensystem gering gewesen, weil der Umfang der grenzüberschreitenden Transaktionen relativ gering ist. Doch am Ende wurden diese Systeme verkauft - ausgerechnet an US-Unternehmen.

Item URL https://www.dw.com/de/hängt-der-zahlungsverkehr-in-europa-ab-von-us-unternehmen/a-72336289?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/61030804_302.jpg
Image caption Ist Europa abhängig von Visa und Mastercard? Der Zahlungsverkehr ist das Öl auf den Zahnrädern des Binnenmarktes und wenn dieses Öl fehlt, dann drehen sich diese Zahnräder nicht mehr vernünftig
Image source Boris Roessler/dpa/picture-alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/md/md241001_HistoryOfPayment_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/61030804_302.jpg&title=H%C3%A4ngt%20der%20Zahlungsverkehr%20in%20Europa%20ab%20von%20US-Unternehmen%3F

Item 50
Id 72390342
Date 2025-04-30
Title Blackout: Wie wir uns auf Stromausfälle vorbereiten sollten
Short title Blackout: Wie wir uns auf Stromausfälle vorbereiten sollten
Teaser Durch Naturkatastrophen, Sabotage-Angriffe und die Energiewende werden längere Stromausfälle auch in Europa wahrscheinlicher. Ein Großteil der Bevölkerung ist auf solchen Krisensituationen nur unzureichend vorbereitet.
Short teaser Längere Stromausfälle werden auch in Europa wahrscheinlicher. Viele Bürger sind auf solche Krisen kaum vorbereitet.
Full text

Es gibt viele Spekulationen, aber wenig Klarheit, was zum plötzlichen Blackout in Spanien, Portugal, Andorra und Teilen Frankreichs geführt hat. Laut dem Chef des spanischen Übertragungsnetzbetreibers Red Eléctrica de España könnte die Ursache in der Solarstromerzeugung liegen.

Jedenfalls verschwanden in nur fünf Sekunden plötzlich 15 Gigawatt (GW) Stromerzeugung aus dem Netz, schrieb die spanische Tageszeitung El País, was 60 Prozent des Stroms entsprach, der zu diesem Zeitpunkt in Spanien verbraucht wurde. Fünf Sekunden reichten, damit das System zusammenbrach und für Stunden Chaos herrschte.

Im Gegensatz zu anderen Weltregionen sind solche kompletten Stromausfälle im hochtechnisierten Europa sehr selten. Das führt zu einem trügerischen Sicherheitsgefühl, denn trotz aller Vorsichtsmaßnahmen sind die kritischen Infrastrukturen anfällig für technische Störungen, für die immer häufigeren und intensiveren Naturkatastrophen oder für Sabotage- oder Cyberangriffe. Hinzu kommen die großen Herausforderungen, welche die Energiewende nicht nur für das europäische Stromsystem mit sich bringt.

Anfällige Infrastruktur

Was auch immer letztlich einen Blackout auslöst, längere Stromausfälle stellen eine Bedrohung für unsere energiehungrige Gesellschaft dar, schreibt der Blackout- und Krisenvorsorgeexperte Herbert Saurugg in einem Gastbeitrag für den Focus Online im Januar 2025. "Die allgegenwärtige Abhängigkeit von elektrischer Energie macht uns extrem verwundbar gegenüber den Folgen eines solchen Ereignisses."

Plötzlich bleiben Straßenbahnen und Züge stehen, Fahrstühle stecken fest, Handys und elektrische Geräte funktionieren nicht mehr, Geldautomaten und Geschäftskassen auch nicht, die Heizung fällt aus, es gibt kein Leitungswasser mehr und es wird dunkel. In einigen Krankenhäusern oder öffentlichen Einrichtungen springen Notstromaggregate an, aber: "ohne Stromversorgung käme unser Leben, wie wir es kennen und meist für selbstverständlich halten, plötzlich vollständig zum Erliegen", so Saurugg.

Zumal "mit dem eingeschlagenen Weg 'all electric' in Zukunft noch viel mehr Anwendungen wie die Mobilität oder die Wärmeversorgung von dieser zentralen Infrastrukturversorgung abhängen werden," so Saurugg, der auch Präsident der Gesellschaft für Krisenvorsorge (GfKV) ist.

Risikoanalyse der Bundesregierung zur Energiewende

"Deutschlands Stromnetz gehört zu den sichersten und stabilsten weltweit", heißt es in einer Risikoanalyse der Bundesregierung. Trotz Energiewende, Atomausstieg, zunehmender Elektromobilität oder Wärmepumpen sei die Energieversorgung in Deutschland sehr sicher.

"Großflächige und langanhaltende Stromausfälle hat es in Deutschland nur äußerst selten gegeben. Sie bleiben auch weiterhin sehr unwahrscheinlich. Etwas häufiger, aber immer noch sehr selten kommt es zu kurzen und lokal begrenzten Stromausfällen."

Bei einem "Stresstest" von vier Netzbetreibern im Auftrag des Wirtschaftsministeriums "kam es selbst unter verschärften äußeren Bedingungen im Winter 2022/23 zu keinen längeren und krisenhaften Stromausfällen in Deutschland. Ein solches Szenario gilt als sehr unwahrscheinlich, kann aber generell nie vollständig ausgeschlossen werden".

Gleichzeitig zeigte der Stresstest aber auch, dass es in bestimmten Regionen in Europa eine Energieunterversorgung gab und dass sehr kritische Szenarien für wenige Stunden im Jahr auch in Deutschland auftreten können.

Längerfristige Folgen eines Blackouts

Ein Blackout sei mehr als nur ein großer Stromausfall, wie oft angenommen wird, so Saurugg, der sich seit 2011 vor allem mit möglichen überregionalen Strom-, Infrastruktur- und Versorgungsausfällen beschäftigt. Denn ein großflächiger und länger andauernder Stromausfall führe zu einem schwerwiegenden und länger andauernden Zusammenbruch der Versorgungsketten. Auch die öffentliche Sicherheit sei gefährdet.

Zwar könne die "Stromversorgung wahrscheinlich innerhalb von vielen Stunden oder Tagen wiederhergestellt werden." Dagegen könne "der Ausfall der Telekommunikation durch Schäden und Störungen erheblich länger dauern. Die Wiederaufnahme von Produktion, Logistik und Versorgung erfordert jedoch stabile Strom- und Kommunikationsnetze."

Es könne "bis zu zwei Wochen dauern, bis die Versorgung mit lebenswichtigen Gütern wieder anläuft, und Monate, bis sich die Lage normalisiert. Die wirkliche Krise beginnt daher erst, wenn der Strom bereits wieder fließt", so Saurugg.

Unzureichende Vorsorge bei Bevölkerung

Besonders problematisch sei laut Saurugg, dass die Gesellschaften in Mitteleuropa auf einen Blackout und seine Folgen nicht ausreichend vorbereitet seien. "Das größte Risiko liegt daher nicht im Stromausfall selbst, sondern in der weitverbreiteten Naivität gegenüber einem solchen Szenario und der mangelnden Eigenvorsorge in der Bevölkerung sowie der generell fehlenden Vorsorge." Die Gefahren würden unterschätzt und als Panikmache abgetan, so der Blackout-Experte.

Nur etwa ein Drittel der Bevölkerung sei laut Umfragen und Studien in der Lage, sich länger als eine Woche selbst versorgen zu können. Selbst Mitarbeiter von Einsatzorganisationen, Behörden und Betreibern kritischer Infrastrukturen sind oft nicht besser vorbereitet als der Durchschnittsbürger.

Seit Jahren raten Behörden wie das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe dazu, für einen möglichen Blackout und Krisensituationen vorzusorgen.

Dazu zählen unter anderem ein ausreichender Wasservorrat, eine Erste-Hilfe-Ausrüstung und ausreichend persönliche Medikamente. Außerdem haltbare Lebensmittel wie Nudeln, Reis und Konserven für mindestens 14 Tage Selbstversorgung sowie Power- oder Müsli-Riegel. Auch Kerzen, Feuerzeuge und Streichhölzer, Taschenlampen mit Ersatzbatterien, Camping-Kocher und Outdoor-Lampen, solarbetriebene Batterieladegeräte oder Powerbanks sowie ein Kurbel- oder batteriebetriebenes Radio und Bargeld sollten für den Krisenfall im Haus sein.

Quellen:

Stromausfall – eine Risikoanalyse

https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/stromausfall-blackout-2129818

Vorsorgen für den Stromausfall

https://www.bbk.bund.de/DE/Warnung-Vorsorge/Tipps-Notsituationen/Stromausfall/stromausfall_node.html

Krisenvorsorgeexperte Herbert Saurugg: Zittern vor dem Blackout: Warum wir auf das Schlimmste nicht vorbereitet sind https://www.focus.de/wissen/zittern-vor-dem-blackout-warum-wir-auf-das-schlimmste-nicht-vorbereitet-sind_id_260623075.html

Item URL https://www.dw.com/de/blackout-wie-wir-uns-auf-stromausfälle-vorbereiten-sollten/a-72390342?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72384131_302.jpg
Image caption Gespenstische Dunkelheit im spanischen Granada: Viele Europäer sind auf längere Stromausfälle nicht vorbereitet
Image source Fermin Rodriguez/NurPhoto/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/jd/jd20241227_DEUUkraineStromausfaelle_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/72384131_302.jpg&title=Blackout%3A%20Wie%20wir%20uns%20auf%20Stromausf%C3%A4lle%20vorbereiten%20sollten

Item 51
Id 72386424
Date 2025-04-29
Title "Konklave": Papstwahl als Polit-Thriller
Short title "Konklave": Papstwahl als Polit-Thriller
Teaser 135 Kardinäle werden ab dem 7. Mai in einem Konklave den Nachfolger von Papst Franziskus bestimmen. Der Oskar-prämierte Film "Konklave" kam zum richtigen Zeitpunkt und ist schon jetzt eine Sensation in der Popkultur.
Short teaser Der Oskar-prämierte Film "Konklave" machte die Papstwahl zum popkulturellen Phänomen.
Full text

Nach dem Tod von Papst Franziskus am 21. April 2025 muss der Vatikan Anfang Mai sein neues geistliches Oberhaupt wählen. Kardinäle aus aller Welt werden in der Sixtinischen Kapelle unter Ausschluss der Öffentlichkeit über den neuen Papst abstimmen.

Das als Konklave bezeichnete geheime Wahlverfahren hat nichts Geringeres als Ziel, als den Vertreter Gottes auf Erden zu bestimmen. Die Wahl des Pontifex war im Laufe der Jahrhunderte Gegenstand vieler Spekulationen, politischer Intrigen und künstlerischer Interpretationen.

Da die Kardinäle zum Schweigen verpflichtet sind, kann nur der neue Papst öffentlich über die geheimen Vorgänge bei der Wahl sprechen. Der jetzt verstorbene Papst Franziskus beschrieb etwa in seinen Memoiren 2024 die Intrigen hinter der Wahl des Nachfolgers von Papst Johannes Paul II. im Jahr 2005. Einige Kardinäle wollten nicht für den im Nachhinein siegreichen Kandidaten Benedikt XVI. stimmen und stellten Franziskus als Gegenkandidaten auf, um Stimmen vom deutschen Kardinal abzuziehen. Franziskus selbst entschied sich gegen seine Wahl und stimmte für Benedikt.

Eine "perfekte Geschichte"

Der britische Autor Robert Harris war so fasziniert von den Machtspielen bei den Papstwahlen, dass er beschloss, den rätselhaften Prozess in seinem Roman "Konklave" zu behandeln. Das Buch erschien 2016.

"Eigentlich soll Gott die Kardinäle dazu bewegen, den Papst zu wählen, aber zwischen den Sitzungen in der Sixtinischen Kapelle gibt es auch jede Menge Politik", sagte der Autor bei der Veröffentlichung seines Romans in einem Interview mit dem Verlag Penguin.

Das Buch konzentriert sich auf den Dekan des Kardinalskollegiums, das den Pontifex wählt, und seine Rolle bei den geheimen Absprachen, versteckten Agenden und Leaks, die vor der endgültigen Wahl stattfinden.

"Mich faszinierte das Gefühl, eingeschlossen zu sein, sowie der straffe Zeitrahmen", erklärt Harris. "Für mich war es eine perfekte Geschichte, und ich bin überrascht, dass noch keiner vor mir diesen Stoff aufgegriffen hat."

Harris, der mit dem Bestseller "Vaterland" (1992) - einem Nazi -Thriller, dessen Handlung sich in einem fiktiven Dritten Reich abspielt, das den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat und nun Europa dominiert - berühmt wurde, fühlte sich auch von den akribisch geplanten Ritualen bei der Papstwahl angezogen. Was spielt sich hinter den Kulissen ab? Wie werden die Stimmen abgegeben? Wie werden die Stimmzettel danach verbrannt?

Die heilige Zeremonie zur Wahl des geistlichen Oberhaupts von etwa 1,3 Milliarden Katholiken weltweit könne auch ziemlich "profan" sein, sagt Harris, besonders wenn es um einen Machtkampf zwischen den Fraktionen gehe.

"Konklave" auf der großen Leinwand

Dass die Verfilmung des Papstwahl-Thrillers ausgerechnet 2024 für die Leinwand adaptiert wurde, kann man nicht anders als ein perfektes Timing bezeichnen. Weniger als zwei Monate vor dem Tod von Papst Franziskus wurde der Film von Edward Berger mit einem Oscar (für das beste adaptierte Drehbuch) ausgezeichnet.

Mit Ralph Fiennes in der Hauptrolle als Dekan des Kardinalskollegiums und Isabella Rossellini in der Rolle einer ehrwürdigen Schwester, die die Entscheidung der männlichen Wähler ebenso mitprägt, deckt der fiktive Film die Intrigen des geheimen Konklaves auf.

Das von Kritikern hochgelobte Vatikan-Drama beschwört eine Glaubenskrise in der Kirche herauf und wurde acht Mal für den Oscar nominiert, unter anderem für den besten Film. Es hat wesentlich dazu beigetragen, die Papstwahl zu einem popkulturellen Phänomen zu machen - am Vorabend der ersten Papstwahl seit 2013.

Doch die Darstellung des Konklaves in dem Film wurde auch heftig kritisiert.

Das unabhängige katholische Magazin "Missio Dei" bezeichnete den Film als "eine verfälschte Darstellung der Papstwahl", da in dem Streifen "interne Konflikte dramatisiert" würden und die Kirche als politisch motiviert dargestellt werde.

"Der Film täuscht das Publikum über den wahren Geist, der die Wahl eines neuen Papstes durch das Kardinalskollegium leitet, nämlich den Heiligen Geist", schrieb die amerikanische Theologin und Publizistin Christina M. Sorrentino. Ihrer Meinung nach führt die offensichtliche Konzentration des Films auf "Skandale und Machtkämpfe" dazu, "dass negative Stereotypen über Kirchenführer aufgebaut werden".

Wie politisch wird das kommende Konklave?

Schon Wochen vor dem Tod des Papstes Franziskus hatten sein Gesundheitszustand und der Krankenhausaufenthalt Spekulationen über seinen potenziellen Nachfolger ausgelöst. Robert Harris hat jedoch nach eigener Angabe zahlreiche Interviewanfragen der Medien abgelehnt. In einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur Associated Press im Januar betonte er, es sei "extrem geschmacklos", wenn man versuche, aus der aktuellen Situation "irgendeine Art von Publicity" für sein Buch zu machen.

Auf die Frage, wie sich die Politik auf das kommende Konklave auswirken könnte und ob er etwa eine Wahl des ersten afrikanisch-stämmigen Pontifex für möglich halte, sagte der Autor, er hoffe, die christliche Moral werde die Oberhand gewinnen.

"Wer weiß, was die Zukunft bringt", unterstrich Harris im April in einem Gespräch mit der Zeitung "The Boston Globe". "Der Zweck der Kirche bleibt aber, für bestimmte ewige Werte, christliche Werte, zu stehen." Und diese Werte seien "nicht unbedingt die gleichen wie die von Elon Musk und Donald Trump sowie der AfD in Deutschland", fügte er hinzu. "Wir werden sehen."

Bis der weiße Rauch über die Sixtinische Kapelle steigt, dauert es eben eine Weile.


Adaption aus dem Englischen: Anastassia Boutsko

Item URL https://www.dw.com/de/konklave-papstwahl-als-polit-thriller/a-72386424?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71007216_302.jpg
Image caption Zu viel Drama um die Papstwahl? Ralph Fiennes brilliert in dem Film "Konklave" (2024)
Image source Access Entertainment/FilmNation Entertainment/House Productions/Indian Paintbrush/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/71007216_302.jpg&title=%22Konklave%22%3A%20Papstwahl%20als%20Polit-Thriller

Item 52
Id 72353970
Date 2025-04-28
Title Kann KI in zehn Jahren wirklich alle Krankheiten heilen?
Short title Kann KI in zehn Jahren wirklich alle Krankheiten heilen?
Teaser Im Netz macht die Aussage von Chemie-Nobelpreisträger Demis Hassabis die Runde, Künstliche Intelligenz werde schon bald alle Krankheiten heilen können. Was ist da dran?
Short teaser Im Netz kursiert die Aussage von Chemie-Nobelpreisträger Hassabis, KI werde bald alle Krankheiten heilen. Was ist dran?
Full text

Angeblich will der Chemie-Nobelpreisträger Demis Hassabis in nur zehn Jahren mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI) alle Krankheiten heilen können – so zumindest liest es sich vielfach im Netz.

In der Sendung "60 Minutes" des US-amerikanischen Nachrichtenkanals CBS News war Hassabis zu verschiedenen Dingen rund um KI interviewt worden. Der 49-jährige Brite ist Chef der auf KI spezialisierten Google-Tochterfirma DeepMind.

Zusammen mit einem Kollegen entwickelte er dort das KI-Modell AlphaFold2, mit dessen Hilfe sich die Strukturen praktisch aller bisher bekannten 200 Millionen Proteine vorhersagen lassen. Dafür gewannen die Forscher im vergangenen Jahr den Nobelpreis für Chemie.

"Eines Tages können wir vielleicht alle Krankheiten mit Hilfe von KI heilen"

Proteine erfüllen im menschlichen Körper eine Vielzahl biologischer Funktionen. Kommt es dabei zu Störungen bei Produktion, Struktur oder Funktion, können Krankheiten entstehen.

Im Interview sagte der Nobelpreisträger, die Entwicklung von Medikamenten könnte künftig durch KI auf Monate oder Wochen verkürzt werden. Und weiter: "Ich denke, eines Tages können wir vielleicht alle Krankheiten mit Hilfe der KI heilen."

Moderator Scott Pelley fragte: "Das Ende aller Krankheiten?" Das sei in Reichweite, so Hassabis. "Vielleicht sogar innerhalb des nächsten Jahrzehnts, ich wüsste nicht, warum nicht."

KI revolutioniert die Medizin

Oft könne man anhand der 3D-Struktur eines Proteins abschätzen, welche Funktion es habe, "denn das wissen wir von den meisten Proteinen im menschlichen Körper noch nicht", erklärt die Biochemikerin und Informatikerin Katharina Zweig im Gespräch mit der DW. Die Professorin leitet das Algorithm Accountability Lab an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau.

Wenn man die Funktion kenne und sehe, dass bei bestimmten Krankheiten die Proteinstruktur verändert sei, könnte das vielleicht der Grund für diese Krankheiten sein, so Zweig. "Dann könnte man ein Medikament entwickeln, das verhindert, dass ein Protein eine falsche Struktur annimmt."

Früher habe es eine ganze Doktorarbeit gebraucht, um eine einzelne Proteinstruktur zu erkennen, zu berechnen und zu modellieren. "Das dauerte drei bis fünf Jahre. Die KI von Hassabis ist wirklich eine Revolution."

Zwar ließen sich Krankheitsursachen in der Regel nicht nur auf einzelne Elemente reduzieren, sagt Florian Geissler, leitender Forscher am Fraunhofer-Institut für Kognitive Systeme, IKS der DW. "Aber es gibt sehr viele Beispiele, wo Proteine eine große Rolle spielen."

Laut Geissler ist das Potential für KI-basierte Anwendungen in der Medizin gewaltig. "KI wird in den kommenden Jahren Dinge ermöglichen, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können."

Vor der Marktreife von Medikamenten liegt ein weiter Weg

Trotzdem werde man in zehn Jahren aber noch nicht in der Lage sein, alle Krankheiten zu heilen, urteilt Professorin Zweig. Denn es sei gar nicht so eindeutig zu sagen, welche der vielen Proteine eine bestimmte Krankheit auslösen.

"Es gibt ja auch Mutationen, die abnormale 3D-Strukturen haben. Die können zwar statistisch so wirken, als wären sie der Grund für Krankheitssymptome, sind aber harmlos."

Und selbst wenn klar sei, dass eine bestimmte Proteinstruktur zu einer Krankheit führe, folge ein langwieriger Prozess, bevor ein Medikament auf den Markt komme. "Das muss in klinischen Studien erprobt werden, dafür braucht man ausreichend Patienten, das muss genehmigt werden - deswegen wird es aus meiner Sicht nicht so schnell gehen."

Wo KI schon jetzt in der Medizin hilft

Bei bildbasierten Diagnosen auf Grundlage von CT-Scans könne man mit KI-Hilfe deutlich leichter erkennen, ob krankhafte Veränderungen vorliegen, sagt Florian Geissler. KI könne auch bei Fragen nach unerwarteten Nebenwirkungen bei einer Kombination von Medikamenten helfen. Und so zu optimierten Behandlungsmethoden führen.

Zudem könnte KI das Gesundheitssystem entlasten. "KI-Systeme könnten etwa Patientengespräche automatisch zusammenfassen und strukturierte Berichte für die Krankenkasse vorbereiten. Das spart im Gesundheitssystem wichtige Zeit. Hier wird KI eine entscheidende Rolle spielen."

Wird KI Medikamente und Behandlungen billiger machen?

Professorin Zweig gibt aber zu bedenken, dass die Heilung von Krankheiten trotz KI-Unterstützung immer große finanzielle Ressourcen erfordert.

"Deswegen werden auch weiterhin nur dort Medikamente entwickelt werden, wo es genügend Patienten mit genügend Geld gibt, um die Medikamente anschließend zu bezahlen."

Warum KI bei den meisten Diagnosen versagt

Generell ließen sich nur wenige medizinische Diagnosen anhand von klaren Regeln treffen, so Zweig. Ein Beispiel dafür sei Diabetes. "Da gibt es einen ganz klaren Schwellwert und eine klare Messmethode und dann hat man Diabetes diagnostiziert."

Die meisten anderen Diagnosen erforderten aber sehr viel Urteilsvermögen und viel Erfahrung. "Da kenne ich keine KI-Systeme, die das heute schon so zuverlässig machen, dass sie Ärzte und Ärztinnen ersetzen."

Auch Florian Geissler geht davon aus, dass die Behandlungsentscheidung auf absehbare Zeit eine menschliche Domäne bleiben wird. "Vor allem aus ethischen und rechtlichen Gründen."

Und wohl auch, weil KI-Systeme in der Regel noch eine Art Blackbox sind, wie Geissler es ausdrückt, "wo man etwas hineingibt und dann etwas herausbekommt, aber nicht hundertprozentig versteht, wie es zu dieser Entscheidung kam."

Katharina Zweig drückt es so aus: "Wir können der Maschine beim Lernen und dabei, wie sie ihre Diagnose trifft, nicht zusehen. Wir können also nicht nachvollziehen, ob sie das nach Kriterien tut, die wir auch als Menschen anlegen würden."

Item URL https://www.dw.com/de/kann-ki-in-zehn-jahren-wirklich-alle-krankheiten-heilen/a-72353970?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/67001623_302.jpg
Image caption Kann KI künftig Ärztinnen und Ärzte ersetzen?
Image source Michael Bihlmayer/CHROMORANGE/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/shid/shid230805_doctor_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/67001623_302.jpg&title=Kann%20KI%20in%20zehn%20Jahren%20wirklich%20alle%20Krankheiten%20heilen%3F

Item 53
Id 72352813
Date 2025-04-25
Title Automesse: Fahrende Computer in Shanghai
Short title Automesse: Fahrende Computer in Shanghai
Teaser Auf der "Auto Shanghai 2025" dreht sich alles um das smarte Auto - und deutsche Anbieter sind diesmal aussichtsreich dabei. Aber ein tödlicher Unfall vor Messebeginn lenkt die Aufmerksamkeit auf das Thema Sicherheit.
Short teaser Die "Auto Shanghai 2025" dreht sich um das smarte Auto - auch deutsche Anbieter sind aussichtsreich dabei.
Full text

Die diesjährige Automesse startete unter ungünstigen Vorzeichen: Drei Menschen waren nur wenige Wochen vor Messebeginn ums Leben gekommen, als sie in einem Fahrzeug des chinesischen Tech-Konzerns Xiaomi einen Unfall hatten - und zwar bei aktiviertem Fahrassistenzsystem.

Die chinesischen Behörden reagierten umgehend und verboten Werbebegriffe wie 'autonomes Fahren', 'intelligentes Fahren' oder 'selbstfahrend'. Anschließend rückten auch viele Aussteller von ihren Ankündigungen zur autonomen Mobilität ab. Für alle Messebesucher sichtbar ist dieses Themas in den Hintergrund getreten.

Vorteil Deutschland?

Es gibt Beobachter, die in dieser aktuellen Stimmungslage einen Vorteil für deutsche Hersteller sehen: Ihr Image mag in den vergangenen Jahren gelitten haben - sie wirken im Vergleich zur asiatischen Konkurrenz oft recht hausbacken und "unsexy". Aber sie gelten immer noch als zuverlässig und vor allem sicher.

Die deutschen Autoschmieden selbst halten sich mit diesem Argument allerdings zurück. Man will auch so auf den schwierigen asiatischen Märkten bestehen. Dabei sorgt sie der verschärfte Wettbewerb durch die zunehmende Konkurrenz großer Tech-Unternehmen.

"Das macht uns das Leben nicht leichter", sagte Volkswagen-Vorstandmitglied für China, Ralf Brandstätter, in Shanghai. VW sehe sich aber mit seinem Stand der Technik für China gut aufgestellt und sei in der Lage, seinen Teil des Marktes zu übernehmen.

Auch für den schwäbischen Hersteller Mercedes ist der Konkurrenzdruck gerade in Ostasien sehr hoch. China, so der Vorstandsvorsitzende von Mercedes-Benz, Ola Källenius, sei der wichtigste Markt für die Schwaben und wichtig für technische Neuerungen.

"Festival der Lernfähigkeit"

"Wir werden die effizientesten und intelligentesten Autos vorstellen, die wir je gebaut haben", so Källenius in Shanghai. Er versprach für die Zukunft "Supercomputer auf Rädern" - entwickelt in Zusammenarbeit mit chinesischen Konzernen.

So kooperiere man auch mit der Firma ByteDance, die hinter der Social-Media-App Tiktok steht. Man wolle, so der Mercedes-Chef, deren Modell für Künstliche Intelligenz in die eigenen Autos in China integrieren.

Die deutschen Konzerne fahren auf der Messe ihre "In China für China"-Strategie - und bekommen dafür sogar Lob. So sagte der Autoexperte Peter Fintl, die Messe gleiche einem "Festival der Lernfähigkeit der deutschen Industrie".

Jahrelang seien die Deutschen hinterhergefahren, weil sie den Trend zur Elektromobilität in China verschlafen hatten. Doch inzwischen seien sie besser aufgestellt. "Sie nehmen die Kampfansage an und klotzen richtig ran", hat Auto-Expertin Beatrix Keim vom Center Automotive Research (CAR) beobachtet.

Chinas Auf dem Weg nach Westen

Während es für die Deutschen überlebenswichtig ist, sich im fernen Osten zu etablieren, verlieren umgekehrt auch die Chinesen Deutschland nicht aus dem Blick. So plant der chinesische Autobauer Nio in Deutschland und Europa zu bleiben - trotz sehr niedriger Verkaufszahlen.

"In Europa hat die Kundenzufriedenheit für uns höchste Priorität", sagte Nio-Vorstand William Li in Shanghai. Und da sei es egal, ob man Tausende oder Hunderte von Kunden hätte.

Weltweit betreibe das Unternehmen bereits mehr als 185 "Nio Houses", meist in prominenter Lage. In China können Nio-Kunden in diesen Häusern Autos kaufen, es gibt aber auch Angebote zur Kinderbetreuung, Arbeitsmöglichkeiten oder ein Café.

Große Hoffnung setzt Nio auf den neuen Kleinwagen 'Firefly'. Der soll in der zweiten Jahreshälfte auf den europäischen Markt kommen und vor allem Kunden in Großstädten ansprechen. Das unter anderem in Deutschland entwickelte und in China gebaute Fahrzeug wäre derzeit aber auch von den Zöllen der EU auf chinesische E-Autos betroffen. Ein genauer Preis für den deutschen Markt steht noch nicht fest.

Schlaue Autos sollen Spaß machen

Dass der Antrieb der Zukunft ohne die Verbrennung fossiler Kraftstoffe und stattdessen elektrisch funktioniert, ist längst keine Frage mehr. Neue Autos sind natürlich emissionsfrei unterwegs, entscheidend ist jetzt: Was bieten sie den Kunden an Spaß, Komfort und Sicherheit?

In Shanghai werben die Hersteller etwa mit der Möglichkeit, auf der Rückbank Computerspiele zu spielen. Das eigene Smartphone - egal ob Android oder IOS, ob Apple oder Huawei - ist nahtlos integrierbar. Auch KI-gesteuerte Sprachassistenten, auch auf Basis des chinesischen Unternehmens DeepSeek, werden gezeigt.

Bereits vor der Messe hatte Chinas Branchenprimus BYD mit dem neuen Assistenzsystem "God's Eye" Aufsehen erregt. Der teilautonome Fahrassistent wird erstmals serienmäßig in allen neuen BYD-Modellen verbaut - von der Luxusmarke Yangwang bis zum günstigen Kleinwagen Seagull. Ziel sei es, solche Systeme für jedermann erschwinglich zu machen.

Einige Hersteller buhlen auch mit unüblichen Gefährten oder exotischen Ideen um die Aufmerksamkeit der Messebesucher. Deren Fahrzeuge brauchen nicht einmal eine Straße. So präsentieren etwa die chinesische Traditionsmarke Hongqi und der Batterie-Hersteller CATL Konzepte für Fluggeräte, sogenannte eVTOL. Die sollen senkrecht starten und landen können - und natürlich elektrisch angetrieben sein.

Item URL https://www.dw.com/de/automesse-fahrende-computer-in-shanghai/a-72352813?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72315132_302.jpg
Image caption Auto Shanghai 2025: Messearbeiter enthüllen zwei Autos der Marke BYD
Image source Go Nakamura/REUTERS
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72315132_302.jpg&title=Automesse%3A%20Fahrende%20Computer%20in%20Shanghai

Item 54
Id 72322799
Date 2025-04-24
Title Wechseljahre: Was sind eigentlich bioidentische Hormone?
Short title Wechseljahre: Was sind bioidentische Hormone?
Teaser Wer Hilfe gegen Beschwerden in den Wechseljahren sucht, stößt schnell auf bioidentische Hormone. Wie helfen sie und wie sicher sind sie? Kann sie jede Frau nehmen? Viele Fragen, zum Welthormontag einige Antworten.
Short teaser Wer Hilfe bei Wechseljahrssymptomen sucht, stößt schnell auf bioidentische Hormone. Wie helfen und wie sicher sind sie?
Full text

Mehr als jede zweite Frau leidet in den Wechseljahren, also vor und nach der letzten Menstruationsblutung, unter Hitzewallungen und Schweißausbrüchen. Auch Schlafstörungen, Scheidentrockenheit, Gelenkschmerzen oder Depressionen sind verbreitete Symptome.

Östrogen: Hilfe gegen Hitzewallungen

Am effektivsten gegen Hitzewallungen hilft laut Leitlinien der Gynäkologischen Gesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz das weibliche Sexualhormon Östrogen, auch Estrogen genannt.

An ihm mangelt es dem weiblichen Körper nach der Menopause, also nach der letzten Regelblutung. Dann sind die Eizellen verbraucht, deren Hüllen das meiste Östrogen im weiblichen Körper produzieren. Allerdings fehlt dann auch der Gegenspieler des Östrogens, das Gelbkörperhormon Progesteron, erklärt Katrin Schaudig, Frauenärztin und Präsidentin der Deutschen Menopause Gesellschaft.

"Wenn Frauen über einen langen Zeitraum nur Östrogene nehmen, gibt es einen zu starken Aufbau der Gebärmutterschleimhaut und das kann im schlimmsten Fall in einem Karzinom enden. Wenn wir Östrogen einsetzen, brauchen wir das Progesteron zum Schutz vor Gebärmutterschleimhautkrebs." Wichtig sei, dass Progesteron ausreichend hoch dosiert werde, so Schaudig im Gespräch mit der DW.

In der modernen Hormon-Ersatztherapie (HET) werden hauptsächlich sogenannte bioidentische Hormone verwendet: Progesteron sowie Östradiol/Estradiol, das gegen Hitzewallungen wirkt, und Östriol/Estriol, das gegen trockene Vaginalschleimhaut hilft. Diese beiden zählen zur Gruppe der Östrogene. Die molekulare Struktur der bioidentischen Hormone entspricht denen der körpereigenen Hormone.

Bioidentische Hormone schützen Frauen vor Alterserkrankungen

Bioidentisches Östrogen und Progesteron können viele altersbedingte Stoffwechselerkrankungen verhindern, unter denen Frauen nach der Menopause leiden. Dazu zählten vor allem abnehmende Knochendichte und Knochenbrüche, Arterienverkalkung, Thrombosen, Herzinfarkt, Schlaganfall, Nierenschwäche und Demenz, zählt Helena Orfanos-Boeckel auf. Die Fachärztin für innere Medizin und Nierenheilkunde hat sich auf das Thema Nährstoffe und Hormone spezialisiert.

"Auch Haut, Schleimhäute, Gelenke und die Mundgesundheit profitieren von einer HET. Alle Prozesse im Körper sind biochemisch im weitesten Sinne von Hormonen abhängig und mit Hormonen altert es sich gesünder."

Was unterscheidet bioidentische Hormone von Hormon-Derivaten?

Früher wurden Frauen in den Wechseljahren oder nach der Menopause mit Substanzen behandelt, die den Hormonen des menschlichen Körpers in ihrer Struktur nur zu geringen Anteilen entsprachen: mit sogenannten Hormon-Derivaten.

"Obwohl diese Substanzen körperfremd sind, wurden und werden sie verkürzt immer noch als "Hormone" bezeichnet", erklärt Orfanos-Boeckel im DW-Gespräch. "Und diese falsch benannten Substanzen, die in Wahrheit den Hormonhaushalt unterdrücken, haben im Gegensatz zu den bioidentischen Hormonen ein Nebenwirkungspotenzial."

Derivate des natürlichen Progesterons und auch des Testosterons wurden und werden beispielsweise in der Anti-Baby-Pille eingesetzt, um den Eisprung zu verhindern.

Kein erhöhtes Thromboserisiko durch bioidentische Hormone

Manche Progesteron-Derivate haben einen ungünstigen Effekt auf die Blutgerinnung und können das Risiko für Thrombosen und Schlaganfälle erhöhen. Dieses Risiko habe bioidentisches Progesteron laut aktueller Studienlage nicht, betonen Orfanos-Boeckel und Schaudig.

Beim Östrogen kommt es auf die Anwendungsform an. Egal ob bioidentisch oder Östrogen-Derivat: Wird es geschluckt, also über die Leber verstoffwechselt, dann steigt das Thromboserisiko. Deswegen wird Östradiol/Estradiol in der modernen Hormon-Ersatztherapie in der Regel über die Haut als Gel, Pflaster oder Spray eingenommen. So umgeht man das Risiko der Blutgerinnung.

Fördert eine Hormon-Ersatztherapie das Brustkrebsrisiko?

Frauen, die bereits Brustkrebs hatten oder haben, wird auch von bioidentischen Hormonen abgeraten. Denn, so Schaudig: "Zwar streiten die Experten noch, ob das Östrogen den Krebs wirklich entstehen lässt. Aber was wir wissen, ist, dass Östrogene das Wachstum von Brustkrebszellen fördern können, auch von Vorstufen oder Frühformen. Und auch das Östrogen, das der Körper selbst herstellt, begünstigt das Wachstum von Brustkrebszellen - das ist so eine Art hormonelle Düngung dieser Zellen."

Bei Frauen, die keinen Brustkrebs haben, stieg das Brustkrebsrisiko bei einer HET mit bioidentischem Östrogen und Progesteron in einer Studie erst nach sechs bis neun Jahren sehr leicht an. "Es ist keine gute Studie, es ist nur eine Beobachtungsstudie, aber es ist die einzige, die wir haben." Allerdings betont Schaudig: "Zwei Glas Wein am Abend machen viel mehr Risiko, Übergewicht macht per se mehr Risiko, kein Sport macht ebenfalls mehr Risiko."

Wichtig sei, die Brust in den Wechseljahren regelmäßig untersuchen zu lassen, betonen beide Medizinerinnen - und zwar egal ob mit oder ohne Hormon-Ersatztherapie.

Gefahrlos sind dagegen nach aktuellem Wissensstand niedrig dosierte hormonhaltige Vaginalcremes oder -zäpfchen. Hier kommt bioidentisches Östriol/Estriol zum Einsatz. Diese Unterform des Östrogens wirkt gegen die Verkümmerung und Austrocknung der Scheidenhaut - und schützt so vor Blasenentzündungen und Schmerzen beim Sex.

Wie lange können bioidentische Hormone genommen werden?

Oft ist vom sogenannten "Window of Opportunity" die Rede. Es besagt: Je früher Frauen nach der letzten Regelblutung mit einer Hormon-Ersatztherapie starten, desto besser wirkt diese gegen Alterserkrankungen, vor allem gegen Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems.

Es sei aber durchaus möglich auch noch mehrere Jahre später mit den Hormonen zu starten, sagt Frauenärztin Schaudig. "Sie werden wahrscheinlich keinen Schutz fürs Herz-Kreislauf-System mitnehmen, Sie werden sich aber trotzdem vor Osteoporose schützen, auch nach fünf Jahren, und Sie werden sich auch vor Diabetes schützen."

Eine Einschränkung aber gibt es für einen späten Beginn: Wenn Frauen schon beschädigte Gefäße haben, könnten sich dann durch die Einnahme von Hormonen, auch den bioidentischen, möglicherweise Thrombosen bilden. Für diese Frauen sei es extrem wichtig, den Cholesterinspiegel im Zaum zu halten, so Schaudig, auch durch Medikamente, und "dass der Blutdruck top eingestellt ist".

Unsere Quellen unter anderen:

Leitlinien der Deutschen Menopause Gesellschaft

Leitfaden der Gesellschaften für Gynäkologie zur Peri- und Postmenopause

E3N-Beobachtungsstudie zu Hormonen, Hormon-Derivaten und Brustkrebs

Item URL https://www.dw.com/de/wechseljahre-was-sind-eigentlich-bioidentische-hormone/a-72322799?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/60806736_302.jpg
Image caption Etwa die Hälfte aller Frauen in den Wechseljahren leidet unter Hitzewallungen
Image source Christin Klose/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/repod/repod20230422_gesamtHD_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/60806736_302.jpg&title=Wechseljahre%3A%20Was%20sind%20eigentlich%20bioidentische%20Hormone%3F

Item 55
Id 72319087
Date 2025-04-24
Title Grüne Tech-Revolution mit Hilfe der Öl- und Gas-Industrie?
Short title Grüne Tech-Revolution mit Hilfe der Öl- und Gas-Industrie?
Teaser Die Gewinnung von klimaschonender Erdwärme ist bisher nur begrenzt möglich. Technologische Fortschritte könnten das ändern. Dabei kann die Expertise der Öl- und Gasindustrie eine Schlüsselrolle spielen.
Short teaser In der Erde lagern riesige Wärmevorkommen. Um sie nutzbar zu machen, wird besonders die Öl- und Gasindustrie gebraucht.
Full text

Island macht es vor. Kaum ein Land nutzt die Energie des Erdkerns so konsequent wie die Vulkaninsel hoch im Norden. Bereits zwei Drittel der Energie des Landes stammen aus heißen unterirdischen Wasservorkommen, aus Erdwärme. Eine erneuerbare Energie zur Produktion von Strom und Wärme, die rund um die Uhr zur Verfügung steht.

Ob in der Türkei, in Indonesien, den USA, Kenia oder Italien: Erdwärme wird in vielen Ländern genutzt. Dabei gibt es einen Haken. Klassische Geothermie kann nur dort angezapft werden, wo sich geeignete und heiße unterirdische Wasservorkommen befinden. Diese gibt es aber nicht an vielen Orten. Darum ist das Potenzial dieser Art von Geothermie begrenzt.

Doch es bahnt sich eine technologische Revolution an, die Geothermie theoretisch überall auf der Erde möglich machen könnte – auch ohne riesige Vorkommen von heißem Wasser.

Erdwärme "ist sogar in der Pariser Innenstadt zu finden. Wenn man bohren kann, kann man darauf zugreifen," erläutert Heymi Bahar, Energieexperte von der Internationalen Energieagentur (IEA) im DW-Gespräch. Er und seine Kollegen haben im vergangenen Jahr einen umfassenden Bericht zur Zukunft von Geothermie herausgegeben. Sie sehen enormes Wachstumspotential für grüne Energie aus der Erde.

Wie zapft man die Energie des Erdkerns an?

Je tiefer man bohrt, umso wärmer wird es. Das heißt auch: umso mehr Energie lässt sich gewinnen. Im Schnitt steigt die Temperatur pro 1000 Meter Tiefe um 25 bis 30 Grad Celsius. Klassische Anlagen zur Gewinnung von Geothermie bohren in der Regel zwischen einigen hundert bis etwa 3000 Meter tief und nutzen die Energie heißer Wasserquellen. Mit neuen Technologien können Bohrungen noch viel tiefer vorstoßen, und die Wärme kann auch ohne Wasservorkommen genutzt werden.

"Zwischen 4000 und 7000 Metern Tiefe ist es praktisch wie Wind- und Sonnenenergie, sie ist überall", so Bahar. Das heißt: Fast überall auf der Welt ist es dort mindestens 150 Grad heiß. Das ist warm genug für die Wärme- und Stromproduktion, sagen die Forscher.

Mit der Energie in der Erde ließe sich theoretisch hundertfünfzig Mal so viel Strom produzieren, wie die Welt derzeit pro Jahr braucht, resümieren die Forscher im IEA-Bericht.

Kreislaufsysteme: Wärme aus trockenem Gestein

Die Energie ist also schon da. Die Herausforderung besteht darin, sie kostengünstig anzuzapfen und an die Oberfläche zu befördern. Ein Beispiel, wie das gehen könnte, findet man im bayerischen Geretsried. Hier will das kanadische Unternehmen Eavor 2026 sein erstes kommerzielles Geothermiekraftwerk in Betrieb nehmen. Dabei handelt es sich um ein geschlossenes Kreislaufsystem, das ohne natürliche Heißwasserquelle auskommt und stattdessen die Wärme aus trockenem Gestein nutzt.

Das funktioniert so: Zwei Bohrlöcher werden jeweils etwa 5000 Meter senkrecht in die Erde getrieben. Von dort verzweigen sich mehrere weitere Bohrungen, die die beiden Hauptbohrungen miteinander verbinden. Durch dieses Netzwerk aus Rohren wird kaltes Wasser gepumpt. Auf seinem Weg durch das heiße Gestein nimmt es Wärme auf und transportiert diese zurück an die Oberfläche. Dort kann die Energie genutzt werden – zum Heizen über Fernwärmesysteme oder zur Stromerzeugung. Eavor plant, in Bayern 350 Millionen Euro in das Projekt zu investieren und und hält dafür mehrere Patente.

Wo ist der Unterschied zum klassischen Fracking für Öl und Gas?

Konkurrenz bekommt Eavor aus den USA, wo das Unternehmen Fervo Energy mit finanzkräftiger Unterstützung von Google eine andere Methode zur Marktreife entwickelt. Der Ansatz besteht darin, selbst künstliche heiße Wasservorkommen unter der Erde zu schaffen, wo keine natürlichen vorkommen.

Dafür hat Fervo Energy in der Wüste von Nevada zwei Tunnel in etwa 2500 Metern Tiefe gebohrt. Danach drehten sie die Bohrköpfe und bohrten horizontal weiter. Die Idee dahinter ist, dass horizontale Bohrungen den Prozess der Wärmeübertragung effizienter machen. Sobald die Bohrer die ideale Position erreicht haben, wird eine Flüssigkeit - in der Regel Wasser - unter hohem Druck in den Boden gepumpt, dadurch werden Steine und Felsen aufgebrochen.

Anschließend wird kaltes Wasser in die Bohrlöcher gepumpt. Es fließt nicht wie in Bayern durch Rohre, sondern direkt durch die Risse im warmen Gestein, heizt sich daran auf und wird wieder an die Oberfläche gepresst. Der Vorgang ähnelt dem umstrittenen Fracking zur Förderung von Öl und Gas. Aber Fervo habe das Verfahren optimiert, so Bahar.

"In kurzer Zeit konnten die Kosten um 50 Prozent und die Bohrzeit um 70 Prozent gesenkt werden. Und jetzt bohren sie für ein neues 370- oder fast 400-Megawatt-Projekt in Utah."

Risikofaktor: Bohrungen können Mini-Erdbeben auslösen

Trotz des großen Potenzials gibt es Risiken. 2017 kam es bei Bohrungen nahe Pohang, Süd-Korea, zu einem heftigen Erdbeben. Dutzende Menschen wurden damals verletzt. "Das war ein großer Schock, und das war leider auch das Ende des Projekts, " erzählt der Seismologe der Universität Stanford, William Ellsworth.

Das Aufbrechen von Gestein in der Tiefe verursacht manchmal mehrere kleine Erdbeben. Diese können außer Kontrolle geraten und dann weitere negative Effekte auslösen. Fervo Energy sagt, dass der Betrieb in den eigenen Anlagen stets sicher war und der gesamte Prozess umfangreich überwacht worden sei. Der Seismologe Ellsworth hält die Gefahr, mit der Technik ein Erdbeben auszulösen, für gering und kontrollierbar. Doch er appelliert für gründliche Voruntersuchungen des Bodens und für seismische Messungen während der Bohrung, um das Risiko zu minimieren.

Ein weiteres Problem: Das von Fervo Energy praktizierte "grüne Fracking" benötigt große Mengen Wasser. Das ist anders bei geschlossenen Kreislaufsystemen wie dem von Eavor in Bayern. Diese verbrauchen deutlich weniger Wasser und haben ein kleineres Erdbebenrisiko, weil die Bohrungen den Boden weniger beeinträchtigen. Allerdings sind diese Verfahren wegen der Bohrtiefe und der langen Bohrungen teurer.

Ölindustrie kann helfen, Geothermiekosten zu senken

Derzeit werden neue Geothermie-Anlagen dort gebaut, wo die Hitze in relativ geringer Tiefe zu finden ist. Denn das Bohren auf vier-, fünf- oder sogar zehntausend Meter Tiefe steigert zwar die Energieausbeute, erhöht aber auch massiv die Kosten.

Beim Senken der hohen Kosten könnten große Öl- und Gaskonzerne eine entscheidende Rolle spielen. Deren Expertise und Technik wird laut Terra Rogers von der Nichtregierungsorganisation Clean Air Taskforce benötigt, um der Geothermie schnellstmöglich zu einem Durchbruch zu verhelfen.

Die IEA schätzt, dass etwa 80 Prozent der Prozesse bei Erdwärmeprojekten – Bohren, Zementieren, Abdichten, Vertriebswege – auf Techniken und Abläufen beruhen, die die Öl- und Gasindustrie heute schon nutzt.

Bei Fervo Energy stammen rund 90 Prozent der Arbeitsstunden von Arbeitern aus der Öl- und Gasbranche. Auch viele Führungskräfte bei Fervo Energy und Eavor kommen aus dem fossilen Energiesektor. Es gibt sogar Überlegungen, alte Öl- und Gasbohrlöcher für die Geothermie umzunutzen.

Bohrt die Öl- und Gasindustrie bald für grüne Energie aus der Erde?

Doch bislang hat die fossile Industrie lediglich 140 Millionen US-Dollar in neue Geothermieprojekte investiert – ein Betrag, der im Verhältnis zur Gesamtbranche verschwindend gering ist. Laut Heymi Bahar wartet die Branche auf einen Innovationsdurchbruch, bevor sie größere Summen investiert.

Das führt zu einem Dilemma: Ohne Investitionen wird es diesen Durchbruch kaum geben. Die IEA schätzt, dass die Geothermiebranche in den nächsten zehn Jahren rund eine Billion Dollar benötigen würde, um ihr volles Potenzial entfalten zu können. Auch gesetzliche Rahmenbedingungen sind nötig - bislang existieren diese erst in weniger als 30 Ländern .

China, USA und Indien sind die vielversprechendsten Länder für Geothermie. Zusammen verfügen sie über drei Viertel des gesamten Marktpotenzials. Die Experten sind dennoch optimistisch. Wenn sich die Technologie weiterentwickelt, sicher bleibt und die Kosten noch weiter sinken, könnte Erdwärme bis 2050 mindestens 15 Prozent des gesamten weltweiten Strombedarfs decken, so die IEA.

Außerdem könnte Erdwärme den großen Öl- und Gaskonzernen die Möglichkeit geben in ein neues, nachhaltiges Geschäftsmodell einzusteigen. Das würden ihnen erlauben, das zu tun, was sie am besten können, nämlich zu bohren: "Drill Baby Drill". Aber Öl und Gas würden dabei im Boden blieben.

Item URL https://www.dw.com/de/grüne-tech-revolution-mit-hilfe-der-öl-und-gas-industrie/a-72319087?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/67625167_302.jpg
Image caption Wäre man nicht auf heißes Wasser in der Geothermie angewiesen, könnte man noch mehr Energie anzapfen
Image source Philipp Sandner/DW
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/ea/ea230614_Island_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/67625167_302.jpg&title=Gr%C3%BCne%20Tech-Revolution%20mit%20Hilfe%20der%20%C3%96l-%20und%20Gas-Industrie%3F

Item 56
Id 72332882
Date 2025-04-24
Title US-Bundesstaaten verklagen Trumps "irrsinniges Zollsystem"
Short title US-Bundesstaaten verklagen Trumps "irrsinniges Zollsystem"
Teaser Zollpolitik ohne die Zustimmung des US-Kongresses sei illegal. Daher haben zwölf US-Bundesstaaten Klage beim Gerichtshof für Internationalen Handel eingereicht.
Short teaser Zollpolitik ohne die Zustimmung des US-Kongresses sei illegal. Daher haben zwölf US-Bundesstaaten Klage eingereicht.
Full text

Es sind nicht nur demokratische Bundesstaaten, die sich gegen die Zollpolitik von US-Präsident Donald Trump wehren. Auch die republikanisch regierten Staaten Arizona und Nevada haben sich der Klage angeschlossen. Mit seinen willkürlich erhobenen Abgaben habe der Präsident "die verfassungsmäßige Ordnung umgestoßen und die amerikanische Wirtschaft ins Chaos gestürzt", heißt es in der Klage, die von den Bundesstaaten Oregon, Colorado, Connecticut, Delaware, Illinois, Maine, Minnesota, New Mexico, New York und Vermont mit verfasst wurde.

Die Befugnis Steuern, Zölle und Abgaben zu erheben, liege laut US-Verfassung beim Kongress, nicht beim Präsidenten, argumentieren die Kläger. Die nationale Handelspolitik dürfe nicht von dessen Launen abhängen. Zudem belasteten sie nicht nur die internationalen Handelspartner, sondern auch die eigene Bevölkerung. Die Justizministerin von Arizona, Kris Mayes, erklärte, was auch immer das Weiße Haus behaupte, Zölle seien "eine Steuer, die auf die Verbraucher in Arizona abgewälzt wird".

Nicht die erste Klage

Bereits in der vergangenen Woche hatte die Regierung des Bundesstaats Kalifornien wegen Trumps weitreichender Sonderzölle Klage eingereicht. Dem Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge belasten die gewaltigen US-Zölle und entsprechende Vergeltungsmaßnahmen die globale Haushaltslage. Auch die USA selbst leiden unter den Maßnahmen.

Trump hatte Anfang April einen Mindestzollsatz von zehn Prozent für alle Handelspartner verkündet. Für rund 60 Länder verhängte er zunächst noch teils deutlich höhere Aufschläge, darunter 20 Prozent für die EU. Eine Woche später vollzog der US-Präsident jedoch eine Kehrtwende und verkündete eine "Pause" für 90 Tage. Der Mindestsatz von zehn Prozent blieb jedoch bestehen. Gegen China gelten weiterhin Einfuhrzölle von inzwischen 145 Prozent. Trumps Vorgehen im von ihm angezettelten Handelskonflikt löste massive Kurseinbrüche an den Börsen aus.

Trumps bleibt bei seinen erratischen Entscheidungen

Dennoch will Trump in den nächsten zwei bis drei Wochen Zölle festsetzen, wenn er keine Fortschritte bei den Gesprächen mit internationalen Handelspartnern der USA sehe. "Wenn wir keine Vereinbarung mit einem Unternehmen oder einem Land haben, werden wir den Zoll festsetzen. Wir legen einfach den Zoll fest", sagte Trump bei der Unterzeichnung mehrerer Dekrete zum Bildungssystem in Washington. Das könne auch für China gelten.

fab/sti (dpa, afp, rtr)

Item URL https://www.dw.com/de/us-bundesstaaten-verklagen-trumps-irrsinniges-zollsystem/a-72332882?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72200860_302.jpg
Image caption Die Börsen geraten angesichts von Trumps Zollpolitik in einen Strudel
Image source Brendan McDermid/REUTERS
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72200860_302.jpg&title=US-Bundesstaaten%20verklagen%20Trumps%20%22irrsinniges%20Zollsystem%22

Item 57
Id 72321276
Date 2025-04-24
Title Trump auf dem "Zollkriegspfad": Zieht er gegen China den Kürzeren?
Short title Zieht Trump gegen China den Kürzeren?
Teaser US-Präsident Donald Trump droht fast allen Ländern der Welt mit hohen Zöllen und hat dabei besonders China im Fokus. Einige Experten sehen ihn aber schon jetzt auf der Verliererstraße.
Short teaser Einige Experten sehen ihn schon jetzt auf der Verlierertraße.
Full text

US-Präsident Trump wird das Buch "The Art of the Deal" sicher gelesen haben. Hat er es doch selbst schreiben lassen. Hätte er aber außerdem das Buch "Die Kunst des Krieges" gelesen, der Welt des globalen Handels bliebe gerade viel erspart.

Der chinesische General und Philosoph Sun Tsu hätte ihm darin einen Handelskrieg sicherlich ausgeredet: Schon um das Jahr 500 vor unserer Zeitrechnung schrieb er: "Der Inbegriff des Könnens ist, den Feind ohne Gefecht zu unterwerfen."

Wenn Donald Trump von anderen Ländern spricht, die angeblich auf Kosten seines Landes leben, zielt er oft auf Europa und im Besonderen auf Deutschland. Doch sein eigentlicher "Feind" ist ausgerechnet China, gegen das er die höchsten Zölle verhängt.

Der Feind hinter der großen Mauer

Trump sieht, dass die amerikanische Handelsbilanz mit der zweiten Wirtschaftsgroßmacht der Welt gar nicht in seinem Sinne ausfällt. Und sicher scheint: Gibt es keine Trendumkehr, wird China die USA am Ende dieser Dekade als weltgrößte Volkswirtschaft abgelöst haben.

Die Chinesen sind schon seit einigen Jahren auf der Überholspur. Zwar haben die USA ein sehr viel höheres Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf der Bevölkerung als China. Aber dort leben ja auch etwa viermal so viele Menschen. Beim kaufkraftbereinigten Anteil an der Weltwirtschaft hat China (19,6 Prozent) die USA (14,3 Prozent) schon längst abgehängt.

Während sich die Wachstumsraten beider Volkswirtschaften einander immer mehr annähern, gilt China als die innovativere Wirtschaftsmacht. Außerdem hat China den Konkurrenten als dominante Welthandelsmacht abgelöst: Für sehr viel mehr Länder ist Peking jetzt der wichtigste Handelspartner - vor einem Vierteljahrhundert noch waren das unangefochten die USA.

Schnelle Reaktionen

Die aktuelle Handelspolitik der USA ist mit einem Wort treffend beschrieben: unberechenbar. Ruben Staffa, Makroökonom beim Institut der Deutschen Wirtschaft (DIW), fürchtet einen "Vertrauensverlust in die USA als verlässlicher Anker des globalen Finanzsystems." Das berge "erhebliches Potenzial für weitreichende Marktverwerfungen". Der kurzfristig gewährte Aufschub für viele der angedrohten Zölle sei ein Signal, das auf "eine Fehleinschätzung der Marktreaktion" hindeute, so Staffa zur DW.

Auch Michael Berlemann, wissenschaftlicher Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstitutes (HWWI), kann "keine irgendeine kohärente Strategie erkennen". Die Börsenirritationen weltweit zeigen seiner Ansicht nach "die von Donald Trump nicht vorhergesehenen Folgen einer chaotischen Wirtschaftspolitik".

Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, sagte der DW: "Donald Trump scheint überzeugt von seiner Zollpolitik. Insofern hat er gesagt, dass er kurzfristige Übergangsprobleme hinnehmen werde." Und da sind die rutschenden Börsenkurse egal? Das wohl nicht, meint Krämer: "Offensichtlich nimmt Trump doch gewisse Rücksichten auf die Finanzmärkte."

Schlimmer Verdacht

Rücksicht auf die Finanzmärkte? Oder auf die eigene Klientel? Die scheinbar verrückte Wirtschaftspolitik Trumps könnte ja auch einen Zweck verfolgen: Denn als Trump an seinem großen "Liberation Day" die Welt mit seinen Zollplänen konfrontierte, gingen weltweit die Börsenkurse in den Keller, Milliardenwerte wurden über Nacht verbrannt.

Nur kurz darauf nahm der Amerikaner viel wieder zurück oder schob es auf die lange Bank, die Kurse erholten sich schnell wieder. Da hatten einige Leute schon ein großes Geschäft gemacht. Dank Verunsicherung und zweifelhafter Informationspolitik sehen sich der Präsident und seine Unterstützer seither dem Verdacht des Insiderhandels ausgesetzt.

Taumelnde Prognosen

Doch nicht nur die Privatgeschäfte der "Trumpisten" werden von den Kursschwankungen beeinflusst, es ist die Weltwirtschaft insgesamt. Bei ihrer Frühjahrstagung in Washington haben in dieser Woche Weltbank und Internationaler Währungsfonds ihre Konjunkturprognosen deutlich heruntergeschraubt.

Kein Wunder, meint Jörg Krämer: "Schließlich dürften die Zölle die US-Inflation um rund einen Prozentpunkt erhöhen und die Kaufkraft der Amerikaner senken. Außerdem werden sich viele US-Unternehmen wegen der hohen Unsicherheit beim Investieren zurückhalten."

Für Michael Berlemann vom HWWI steht es ebenfalls außer Frage, dass "der Welthandel unter den Zöllen erheblich leiden wird". Einig sind sich beide Experten, wen es besonders trifft. Jörg Krämer: "Am meisten sind von Trumps Zollschock die USA selbst betroffen." HWWI-Direktor Berlemann sieht das genauso: "Ich gehe davon aus dass die USA am Stärksten betroffen sein werden. So wird Amerika sicher nicht 'Great again'."

Höhere Zölle, niedrigere Steuern?

Ein Versprechen Donald Trumps an seine Wähler war, die Steuern zu senken. Das sollte, so das Kalkül, durch Mehreinnahmen beim Zoll finanziert werden. Ruben Staffa ist da skeptisch. Er denkt, "dass sowohl Substitutionseffekte - also die Nachfrageverlagerung hin zu weniger zollbelasteten Gütern - als auch Einkommenseffekte die tatsächlichen Zolleinnahmen schmälern dürften".

Commerzbank-Ökonom Krämer hat dazu eine eindeutige Meinung: "Die höheren Zolleinnahmen werden bei weitem nicht reichen, Steuersenkungen zu finanzieren. Hier liegt Trump falsch".

Das sei auch völlig logisch, unterstreicht Michael Berlemann: "In dem Maße, wie die Zölle wirken, reduzieren sie vor allem das Handelsvolumen. Wenn aber weniger gehandelt wird, gibt es eben auch keine hohen Zolleinnahmen."

Und wer sitzt nun am längeren Hebel?

Diese Frage ließe sich, so Ruben Staffa, "nicht eindeutig beantworten". Zwar agierten die USA von einer Position der Stärke, doch hätten sie "durch ihr zunehmend unberechenbares außenpolitisches Verhalten an Glaubwürdigkeit eingebüßt". Diese Unzuverlässigkeit schwäche "die strategische Position der USA".

Zwar zeige auch China Schwächen, sagt Staffa und weist auf die "anhaltende Immobilienkrise und auf die angespannten öffentlichen Finanzen" hin. Doch Peking versuche bereits, die Binnenwirtschaft zu stabilisieren, Auslandsinvestitionen zu fördern und den privaten Konsum anzukurbeln. China habe sich so bereits "über Jahre hinweg auf eine Zuspitzung des Konflikts vorbereitet".

"Das ist nicht einfach zu beantworten", sagt auch Michael Berlemann der DW. Schließlich seien viele wirtschaftliche Kerndaten aus China "nicht wirklich gesichert". Dennoch wagt er eine Prognose: "Wenn ich wetten müsste, würde ich auf China setzen."

Jörg Krämer sieht kurzfristig die Amerikaner vorn, weil sie nicht so exportabhängig sind wie die Chinesen. Am Ende jedoch würden "die USA massiv leiden. Es wird für sie schwierig, die vielen Importe aus China zu ersetzen", so der Ökonom. "Trump schneidet sich ins eigene Fleisch."

Item URL https://www.dw.com/de/trump-auf-dem-zollkriegspfad-zieht-er-gegen-china-den-kürzeren/a-72321276?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72288045_302.jpg
Image caption Könnte dem US-Präsidenten Donald J. Trump langsam dämmern, was er da losgetreten hat?
Image source Nathan Howard/REUTERS
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/jd/jd202502023_ZoelleKleinunternehmer_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/72288045_302.jpg&title=Trump%20auf%20dem%20%22Zollkriegspfad%22%3A%20Zieht%20er%20gegen%20China%20den%20K%C3%BCrzeren%3F

Item 58
Id 55472009
Date 2025-04-24
Title Erdbeben: Warum ist die Türkei geologisch so gefährdet?
Short title Erdbeben in Istanbul: Warum ist die Türkei so gefährdet?
Teaser Immer wieder wird die Türkei von schweren Erdbeben erschüttert. Seismologen halten ein verheerendes Beben in der Millionenmetropole Istanbul für wahrscheinlich. Trotzdem gelten viele Gebäude als unsicher.
Short teaser Obwohl ein verheerendes Beben in der Metropole Istanbul sehr wahrscheinlich ist, gelten viele Gebäude als unsicher.
Full text

Das jüngste Beben hat zwar keinen größeren Schaden angerichtet – aber die Angst vor einer sehr wahrscheinlichen Katastrophe befeuert. Nach den Erdbeben in Istanbul steht die Bevölkerung weiter unter Schock.

Laut Seismologen war das Erdbeben der Stärke 6,2 das Schwerste in der Region seit über 25 Jahren. Es ereignete sich laut dem Potsdamer Helmholtz-Zentrum für Geoforschung (GFZ) in einer Tiefe von rund zehn Kilometern, etwa 60 Kilometer westlich von Istanbul im Marmarameer.

Im Februar 2023 waren bei einem starken Erdbeben im Südosten der Türkei nahe der syrischen Grenze tausende Menschen gestorben, zehntausende wurden verletzt.

Dynamisches Puzzle in der Erdkruste

Die Türkei liegt in einer der seismisch aktivsten Gegenden der Welt. Doch warum? Dazu muss man wissen, dass die Erdkruste eine Art Puzzle ist - allerdings ein relativ dynamisches, das aus vielen Einzelteilen besteht: aus ein paar gigantischen ozeanischen Platten und mehreren kleinen kontinentalen Krustenplatten. Wie viele kleine und kleinste Erdplatten es tatsächlich gibt, ist in der Wissenschaft umstritten.

Klar ist aber, dass diese Platten stetig einige Zentimeter im Jahr wandern. Das ist ganz normal. Sie bewegen sich entweder voneinander weg, reiben aneinander oder schieben sich auch mal untereinander. Dann bewegt sich der darüber liegende Kontinent. Diese Bewegungen heißen Plattentektonik.

"Die Frage ist nicht, ob ein Erdbeben kommt, sondern wann"

Die Türkei ist für Erdbebenforschende höchst interessant. Das Deutsche Geoforschungszentrum in Potsdam hat seit den 1980er Jahren Messgeräte in der Türkei installiert und seismische Überwachungen durchgeführt. Diese zeigen, dass das Risiko für Erdbeben in der gesamten Region um das Marmarameer, an dessen Küste Istanbul liegt, besonders hoch ist.

"Die Frage ist nicht, ob ein Erdbeben kommen wird. Die Frage ist, wann es kommen wird", sagte Marco Bohnhoff, Seismologe vom GFZ und Kenner der Region, dazu bereits 2019.

Diese Abschätzung leiten Bohnhoff und andere Fachleute aus dem Auftreten von mehreren Starkbeben im Verlauf der Geschichte Istanbuls ab, aus der andauernden Kontinentalverschiebung unterhalb des Marmarameeres und aus der Tatsache, dass direkt vor den Toren Istanbuls ein Bereich der Erdbebenzone liegt, der schon lange verdächtig ruhig ist.

"Vieles deutet darauf hin, dass dieser Bereich gegenwärtig und schon seit langem verhakt ist. Dabei bauen sich dann Spannungen auf, die irgendwann die Festigkeit des Gesteins überschreiten und ruckartig durch einen Versatz beider Erdplatten um mehrere Meter innerhalb von Sekunden abgebaut werden", sagte der Seismologe im Gespräch mit der Wissensplattform ESKP (Earth System Knowledge Platform).

Bausubstanz und Untergrund entscheidend für Erdbebensicherheit

Die eigentliche Gefahr für Gebäude, Infrastruktur und die örtliche Bevölkerung stellen die entstehenden Erdbebenwellen dar. Es sei also nicht die Frage des "Ob", so Bohnhoff, sondern die des "Wie stark?" und des "Wann?".

Obwohl Experten seit Jahrzehnten vor einem großen Erdbeben warnen, gilt die Metropole am Bosporus nicht als erdbebensicher. Zwar wurde in den vergangenen Jahren auch vor dem Hintergrund der verheerenden Erdbebenkatastrophe im Südosten des Landes 2023 Programme zur Erneuerung gefährdeter Gebäude vorangetrieben. Mehr als eine Million Gebäude gelten aber immer noch als nicht sicher.

Denn eine erdbebensichere Bauweise sei leider sehr teuer, sagte der Seismologe. Es stelle sich die Frage, was die bessere Alternative sei: neu zu bauen oder nachzurüsten.

"Auf Fotos kann man sehen, dass einige der eingestürzten Gebäude möglicherweise erbaut wurden, bevor die modernen Vorschriften zur Erdbebensicherheit in Kraft traten. Für ein Beben dieser Stärke waren sie nicht ausgelegt", sagt Mehdi Kashani, außerordentlicher Professor für bauliches- und Erdbeben-Ingenieurswesen an der University of Southampton in Großbritannien.

"Die Kombination aus enormer Stärke und einem Auftreten relativ dicht unter der Erdoberfläche hat diesem Erdbeben eine große zerstörerische Kraft gegeben. Wir müssen die eingestürzten Gebäude genau untersuchen und von diesem schrecklichen Ereignis lernen. Nur so können wir unsere Gebäude und Städte in Zukunft erdbebensicher machen", so der Experte.

Doch nicht nur der Baubestand, auch der Untergrund spielt eine nicht unerhebliche Rolle. Grundsätzlich gelte: Je fester desto besser. "Am besten ist es, wenn der Untergrund aus Granit besteht. Anders ist es, wenn der Untergrund aus trockengelegten Sedimenten wie Sand oder Ton besteht", sagte Bohnhoff.

Auf weichem Untergrund könne es eher zu Verstärkungen der Bodenbewegungen kommen, teilweise zusammen mit Verflüssigungseffekten, der sogenannten "liquefaction". Diesen Mechanismus vergleicht der Seismologe mit feuchtem Sand am Strand. Wenn man wiederholt auf dieselbe Stelle im Sand tippt, sammelt sich dort Wasser. "Dann wird der Untergrund instabil."

Anmerkung der Redaktion:

Dieser Artikel erschien ursprünglich am 2. November 2020. Er wurde zuletzt am 24.04.2025 aktualisiert.

Item URL https://www.dw.com/de/erdbeben-warum-ist-die-türkei-geologisch-so-gefährdet/a-55472009?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72330800_302.jpg
Image caption Obwohl Experten seit Jahrzehnten vor einem großen Erdbeben warnen, gilt die Metropole am Bosporus nicht als erdbebensicher.
Image source Ali Cevahir Akturk/AA/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/pz/pz20160826_frage_sd_sor.mp4&image=https://static.dw.com/image/72330800_302.jpg&title=Erdbeben%3A%20Warum%20ist%20die%20T%C3%BCrkei%20geologisch%20so%20gef%C3%A4hrdet%3F

Item 59
Id 72313307
Date 2025-04-23
Title Welche Rolle spielen die USA künftig bei IWF und Weltbank?
Short title Welche Rolle spielen die USA künftig bei IWF und Weltbank?
Teaser Präsident Donald Trump hat eine Überprüfung der von den USA finanzierten internationalen Organisationen angeordnet. Was bedeutet das für die Frühjahrstagung von IWF und Weltbank in dieser Woche?
Short teaser Die USA, prüfen, ob sie internationale Organisationen weiter finanzieren. Wie zukunftsfähig sind IWF und Weltbank?
Full text

Der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank sorgen meist nur in Zeiten erheblicher Umbrüche für Schlagzeilen. Eine Suchmaschinen-Recherche mit dem Begriff "Argentinien" bringt mit etwa gleicher Wahrscheinlichkeit Artikel über IWF-Kredite für das schuldengeplagte Land hervor, wie Informationen über die jüngsten Fußballtriumphe von Fußball-Star Lionel Messi.

In der vergangenen Woche wurde das jüngste Finanzpaket des IWF in Höhe von 30 Milliarden US-Dollar (17,4 Milliarden Euro) für Argentinien, sein größtes Schuldnerland, verkündet. Damit unterstützt der Weltwährungsfonds weiter den Reformkurs des libertären Präsidenten Javier Milei, der die Wirtschaft des südamerikanischen Landes nach Jahrzehnten überbordender Staatsausgaben wieder auf Kurs bringen will.

Die Arbeit der Weltbank findet in der Regel eher unter dem Radar statt. Während der Corona-Pandemie vergab die Finanzinstitution laut ihrer Website still und leise Kredite und Zuschüsse in Höhe von 170 Milliarden US-Dollar an über 100 Länder und erreichte damit rund 70 Prozent der Weltbevölkerung.

Wenn der IWF und die Weltbank am Donnerstag zu ihrer Frühjahrstagung in der US-Hauptstadt Washington zusammenkommen, stehen ihnen unsichere Zeiten bevor. Erstens droht die Zollpolitik von US-Präsident Donald Trump das globale Wirtschaftswachstum aus dem Tritt zu bringen. Und zweitens ist völlig offen, ob die USA die beiden internationalen Institutionen weiter unterstützen werden.

Das "Project 2025" und die Abkehr von IWF und Weltbank

Die Spekulationen über einen US-Austritt werden vor allem durch die Forderungen des "Project 2025" befeuert, eine Art rechtsnationales Drehbuch für Trumps zweite Amtszeit. Das unter Mitwirkung von mehr als einhundert republikanischen Denkfabriken und Organisationen entstandene Programm für den konservativen Umbau der USA fordert den Rückzug der USA aus beiden Institutionen, weil sie als "teure Zwischenhändler" gesehen werden, die US-Gelder weltweit umverteilen.

Trumps Rückzug aus dem Pariser Klimaabkommen und der Weltgesundheitsorganisation (WHO), verbunden mit einer Anordnung vom Februar, alle von den USA finanzierten internationalen Organisationen innerhalb von 180 Tagen zu überprüfen, hat die Sorgen über die zukünftige Beteiligung der USA an IWF und Weltbank weiter angeheizt. Washington hat noch keine Exekutivdirektoren für beide Organisationen ernannt, was auf eine bewusste Pause im US-Engagement hindeutet.

Die USA profitieren jedoch erheblich durch ihre Rolle bei beiden Institutionen - rein wirtschaftlich und durch die Ausübung von "Soft Power", die den Vereinigten Staaten die Verbreitung eigener Normen und Werte ermöglicht. Mit dem größten Stimmenanteil sowohl beim IWF als auch bei der Weltbank verfügt die Regierung in Washington über ein effektives Vetorecht bei wichtigen Entscheidungen. Kredite an verschuldete Länder sind oft an Bedingungen wie Marktliberalisierung geknüpft, die mit den Interessen der USA übereinstimmen.

Robert Wade, Professor für politische Ökonomie an der London School of Economics (LSE), glaubt, dass ein Rückzug der USA schwerwiegende Auswirkungen auf Washingtons globales Ansehen hätte. "Aufeinanderfolgende US-Regierungen und der Kongress haben lange Zeit so getan, als wären die Weltbank und der IWF Agenten oder Waffen des US-Staates", sagte Wade der DW. "Auf die eine oder andere Weise übt Washington einen großen Einfluss auf ihre Politik aus."

Zölle schocken Investoren und schüren Krisenängste

Die Anfang des Monats von Donald Trump angekündigten höchsten Zölle seit rund 100 Jahren sorgen für große Unsicherheit in der Weltwirtschaft - besonders, seit die Aktienmärkte stark nachgegeben haben. Trumps Kritiker befürchten nun, dass eine nach innen gerichtete US-Regierung das gesamte globale Finanzsystem, das geprägt ist von flexiblen Wechselkursen zwischen wichtigen Währungen, der Dominanz des US-Dollars und Institutionen wie den IWF und die Weltbank, aufs Spiel setzen könnte.

"Die Trump-Regierung hat keine kohärente Position zu Reformen der Weltbank, des IWF oder einer anderen internationalen Institution", sagt Constantin Gurdgiev, außerordentlicher Professor für Finanzen an der University of Northern Colorado, im Interview mit der DW. "Dies ist eine transaktionale, populistische, nach innen gerichtete Agenda, die darauf abzielt, schnelle Erfolge auf Kosten des internationalen Systems zu erzielen."

Jeder Rückzug der USA könnte zu einer unmittelbaren Liquiditätskrise bei IWF und Weltbank führen, deren Ressourcen in Höhe von insgesamt 1,5 Billionen US-Dollar stark von den finanziellen Beiträgen der USA abhängen. Gurdgiev prognostiziert "signifikante Auswirkungen" auf die Fähigkeit von IWF und Weltbank, wirksame Maßnahmen bei künftigen Krisen zu finanzieren. Ein Rückzug der USA, so Gurdgiev, wäre ein strategisches Geschenk an China, das bereits stark investiert hat, um seinen globalen Einfluss auszuweiten.

"Beide Institutionen sind für die USA äußerst kosteneffizient und helfen ihnen, ihre längerfristigen Ziele zu erreichen", so Gurdgiev und meint damit auch den Umgang mit China.

Chinas Rolle als globaler Kreditgeber

Eine Berechnung des Global Development Policy Center der Boston University schätzt, dass China zwischen 2008 und 2021 Kreditzusagen in Höhe von fast 500 Milliarden US-Dollar gegenüber 100 Ländern gemacht hat. Angesichts der Schwächung von IWF und Weltbank könnten sich Länder, die stark verschuldet oder auf der Suche nach der Finanzierung von Infrastrukturprojekten sind, zunehmend an Chinas Institutionen wenden. Damit werde Pekings geopolitischer Einfluss weiter verstärkt.

Im Jahr 2015 hatten China und andere BRICS-Staaten des globalen Südens die New Development Bank (NDB) gegründet, die oft als Rivale der Weltbank gesehen wird. Die NDB bietet Kredite mit weniger strengen Bedingungen an und fördert die Kreditvergabe in Nicht-Dollar-Währungen, womit sie die westliche Finanzdominanz in Frage stellt.

Ein Rückzug der USA würde auch die Verlegung des Hauptsitzes von IWF und Weltbank aus Washington nach Japan, dem zweitgrößten Geldgeber, nach sich ziehen. Wade zufolge würde sich China, das bei den Stimmrechtsanteilen unterrepräsentiert ist (mit nur 6,1 Prozent beim IWF), vehement dagegen wehren.

Könnte Trump einen besseren Deal aushandeln?

"Trump könnte argumentieren: Erhöhen Sie Ihre Mittel, und Sie werden einen größeren Stimmenanteil gewinnen", so Wade über eine mögliche Verhandlungstaktik des US-Präsidenten. "Es ist wahrscheinlicher, dass die USA zumindest eine ernsthafte Drohung aussprechen könnten, die Weltbank (und nicht den IWF, Anm. d. Red.) zu verlassen."

Während regionale Banken wie die Asiatische Entwicklungsbank oder die Interamerikanische Entwicklungsbank die Rolle der Weltbank teilweise ausfüllen könnten, sind Alternativen zum IWF rar gesät. Die Bemühungen der BRICS, ein Pendant zum IWF zu schaffen, sind ins Stocken geraten.

Gurdgiev argumentiert, dass Trump den IWF und die Weltbank als "Cheerleader" für seine Hochzoll-Politik und America-First-Agenda ansieht und seine Regierung Schritte unternehmen wird, um den Einfluss Chinas und anderer BRICS-Staaten in beiden Organisationen einzudämmen. "Aber diese Institutionen verfügen über genügend intellektuelle Integrität, um zu verstehen, wie gefährlich diese Politik sowohl für die US-amerikanische als auch für die Weltwirtschaft ist", fügt er hinzu.

Gewitterwolken über der Weltwirtschaft

In der Tat wächst die Sorge, dass Trumps aggressive Handelspolitik, wenn sie vollständig umgesetzt und Vergeltungsmaßnahmen ergriffen werden, das Potenzial hat, eine große globale Finanzkrise auszulösen. Der IWF hat am Dienstag seine Wachstumsprognose für Dutzende von Ländern gesenkt, weil das Abwürgen des Welthandels viele verschuldete Länder unter Druck setzt.

"Die globale Finanzlage ist derzeit sehr fragil und könnte leicht in eine Finanzkrise kippen", warnt Wade von der LSE und prognostiziert, dass Trump gezwungen sein werde, bei den Gesprächen über einen Austritt aus dem IWF und der Weltbank einen Rückzieher zu machen, "wenn klare Anzeichen für eine Schuldenkrise auftauchen".

Gurdgiev warnt , dass ein mangelndes Engagement Washingtons in beiden Institutionen den derzeitigen Pessimismus gegenüber Trumps Wirtschaftspolitik und die zukünftige Rolle der USA in globalen Angelegenheiten nur noch verstärkt. Diese Unsicherheit, glaubt er, könnte zu einer systemischen Krise führen, in einer Zeit, in der sowohl der IWF als auch die Weltbank stark geschwächt sind.

"Wir neutralisieren die Fähigkeit von Institutionen, die als Kreditgeber letzter Instanz fungieren, ihre Arbeit zu tun", warnt Gurdgiev, der auch Gastprofessor am Trinity College in Dublin ist. "Das ist kompletter und ausgemachter Blödsinn."

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

Bei einer vorhergehenden Version hieß es, die US-Regierung würde das Finanzsystem, dass 1944 in Bretton Woods geschaffen wurde, aufs Spiel setzen. Das wurde korrigiert.

Item URL https://www.dw.com/de/welche-rolle-spielen-die-usa-künftig-bei-iwf-und-weltbank/a-72313307?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72309383_302.jpg
Image caption IWF und Weltbank kommen ab Donnerstag zu ihrer Frühjahrstagung in Washington zusammen
Image source Celal Gunes/Anadolu/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72309383_302.jpg&title=Welche%20Rolle%20spielen%20die%20USA%20k%C3%BCnftig%20bei%20IWF%20und%20Weltbank%3F

Item 60
Id 72272130
Date 2025-04-22
Title Maler des Lichts: 250 Jahre William Turner
Short title Maler des Lichts: 250 Jahre William Turner
Teaser Er bannte die Erhabenheit der Natur so grandios auf die Leinwand wie die Macht der Maschinen: William Turner, einer der größten Maler der Romantik, kam vor 250 Jahren zur Welt.
Short teaser Der englische Maler William Turner ist einer der größten Maler der Romantik. Er wurde vor 250 Jahren geboren.
Full text

Sein Porträt ziert den 20-Pfund-Schein. Auch der wichtigste Preis Großbritanniens für moderne Kunst trägt seinen Namen: Joseph Mallord William Turner (1775-1851).

Zufall ist das nicht: Leuchtende Sonnenuntergänge, dunkle Wolkentürme, schäumende Gischt - Turner beherrschte das Spiel mit Licht, Farbe und Atmosphäre wie kaum ein anderer. Inspiration für seine Bilder fand er vor allem auf Streifzügen durch die Natur und auf Reisen.

Im Laufe seines Lebens reiste Turner nicht nur innerhalb Großbritanniens, sondern auch in die Niederlande, nach Belgien, Frankreich, Italien und nach Deutschland.

Hier faszinierte ihn der mächtige Strom des Rheins. Die dort entstandenen Landschaftsbilder weckten darauf auch die Reiselust der Briten und machten das Rheinland zum beliebten Reiseziel. Heute gilt Turner als einer der Väter der Rheinromantik.

Ganz besonders prägte ihn aber Venedig. Dreimal besucht er die Lagunenstadt im Norden Italiens, 1819, 1833 und 1840. An Turners Venedig-Ansichten lässt sich seine Stilentwicklung nachvollziehen: Zunehmend unschärfer, mystischer und lichtdurchfluteter werden seine Bilder.

Wie kaum ein anderer setzt Turner Licht ein, um Atmosphäre zu erzeugen. Grenzen zwischen Land und Wasser verschwimmen. Nicht umsonst werden die Darstellungen auch als Feenbilder oder Märchenbilder genannt. Turner scheint so den Zeitgeist zu treffen, denn die Bilder erfreuen sich großer Beliebtheit.

"Light is therefore colour" beschrieb Turner schon im Jahr 1818 die Bedeutung von Licht in einem Vortrag. Es heißt sogar, Turner habe Atelierbesucher vor dem Besuch seiner Ausstellung im Dunkeln warten lassen, damit sie die Lichteffekte in seinen Bildern bewusster wahrnahmen.

Wer war William Turner?

Geboren am 23.04.1775 in London, wuchs Turner in Zeiten der industriellen Revolution auf, die verbunden war mit großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen. Mit zwölf Jahren fertigte er erste eigene Landschaftsskizzen an.

Sein Vater, Barbier und Perückenmacher von Beruf, erkannte sein Talent und stellte Bilder des Sohnes in seinem Laden zum Verkauf aus. Auch deshalb nahm Turners künstlerische Karriere schnell Fahrt auf.

Mit nur 14 Jahren trat er als Student in die königliche Kunstakademie, Royal Academy in London ein, wo er zunächst vor allem Aquarelle malte. Später lehrte er hier selbst als Professor für Perspektive.

Historienbilder der etwas anderen Art

Seine Gemälde bildeten jedoch nicht einfach nur Natur ab. Stattdessen nahm Turner auch das Zeitgeschehen in seinen Werken auf und malte - ungewöhnlich für die Epoche der Romantik - auch technische Errungenschaften wie Lokomotiven und Dampfschiffe im Kampf gegen die Naturgewalten.

Auch historische und mythische Ereignisse fanden Platz in seinen Bildern - wenn auch in ungewöhnlicher Inszenierung.

Turners Spätwerk wurde immer eigenwilliger und stieß damit auf viel Unverständnis. 1842 stellte die Royal Academy das Gemälde "Schneesturm" aus - heute eines seiner berühmtesten Werke. Es zeigt ein Dampfschiff im Kampf gegen die Elemente oder, wie zeitgenössische Kritiker es formulierten, "für unsere Augen ist es eine Masse wirbelnder Seifenlaugen".

Ebendieser, beinah abstrakt wirkende Stil, für den Turner damals kritisiert wurde, inspirierte spätere Impressionisten wie Claude Monet und Camille Pissaro. Heute gilt Turner als Vater des Impressionismus, als ein eigenwilliger Wegbereiter der Moderne und manchen sogar als Vorläufer der abstrakten Kunst. In jedem Fall aber war er seiner Zeit weit voraus.

Item URL https://www.dw.com/de/maler-des-lichts-250-jahre-william-turner/a-72272130?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72254130_302.jpg
Image caption Turner-Gemälde "Schneesturm - Dampfschiff vor einer Hafeneinfahrt" (1842)
Image source akg-images/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72254130_302.jpg&title=Maler%20des%20Lichts%3A%20250%20Jahre%20William%20Turner

Item 61
Id 72265583
Date 2025-04-22
Title Deutschland: Gesundheitszustand des Kanzlers ist geheim
Short title Deutschland: Gesundheit des Kanzlers ist geheim
Teaser In den USA weiß die Bevölkerung über die Gesundheit ihres Präsidenten Bescheid. Donald Trump, so las man neulich, sei top in Form. Deutsche Regierungschefs sind weit weniger offen. Krankheiten werden geheimgehalten.
Short teaser In den USA erfuhr die Bevölkerung neulich, Trump sei top in Form. Deutsche Regierungschefs sind weit weniger offen.
Full text

Donald Trump geht es gut. Der US-Präsident "erfreut sich nach wie vor einer exzellenten Gesundheit" und sei problemlos in der Lage, seinen Job auszuüben, so heißt es in einem Bericht von Trumps Leibarzt, dem ehemaligen US Navy Captain Sean Barbabella.

Das Memorandum wurde Mitte April veröffentlicht und enthält genaue Angaben zu Trumps Größe, Gewicht, Blutdruck und mehr. Interessierte können nachlesen, welchen medizinischen Tests sich der Präsident bei seiner Routineuntersuchung unterzogen hat, welche Medikamente er zur Kontrolle seines Cholesterinspiegels einnimmt und dass ihm im Alter von 11 Jahren der Blinddarm entfernt wurde.

Captain Barbabella teilte ebenfalls mit, dass Trump einen kognitiven Funktionstest mit Bravour bestanden hat (30 von 30 Punkten!) und dass sein hervorragender Zustand auch auf seinen "aktiven Lebensstil" zurückzuführen sei - schließlich habe Trump schon viele Golfturniere gewonnen.

Über den deutschen geschäftsführenden Bundeskanzler Olaf Scholz wird man solche Informationen kaum finden, und das nicht nur, weil der Mann nicht dafür bekannt ist, viel Golf zu spielen. In Deutschland weiß die Öffentlichkeit so gut wie nichts über die Gesundheit ihres Regierungschefs.

Keine Informationen zum Gesundheitszustand des Kanzlers

Für diesen Text wollte die DW vom Presseamt der Bundesregierung wissen, welcher Arzt oder welche Ärztin den Bundeskanzler behandelt, warum es so wenig öffentliche Informationen über seine Gesundheit gibt und wo frühere Regierungschefs in Behandlung waren. Nach sensiblen Informationen, wie beispielsweise ob Scholz noch seinen Blinddarm hat oder wie hoch sein Blutdruck ist, haben wir uns gar nicht erst erkundigt.

Und trotzdem: "Wir bitten um Verständnis, dass wir uns zur medizinischen Versorgung des Bundeskanzlers grundsätzlich nicht äußern", kam als Antwort zurück.

Was wir wissen, ist, dass der deutsche Bundeskanzler keinen Leibarzt hat. Der Regierungschef nimmt keine Mediziner mit auf Dienstreisen oder Staatsbesuche, es sei denn, es gibt einen besonderen Grund dafür. In Berlin gibt es keinen fest im Kanzleramt niedergelassenen Arzt. Wenn medizinische Hilfe gefordert ist, wäre zum Beispiel die renommierte Charité nur fünf Autominuten entfernt.

Warum hat der Bundeskanzler keinen Leibarzt?

Es ist anzunehmen, dass Olaf Scholz nicht in überfüllten Wartezimmern sitzen muss. Und Angela Merkel hat während ihrer 16-jährigen Amtszeit wahrscheinlich auch eher selten monatelang auf einen Facharzttermin warten müssen. Dennoch mag sich mancher fragen, warum der Regierungschef der größten europäischen Volkswirtschaft keinen persönlichen Arzt zur Verfügung hat, der ihm auf Abruf zur Verfügung steht.

Da von offizieller Seite keine Informationen zu bekommen sind, kann man nur spekulieren. Ein Grund könnte das Vertrauen in das solide öffentliche Gesundheitssystem in Deutschland sein. Eine andere Erklärung für den krassen Unterschied zwischen der medizinischen Versorgung des US- und des deutschen Regierungschefs könnte in ihrer unterschiedlichen Machtstellung liegen.

"Kein deutscher Politiker hat auch nur annähernd eine solche Machtfülle wie ein amerikanischer Präsident", sagte Ronald D. Gerste, ein deutscher Augenarzt und Historiker, der in Washington, D.C. lebt, dem medizinischen Nachrichtenportal Coliquio. "Eine Krankheit des Bundeskanzlers wäre kaum folgenschwer, da Deutschland keine Präsidialdemokratie ist - das Kabinett würde weiter tagen und auch Entscheidungen treffen."

Größerer Respekt vor der Privatsphäre in Deutschland

Dass die Deutschen wenig Informationen über den Gesundheitszustand ihrer Regierungsoberhäupter haben, mag auch an der Kultur liegen.

Wenn es keinen offensichtlichen Grund zur Besorgnis gibt (mehr dazu weiter unten), kämen nur wenige Reporter auf die Idee, sich nach der Herzfrequenz oder der Medikamenteneinnahme des Bundeskanzlers zu erkundigen. In Deutschland schätzen wir unsere Privatsphäre mehr als fast alles andere, und das gilt auch für Bundeskanzler.

"Grundsätzlich respektiert man - sprich: die Medien - in Deutschland das Privatleben der Politiker in stärkerem Maße als heute in den USA", sagt Gerste. "Und so ähnlich dezent geht man mit den Krankheiten der Regierenden um."

Das heißt natürlich nicht, dass Bundeskanzler nicht krank werden. Es wird nur meist nicht öffentlich darüber berichtet.

Depressionen, Ohnmachtsanfälle, Zittern

Willy Brandt, Bundeskanzler von 1969 bis 1974, wurde nachgesagt, dass er an Depressionen litt; er zog sich regelmäßig für einige Tage aus der Öffentlichkeit zurück. Kurz vor seinem Rücktritt wurde eine Erklärung veröffentlicht, in der es hieß, er leide an "einer fiebrigen Erkältung". Jahre später gab Brandt zu: "In Wirklichkeit war ich kaputt."

Sein Nachfolger, Helmut Schmidt, der bis 1982 im Amt war, hatte das Adams-Stokes-Syndrom, bei dem man aufgrund von kurzen Herzstillständen immer wieder bewusstlos wird. "Ich bin wahrscheinlich an die hundert Mal besinnungslos vorgefunden worden. Meistens nur wenige Sekunden, manchmal aber auch Minuten", sagte Schmidt. "Das haben wir mit Erfolg verheimlicht und es hat mich nicht daran gehindert, meine Pflicht als Regierungschef zu tun."

In jüngerer Vergangenheit bekam Bundeskanzlerin Angela Merkel im Sommer 2019 einige Male einen Zitteranfall in der Öffentlichkeit, was in der Presse und in der Bevölkerung die seltene Frage nach ihrem Gesundheitszustand auslöste. Als offizieller Grund für das Zittern wurde damals Dehydrierung angegeben. Erst nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt gab Merkel zu, dass hohe Temperaturen und zu wenig Wasser nicht der einzige Grund waren.

"Der Tod meiner Mutter hat mir sehr zu schaffen gemacht", sagte sie 2022 in einem Interview. Merkel und ihre Mutter hatten sich sehr nahegestanden, bevor die ältere Frau im April 2019 verstarb - etwa zwei Monate vor Merkels erstem Zittern in der Öffentlichkeit.

Item URL https://www.dw.com/de/deutschland-gesundheitszustand-des-kanzlers-ist-geheim/a-72265583?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70750304_302.jpg
Image caption Über die Gesundheit von Donald Trump ist weit mehr bekannt als über die von Olaf Scholz (Archivbild)
Image source -/ dts-Agentur/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/70750304_302.jpg&title=Deutschland%3A%20Gesundheitszustand%20des%20Kanzlers%20ist%20geheim

Item 62
Id 72277488
Date 2025-04-22
Title Aufbruch und Skepsis in Argentinien - Mileis Wirtschaftsbilanz
Short title Aufbruch und Skepsis - Mileis Wirtschaftsbilanz
Teaser Argentiniens libertärer Präsident Javier Milei ist seit 500 Tagen im Amt. Sein wirtschaftsliberaler Kurs findet weltweit Beachtung. Aber ist er erfolgreich?
Short teaser Mileis umstritttener wirtschaftsliberaler Kurs lässt Raum für Hoffnung und Skepsis.
Full text

Nur ein paar Gehminuten im Viertel Boedo trennen in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires die beiden Stimmungslagen: Aufbruch und Skepsis, Zustimmung und Ablehnung. "Zutritt verboten" steht auf einem Plakat unter den hochgezogenen Rollläden eines Warenhaues. Gemeint sind Präsident Javier Milei und Sicherheitsministerin Patricia Bullrich.

Beide sind hier nicht willkommen, zeigen die durchgestrichenen Portraits der beiden Politiker. Doch ganz in der Nähe wird wieder kräftig gebaut, gehämmert und gemauert: Es entsteht ein neues Wohngebäude, es wird wieder in die Zukunft investiert. Aufbruchsstimmung.

Seit 500 Tagen ist Javier Milei in Argentinien nun in Amt. Und kaum ein Regierungschef zieht weltweit so viel Aufmerksamkeit auf sich wie der libertäre Präsident in Buenos Aires. Aus dem linken Lager schlägt ihm wegen seines wirtschaftsliberalen Kurses bisweilen blanker Hass entgegen, ein überwiegender Teil der Ökonomen sehen in dem Wirtschaftswissenschaftler den Befreier eines von Bürokratie und Regularien gefesselten Landes.

Aufhebung der Devisenbeschränkung

Der jüngster Coup Mileis ist das Ende der sogenannten cepo. Die cepo (auf deutsch "Die Fessel") war ein seit 2003 von verschiedenen argentinischen Regierungen immer wieder eingesetztes Instrument, um den Zugang zum begehrten US-Dollar im Kampf gegen die Inflation einzugrenzen. Seit Mitte April ist diese cepo aufgehoben und somit sind Devisengeschäfte von privaten Personen und Unternehmen unbeschränkt möglich.

"Im Gegensatz zu den alarmistischen Prognosen vieler lokaler und internationaler Wirtschaftswissenschaftler und Analysten ist der Wechselkurs nicht in die Höhe geschossen", sagt Aldo Abram vom wirtschaftsliberalen Think Tank Fundacion Libertad y Progreso aus Buenos Aires im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Im Gegenteil, der Wechselkurs stabilisierte sich unter dem Niveau vor der Paralleleröffnung. Der Handel normalisierte sich ohne Krise, ohne einen Run und ohne Abwertung." Die Regierung feierte das Ergebnis mit einem Bild, das Milei und seinen Wirtschaftsminister Santiago Caputo jubelnd wie bei einem Torerfolg feiert.

Milei macht Hoffnung und bittet um Geduld

Der Präsident selbst sieht sich in der richtigen Spur: "Nach mehr als 100 Jahren chronischen Haushaltsdefizits gehören wir heute zu den fünf Ländern der Welt, die nur das ausgeben, was sie einnehmen, und nicht einen Peso mehr", sagte Milei in seiner TV-Ansprache vor wenigen Tagen, die die Zeitung Clarin dokumentierte.

Milei kündigte dabei das Ende der Devisenbeschränkungen an und versprach seinen Landsleuten eine vielversprechende Zukunft: "Argentinien wird in den nächsten 30 Jahren das Land mit dem höchsten Wirtschaftswachstum sein." Dies werde nicht über Nacht geschehen, so Milei weiter. Aber es werde schrittweise geschehen und mit der Gewissheit, "dass wir sowohl an der internen als auch an der externen Front unsere Hausaufgaben gemacht haben, um jede Volatilität so weit wie möglich abzumildern."

Auf der Habenseite steht eine nach Angaben der Statistikbehörde INDEC erreichten Reduzierung der Armut auf 38,1 Prozent, die damit leicht unter dem Wert liegt, die Milei bei seinem Amtsantritt von der Vorgängerregierung erbte. Auch die Inflation sank laut INDEC unter Milei im Jahr 2024 um 44,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Die Spuren der Kettensägen

Deutlich skeptischer sieht Svenja Blanke von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Buenos Aires die wirtschaftliche Entwicklung. Sie kritisiert im Gespräch mit der Deutschen Welle, dass die Regierung "den Wechselkurs als eine Art 'Stütze' verwendet, um die Inflation zu bremsen."

Dadurch sei der Peso im Vergleich zu anderen Währungen stärker geworden, mit dem Ergebnis, dass ein "Big Mac" in Argentinien mit 5,48 Euro ungefähr so viel koste wie in Deutschland - der Mindestlohn pro Stunde aber mit 1,06 Euro weit unter dem deutschen von 12,82 Euro liege. "Es gibt also eine Art von sozialem Kettensägen-Massaker, das betrifft die Einkommen, die Bildungspolitik, die Forschung, die Kultur, die öffentliche Infrastruktur, die Erinnerungspolitik."

EU-Mercosur-Abkommen als Chance

Zuversichtlicher ist Hans-Dieter Holtzmann von der Friedrich-Naumann-Stiftung in Buenos Aires: "Mit dem Wegfall der Kapitalverkehrskontrollen und der Flexibilisierung des Wechselkurses sind wichtige Hemmnisse für eine wirtschaftliche Erholung Argentiniens aus dem Weg geräumt", sagt er zur DW.

"Trotz steuerlicher Anreize hielten sich internationale Investoren bisher mit konkreten Engagements in Argentinien zurück, obwohl das Land attraktive Ressourcen im Energiebereich (Gas, Wasserstoff) und bei Rohstoffen (Lithium, Kupfer) aufweist." Umso wichtiger sei es nun das EU-Mercosur Abkommen schnellstmöglich zu ratifizieren, damit Argentinien und Deutschland die Chancen für Handel und Investitionen vollumfänglich nutzen könnten.

Die beiden Gesichter Argentiniens

Im Zentrum der Hauptstadt sind die beiden Gesichter des Landes zu sehen: Volle Restaurants und Cafes, die so gar nicht zum Krisengerede der Opposition passen. An einem Generalstreik vor wenigen Tagen nahmen nur wenige Menschen teil, die Gewerkschaften scheinen mit drei Generalstreiks seit Beginn von Mileis Amtszeit den Bogen überspannt zu haben. Der überwiegende Teil der Argentinier will vorankommen, arbeiten und die Krise hinter sich lassen.

Und dann gibt es die Bilder der wöchentlich demonstrierenden Rentner, die wiederum die Versprechen Mileis widerlegen, dass nur die "Kaste", also die bis Dezember 2023 regierenden Eliten und Mächtigen aus dem Lager des Peronismus für die Reformen zur Kasse gebeten werden. Sie spüren durch reale Kaufkraftverluste die Effekte der Sparpolitik in der eigenen Geldbörse.

Item URL https://www.dw.com/de/aufbruch-und-skepsis-in-argentinien-mileis-wirtschaftsbilanz/a-72277488?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71904872_302.jpg
Image caption Die Wirtschaftspolitik von Javier Milei hat vieles teuer gemacht. Immer wieder gibt es Proteste in Argentinien. So gehen die Rentnerinnen und Rentner regelmäßig auf die Straße und werden dabei unter anderem von Fußballfans unterstützt.
Image source Agustin Marcarian/REUTERS
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/71904872_302.jpg&title=Aufbruch%20und%20Skepsis%20in%20Argentinien%20-%20Mileis%20Wirtschaftsbilanz

Item 63
Id 72308199
Date 2025-04-22
Title Deutsches Bier ist nicht mehr so beliebt
Short title Deutsches Bier ist nicht mehr so beliebt
Teaser Bier aus Deutschland gilt als weltweiter Exportschlager. Doch die Zeiten scheinen sich zu ändern. Und auch im Inland ist das nur aus vier Zutaten gebraute Getränk nicht mehr so gefragt.
Short teaser Bier aus Deutschland gilt als weltweiter Exportschlager. Doch die Zeiten scheinen sich zu ändern.
Full text

1,45 Milliarden Liter Bier aus Deutschland sind 2024 ins Ausland verkauft worden. Das waren sechs Prozent weniger als noch 2014, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden mitteilte. Gut die Hälfte (55,7 Prozent) der im vorigen Jahr exportierten deutschen Biersorten ging an Mitgliedstaaten der Europäischen Union.

Geringere Nachfrage im Inland

"Trotz der gesunkenen Auslandsnachfrage zeigte sich der Bierexport stabiler als der Absatz im Inland", erklärten die Statistiker weiter. Mit insgesamt 6,8 Milliarden Litern wurden in Deutschland im vergangenen Jahr 15,1 Prozent weniger Bier verkauft als 2014.

Mit dem sinkenden Bierabsatz ging zuletzt auch die Zahl der Brauereien in Deutschland zurück. Zwar gab es im vergangenen Jahr mit bundesweit 1459 Brauereien rund 7,4 Prozent mehr als 2014, so das Statistische Bundesamt. Seit dem Höchststand im Vor-Corona-Jahr 2019 mit 1552 Brauereien nimmt deren Zahl jedoch nahezu kontinuierlich ab. Allein verglichen mit 2023 verringerte sich die Zahl der Brauereien 2024 um 3,4 Prozent, so die Statistiker.

"Tag des Bieres" erinnert an Reinheitsgebot

Anlass für die Veröffentlichung der neuesten Daten des Bundesamtes ist der "Tag des Bieres" in Deutschland am Mittwoch. Damit wird dem Deutschen Brauer-Bund zufolge an das Reinheitsgebot erinnert, das am 23. April 1516 erstmals in Bayern erlassen worden war. Dieses schreibt vor, dass zur Bierherstellung nur Wasser, Malz, Hopfen und Hefe verwendet werden dürfen. "Es steht für die Bewahrung einer althergebrachten Handwerkstechnik und gilt zugleich als älteste, heute noch gültige lebensmittelrechtliche Vorschrift der Welt", betont der Brauer-Bund.

se/AR (rtr, afp, kna, destatis.de)

Item URL https://www.dw.com/de/deutsches-bier-ist-nicht-mehr-so-beliebt/a-72308199?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70318391_302.jpg
Image caption Ein Ausflug ohne Bier - nicht in Bayern: ein Kettenkarussell auf dem Oktoberfest in München
Image source Peter Kneffel/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/md/md230725_KiBier_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/70318391_302.jpg&title=Deutsches%20Bier%20ist%20nicht%20mehr%20so%20beliebt

Item 64
Id 71982835
Date 2025-04-21
Title KI: Die Superkraft, die Jobs für Frauen schafft
Short title KI: Die Superkraft, die Jobs für Frauen schafft
Teaser Frauen "am Bau" schwärmen davon, am Ende des Tages etwas geschafft zu haben. Es sind zwar nur wenige Frauen in dieser Branche, doch neue Technologien erleichtern die Arbeit und eröffnen neue Möglichkeiten.
Short teaser Neue Technologien erleichtern die Arbeit und eröffnen auch Frauen neue Möglichkeiten.
Full text

Larissa Zeichhardt beschäftigt in ihrer Baufirma einen Roboterhund. Der Vierbeiner ist mit mehreren unterschiedlichen Kameras und Sensoren bestückt und dokumentiert die Arbeiten des Familienunternehmens LAT aus Berlin, eines Spezialisten für das Verlegen von Starkstromkabeln an Gleisanlagen.

Nach einer vollen Schicht auf der Baustelle setze man sich nicht gerne noch an den Schreibtisch um aufzuschreiben, was gemacht wurde, weiß Zeichhardt. Doch ohne diese Dokumentation wüsste die nächste Schicht nicht, wo genau die Kabel liegen.

Der Roboter nimmt den Monteuren nun diese Aufgabe ab. Er läuft im Gleisbett, zeichnet die Stellen auf und überträgt die Daten direkt in ein virtuelles 3D-Modell des Bauwerks (BIM), damit alle Kollegen darauf zugreifen können. Die automatische Datenerfassung verhindert auch eine Beschädigung der Leitungen und damit verbundene Stromausfälle und teure Reparaturen: Wenn man ihre genaue Lage nicht kennt, können sie bei weiteren Arbeiten zerstört werden.

Die "Schwesternwirtschaft"

Zeichhardt und ihre Schwester Arabelle Laternser übernahmen vor zehn Jahren nach dem plötzlichen Tod des Vaters den mittelständischen Familienbetrieb und führten LAT gemeinsam ins digitale Zeitalter. Dies geschah teils aus Spaß an der Technik, teils aus purer Not.

Die Elektroingenieurin Zeichhardt war schwanger, als der Vater starb, und ihre Schwester brachte ihr ständig neue Unterlagen zur Unterschrift nach Hause. Irgendwann wollten die Geschäftsführerinnen keine Aktenordner mehr schleppen. Sie digitalisierten die ganze Verwaltung, um von überall arbeiten zu können.

Auch die Mitarbeitenden draußen am Gleis nutzen digitale Tools. Die komplette Dokumentation, das Werkzeug-Management und die Dokumente zur Arbeitssicherheit sind in einer Baustellen-App zusammengefasst. "Unsere Arbeitszeiten sind hart", sagt Zeichhardt im Gespräch mit OECD Berlin. Es müsse oft nachts, an Wochenenden oder Feiertagen gearbeitet werden. Deshalb versucht sie, die Leute vom Bürokram zu entlasten.

Wenig weibliche Beschäftigte

Die Baubranche hat einen eher negativen Ruf: dreckig, laut, männerdominiert und technologisch konservativ. Das Müllaufkommen und der CO2-Ausstoss: zum Haareraufen. Ewige Baustellen wie der Berliner Flughafen, der Stuttgarter Hauptbahnhof, die Bonner Beethovenhalle: Milliardengräber und Inbegriff von Chaos.

Eine noch größeres Problem der Branche ist allerdings der Fachkräftemangel. Ein Viertel der Facharbeiter geht laut Hauptverband der deutschen Bauindustrie (HDB) in den kommenden zehn Jahren in Rente. Jüngere, erst recht Frauen, kommen jedoch nicht nach.

Die Baubranche hat laut HDB die wenigsten weiblichen Beschäftigten in Deutschland: 14 Prozent. Mehrere Jahre hervorragender Baukonjunktur mit guten Verdienstmöglichkeiten haben in dieser Hinsicht nicht viel bewirkt. In den Berufen, die Mauern hochziehen, Straßen asphaltieren und Kanäle graben, arbeiten sogar nur zwei Prozent Frauen. Der Anteil ist seit den 2000-er Jahren kaum gewachsen. Bei der Planung und Überwachung der Projekte sind es immerhin 28 Prozent.

Schwierige Work-Life-Balance

Von Baustelle zu Baustelle zu ziehen, lässt sich nur schwer mit einem Familienleben vereinbaren. Beschäftigte fordern flexiblere Arbeitszeiten, Unterstützung bei der Kinderbetreuung und mobiles Arbeiten. Ein Netzwerk (WIR.KÖNNEN.BAU) will mehr Frauen für diese Berufe begeistern.

LAT jedoch bekomme viele tolle Bewerbungen von Frauen und jungen Leuten, "obwohl wir als kleine Firma mit rund 130 Mitarbeitern nicht viel in Recruiting investieren können", so Zeichhardt. Sie führt das auf das moderne Image des Unternehmens zurück, auf Auszeichnungen für Familienfreundlichkeit und die Zusammenarbeit mit Startups.

Gutes Arbeitsklima

Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) eröffnen gerade Frauen neue Aufgabenfelder auf dem Bau, betont Bianca Weber-Lewerenz. Sie hat ein Buch zum Thema geschrieben (Diversität im Bauwesen - Die Gamechanger) und dabei Beispiele für weibliche Karrieren, Digitalisierung und New Work gesammelt. Weber-Lewerenz war 1997 die erste Maurerin Baden-Württembergs. Das Berufsverbot fürs weibliche Geschlecht im westdeutschen Bauhauptgewerbe war damals erst kurz zuvor, im Jahr 1994, gefallen.

Den Maurerberuf von der Pike auf gelernt zu haben, hilft der promovierten Bauingenieurin, wenn sie nun ganze Belegschaften davon überzeugen will, dass Bau, Frau und KI hervorragend zusammenpassen: "Uns hat der Maurerkran damals auch von schweren körperlichen Arbeiten entlastet. Genauso funktioniert die KI."

Das sehe man auch am Beispiel der Bild- und Objekterkennung: "Wenn ich Rohre verlegt habe, mache ich ein Bild und schicke es an die Abrechnungsabteilung. Sie kann sofort die Rechnung stellen, weil die KI via Bilderkennung den fertigen Abschnitt definiert." Solche Aufgaben sowie Aufmaße, Planung und Design ließen sich gut im Home Office erledigen. "Klar, eine Architektin oder Bauingenieurin muss auch vor Ort sein. Die Frage ist nur, wie oft und wie lange".

Allein unter Männern zu sein, hat sie übrigens nie gestört. Mit ihrem damaligen Vorgesetzten ist sie heute noch befreundet. "Für die Männer war es irre, die erste 'Maurerazubine' (scherzhafte Abkürzung für weibliche Auszubildende) auf einer Baustelle zu sehen. Sie trauten mir peu à peu die körperlich schweren Arbeiten zu. Männer haben Respekt vor Frauen, die es draußen bei Wind und Wetter aushalten, die einen Plan haben."

Heute erfordert das Bauen dank der vielen Hilfsmittel weniger Muskelkraft, erzählt die promovierte Bauingenieurin. Sie ist als Mitglied der "Spitzenfrauen Baden-Württemberg" Mentorin für Schülerinnen und Studentinnen mit Interesse für Karrieren in der Baubranche. Immer mehr Sensorik und KI werde auch die Gefahren reduzieren, indem sie beispielsweise in heiklen Situationen Alarm schlagen.

KI sinnvoll nutzen

Große Hoffnungen liegen auch auf BIM (Building Information Modelling). Auf diese digitale Plattform eines Bauwerks haben die Vertreter aller Gewerke Zugriff. Dadurch weiß man, wer wann was gemacht hat, wie es um den Zeit- und Kostenplan steht. "Das vereinfacht die Absprachen und verhindert viel Chaos und Krawall", weiß Weber-Lewerenz, die mehrere Bauprojekte geleitet hat.

"Mir geht es darum, welche Tools in einem Unternehmen Sinn machen, um schwere und monotone Arbeit an die Maschine abzugeben, effizienter zu bauen, Materialverschwendung zu verhindern, die Daten zu schützen und die wichtigen Werte unserer Branche Wertschätzung, Zuverlässigkeit und Qualität zu bestärken", betont die KI-Beraterin.

2020 hat sie die Exzellenzinitiative für nachhaltige menschengeführte KI im Bauwesen gegründet. Sie war damit eine Pionierin, die Ethik, KI und Bau zusammengedacht hat. Dieser Initiative haben sich inzwischen der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB), der Verband für Wertemanagement EMB und mehrere Hochschulen angeschlossen.

Item URL https://www.dw.com/de/ki-die-superkraft-die-jobs-für-frauen-schafft/a-71982835?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/71987489_302.jpg
Image caption Innovationen in der Arbeitswelt: Larissa Zeichhardt, CEO der Firma LAT, mit dem Roboterhund
Image source LAT
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/vps/webvideos/DEU/2025/BUSI/BUSIDEU250220_DWIROBOTERHORST_CMS_01SMW_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/71987489_302.jpg&title=KI%3A%20Die%20Superkraft%2C%20die%20Jobs%20f%C3%BCr%20Frauen%20schafft

Item 65
Id 72248086
Date 2025-04-19
Title Leben mit dem Tod
Short title Leben mit dem Tod
Teaser Für viele Gläubige ist der Tod nicht das Ende. Aber was geschieht danach? Wann setzt der Tod ein? Und haben wir eine Seele? Die Wissenschaft kann das Tabu-Thema zumindest versachlichen, der Rest ist eine Glaubensfrage.
Short teaser In vielen Religionen ist der Tod nicht das Ende. Aber was geschieht danach? Wann setzt der Tod ein? Haben wir Seelen?
Full text

An Ostern feiern Christen die Auferstehung Jesu und den Sieg des Lebens über den Tod. Auch orthodoxe Juden und Muslime glauben an die Auferstehung. Für Hindus und Buddhisten steht die Erlösung von der Wiedergeburt im Vordergrund.

In die Trauer über den Verlust eines Menschen durch Krankheit, Alter, Gewalt oder Unfälle mischt sich bei gläubigen Menschen die Hoffnung, dass der Tod nicht das Ende ist.

Trost finden sie in Jenseitsvorstellungen, die es nicht nur bei den heutigen Weltreligionen gibt. Auch bei den frühen Sammlern und Jägern, den Ägyptern, Wikingern und bei vielen anderen Kulturen nahmen Hinterbliebene oftmals mit Bestattungsritualen und Grabbeigaben Abschied von Verstorbenen und ebneten ihnen den Weg ins Jenseits.

Wie definiert man den Tod?

Biologisch funktioniert der Körper maximal etwa 120 Jahre. Entscheidend ist aber die tatsächliche Lebenserwartung, die sich durch verbesserte Lebens- und Hygienebedingungen im Laufe der Zeit deutlich verlängert hat - in Deutschland zum Beispiel nimmt die Lebenserwartung jährlich um rund 3 Monate zu.

Für die meisten Menschen gilt: Nicht der Tod selber macht uns Angst, sondern das Unwissen, was beim Sterben und danach mit uns passiert. Medizinisch betrachtet gibt es unterschiedliche Todesarten: Beim "klinischen Tod" versagt das Herz-Kreislauf-System, Puls und Atmung setzen aus, die Organe werden nicht mehr mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Beim "klinischen Tod" ist allerdings noch eine Reanimation durch Beatmung und Herzdruckmassage möglich und nicht selten auch erfolgreich.

Das ist beim "Hirntod" nicht der Fall, denn dabei sind dann Großhirn, Kleinhirn und Hirnstamm ausgefallen. Zwar können auch beim Hirntod noch bestimmte Gehirnzellen in tieferen Schichten aktiv sein, aber das "Bewusstsein" ist bereits verloren gegangen.

Trotzdem können "Hirntote" noch lange künstlich am Leben gehalten werden. Manche hirntoten Patienten reagieren auch auf äußere Reize, etwa bei Operationen. Allerdings sind dies aus medizinischer Sicht nur Rückenmarks-Reflexe und kein Schmerzempfinden.

Was geschieht mit dem toten Köper?

Unsere Organe können zunächst noch eine Weile ohne Sauerstoff und Nährstoffe auskommen. Erst allmählich stoppt die Zellteilung vollständig, dann sterben die Zellen ab. Sind zu viele Zellen abgestorben, können sich die Organe nicht mehr regenerieren. Am schnellsten reagiert das Gehirn, wo die Zellen bereits nach drei bis fünf Minuten absterben. Das Herz kann bis zu einer halben Stunde durchhalten. Sobald das Blut nicht mehr zirkuliert, sinkt es ab, es bilden sich "Totenflecken", die Gerichtsmedizinern Hinweise auf die Todesursache und den Todesort geben können.

Nach zwei Stunden setzt die Leichenstarre ein, weil kein Adenosintriphosphat mehr gebildet wird. Ohne diesen Energieträger in den Zellen versteifen die Muskeln. Nach einigen Tagen löst sich diese Leichenstarre wieder.

Der Magen-Darm-Trakt stirbt erst nach zwei bis drei Tagen ab, die darin befindlichen Bakterien beschleunigen die Zersetzung des Körpers. Krankheitserreger im Körper bleiben aber zum Teil noch lange gefährlich. Hepatitis-Erreger leben zum Beispiel noch mehrere Tage weiter, Tuberkulose-Bakterien sogar jahrelang. Insgesamt dauert der Zersetzungsprozess des menschlichen Körpers rund 30 Jahre.

Was lehren uns Nahtoderfahrungen?

Wissenschaftlich gesehen treten Nahtoderfahrungen in der Zeit zwischen dem klinischen Tod und der Reanimation ein. Intensiv beschäftigt sich nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Religionen und die Esoterik mit den geschilderten Erlebnissen, die je nach kultureller oder regionaler Prägung stark variieren können.

Viele Betroffene haben keinerlei Erinnerungen an diese Phase. Andere berichten von einströmenden Erinnerungen, von einer Loslösung vom Körper, von Landschaften oder von einem hellen Licht (am Ende eines Tunnels). Einige berichteten von einem großen Glücksgefühl, Andere erlebten Angst- oder Panikzustände.

Offenbar treten Nahtoderfahrungen häufiger auf, wenn die Reanimation besonders lang gedauert hat und die Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff länger beeinträchtigt ist. Diese Unterversorgung des Gehirns hat vor allem Auswirkungen auf die Schläfen- und Scheitellappen des Gehirns sowie auf die dazwischen liegende Schaltstelle Gyrus Angularis. Ob die Nahtoderfahrungen auch dort entstehen, ist indes unklar.

Haben wir eine Seele?

Obwohl der Tod zum Leben dazu gehört, wollen wir ihn nicht als unvermeidbares Ende akzeptieren. "Seele" meist meistens den nicht-materiellen, vom Körper getrennten, unsterblichen Wesenskern einer Person. In vielen Religionen ist die Seele dasjenige, was einen Menschen ausmacht.

Der Glaube an eine unsterbliche Seele wurzelt tief in unserem dualistischen Denken, das die Welt in zwei gegensätzliche Kategorien einteilt: gut vs. schlecht, richtig vs. falsch, Körper vs. Seele. Philosophen wie Platon, Sokrates oder Descartes sahen Körper und Seele als getrennten Einheiten.

Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften legen nahe, dass alle mentalen Prozesse mit der Gehirnfunktion zusammenhängen. Demnach lässt sich unser gesamtes "Seelenleben" mit Neuronen, chemischen Botenstoffen und Netzwerken erklären.

Aber machen wirklich nur messbare Gehirnaktivitäten, biochemische Prozesse und soziokulturelle Einflüsse das Wesen, die Seele eines Menschen aus? Oder prägt ein sehr komplexes Wechselspiel aus Körper, Geist und Umwelt unser "Seelenleben"?

Wissenschaftlich lässt sich die Existenz einer Seele oder ein solches Wechselspiel nicht belegen. Und jenseits der empirischen Wissenschaften beginnt der Glaube.

Item URL https://www.dw.com/de/leben-mit-dem-tod/a-72248086?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/64299226_302.jpeg
Image caption Obwohl der Tod zum Leben dazu gehört, wollen viele ihn nicht als endgültiges Ende akzeptieren.
Image source NDR/DW
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/shd/shd240924_gesamt_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/64299226_302.jpeg&title=Leben%20mit%20dem%20Tod

Item 66
Id 72252327
Date 2025-04-18
Title Turbulenzen am Anleihemarkt: Was steckt dahinter?
Short title Turbulenzen am Anleihemarkt: Was steckt dahinter?
Teaser Die Renditen von US-Staatsanleihen waren "nur" um eine Zahl hinter dem Komma gestiegen. Sie haben aber Trump zum Einlenken im Zollstreit bewegt. Woran liegt das?
Short teaser Warum konnte der Markt für Staatsanleihen Trump zum Einlenken im Zollstreit bewegen?
Full text

Die Idee von Donald Trump, weltweit Zölle zu erheben, hat Anfang April die Finanzmärkte kräftig durcheinandergerüttelt. An vielen Börsen weltweit fielen die Aktienkurse.

In Zeiten großer Unsicherheit und niedriger Erwartungen in Bezug auf die Wirtschaftsentwicklung flüchten Anleger in der Regel aus Aktien in sichere Häfen: in Staatsanleihen von Ländern mit hoher Bonität. So war es während der Finanzkrise ab 2008 oder nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.

Bisher galten die USA als ein solcher sicherer Hafen. Doch als nach Trumps Zollankündigungen Anfang April die Börsenkurse in den Keller rutschten, flüchteten Anleger nicht in die sicheren Staatsanleihen. Ganz im Gegenteil: auch die wichtigen US-Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit wurden weniger nachgefragt. Was steckt dahinter?

Wenn der Staat sich Geld am Finanzmarkt leiht

Grundsätzlich unterscheiden sich Staatsanleihen von Aktien dadurch, dass ein Staat hinter der Anleihe steht und dem Käufer der Anleihe im besten Fall Sicherheit gibt. Dabei werden Staatsanleihen auch Staatsschuldverschreibungen, Staatsobligationen, Renten, Bonds und in den USA Treasuries genannt.

Staatsanleihen werden über Finanzmärkte verkauft. Der Staat verspricht den sogenannten Nennwert der Anleihe nach einem festgelegten Zeitraum (der Laufzeit der Anleihe) wieder zurückzuzahlen. Auf diese Weise leiht sich der Staat bei den Anlegern Geld. Die Anleger erhalten zusätzlich für das Verleihen ihres Geldes einen Zins, auch Coupon genannt, der meist jährlich gezahlt wird.

Risiken: Zahlungsausfall und Währungsschwankungen

Wer Staatsanleihen kauft, hat vor allem das Risiko, dass der betreffende Staat pleite gehen und das geliehene Geld nicht zurückzahlen könnte. Die Höhe des Risikos hängt davon ab, wie hoch die Kreditwürdigkeit des Landes eingeschätzt wird. Anleihen von Ländern mit einer hohen Bonität gelten als sichere Anlagen. Die Kurse solcher Anleihen schwanken in der Regel weniger als die von Aktien.

Schlechte Erfahrungen haben in der Vergangenheit beispielsweise Käufer von argentinischen Staatsanleihen gemacht. Argentinien konnte schon wiederholt seine Schulden aus Anleihen nicht bezahlen.

Ein weiteres Risiko besteht, wenn Anleihen in einer anderen Währung gekauft werden. US-Staatsanleihen werden grundsätzlich in US-Dollar ausgegeben und auch in US-Dollar zurückgezahlt. Wenn der Dollar gegenüber dem Euro an Wert verliert während der Laufzeit, dann verliert entsprechend auch der in Dollar gezahlte Zins und der am Ende zurückgezahlte Nennwert der Staatsanleihe an Wert.

Handel mit Staatsanleihen: Kurswert sinkt, Rendite steigt – warum?

Wer einmal Staatsanleihen gekauft hat, muss sie aber nicht während der gesamten Laufzeit behalten. Gehandelt werden Staatsanleihen allerdings nicht zu ihrem Nennwert, sondern zu einem aktuellen Kurs, der oft in Prozent des Nennwertes angegeben wird. Liegt der Kurs also bei 96 Prozent, muss man 96 Euro bezahlen für eine Anleihe mit einem Nennwert von 100 Euro.

Beim Handel mit Anleihen ist die sogenannte Rendite wichtiger als der angegebene Zinssatz. Die Rendite gibt an, wie hoch der jährliche Ertrag bis zum Ende der Laufzeit in Bezug auf den aktuellen Kurs ist. Daher schwankt die Rendite von Staatsanleihen mit deren Kursen.

Wenn die Kurse von Anleihen sinken, dann bezahlen die Käufer weniger für die Anleihe, bekommen in der Regel aber am Ende den Nennwert der Anleihe, also 100 Prozent zurück. Für weniger Geld dasselbe bekommen, bedeutet: Die Rendite für das eingesetzte Geld ist gestiegen. Umgekehrt gilt, wenn die Kurse steigen, muss mehr für eine Anleihe gezahlt werden, um am Ende den Nennwert zu bekommen. Damit ist die Rendite gesunken.

Turbulenzen am US-Anleihenmarkt

Zurück zum Geschehen in den USA: Nach dem "Befreiungstag" von Donald Trump waren die richtungsweisenden zehnjährigen US-Staatsanleihen unter massiven Verkaufsdruck geraten.

Staatsanleihen waren weniger gefragt, weil sie anscheinend als weniger sicher bewertet wurden. Auch der Dollar ist abgesackt, weil das Vertrauen in die US-Währung gesunken ist. Damit lohnen sich US-Staatsanleihen für Nicht-Amerikaner weniger.

Für den Laien sah es nicht nach viel Bewegung aus - die Rendite der US-Staatsanleihen hatte sich "nur" um die erste Zahl hinter dem Komma erhöht, von 4,3 auf 4,5 Prozent. In den vergangenen Jahren gab es teils deutlich stärkere Schwankungen, diesmal fand der Anstieg so viel Beachtung, weil er nicht durch Wirtschaftsdaten wie Konjunkturzahlen oder Zinssignale der US-Notenbank ausgelöst wurde, sondern durch ein geopolitisches Schockereignis, die Einführung neuer US-Zölle. Wenn sich Anleger in so einer Situation nicht in US-Staatsanleihen flüchten, ist das ein Zeichen für eine besondere Unsicherheit an den Märkten.

"Immer mehr Marktakteure scheinen aufgrund des weiter eskalierten Handelskonflikts an der traditionellen Rolle des US-Dollars und der US-Staatsanleihen als 'sichere Häfen' zu zweifeln", beurteilt Ulrich Stephan, Chefstratege der Deutschen Bank, die Lage.

US-Schulden werden teurer

Für die amerikanische Regierung bedeutet der Renditeanstieg um 0,2 Prozent außerdem, dass neue Staatsschulden wesentlich teurer werden. Möchten die USA bei gestiegenen Renditen neue Schulden aufnehmen, also neue Staatsanleihen auf den Markt geben, müssen sie höhere Zinsen bieten, damit die neuen Staatsanleihen gekauft werden. Somit verteuert sich für die USA das Schuldenaufnehmen. Eine ungünstige Situation, wollte Trump doch eigentlich die die enormen Staatsschulden der USA reduzieren. Nachdem Trump die 90-Tage-Zollpause verkündet hatte, beruhigte sich die Situation wieder etwas.

Kritisch ist zusätzlich: Stehen Staatsanleihen unter Druck, spüren das viele andere Wirtschaftsbereiche. Zahlreiche andere Anlageformen orientieren sich an der Rendite für Staatsanleihen, etwa Hypothekenzinsen oder Zinsen für Unternehmenskredite.

Chinas Einfluss auf US-Anleihenmarkt

Noch heftiger als bisher könnte die Reaktion auf dem Anleihenmarkt ausfallen, würde China im Zuge eines eskalierenden Handelskriegs Teile seiner hohen Bestände an US-Anleihen verkaufen. Insgesamt beträgt das ausstehende Volumen bei US-Staatsanleihen mehr als 25 Billionen Euro.

Nach Japan hat China die größten Bestände an US-Staatsanleihen. Im Januar besaß die Volksrepublik US-Anleihen im Volumen von rund 760 Milliarden Dollar. Würde nur ein Teil dieser Anleihen verkauft, könnte das zusätzliche Angebot die Kurswerte von US-Anleihen deutlich drücken und die Renditen erhöhen. Was wiederum künftige Schulden für die USA verteuern würde.

Item URL https://www.dw.com/de/turbulenzen-am-anleihemarkt-was-steckt-dahinter/a-72252327?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/68751740_302.jpg
Image caption Sinkendes Vertrauen in die Wirtschaftskraft der USA und den US-Dollar schwächt den Markt für US-Staatsanleihen
Image source La Nacion/ZUMA/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/68751740_302.jpg&title=Turbulenzen%20am%20Anleihemarkt%3A%20Was%20steckt%20dahinter%3F

Item 67
Id 72248074
Date 2025-04-16
Title 500 Jahre Auerbachs Keller: Berühmt durch Goethes Faust
Short title 500 Jahre Auerbachs Keller: Berühmt durch Goethes Faust
Teaser Theologe Martin Luther, Komponist Robert Schumann und Schriftsteller Johann Wolfgang von Goethe waren in Auerbachs Keller in Leipzig schon zu Gast. Was macht den sagenumwobenen Ort besonders? Ein Blick in die Geschichte.
Short teaser Martin Luther, Robert Schumann und Goethe waren in Auerbachs Keller in Leipzig zu Gast. Was macht den Ort so besonders?
Full text

Auerbachs Keller in Leipzig gehört zu den berühmtesten Restaurants weltweit. Hier werden pro Jahr 36.000 hausgemachte Rindsrouladen verzehrt, 90.000 Liter Bier und ebenso viel Wein ausgeschenkt. "Wir haben pro Jahr ungefähr 300.000 Gäste - viele davon aus dem Ausland", sagt Tanja Pieper, Sprecherin und Jubiläumsbotschafterin des Hauses.

Doch noch beeindruckender als all die Zahlen ist die Tatsache, dass der Dichter Johann Wolfgang von Goethe hier vor 250 Jahren zu seinem bekannten Drama "Faust - der Tragödie erster Teil" inspiriert wurde. Eine Szene in seinem Buch spielt in Auerbachs Keller. Das lockt bis heute Goethe-Verehrer aus aller Welt nach Leipzig.

Das 500. Jubiläum wie Goethe feiern

In der Osterzeit 1525 schenkte der Leipziger Mediziner und Universitätsprofessor Heinrich Stromer von Auerbach in seinem Keller erstmals Wein an Studenten aus. Er war ein Freund Martin Luthers. So verkehrte auch der Kirchenreformator Luther Anfang des 16. Jahrhunderts in Auerbachs Keller und versteckte sich zeitweise dort vor seinen Feinden.

Zur Osterzeit wird in diesem Jahr der Höhepunkt des 500-jährigen Jubiläums gefeiert. Dazu gehört das sogenannte große Gelage: "Das haben wir uns von Goethe abgeschaut, da gibt es einen großen 'Schlampamp', eine Schlemmerei, die Dreieinigkeit von Essen, Trinken und guter Gesellschaft. Wir feiern an langen Tafeln wie in alten Zeiten", sagt Tanja Pieper im Gespräch mit der DW. Serviert wird auf Brettern und in Schüsseln - so wie damals im 18. Jahrhundert.

Was Goethes Faust mit Auerbachs Keller zu tun hat

Goethes Drama handelt vom gealterten, schwermütigen Lehrer Heinrich Faust, der Mephisto, dem Teufel, seine Seele verkauft. Verzaubert zum jungen Mann, packt Faust neue Lebenslust. Doch Mephisto hat seine Finger weiter im Spiel, etwa als Faust die junge Margarete (Gretchen) verführt und schwängert. Aus Verzweiflung tötet sie ihr uneheliches Kind, wird verhaftet und wartet im Gefängnis auf Gottes Erlösung.

Auch in der Szene, die in Auerbachs Keller spielt, treibt Mephisto sein Unwesen. Er will Faust "in lustige Gesellschaft bringen". Vor den Augen einiger Trinkgesellen zaubert er köstlichen Wein und reitet später auf einem Fass aus dem Keller. Heute gibt es im sogenannten Fasskeller des Restaurants in neun Meter Tiefe ein beliebtes Event, die sogenannte "Fasskellerzeremonie". Der Schauspieler Hartmut Müller nimmt seit 30 Jahren Besucher mit auf eine kulturhistorische Reise. Als "Fasskellermeister" führt er durch die Geschichte und die Gewölbe des Hauses.

Die Fasskellerzeremonie

Die Kellergewölbe sind illustriert mit sagenumwobenen Szenen. Im Fasskeller werden das Essen und die Getränke serviert. "Zu vorgerückter Stunde geht es dann durch eine separate Tür von diesem Fasskeller nochmals hinunter in die Hexenküche", erklärt Tanja Pieper. Es ist ein kleiner Verschlag zwölf Meter unter der Erde. Hier bekommen die Gäste - wie Faust in Goethes Drama - einen Verjüngungstrunk. "Sie müssen das Hexeneinmaleins vorgesprochen aufsagen und auf einem Bein um das Hexenfeuer tanzen", schildert Tanja Pieper das vergnügliche Treiben.

Danach geht es darum, im Fasskeller die Wette um das große Fass zu bestehen. "Wenn es den Gästen gelingt, dieses Fass hinauszureiten - sie können also da hinauf krabbeln - dann dürfen sie es behalten, aber das Fass ist immer noch in unserem Gewahrsam."

Die alte Sage von Doktor Faustus

Frei erfunden hat Goethe seinen Faust und den Fassritt nicht. Das Ganze geht auf eine alte Sage aus dem Volkssagenschatz (Volksbuch von Johann Spies) zurück, die Goethe bereits kannte. Im Fasskeller sah er zwei Holztafeln von 1625, die den Fassritt des legendären Magiers Dr. Faustus illustrieren. Dieser soll beobachtet haben, wie Transporteure ein überschweres Fass aus dem Weinkeller bugsieren wollten und machte sich über sie lustig. Er wettete, dass er das Fass hinausreiten könne.

"Es geht dabei natürlich mit dem Teufel zu, wenn er dieses Fass hinausreitet", erzählt Pieper. "Von diesen beiden Holztafeln, die dort hingen, war Goethe so fasziniert, dass er uns ins "Faust"-Drama hineingeschrieben hat." Heute hängen die beiden Tafeln im Goethezimmer des Restaurants, das 30 Gästen Platz bietet. Auch Martin Luther ist mit dem "Lutherstübchen" ein eigener Raum gewidmet mit ebenso vielen Plätzen.

Das Lokal zu Goethes Zeiten

Im 18. Jahrhundert war das Lokal noch ein reines Weinlokal. "Dieser Keller war damals riesig groß. Leipzig war als Stadt bis zu dreimal unterkellert", erläutert Tanja Pieper. Seinerzeit wurde der Wein noch nicht in Flaschen abgefüllt, sondern aus eingelagerten Fässern ausgeschenkt. "Da gibt es Gemälde, wo man sieht, wie zwischen den Fässern gezecht wurde."

Gekocht wurde damals noch nicht in Auerbachs Keller. Das Essen kam aus der damaligen Gaststätte "Auerbachs Hof", der heute nicht mehr existiert und wurde in den Keller gebracht. "Erst im 19. Jahrhundert begann man in Auerbachs Keller zu kochen und Speisen wurden parallel zu Getränken interessant."

Bachs Faust beim Leipziger Bachfest

Zu den Geburtstagsevents zum Jubiläum von Auerbachs Keller Leipzig gehört auch "Bachs Faust", eine Art Singspiel vom Bachfest-Intendanten Michael Maul. In Leipzig war Johann Sebastian Bach von 1723 bis zu seinem Lebensende 1750 Thomaskantor. Sein täglicher Weg zur Arbeit führte ihn auch an Auerbachs Keller vorbei. Bach zu Ehren wird in der Stadt jedes Jahr im Juni das Bachfest gefeiert.

"In Goethes Faust wird ja viel Musik erwähnt, ohne das Goethe präzisiert, welche genau das ist", erklärt Maul im Gespräch mit der DW. Goethe habe Bachs Musik sehr geschätzt. Maul hat deshalb in seinem Stück Goethes Faust mit Chorälen und Kantaten von Johann Sebastian Bach kommentiert, illustriert und untermalt.

"Als Faust sich zu Beginn des Dramas das Leben nehmen will, in dem Augenblick, wo er zum Trunk ansetzt, da hört er aus der Ferne den Osterhymnus 'Christ ist erstanden'. Da erklingt dann bei uns 'Christ lag in Todesbanden' von Bach", erklärt Maul. Die Uraufführung von Bachs Faust mit Sängern, Musikern und Schauspielern findet im Rahmen des Bachfestes am 15. Juni statt, im großen Saal von Auerbachs Keller. Das Jubiläum des geschichtsträchtigen Restaurants wird noch das ganze Jahr gefeiert.

Item URL https://www.dw.com/de/500-jahre-auerbachs-keller-berühmt-durch-goethes-faust/a-72248074?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72239572_302.jpg
Image caption Mephisto-Darsteller Hartmut Müller im legendären Fasskeller
Image source Christian Modla
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/72239572_302.jpg&title=500%20Jahre%20Auerbachs%20Keller%3A%20Ber%C3%BChmt%20durch%20Goethes%20Faust

Item 68
Id 72260056
Date 2025-04-16
Title Weinproduktion auf niedrigstem Stand seit mehr als 60 Jahren
Short title Weinproduktion auf niedrigstem Stand seit mehr als 60 Jahren
Teaser Klimawandel, verändertes Verbraucherverhalten, Preisniveau: Für die weltweit abnehmende Menge an Rebensaft gibt es gleich mehrere Gründe. In Europa traf es 2024 besonders heftig die Winzer in Frankreich.
Short teaser Klima, Verbraucherverhalten, Preis: Für die weltweit abnehmende Menge an Rebensaft gibt es gleich mehrere Gründe.
Full text

Die weltweite Weinerzeugung ist 2024 nach Branchenangaben wegen extremer Witterungseinflüsse auf den niedrigsten Stand seit über 60 Jahren gesunken. Die Erzeugung sank auf 225,8 Millionen Hektoliter, was ein Rückgang gegenüber dem Vorjahr von 4,8 Prozent bedeutet, wie die Internationale Organisation für Rebe und Wein (OIV) im französischen Dijon mitteilte. Ein Hektoliter entspricht ungefähr 133 Weinflaschen.

Auch Winzer fürchten Donald Trump

Als extreme Wettereinflüsse nannte die Branchenorganisation unter anderem Starkregen, Hagel, späten Frost im Frühjahr, Trockenperioden und in der Folge dieser Witterung auch Schädlingsbefall. Neben dem Klimawandel hätten sich die wirtschaftliche Lage und eine sinkende Nachfrage negativ auf die Weinerzeugung ausgewirkt.

Die Weinbranche fürchtet schließlich auch, mit ihren Produkten in den von US-Präsident Donald Trump ausgelösten Zollkonflikt zu geraten. Die Vereinigten Staaten sind der größte Weinimporteur nach Wert mit 6,3 Milliarden Euro im Jahr 2024. Dahinter kommen Großbritannien mit 4,6 Milliarden und Deutschland mit 2,5 Milliarden Euro.

In der Europäischen Union lag die Weinerzeugung mit 138,3 Millionen Hektolitern im vergangenen Jahr um 3,5 Prozent unter der von 2023. In Deutschland - dem viertgrößten europäischen Erzeugerland - sank sie nach den OIV-Daten um 9,8 Prozent auf 7,8 Millionen Hektoliter. Italien als weltweit größte Weinbaunation verbuchte mit einer Erzeugung von 44,1 Millionen Hektoliter zwar ein Plus, lag aber immer noch sechs Prozent unter dem Fünfjahresdurchschnitt.

Geringste Produktion in Frankreich seit 1957

Frankreich als zweitgrößter Erzeuger verzeichnete mit 36,1 Millionen Hektolitern einen Rückgang um 23,5 Prozent und damit die niedrigste Produktion seit 1957. Spanien auf Rang drei bleibt mit einer Erzeugung von 31 Millionen Hektolitern 11,1 Prozent ebenfalls unter dem Fünfjahresdurchschnitt.

Der weltweite Konsum von Wein wird für 2024 auf 214,2 Millionen Hektoliter geschätzt, was im Vorjahresvergleich einen Rückgang um 3,3 Prozent und damit die niedrigste Menge seit 1961 bedeutet, wie es bei der OIV weiter heißt. Damit setze sich ein Trend fort, für den neben kurzfristigen wirtschaftlichen Gründen wie etwa die Inflation auch ein veränderter Lebensstil, soziale Gewohnheiten und ein anderes Verbraucherverhalten - vor allem der jüngeren Generation - verantwortlich seien.

Weiter Trend zu höherpreisigen Weinen

In der EU sank der Konsum im Vorjahresvergleich um 2,8 Prozent auf 103,6 Millionen Hektoliter, was im Fünfjahresdurchschnitt ein Minus von 5,2 Prozent bedeutet. In Deutschland lag der Konsum mit 17,8 Millionen Hektolitern um drei Prozent niedriger als 2023.

Der Wert der weltweiten Weinexporte wird für 2024 auf 35,9 Milliarden Euro geschätzt, was nur einen geringfügigen Rückgang gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Auch der durchschnittliche Exportpreis bleibt unverändert bei 3,60 Euro pro Liter. Das Gesamtpreisniveau ist nach Angaben der Organisation OIV hoch - unter anderem weil sich der Trend zu höherpreisigen Weinen in den letzten Jahren immer stärker ausgeprägt hat. Die Verbraucher zahlten heute für ihren Rebensaft im Schnitt 30 Prozent mehr als 2019/2020.

sti/pg (afp, dpa, rtr)

Item URL https://www.dw.com/de/weinproduktion-auf-niedrigstem-stand-seit-mehr-als-60-jahren/a-72260056?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/68926273_302.jpg
Image caption Winzer spannen Frischhaltefolie an Weinreben entlang, um die Triebe vor Kälte zu schützen (Archivfoto)
Image source Pia Bayer/dpa/picture-alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/68926273_302.jpg&title=Weinproduktion%20auf%20niedrigstem%20Stand%20seit%20mehr%20als%2060%20Jahren

Item 69
Id 72238568
Date 2025-04-14
Title Meta vor Zerschlagung? "Facebook-Prozess" beginnt
Short title Meta vor Zerschlagung? "Facebook-Prozess" beginnt
Teaser Könnte es dazu kommen, dass der Facebook-Konzern Meta dazu verurteilt wird, sich von Instagram und WhatsApp zu trennen? Darüber geht es ab diesem Montag vor einem Gericht in Washington.
Short teaser Könnte Meta dazu verurteilt werden, sich von Instagram und WhatsApp zu trennen?
Full text

Die Handelsbehörde FTC wirft Meta vor, den Chatdienst WhatsApp und die Foto-Plattform Instagram gekauft zu haben, um - widerrechtlich - die eigene Monopolstellung zu schützen. Deshalb fordert sie Konsequenzen bis hin zu einer Rückabwicklung der Übernahmen. Die FTC (Federal Trade Commission) agierte bislang traditionell unabhängig und bestand aus Vertretern aus beiden großen US-Parteien. US-Präsident Donald Trump hat die Überparteilichkeit beendet und die beiden Kommissare aus den Reihen der Demokraten entlassen. Sein Ziel; die volle Kontrolle über die Behörde.

Meta bestreitet die Vorwürfe kategorisch und verweist auf den extrem harten Wettbewerb mit anderen Plattformen wie Tiktok. Auch Meta-Chef Mark Zuckerberg wird im Laufe des Prozesses voraussichtlich als Zeuge gehört werden.

Bis zur endgültigen Klärung des Falls könnten noch weitere Jahre vergehen. Beobachter halten es für sehr wahrscheinlich, dass - ungeachtet des Prozessausganges - mindestens eine der Seiten in Berufung geht.

Trump hatte es losgetreten

Noch unter dem Namen Facebook hatte der Konzern 2012 Instagram für etwa eine Milliarde Dollar und zwei Jahre darauf WhatsApp für rund 22 Milliarden Dollar gekauft. Meta konnte durch die Zukäufe seinen Umsatz deutlich steigern. Die US-Behörden hatten die Übernahmen freigegeben.

Die Klage war im Dezember 2020 am Ende der ersten Amtszeit Donald Trumps erhoben worden. Das wurde als politische Maßnahme aufgefasst. Trump wolle sich, hieß es damals, dagegen wehren, wie Meta auf seinen Plattformen gegen falsche und irreführende Informationen vorging. Dabei ging es auch um die Behauptungen des Präsidenten, ihm sei der Wahlsieg durch Betrug gestohlen worden.

Biden klagte weiter

Die erste Klage hatte Richter James Boasberg zurückgewiesen. Die klagende Behörde hätte sich nicht die Mühe gemacht, ihre Vorwürfe mit Zahlen zu untermauern. Die FTC hielt jedoch - auch unter Trumps Nachfolger Joe Biden - an der Klage fest und reichte viele Zahlen nach.

Dennoch kann sich die FTC ihrer Position im Prozess nicht sicher sein. So kann sie nicht, wie in vergleichbaren Fällen üblich, argumentieren, dass die Preise für die Verbraucher gestiegen seien, weil Instagram und WhatsApp kostenlos sind.

Die Behörde argumentiert stattdessen, dass die Qualität von Metas Apps gesunken sei – weil jetzt der Konkurrenzdruck fehle. Meta behauptet, die Kunden hätten von den Übernahmen wohl profitiert. Die seien auch gut für den Wettbewerb gewesen seien.

Sind Trump und Zuckerberg einander nah genug?

Facebook-Gründer und Meta-Chef Mark Zuckerberg ist in den vergangenen Monaten sichtbar näher zu Trump gerückt. So war er auch prominent bei Trumps Amtseinführung dabei.

Er lockerte seither Regeln für die Inhalte auf seinen Plattformen und stoppte die Faktenchecks in den USA. Schließlich einigte sich der Konzern mit dem Präsidenten auf eine Entschädigungszahlung von 25 Millionen Dollar für die Sperrung seiner Accounts nach der Erstürmung des Kapitols in Washington durch seine Anhänger im Januar 2021.

Der heute beginnende Prozess hält auch eine interessante Beobachtung bereit: Mit Richter Boasberg hat die Trump-geführte Administrsation nämlich auch bei anderen Fällen zu tun. So auch bei der Auseinandersetzung um die umstrittene Abschiebung angeblicher Banden-Krimineller nach El Salvador. Trump beschimpfte den Richter bereits als einen "radikalen linken Irren".

Item URL https://www.dw.com/de/meta-vor-zerschlagung-facebook-prozess-beginnt/a-72238568?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/59658123_302.jpg
Image caption Die Apps von Facebook, Instagram und WhatsApp - und alle gehören zum Mutterkonzern Meta
Image source Revierfoto/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&f=https://tvdownloaddw-a.akamaihd.net/dwtv_video/flv/shd/shd2023110_PaidSocialNEU2_AVC_640x360.mp4&image=https://static.dw.com/image/59658123_302.jpg&title=Meta%20vor%20Zerschlagung%3F%20%22Facebook-Prozess%22%20beginnt