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Item 1
Id 68909168
Date 2024-04-25
Title Wie relevant ist das Commonwealth heute noch?
Short title Wie relevant ist das Commonwealth heute noch?
Teaser Die Nachfolgeorganisation des Britischen Empire hat an Bedeutung verloren. Heute dient es Mitgliedsstaaten als diplomatisches Netzwerk. Junge Afrikaner sehen wenig Vorteile in einer Mitgliedschaft und fordern Reformen.
Short teaser Die Nachfolgeorganisation des Britischen Empire hat an Bedeutung verloren. Heute dient es als diplomatisches Netzwerk.
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Das moderne Commonwealth of Nations ist so alt wie sein Oberhaupt, der britische König Charles III.: Seit 75 Jahren besteht der Bund souveräner Staaten in seiner heutigen Form, aber für viele junge Menschen hat die einst aus dem Britischen Empire hervorgegangene Gemeinschaft offenbar nur wenig politischen Nutzen.

Das Commonwealth ist für Khalil Ibrahim eine Organisation, die zwar aktiv ist, aber "nicht wirklich", sagt der 32-jährige Aktivist aus Accra im DW-Interview: "Sie bietet Stipendien an, Praktika für junge Fachkräfte aus den Mitgliedsländern, kostenlose Online-Kurse." Auch er habe von einigen Kursen profitiert. "Aber auf politischer Ebene ist es eine nutzlose Organisation."

Keine Relevanz - zu wenig Einfluss

Auch Eyram Yorgbe glaubt weder an Relevanz noch Wirksamkeit des Commonwealth, insbesondere für die afrikanischen Mitgliedsstaaten. Die Organisation behaupte, dass sie die wirtschaftlichen Partnerschaften zwischen ihren Mitgliedern erleichtere, sagt die 34-jährige Verwaltungsangestellte einer ghanaischen Firma. "Aber diese Partnerschaften gelten hauptsächlich für stärker entwickelte Volkswirtschaften im Commonwealth." Die afrikanischen Länder seien nur deshalb im Commonwealth, weil sie historisch mit der Monarchie verbunden seien, sagt Yorgbe zur DW. "Aber es ist höchste Zeit, dass wir unsere Strategien überdenken."

Von den 56 Mitgliedstaaten liegen 21 in Afrika. In keinem dieser Länder ist der britische Monarch Staatsoberhaupt. Die Mitgliedschaft wurde über die Jahrzehnte auch auf nicht-britische ehemalige Kolonien, darunter Mosambik (1995) und Ruanda (2009) ausgedehnt. Gabun und Togo sind 2022 als jüngste Mitglieder dazugekommen. Die Organisation setzt nach wie vor auf gemeinsame Werte.

Nutzen: Ein diplomatisches Netzwerk

Aber laut Philip Murphy, Direktor für Geschichte und Politik am Institut für historische Forschung an der University of London, gibt es zu viele verschiedene Länder und Herangehensweisen. Damit lasse sich kein klarer Konsens zu den wichtigsten politischen Themen finden, sei es der Krieg in der Ukraine oder der Klimawandel.

Das moderne Commonwealth hat eine Gesamtbevölkerung von 2,5 Milliarden Menschen, von denen mehr als 60 Prozent unter 30 Jahre alt sind. Die Mehrheit der Bürger lebt im globalen Süden und stammt zumeist aus ehemaligen britischen Kolonien.

"Es ist ein Relikt aus der Vergangenheit, aber es ist ein nützliches diplomatisches Netzwerk, insbesondere das Netzwerk der Hohen Kommissare in London", betont Murphy. Gerade für die mehrheitlich kleinen Mitgliedsländer und Inselstaaten sei auch der Zugang zur britischen Regierung und Außen- und Bildungsminister des Commonwealth von Vorteil. Dazu zählten reiche Geberstaaten wie Kanada und Australien.

Sekretariat zu schwach

"Das Netzwerk ist also wichtig genug, um zu verhindern, dass Mitglieder die Organisation verlassen oder sie auflösen, aber der Commonwealth ist sehr schwach und das hat mit seiner Geschichte zu tun", bilanziert Murphy im DW-Interview.

Das 1965 gegründete Commonwealth Secretariat sei nicht befugt, Politik zu machen. Es hatte laut Murphy nie einen ausreichend starken Durchsetzungsmechanismus, um die souveränen Mitgliedsstaaten zu verpflichten, sich den westlichen Werten wie Demokratie, Menschenrechte oder Rechtsstaatlichkeit anzuschließen. Oft seien sie nur dem Namen nach Demokratien. Die aktuelle Kritik am Commonwealth ziele häufig darauf, dass Menschenrechtsverbrechen in einzelnen Mitgliedstaaten und repressive homophobe Gesetze nicht nachdrücklich genug angeprangert werden.

Neue Mitglieder treten ein

Erfolgreiches Engagement zeigte das Commonwealth in den Zeiten der Entkolonialisierung der weißen Siedlerkolonien in seinen Ex-Kolonien im damaligen Rhodesien (heute Simbabwe) und Südafrika, sagt Murphy. Und spielte eine wichtige Rolle bei der Sicherstellung eines friedlichen Machtwechsels in Südafrika in den 1990iger Jahren. Danach habe die Organisation an Bedeutung verloren.

Das Commonwealth sei aber keine sterbende Organisation, betont Alex Wines, Leiter des Afrika-Programms in der Londoner Denkfabrik Chatham House. Sie gewinne neue Mitglieder. Das habe nichts mit der imperialen Vergangenheit des Vereinigten Königreichs zu tun, sondern mit handfesten Interessen.

Neben Angola steht auch Simbabwe auf der Warteliste für die Mitgliedschaft. Das Land war 2003 wegen schweren Menschenrechtsverletzungen unter der Präsidentschaft des Autokraten Robert Mugabe aus dem Staatenbund ausgeschlossen worden. Eine eher seltene Sanktion innerhalb der Gemeinschaft, sagt Murphy.

Simbabwe will wieder Mitglied werden

Seit 2018 bemüht sich das international isolierte Land um einen Wiedereintritt. Aus strategischen Gründen, so der politische Analyst Gibson Nyikadzino in Harare: "Es geht um das Ansehen, Mitglied innerhalb des Komitees der Nationen zu sein, um Zugang zu billigen Märkten mit geringen Handelszöllen zu haben."

Die junge Rechtsanwältin Fortunate Nyamayaro findet das überflüssig: Simbabwe könne auf sich allein gestellt sein und auch mit anderen regionalen Blöcken zusammenarbeiten, und bilaterale Abkommen schließen, die für beide Seiten von Vorteil sind, sagt sie zur DW. "Für mich ist das Commonwealth ein koloniales Erbe, mit dem sich Simbabwe nicht zu identifizieren braucht."

Reformen notwendig

Zu den Funktionen der Organisation gehört auch die Wahlbeobachtung in Mitgliedsländern. Vor wenigen Tagen veröffentlichte die Beobachtergruppe des Commonwealth ihren Bericht über die Präsidentschaftswahlen in Nigeria 2023. Darin stellte sie erhebliche Mängel fest, die die Glaubwürdigkeit und Transparenz der Wahlen insgesamt beeinträchtigten.

Diese Kritik begrüßt der Anti-Korruptions-Aktivist Bishir Dauda im Bundesstaat Katsina: "Das ist wichtig für gute Regierungsführung", sagt er zur DW. Aber er fordert auch Reformen im Commonwealth, um den sich ändernden Anforderungen und Herausforderungen der Welt gerecht zu werden.

Für die Studentin Rabi Marafa überwiegen die negativen Auswirkungen des Kolonialismus: Nigeria profitiere in keiner Weise vom Commonwealth, sagt sie zur DW. "Es erinnert mich an unsere dunkelste Vergangenheit und ist das letzte Überbleibsel des Imperialismus."

Mitarbeit: Isaac Kaledzi in Ghana, ⁠Privilege Musvanhiri in Simbabwe, Muhammad Al-Amin in Nigeria

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Image caption Auf Commonwealth-Tour: die erste und bislang einzige Reise von König Charles in ein Commonwealth-Land führte ihn mit Königin Camilla nach Kenia
Image source Chris Jackson/Getty Images
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Item 2
Id 68910414
Date 2024-04-25
Title Spannungen zwischen Israel und Iran: Wird Syrien zum permanenten Schlachtfeld?
Short title Israel-Iran-Konflikt: Syrien als neues Schlachtfeld?
Teaser Seit Jahren bombardiert Israel immer wieder Ziele in Syrien, um zu verhindern, dass dort iranische und pro-iranische Kräfte ihren Einfluss ausbauen. Experten sind besorgt, dass die Lage weiter eskalieren könnte.
Short teaser Seit Jahren bombardiert Israel pro-iranische Stellungen in Syrien. Könnet die Lage eskalieren?
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Gerade eine Woche lag der mutmaßliche israelische Angriff auf den iranischen Botschaftskomplex in Damaskus zurück, da ging der syrische Diktator Baschar al-Assad demonstrativ zur Tagesordnung über. In Begleitung seiner Frau und seiner Familie zeigte er sich zum Ende des islamischen Fastenmonats Ramadan in der Öffentlichkeit, nahm an den Gebeten teil und spazierte durch die Straßen der Stadt.

Offenbar störte es ihn nicht, dass ein ausländischer Staat nur wenige Tage zuvor mehrere hochrangige Generäle in der syrischen Hauptstadt getötet hatte. Doch der Spaziergang, wie auch die scheinbare Gleichgültigkeit, waren kalkuliert, sagt Haid Haid, Nahost-Experte der Londoner Denkfabrik Chatham House.

"Der Fototermin mit Assad war kein Zufall. Er ist Teil einer umfassenderen Kampagne, die zeigen soll, dass die Geschäfte wie gewohnt weiterlaufen", so Haid während einer Chatham House-Veranstaltung zu Syrien zu Beginn dieser Woche. "Offenbar wollte man damit zu verstehen geben, dass Syrien sich nicht an Vergeltungsmaßnahmen für den israelischen Angriff auf das iranische Konsulat beteiligen wird und Syrien nicht der Hauptschauplatz dieses Konflikts sein wird."

Das aber sei nicht überraschend, so Haid. Seit Beginn des Krieges in Gaza habe sich Assad - anders als andere iranische Verbündete - weitgehend zurückgehalten.

Dafür gibt es mehrere Gründe. So wäre das syrische Militär aufgrund des lang andauernden syrischen Bürgerkriegs ohnehin zu keiner Reaktion auf Angriffe fähig. Zudem liegt die Wirtschaft des Landes in Trümmern, und Zurückhaltung in Bezug auf Gaza könnte dem Regime außenpolitisch von Nutzen sein.

Irans Transitroute durch Syrien

Das syrische Regime verfolgt diese Linie ungeachtet des Umstands, dass Israel seit über einem Jahrzehnt Ziele in Syrien angreift. Im Jahr 2012 intervenierte die Regierung Irans im syrischen Bürgerkrieg und half dem Regime in Damaskus, die syrischen Oppositionskräfte zu besiegen. Syrien zeigt sich erkenntlich und bot Iran einen Landkorridor für den Transport von Ausrüstung und Kämpfern in Richtung Libanon an.

Dort hat die Hisbollah ihren Sitz, die mächtigste der militärischen Stellvertreterorganisationen, die der Iran in der Region unterhält. Sie ist längst auch in Syrien präsent. Wie der Iran betrachtet auch die Hisbollah Israel und die USA als Feinde.

Seit geraumer Zeit versetzt die wachsende iranische Präsenz in Syrien Israels Militär in Unruhe. Man ist besorgt über iranische Truppen und Infrastruktur nahe der eigenen Grenze. Darum hat Israel regelmäßig solche Ziele in Syrien ins Visier genommen.

"Israels primäres Interesse in Syrien ist es, dort eine strategische iranische Militärpräsenz in zu verhindern", heißt es in einem Aufsatz der International Crisis Group, einer westlichen Nichtregierungsorganisation (NGO). Israel habe daher "mehr als 100 Angriffe auf Konvois und Lagerhäuser durchgeführt, die die Nachschublinien der Hisbollah in Syrien versorgen." Ab Ende 2017 habe das Tempo der israelischen Angriffe zugenommen, so die Crisis Group. Beobachtern zufolge finden die israelischen Angriffe fast wöchentlich statt.

Gründe der syrischen Zurückhaltung

Die syrische Regierung hat immer noch mit den Nachwirkungen des langjährigen Bürgerkriegs zu kämpfen und ist vornehmlich mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt. Wenn sie überhaupt einmal auf mutmaßlich israelische Angriffe reagierte, dann meist mit Raketen, die Analysten zufolge meist als Blindgänger endeten. Ohnehin hat Israel selten syrische Einrichtungen, sondern meist gezielt iranische Objekte beschossen.

Seitdem die militante, von den USA, der EU und anderen Staaten als terroristische Vereinigung eingestufte Hamas am 7. Oktober Israel angriff, hat die Zahl der israelischen Angriffe auf Syrien jedoch zugenommen. Hatte Israel es bislang oft vermieden, iranische oder Hisbollah-Agenten dort zu töten, habe sich diese Taktik nun geändert, schrieb Chatham House-Experte Haid in einem Kommentar Anfang April.

Ende März äußerte sich auch der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant zu Plänen, die Taktik gegenüber der libanesischen Hisbollah auszuweiten. "Wir werden überall dort angreifen, wo die Organisation operiert, in Beirut, Damaskus und an weiter entfernten Orten", sagte Gallant in israelischen Medien.

Diese neue Strategie gipfelte in dem mutmaßlich israelischen Bombenangriff auf den iranischen Botschaftskomplex in Damaskus am 1. April. Dieser führte zum ersten direkten iranischen Raketen- und Flugkörperangriff auf Israel und einem begrenzten israelischen Gegenangriff.

Eine weitere Eskalation wollten offenbar beide Seiten vermeiden. Allerdings dürften sich indirekte Angriffe von und auf iranische Verbündete fortsetzen, meinen Experten.

Weitere Angriffe auf Ziele in Syrien nicht ausgeschlossen

"In politischen Kreisen ist man der Ansicht, dass Angriffe in Syrien mit geringen Kosten verbunden sind", sagt Dareen Khalifa, Analystin bei der International Crisis Group. Dies liege auch daran, dass Syrien in der Regel auf solche Angriffe nicht reagiere.

Darum dürfte Syrien auch in Zukunft ein Ausgangspunkt für Angriffe der vom Iran unterstützten Stellvertreter im Land sein. Aus demselben Grunde werde auch Israel seine Angriffe auf iranische Einrichtungen in Syrien fortsetzen. Dies könne - wie schon bisher - immer wieder auf weitere Länder übergreifen, warnt Khalifa. "Wir beobachten eine schrittweise Eskalation in der Region."

Insgesamt verlaufe der Konflikt nach dem Muster "Wie du mir, so ich dir", so Khalifa. Wie leicht die Situation jedoch außer Kontrolle geraten könne, habe der Angriff auf die iranische Botschaft in Damaskus mitsamt seinen Folgen bereits gezeigt.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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Image caption Das zerstörte iranische Botschaftsgebäude in Damaskus nach dem mutmaßlich israelischen Angriff Anfang April 2024
Image source Firas Makdesi/REUTERS
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Item 3
Id 68921522
Date 2024-04-25
Title Kehrtwende in der polnischen Außenpolitik
Short title Kehrtwende in der polnischen Außenpolitik
Teaser Polens Außenminister Radoslaw Sikorski hat die Grundzüge der neuen Außenpolitik vorgestellt. Dabei ging er hart mit der Politik seiner national-konservativen Vorgänger um Jaroslaw Kaczynski ins Gericht.
Short teaser Polens Außenminister Radoslaw Sikorski kündigt eine Neuausrichtung im Verhältnis zu Deutschland und zur EU an.
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Die polnische Mitte-Links-Regierung unter dem liberalen Premier Donald Tusk hat gleich nach der Regierungsübernahme am 13. Dezember 2023 mit der Neujustierung der Außenpolitik begonnen. Die vordringlichen Aufgaben: ein Neustart im Verhältnis zur Europäischen Union, die Wiederbelebung des Weimarer Dreiecks und die Verbesserung der angespannten Beziehungen zu Deutschland wurden von Tusks Regierung bereits in den ersten Monaten dieses Jahres in Angriff genommen.

Am Donnerstag (25.04.2024) bestätigte der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski in seiner ersten Grundsatzrede vor den Abgeordneten im polnischen Parlament, dem Sejm, den Wandel in der Außenpolitik. Dabei rechnete er mit der Vorgängerregierung der national-konservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jaroslaw Kaczynski hart ab.

"In den vergangenen acht Jahren gab es eine Reihe von verfehlten ideologischen Prinzipien, von schlechten Ideen sowie falschen Entscheidungen und Unterlassungen", sagte Sikorski.

Er nannte als Beispiele den "chronischen Konflikt" mit den EU-Institutionen wegen der Politisierung der polnischen Gerichte, der Verschlechterung der Beziehungen zu Polens Nachbarn Deutschland, Frankreich und Tschechien sowie der "verfehlten Hoffnung auf ein Bündnis mit Amerika gegen die EU". Auch ein "ideologisches Bündnis mit Pro-Putin-Populisten" und die Abneigung gegen den angeblich "verfaulten Westen" erwähnte der Politiker, der bereits in den Jahren 2007-2014 das polnischen Außenamt geleitet hatte.

Mythen und Hirngespinste der PiS

Sikorski warf der PiS vor, sich in der Außenpolitik von "schädlichen Mythen und Hirngespinsten" leiten zu lassen. In jeder Mythologie sei ein "schwarzer Charakter" notwendig, um negative Emotionen abzuleiten. Diese Rolle hätten die National-Konservativen den Deutschen zugewiesen. "Deutschland ist unser demokratischer Nachbar, wichtigster Handelspartner, wichtiger europäischer Player und Schlüsselverbündeter in der NATO", hielt Sikorski dagegen.

"Warschau und Berlin brauchen sich gegenseitig", unterstrich der polnische Chefdiplomat. Er zitierte dabei auch aus der Rede des 2015 verstorbenen Vorreiters der polnisch-deutschen Versöhnung, Wladyslaw Bartoszewski vor dem Deutschen Bundestag. Er hatte in dieser viel beachteten Rede im Jahr 1995 gesagt: "Das Gedenken und die historische Reflexion müssen unsere Beziehungen begleiten. Sie sollten dafür jedoch nicht Hauptmotivation sein, sondern den Weg bereiten für die gegenwärtigen und in die Zukunft gerichteten Motivationen."

Reparationen bleiben auf der Agenda

Sikorski sprach auch das Thema der Reparationen für die polnischen NS-Opfer an, wobei er das Wort Reparationen vermied und stattdessen von Entschädigungszahlungen sprach. Er appellierte an die deutsche Seite, in dieser Frage "Sensibilität und Empathie" zu zeigen. "Wir erwarten von Berlin Vorschläge zur Wiedergutmachung", sagte er. An Ideen mangele es nicht - von einer Unterstützung für die noch lebenden Opfer über den Wiederaufbau polnischer Denkmäler, Investitionen in die polnische Sicherheit bis zum polnischen Sprachunterricht und der Vermittlung polnischer Geschichte.

Als besonders wichtig bezeichnete er "deutsche Investitionen in die Sicherheit der Region". Sie seien "Ausdruck der Anerkennung vergangener Fehler". Die Vorgängerregierung hatte die polnischen Kriegsverluste auf 6,2 Billionen Zloty (1,3 Billionen Euro) beziffert und die Bundesregierung im Oktober 2022 aufgefordert, Gespräche über eine Wiedergutmachung aufzunehmen.

Heiße Kartoffel: Reform der EU-Verträge

Sikorski scheute sich auch nicht, die in Polen äußerst heikle Frage der Änderung der EU-Verträge anzusprechen. "Polen wird eine realistische Reform der EU, die zur Wettbewerbsfähigkeit und Stärke der Gemeinschaft beiträgt, unterstützen", versicherte er. Er sei nicht überzeugt, dass dafür eine Änderung der Verträge notwendig sei. "Wir können aber nicht ausschließen, dass ein Teil der Mitgliedsstaaten davon die Zustimmung zur Vollendung der Erweiterung abhängig macht."

Laut Sikorski ist die Regierung "offen für Argumente". Der Minister sprach sich für Mehrheitsentscheidungen etwa beim Beschließen von Sanktionen aus, um Blockaden, wie jetzt von Ungarn, zu vermeiden. Die Aufnahme neuer Mitglieder sollte dagegen einstimmig erfolgen. "Unterbreiten wir kluge polnische Vorschläge", sagte Sikorski und appellierte an die Opposition, die Befürworter der Mehrheitsentscheidungen nicht als Landesverräter zu diffamieren. Oppositionsführer Kaczynski hatte die EU-Pläne als einen Versuch kritisiert, den polnischen Nationalstaat zu liquidieren.

Präsident Duda empört über Sikorski

Der polnische Präsident Andrzej Duda, der die Rede Sikorskis aus seiner Loge im Parlament verfolgte, reagierte empört auf die Kritik an der PiS-Regierung. Das konservative Staatsoberhaupt, das dem national-konservativen Lager um Kaczynski nahe steht, warf dem Außenminister vor, einen Angriff auf die Politik der Vorgängerregierung gestartet zu haben.

"Dieser Angriff ist total unbegründet und enthält viele Lügen, Manipulationen und Unwahrheiten, die die Polen spalten und einen unnötigen Konflikt heraufbeschwören", sagte Duda. Er warf der EU-Kommission "ungeheure Heuchelei" in der Frage der Rechtsstaatlichkeit vor. Sikorski beschuldigte er, vor 2015, als Deutschland und Russland gemeinsam die Gaspipeline Nord Stream 1 und 2 gebaut hätten, Berlin zur Übernahme der Führung in Europa ermuntert zu haben. Bei seinem Besuch in Berlin im November 2011 hatte Sikorski gesagt: "Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit."

Die polnischen National-Konservativen betrachten Deutschland als die größte Gefahr für Polens Souveränität. Kaczynski bezeichnet den heutigen Regierungschef Tusk seit langem öffentlich als deutschen Agenten und seine Partei Bürgerplattform als von außen gesteuerte Kraft.

Eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen werden Anfang Juli die Regierungskonsultationen sein. Das letzte Treffen fand im November 2018 statt, noch mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag sieht eigentlich jährliche Konsultationen vor.

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Image caption Polens Außenminister Radoslaw Sikorski bei der Vorstellung der außenpolitischen Leitlinien im Sejm
Image source Leszek Szymanski/dpa/picture alliance
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Item 4
Id 68919046
Date 2024-04-25
Title Keine Pässe mehr für Ukrainer im Ausland - und nun?
Short title Keine Pässe mehr für Ukrainer im Ausland - und nun?
Teaser Die Ukraine schränkt konsularische Dienstleistungen für wehrfähige Männer ein, die sich im Ausland befinden. Juristen bezweifeln die Verhältnismäßigkeit der Regelung. Was sagen Betroffene in Deutschland dazu?
Short teaser Die Ukraine schränkt konsularische Dienstleistungen für Männer ein, die sich im Ausland befinden. Was sagen Betroffene?
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"Gut, dass ich meinen Reisepass letztes Jahr in Köln bekommen habe und nicht mehr zum Konsulat muss", sagt Oleh aus Kiew, der heute mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Deutschland lebt. So reagiert er auf die Erklärung des Außenministers der Ukraine, Dmytro Kuleba, Staatsbürgern im wehrfähigen Alter, die sich im Ausland aufhalten, konsularische Dienstleistungen nicht mehr in vollem Umfang zu erbringen. Dies soll vor allem für diejenigen gelten, die sich nicht beim Militär registrieren lassen.

"Im Ausland zu leben, befreit einen Bürger nicht von den Pflichten gegenüber seinem Heimatland", betonte Kuleba am Dienstag auf der Online-Plattform X und fügte hinzu, Maßnahmen angeordnet zu haben, um eine "faire Behandlung von Männern im mobilisierungsfähigen Alter in der Ukraine und im Ausland" zu gewährleisten.

Inzwischen hat Kiew die Ausgabe von Reisepässen an im Ausland befindliche Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren gestoppt. Somit können ukrainische Männer im wehrfähigen Alter Reisepässe nur noch im Land selbst erhalten. Ausgenommen ist nur die Ausgabe von Personalausweisen zur Rückkehr in die Ukraine.

Meldepflicht, mögliche Strafen und erwartete Klagen

Die Maßnahme steht im Zusammenhang mit dem jüngst verabschiedeten Gesetz zur Verstärkung der Mobilmachung und zielt darauf ab, Männer zur Rückkehr in ihr Heimatland zu drängen. Das Gesetz soll am 18. Mai in Kraft treten.

Gemäß den neuen Bestimmungen müssen sich auch die männlichen ukrainischen Staatsbürger, die im Ausland leben, beim Militär melden. "Wie das im Ausland geschehen soll und welche Papiere vorgelegt werden müssen, ist unklar", sagt die Kiewer Anwältin Hanna Ischtschenko. Das habe die Regierung noch nicht festgelegt. Klar sei bisher nur, dass das Gesetz ausnahmslos für alle männlichen Bürger gelte - sowohl für die, die nach der großangelegten Invasion Russlands im Jahr 2022 die Ukraine verlassen haben, als auch für solche, die seit ihrer Geburt im Ausland leben.

Die Bestimmungen zur Meldepflicht sehen vor, dass ukrainische Staatsbürger im Ausland erst dann Konsulardienste in Anspruch nehmen können, wenn geklärt ist, ob sie sich beim Militär haben registrieren lassen. Ist dies nicht der Fall, droht ihnen neben der Verweigerung konsularischer Dienstleistungen eine Geldbuße von 510 bis 850 Hrywnja (ca. 12 bis 20 Euro) und bei wiederholtem Verstoß bis zu 1700 Hrywnja (ca. 40 Euro).

Anwältin Ischtschenko rechnet mit Klagen gegen die Behörden. Gerichte würden klären müssen, ob die behördlichen Entscheidungen im Einklang mit dem Grundsatz der Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz stehen. "Es muss eine Vereinbarkeit zwischen den Folgen für die Bürger und den Zielen bestehen, die mit den Bestimmungen erreicht werden sollen", erläutert sie. Ihrer Ansicht nach entsprechen die Maßnahmen der Staatsmacht trotz der Kriegssituation nicht dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit.

Oleksandr Pawlitschenko von der Ukrainischen Helsinki-Union für Menschenrechte spricht sogar von Diskriminierung. Er befürchtet, dass die ukrainischen Behörden den betroffenen Personen künftig auch in Notsituationen Hilfe verweigern könnten. Als Folge würden die Menschen eine andere Staatsbürgerschaft anstreben, über einen Flüchtlingsstatus oder andere Verfahren, um aus der für sie "unbequemen" ukrainischen Staatsbürgerschaft herauszukommen. Auch Pawlitschenko rechnet damit, dass Ukrainer unter Berufung auf die Europäische Menschenrechtskonvention gegen die neuen Bestimmungen klagen werden.

Hoffnung auf Schutz und Hilfe seitens Deutschlands

Oleg will sich nicht beim Militär melden. Er fürchtet einen Einsatz im Krieg, obwohl er als Vater einer kinderreichen Familie nach jetzigen Vorschriften von der Dienstpflicht befreit ist. "Ich werde meine Frau mit drei Kindern doch nicht allein lassen", betont er.

Bohdan, der seinen Nachnamen ebenfalls nicht nennen möchte, hat die Ukraine unter Umgehung der Grenzkontrollen illegal verlassen. Er sei über die Republik Moldau nach Deutschland gekommen, wo er vorübergehend einen Schutzstatus genießt. Bohdan will auf keinen Fall zurück, er fühlt sich in Deutschland wohl und lernt Deutsch.

Strafmaßnahmen gegen Männer, die sich nicht beim Militär melden, könnten diejenigen, die die Ukraine im Krieg bewusst verlassen haben, nicht zu einer Heimkehr bewege, meint Bohdan. "Wenn ich im Jahr 2032 einen neuen Pass beantrage, dann werde ich hoffentlich eine andere Staatsbürgerschaft haben, vielleicht die deutsche", sagt er.

Auf die Frage, was er tun würde, sollte er unerwartet ein ukrainisches Konsulat brauchen, sagt Bohdan: "Nichts, absolut nichts." Er rechne nicht mit Problemen. "Ich bin zu fast 90 Prozent sicher, dass Deutschland es so einrichten wird, dass wir alle nötigen Papiere hier bekommen, ohne ukrainische zu brauchen. Wir werden die Ukraine nicht kontaktieren müssen", glaubt er.

Der Pressesprecher des deutschen Innenministeriums, Maximilian Kall, sagte auf der Regierungspressekonferenz am Mittwoch, er sehe das Vorgehen der ukrainischen Behörden "als konsularrechtliche Frage, die allein in der Hand der ukrainischen Stellen ist". Kall betonte, dies werde sich nicht auf den Schutzstatus für Geflüchtete aus der Ukraine auswirken, "ganz gleich, ob es Frauen oder Männer sind".

Vor allem Frauen kehren in die Ukraine zurück

Im Februar 2024 suchten laut Statistischem Bundesamt etwa gleichviel Männer und Frauen aus der Ukraine im Alter von 18 bis 60 Jahren in Deutschland Asyl: 5.597 beziehungsweise 5.772 Personen. Zwei Jahre zuvor waren zwei Drittel der Kriegsflüchtlinge Frauen, die zweitgrößte Kategorie waren Kinder.

Andererseits sind 39 Prozent derjenigen, die derzeit in die Ukraine zurückkehren, Frauen im erwerbsfähigen Alter. Der Anteil der Männer im wehrfähigen Alter, die aus Deutschland in ihre Heimat zurückkehren, beträgt dagegen nur 23 Prozent.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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Image caption Kiew stoppt die Ausgabe von Reisepässen an wehrfähige Ukrainer im Ausland
Image source Jens Büttner/dpa/picture alliance
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Item 5
Id 51881759
Date 2024-04-25
Title Der "Fall Weinstein" - Chronik eines Skandals
Short title Der "Fall Harvey Weinstein": eine Chronik
Teaser Mehr als 100 Frauen werfen Harvey Weinstein sexuelle Belästigung oder Vergewaltigung vor. Ein Gericht in New York hat den Filmproduzenten schuldig gesprochen und das Strafmaß verkündet.
Short teaser Ein Gericht in New York hat den Filmproduzenten in zwei Punkten schuldig gesprochen und das Strafmaß verkündet.
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Alles beginnt mit einem Tweet - wie so viele Geschichten heutzutage, die sich in kürzester Zeit zu einem Skandal auswachsen. Die US-Schauspielerin Rose McGowan beschuldigt in einem Tweet einen namentlich nicht genannten, einflussreichen Filmproduzenten aus Hollywood, sie vergewaltigt zu haben - unter dem Hashtag #WhyWomenDontReport (Warum Frauen nichts melden).

Der Tweet erscheint, kurz nachdem sich gerade bekannte US-amerikanische Persönlichkeiten aus der Film- und TV-Branche dem öffentlichen Vorwurf sexueller Belästigung von Frauen stellen müssen, unter ihnen der bekannte US-Schauspieler Bill Cosby und Bill O'Reilly, prominenter Fernsehmoderator beim US-Sender Fox News.

Obwohl in der Filmbranche und in Hollywood seit langem Gerüchte über Weinsteins fragwürdiges Verhalten gegenüber Frauen kursieren, wird das nie aktenkundig. 2015 geht bei der New Yorker Polizei ein Grapscher-Vorwurf gegen den bekannten Filmproduzenten ein, aber es wird keine Anklage gegen Harvey Weinstein erhoben.

Die "New York Times"-Journalistin Jodi Kantor, die sich für eine Reportage mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz beschäftigt, wird auf den Tweet von McGowan aufmerksam und kontaktiert die Schauspielerin, um mehr über den Vorwurf gegen Weinstein zu erfahren. Das Gespräch der beiden Frauen bringt den Ball ins Rollen.

Zusammen mit ihrer Kollegin Megan Twohey veröffentlicht Kantor die Vorwürfe gegen Harvey Weinstein, die Filmbranche und die weltweite Öffentlichkeit reagieren geschockt. Der nachfolgende Skandal führt zu einer umfangreichen strafrechtlichen Untersuchung der angeblichen sexuellen Übergriffe des ehemals mächtigen und einflussreichen Film-Moguls.

"Sie hatte Angst, Weinstein würde sie vernichten"

Jodi Kantors Artikel erscheint am 5. Oktober 2017 in der "New York Times". Darin beschuldigten ihn mehrere Frauen, die über Jahrzehnte mit Weinstein als Produzent zusammengearbeitet hatten, der Vergewaltigung, sexueller Belästigung und der Einschüchterungsversuche. Schauspielerinnen wie Rose McGowan und Ashley Judd packten zahlreiche intime Details über ihre Erfahrungen mit dem Filmproduzenten aus. Nachdem sie den Anfang gemacht haben, meldeten sich in kurzer Zeit weitere Opfer Weinsteins.

Nur ein paar Tage später, am 10. Oktober 2017, veröffentlichte der Journalist Ronan Farrow im Magazin "The New Yorker" das Ergebnis seiner Recherchen im "Fall Weinstein". Er konnte Aussagen von weiteren 13 Frauen anführen, die ausgesagt haben, von Weinstein mehrfach sexuell belästigt worden zu sein.

Einige Anschuldigungen liegen Jahrzehnte zurück, andere waren relativ aktuell. Farrow fand einen plausiblen Grund dafür, warum Weinstein nicht viel früher angezeigt wurde. Das Zitat der italienischen Schauspielerin und Regisseurin Asia Argento zeigte das Dilemma der Opfer: "Sie hatten Angst, Weinstein würde sie vernichten." Sie wisse, dass er schon viele Karrieren zerstört habe, so Argento weiter. "Deshalb ist diese Geschichte - bei mir liegt sie 20 Jahre zurück - auch nicht früher rausgekommen."

Diese Bekenntnissen der Opfer von Weinstein führten schließlich dazu, dass der Hashtag #MeToo weltweit als Kampagne gegen jede Form der sexuellen Übergriffe bekannt und im Netz genutzt wurde.

Chronologie eines Niedergangs

Die Berichte der US-Journalisten Kantor und Farrow führten nicht nur zu einem öffentlichen Aufschrei, sie hatten auch drastische Konsequenzen für Harvey Weinstein und seine Filmproduktionsfirma The Weinstein Company. Weinstein verlor alles, was er über Jahrzehnte als erfolgreicher Filmproduzent aufgebaut hat.

Was geschah aber in der Zeit zwischen den ersten Enthüllungen und dem Vergewaltigungsprozess? Die folgende Chronologie listet die wichtigsten Ereignisse im "Fall Weinstein" bis zur Anklage gegen den Hollywood-Mogul wegen sexueller Übergriffe und Vergewaltigung auf:

● 5. Oktober 2017: Unmittelbar nach der Veröffentlichung von Jodi Kantors erstem Artikel in der "New York Times" sagt Weinstein der amerikanischen Zeitung: "Ich respektiere alle Frauen und bedauere, was passiert ist." Er droht damit, die Zeitung zu verklagen.

● 8. Oktober 2017: Weinstein wird von seiner eigenen Firma The Weinstein Company gefeuert. Gegründet hat sie Weinstein 2005 mit seinem Bruder Bob Weinstein, nachdem sie ihre erste Firma Miramax an den Disney-Konzern verkauft hatten.

● 9. Oktober 2017: Prominente Hollywood-Schauspieler wie George Clooney und Meryl Streep verurteilen die beschuldigten Handlungsweisen des Filmproduzenten als "unverantwortlich".

● 14. Oktober 2017: Nach weiteren Vorwürfen gegen Harvey Weinstein stimmt die Academy of Motion Picture Arts and Science, die Organisation hinter der Oscar-Verleihung, für den Ausschluss des erfolgreichen Filmproduzenten.

● 17. Oktober 2017: Weinstein scheidet auch aus dem Vorstand seines Unternehmens The Weinstein Company aus.

● 11. Februar 2018: Die Staatsanwaltschaft des Bundesstaates New York erhebt Klage gegen die Weinstein Company und behauptet, dass das Studio es versäumt habe, weibliche Mitarbeiter vor mutmaßlicher sexueller Belästigung und Missbrauch zu schützen.

● 19. März 2018: Die Filmproduktionsfirma The Weinstein Company meldet Konkurs an. Alle Schweigeabkommen Weinsteins mit mutmaßlich betroffenen Frauen seien hinfällig, sie könnten vor Gericht frei sprechen.

● 1. Mai 2018: Die US-Schauspielerin Ashley Judd verklagt Harvey Weinstein.

● 25. Mai 2018: Angeklagt wegen Vergewaltigung und sexueller Übergriffe gegen zwei Frauen stellt sich Weinstein der New Yorker Polizei, gegen Zahlung einer Kaution kommt er auf freien Fuß.

● 5. Juni 2018: Weinstein plädiert auf nicht schuldig. Innerhalb eines Monats wird er in einem dritten Fall angeklagt, in dem er sich ebenfalls nicht schuldig erklärt.

● 23. Mai 2019: Mit den Anklägern gibt es eine "vorläufige" Vereinbarung zur Beilegung der Zivilprozesse wegen sexuellen Fehlverhaltens . Laut Medienberichten soll sich die Summe auf insgesamt mehr als 40 Millionen Dollar belaufen. Die Einigung kommt jedoch nicht zustande, mehrere Klägerinnen lehnen sie ab.

● 25. September 2019: Jodi Kantor und Meghan Twohey, Reporterinnen bei der "New York Times", veröffentlichen das Buch "She Said", in dem sie ausführlich über die Vorwürfe gegen Weinstein berichten sowie über seine Einschüchterungstaktiken, um die Veröffentlichung zu verhindern.

● 5. Oktober 2019: Rowena Chen, eine ehemalige Weinstein-Assistentin, enthüllt in einer Reportage der "New York Times", dass der Filmproduzent ihr gegenüber übergriffig wurde.

● 11. Dezember 2019: Weinstein wird vom Staat New York zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er die elektronische Fußfessel, die er tragen muss, unsachgemäß benutzt hat.

● 11. Dezember 2019: Eine vorläufige Grundsatzvereinbarung zur Beilegung der Zivilklagen von fast 30 Schauspielerinnen und ehemaligen Mitarbeiterinnen gegen Harvey Weinstein wird getroffen. Die Entschädigungssumme, die Weinstein zahlen will, beträgt 25 Millionen Dollar. Es gibt eine Klausel, nach der er keinerlei Schuld eingestehen muss. Nicht alle betroffenen Frauen sind damit einverstanden und planen, sie juristisch anzufechten.

● 6. Januar 2020: Vor einem New Yorker Gericht ist der erste Verhandlungstag des mehrfach vertagten Prozesses angesetzt. Hollywood-Produzent Harvey Weinstein (67) ist in nur zwei Fällen angeklagt, alle anderen Vorfälle sind juristisch verjährt.

● 13./14. Februar 2020: Die Schlussplädoyers im Weinstein-Prozess zeichnen zwei völlig unterschiedliche Bilder: Während Weinsteins Chefanwältin Donna Rotunno in ihrer Ansprache versucht, Zweifel an den Aussagen der gehörten Zeuginnen zu säen und auf unschuldig plädiert, bezeichnet Staatsanwältin Joan Illuzzi-Orbon den Ex-Film-Mogul als "Herr des Universums, der auf Ameisen trat". Sie wirft ihm vor, seine Macht nach dem "Muster eines Raubtiers" missbraucht zu haben.

● 18. Februar 2020: Die Geschworenen ziehen sich zurück, um ihr Urteil zu fällen.

● 24. Februar 2020: Die Jury spricht den früheren Film-Mogul in zwei von fünf Anklagepunkten schuldig: wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Von einem weiteren Vorwurf der Vergewaltigung spricht die Jury Weinstein frei, ebenso von zwei Anklagepunkten wegen "raubtierhaften sexuellen Angriffs".

● 10. März 2020: Weinsteins Anwälte bitten um eine Gefängnisstrafe von fünf Jahren. Der Richter solle die Gesundheit und das Alter des Verurteilten berücksichtigen, heißt es in einem Schreiben, über das die Nachrichtenagentur Reuters berichtet.

● 11. März 2020: Das Strafmaß ist verkündet worden: Filmproduzent Harvey Weinstein soll für 23 Jahre ins Gefängnis.

● Im Februar 2023 wurde Weinstein in Los Angeles in einem weiteren Prozess wegen Vergewaltigung zu 16 Jahren Haft verurteilt.

● 25. April 2024: Der Oberste Gerichtshof von New York hebt das Weinstein-Urteil vom März 2020 auf und ordnet eine Neuverhandlung an.

Dies ist eine erweiterte Fassung eines früheren Artikels.

Item URL https://www.dw.com/de/der-fall-weinstein-chronik-eines-skandals/a-51881759?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Der ehemals mächtige Hollywood-Produzent Harvey Weinstein beim Betreten des Gerichts in New York (5.6.2018)
Image source Getty Images/AFP/E. Munoz Alvarez
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Item 6
Id 68920886
Date 2024-04-25
Title Taliban und Pakistan: Auf die Hoffnung folgt Zerknirschung
Short title Taliban und Pakistan: Auf die Hoffnung folgt Zerknirschung
Teaser Seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan haben sich die Beziehungen der Taliban zu Pakistan dramatisch verändert. Kabul pocht auf seine Eigenständigkeit gegenüber Islamabad.
Short teaser Seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan haben sich die Beziehungen der Taliban zu Pakistan dramatisch verändert.
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Im August 2021 fiel die afghanische Hauptstadt Kabul an die Taliban. Das hatte auch Folgen für die Beziehung der nun an der Regierung befindlichen Fundamentalisten zum Nachbarland Pakistan: Sie hat sich seitdem immer weiter verschlechtert.

Viele Experten führen die aktuellen Spannungen auf die Zunahme des von Afghanistan ausgehenden grenzüberschreitenden Terrorismus zurück.

Allerdings haben umgekehrt auch einige Maßnahmen Islamabads das Taliban-Regime verärgert: So hatte Pakistan im vergangenen Jahr einige Handelsbeschränkungen für das Nachbarland erlassen. Zudem hatte es rund 500 000 afghanische Migranten ohne Papiere ausgewiesen sowie strengere Visabestimmungen an den Grenzübergängen eingeführt.

Im vergangenen Monat attackiert die pakistanische Luftwaffe wiederholt Orte in Afghanistan, an denen sie die Verstecke militanter pakistanischer Gruppen vermutete. Dabei wurden acht Menschen getötet. Der Angriff veranlasste die afghanischen Streitkräfte, das Feuer an der Grenze zu erwidern.

Von Hoffnung zu Zerknirschung

Ursprünglich hatte Pakistan gehofft, nach der Machtübernahme durch die Taliban von der bisherigen Zusammenarbeit mit ihnen profitieren zu können, sagt Naad-e-Ali Sulehria, Südostasien-Experte beim Think Tank PoliTact in Washington, im Gespräch mit der DW.

So habe Islamabad etwa darauf gehofft, die Taliban würden gegen die Gruppe Tehreek-e-Taliban Pakistan (TTP) und andere militante pakistanische Organisationen vorgehen und deren Zufluchtsorte auf afghanischem Boden zerstören.

Doch diese Hoffnungen haben sich verflüchtigt, ja mehr noch: Pakistan registrierte einen Anstieg des Terrorismus. Der Grund: Die Rückkehr der Taliban an die Macht ermutigte und stärkte die TTP.

Einem Bericht des in Islamabad ansässigen Zentrums für Forschung und Sicherheitsstudien zufolge stieg die Zahl der Todesopfer infolge militanter Angriffe im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 56 Prozent. Über 1 500 Menschen wurden getötet, darunter 500 Sicherheitskräfte.

Erst in der vergangenen Woche wurden bei zwei Anschlägen in zwei unruhigen Bezirken der Provinz Khyber Pakhtunkhwa zwei Polizisten getötet und sechs verletzt.

Pakistan und die Taliban: eine komplexe Beziehung

Die seit langem bestehenden Beziehungen Pakistans zu den Taliban sind komplex und vielfach widersprüchlich. Infolge historischer Ereignisse und strategischen Kalküls haben sie zudem zahlreiche Wandlungen durchlaufen.

Die beiden Länder haben, vor allem im paschtunisch geprägten Grenzgebiet, enge kulturelle Verbindungen, liegen miteinander aber wegen der 1893 von den Briten gezogenen 2.640 Kilometer langen Grenze, der sogenannten Durand-Linie, im Streit.

Die Linie teilte das Land der paschtunischen Stämme. Darüber entstand die Idee eines unabhängigen Staates "Paschtunistan", der die paschtunischen Gebiete auf beiden Seiten der Grenze umfassen sollte. Doch dieser Staat kam nie zustande. Der Streit aber schwelt bis heute weiter.

Infolge der sowjetischen Invasion in Afghanistan im Jahr 1979 knüpfte Islamabad enge Beziehungen zu muslimischen Extremisten jenseits der Grenze.

„Aus Sorge vor dem sowjetischen Einfluss wurde Pakistan zu einem wichtigen Durchgangsland für die westliche Hilfe für die afghanischen Mudschaheddin, also jene Rebellengruppen, die gegen die Sowjets kämpften", sagt der in Islamabad lebende Historiker Ubaidullah Khilji.

Nach dem Abzug der Sowjets stürzte Afghanistan in einen Bürgerkrieg. Der brachte eine neue islamistische Gruppierung hervor: die Taliban. Pakistan erkannte 1996 zusammen mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten das Taliban-Regime an und gewährte ihm militärische Unterstützung und weitere Hilfen.

Als die USA und ihre Verbündeten Afghanistan nach den Terroranschlägen in den USA vom 11. September 2001 besetzten, brach das Regime der Taliban Ende jenen Jahres zusammen.

Einige Mitglieder der Gruppe fanden Zuflucht in Pakistan, insbesondere in den Grenzregionen. Zwar kooperierte Islamabad nach dem 11. September 2001 mit den USA. Doch gilt es als ausgemacht, dass Teile der pakistanischen Elite die Taliban heimlich unterstützten - ein Umstand, der sich als entscheidend für deren Überleben und ihre Rückkehr an die Macht im August 2021 erwies.

„Die Taliban nutzten Pakistan als sicheren Zufluchtsort, um ihren Aufstand in Afghanistan zu unterstützen. Diesen Umstand wertete Pakistan als Möglichkeit, dem indischen Einfluss in Afghanistan entgegenzuwirken", sagt ein Taliban-Beamter im Kabuler Bildungsministerium, der anonym bleiben möchte. "Es war eine Beziehung zum beiderseitigen Nutzen."

Neue Ära in Kabul

Mit der Rückkehr der Taliban an die Macht hat sich diese Dynamik erheblich verändert. Die Taliban seien auf Pakistan nicht mehr länger angewiesen, sagt Adam Weinstein, Nahost-Experte am Think Tank Quincy Institute. "Vielmehr behaupten ihre Unabhängigkeit und weigern sich, sich Pakistan unterzuordnen oder dessen Forderungen zu erfüllen."

Die Taliban-Führer sind sich der früheren Unterstützung durch Pakistans zwar bewusst. Dass Pakistan Taliban-Führer nun schikaniert, verhaftet und an die USA ausliefert, sehen sie als Beweis für die Doppelzüngigkeit Islamabads.

"Ein hartes Vorgehen gegen die TTP, wie von Pakistan gefordert, könnte eine Gegenreaktion innerhalb der Taliban selbst auslösen", so der anonyme Taliban-Vertreter. Einige TTP-Mitglieder könnten womöglich zur Gruppe "Islamischer Staat Khorasan" (ISIS-K) überlaufen. Diese bekämpft die Taliban innerhalb Afghanistans.

Taliban auf der Suche nach neuen Verbündeten

Während die Beziehungen zu Pakistan abkühlen, sind die Taliban bereits dabei, neue Partnerschaften zu schmieden. Die westlichen Mächte zögern noch, auf entsprechende Angebote der Taliban einzugehen. Russland, Iran, Indien und einige zentralasiatische Staaten hingegen gehen vorsichtig auf das Regime zu.

Bereits jetzt erhalte die Taliban-Regierung erhebliche Einnahmen aus ausländischen Investitionen, sagt Sulehria vom Think Tank PoliTact. Dies gelte insbesondere mit Blick auf China, dass die reichhaltigen Bodenschätze Afghanistans abbaut.

„Zudem wenden sich die Taliban an Iran, um Zugang zum internationalen Handel zu erhalten. Das deutet darauf hin, dass sie bestrebt sind, ihre Partnerschaften zu diversifizieren", so Sulehria zur DW.

"Tatsächlich unterstützten Afghanistans Nachbarn und die internationale Gemeinschaft die Taliban sowohl direkt als auch indirekt", sagt Weinstein vom Quincy Institute im Gespräch mit der DW. "Dies geschieht durch Handel, Hilfe und diplomatische Kanäle." Der Grund für die Unterstützung liege auf der Hand: "Alternativen zur Herrschaft der Taliban sieht die Welt mit Sorge entgegen. Man fürchtet einen Bürgerkrieg, eine noch stärkeren ISKP sowie allgemeine Instabilität."

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Item URL https://www.dw.com/de/taliban-und-pakistan-auf-die-hoffnung-folgt-zerknirschung/a-68920886?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Angespannte Situation: Grenzübergang zwischen Pakistan und Afghanistan
Image source AP Photo/dpa/picture alliance
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Item 7
Id 68919225
Date 2024-04-25
Title Gefälschte Euro-Münzen aus Spanien
Short title Gefälschte Euro-Münzen aus Spanien
Teaser In Spanien ist eine Falschmünzerei ausgehoben worden. Zehn Personen, allesamt Chinesen, sollen Euro-Münzen gefälscht und in ganz Europa in Umlauf gebracht haben. Wie kann man gefälschte falschen Münzen erkennen?
Short teaser In Spanien ist eine Falschmünzerei ausgehoben worden. Wie kann man gefälschte falschen Münzen erkennen?
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Das Geld, mit dem wir bezahlen, ist nur bedrucktes Papier oder geprägtes Metall. Ist es elektronisch, wie zunehmend üblich, ist es nicht mehr als eine elektronische Datei. Der eigentlicher Wert des Geldes besteht in dem Vertrauen, das ihm entgegen gebracht wird: Jeder Mensch soll sich darauf verlassen können, dass das Papier oder das Metall genau den Gegenwert hat, der ihm aufgedruckt oder eingeprägt ist.

Durch das Fälschen von Zahlungsmitteln entsteht ein gesamtwirtschaftlicher Schaden, der alle Menschen betrifft. Jene, die durch einen Zufall mit Falschgeld bezahlt werden oder es als Wechselgeld erhalten, kostet es auch: Denn Falschgeld wird eingezogen und man hat kein Recht auf einen finanziellen Ausgleich. Beim Geldfälschen versteht ein Staat keinen Spaß: Falschmünzerei ist kein Kavaliersdelikt.

Bedeutender Ermittlungserfolg

Am Mittwoch meldet die Deutsche Presseagentur, die Policía Nacional in Spanien habe eine Geldfälscherbande zerschlagen, die in ganz Europa falsche Zwei-Euro-Münzen in Umlauf gebracht haben soll. Mit Hilfe der supranationalen Polizeiorganisation EuropoI sei es gelungen, in der Provinzhauptstadt Toledo eine Fälscherwerkstatt auszuheben, die "die wichtigste der vergangenen zehn Jahre in Europa" sei, so die Polizei.

Die Bande habe fast 500.000 gefälschte Münzen "von hoher Qualität" auf den europäischen Markt gebracht. Zehn Menschen, die ausnahmslos chinesische Staatsbürger Chinas sein sollen, seien festgenommen worden. Die Policía Nacional teilte mit, sie ermittle bereits seit sechs Jahren an diesem Fall. Die Ermittlungen, zitierte die dpa die Beamten "waren äußerst schwierig und langwierig, nicht zuletzt wegen der Geheimhaltung innerhalb der Organisation sowie wegen der praktisch nicht vorhandenen Rückverfolgbarkeit, die für Falschmünzen charakteristisch ist".

Auch wenn der volkswirtschaftliche Schaden in diesem konkreten Fall nicht sehr groß gewesen sein dürfte (ein halbe Million falscher Zwei-Euro-Münzen hat lediglich einen Gegenwert von rund einer Million Euro), ist der Erfolg der Polizei nicht gering zu schätzen. Wer unbehelligt über einen langen Zeitraum hinweg gefälschte Münzen erfolgreich in Umlauf bringt, kann seine Energie und Expertise ja auch erweitern. Vor allem ist hier der psychologische Aspekt, den Bürgern versichern zu können, ihr Geld sei sicher und behalte seinen Wert, wichtig.

Auch Münzen sind relativ sicher

Gefälschte Geldscheine kann man relativ einfach erkennen. Die Sicherheitsvorkehrungen, die die Notenbanken getroffen haben, sind ausgeklügelt und gut kommuniziert. Beinahe jeder weiß um ihre "Sicherheitsfeatures" - um den Sicherheitsfaden, die eingearbeiteten Hologramme, die nur schwer zu kopierenden Hintergründe, die Qualität des Papiers. Oder glaubt wenigstens, es zu wissen. Der eine oder andere wird seine Fähigkeiten dabei sicherlich auch überschätzen. Bei Münzen sieht das zwar anders aus, denn bei ihnen gibt es keine Hologramme oder Sicherheitsfäden. Aber es gibt auch beim "Kleingeld" Dinge, die ein Fälscher oft nicht hinbekommt und auf die es sich zu achten lohnt.

Wie erkenne ich falsche Münzen?

In Deutschland ist die Bundesbank für die deutschen Euro-Münzen verantwortlich. Sie gibt auf ihrer Internetseite "Leitfaden Münzen" Hinweise zur Sicherheit der Geldstücke. "Um Fälschungen von echten Münzen unterscheiden zu können, braucht man kein Münzfachmann zu sein", erfährt man dort. Die Bundesbanker geben konkrete Hinweise, wie man Geldstücke beurteilen kann. Für Profis ist das kein Problem, denn "für Münzprüfgeräte" gebe es einen europaweit einheitlichen Test. "Die erfolgreich getesteten Geräte sind auf der Internetseite der Europäischen Kommission zu finden."

Dem Laien hilft das natürlich nicht, ihnen empfehlen die Währungshüter, "auf den ersten Eindruck" zu achten. So hebe sich normalerweise "das Münzbild deutlich von der übrigen Münzoberfläche ab." Alle Konturen seien "klar erkennbar". Vorsicht, wenn das nicht zutrifft: Bei Fälschungen "wirkt das Münzbild oft unscharf und weich ausgeprägt. Die Oberfläche ist narbig und weist Flecken, Sprenkeln, Linien oder Einkerbungen auf."

Auf einen anderen Umstand sollte man auf jeden Fall achten: Zur Sicherheit und auch, um blinden Personen das Erkennen von Münzen zu erleichtern, ist der Münzrand charakteristisch eingekerbt. "Im Gegensatz zu Falschmünzen, bei denen die Randschrift oft nur undeutlich eingeprägt ist und von der Riffelung im Münzrand überdeckt wird, ist bei echten Zwei-Euro-Münzen die Randschrift deutlich zu erkennen. Auch die Abstände zwischen den einzelnen Symbolen und Wörtern weichen bei Falschmünzen häufig von denen echter Münzen ab."

Der Trick mit dem Magneten

In der Bundesbank-Zentrale scheint man davon auszugehen, dass jeder Mensch einen Magneten mit sich herumträgt. Ob das so ist, sei dahingestellt, doch ist dieser Hinweis für Magnetträger auf jeden Fall hilfreich: "Aufgrund eines speziellen Sicherheitsmaterials ist der Mittelteil der Ein- und Zwei-Euro-Münzen leicht magnetisch, das heißt: Die Münzen werden von einem Magneten leicht angezogen und fallen bei leichtem Schütteln wieder vom Magneten ab."

Aber: "Der äußere Münzring der echten Ein- und Zwei-Euro-Münzen sowie der echten 10-, 20- und 50-Cent-Münzen ist nicht magnetisch", wissen die Fachleute und fügen hinzu: "Echte Ein-, Zwei- und Fünf-Cent-Münzen aus kupferbeschichtetem Stahl sind stark magnetisch." Doch neben einem Magneten sollte man auch einen Zettel einstecken, auf dem man sich alle physikalischen Parameter notiert. Dann wird man auch nicht übertölpelt, denn "die gefälschten Ein- und Zwei-Euro-Münzen sind entweder nicht magnetisch oder werden von einem Magneten stark angezogen. Häufig ist auch das Material des Münzrings magnetisch."

Item URL https://www.dw.com/de/gefälschte-euro-münzen-aus-spanien/a-68919225?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Euromünzen im Portemonnaie - wenn die mal alle echt sind ...
Image source Robin Utrecht/picture alliance
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Item 8
Id 68910921
Date 2024-04-25
Title Arabisches Filmfestival in Berlin fokussiert sich auf palästinensische Stimmen
Short title Arabisches Filmfestival mit Fokus auf Palästinenser
Teaser Angesichts der Auswirkungen des Krieges zwischen Israel und der Hamas auf den deutschen Kultursektor fürchten die Organisatoren des ALFILM-Festivals um die Zukunft ihrer Veranstaltung.
Short teaser Angesichts der Auswirkungen des Gaza-Kriegs auf Deutschlands Kultursektor fürchtet das ALFILM-Festival um seine Zukunft.
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"Um in Deutschland über Palästina zu sprechen, sollte man nicht mutig sein müssen", erklärten die Organisatoren des ALFILM (Arabisches Filmfestival Berlin) bereits bei der Veranstaltung 2023. Ein Jahr später, vor dem Hintergrund des Krieges in Gaza, ist es eine umso größere Herausforderung, ein Festival durchzuführen, das seinen Fokus auf palästinensische Stimmen legt. "Es fühlt sich eher wie eine unlösbare Aufgabe als ein Akt der Courage an," sagt Festivalchefin Pascale Fakhry. "Ehrlich gesagt fühlt es sich eigentlich wie Selbstmord an."

Das Team aber nimmt das Risiko auf sich. Das ALFILM-Festival fand zum ersten Mal 2009 statt und hat sich inzwischen, so Fakhry, als die "größte Plattform für arabische Kultur in Deutschland" etabliert. Es findet vom 24. bis zum 30. April 2024 in Berlin statt.

"Alle sind extrem nervös", so Fakhry im DW-Gespräch. Zu dieser angespannten Atmosphäre haben im Vorfeld des Festivals eine Reihe von Vorfällen beigetragen.

So berichtet Fakhry, dass sich die Polizei bei einem der Veranstaltungsorte über das Event erkundigte, bevor das Programm im Kino ausgehängt wurde. Nachdem sie gehört hatten, dass dort ein arabisches Filmfestival stattfinden sollte, unterstellten die Behörden, dass an einer Veranstaltung, von der sie nichts wussten, etwas Verdächtiges sein müsse, so Fakhry.

Als der Kinobetreiber die Polizei darüber aufklärte, dass fünf andere Berliner Veranstaltungsorte ebenfalls Teil des Filmfestivals sind, dass es seit 15 Jahren stattfindet und dass das gesamte Programm im Internet zu finden ist, sei die Polizei "extrem verlegen" gewesen, so die Festivalchefin.

Arabische Filmemacher haben Angst, nach Deutschland zu kommen

Viele internationale Nachrichtenmedien, darunter auch die "New York Times", haben darüber berichtet, dass der deutsche Kultursektor von Absagen und Verschiebungen von Veranstaltungen betroffen ist, bei denen Teilnehmer Palästinenser unterstützen oder sich antisemitisch im Bezug auf den Krieg zwischen Israel und der militant-islamistische Terrororganisation Hamas geäußert haben.

Antisemitismusvorfälle haben in Deutschland zugenommen, was die Alarmbereitschaft erhöht. In diesem Zusammenhang sind die deutschen Politiker gefordert, zu reagieren und eine strikte Linie gegen Antisemitismus zu ziehen, insbesondere in Anbetracht der historischen Verantwortung Deutschlands infolge der Verbrechen des Holocaust.

Bei den Berliner Internationalen Filmfestspielen im Februar 2024 sorgten einige Dankesreden für Aufruhr unter deutschen Politikern. Einer der Preisträger, der israelische Regisseur und Aktivist Yuval Abraham, sagte, dass er aufgrund der Medienberichterstattung, in der seine Rede als "antisemitisch" bezeichnet worden war, in seinem Heimatland Morddrohungen erhielt.

Fakhry weist darauf hin, dass in einem solchen Kontext viele der Gäste des ALFILM-Festivals "Angst haben, nach Deutschland zu kommen ... Ich meine, keiner von ihnen will in einen Konflikt geraten und des Antisemitismus beschuldigt werden."

Umstrittene Begriffe in Deutschland

Die Organisatoren des ALFILM-Festivals haben die internationalen Filmemacherinnen und Filmemacher im Vorfeld des Festivals gebrieft, um von vornherein einige Reizwörter zu vermeiden. "Aber wir haben ihnen auch gesagt, dass dies immer noch ein freier Raum ist und dass wir sie nicht zensieren werden", so Fakhry.

Umstrittene Begriffe wie "Völkermord", "Apartheid" und "Siedlerkolonialismus" im Zusammenhang mit israelischer Politik haben in Deutschland einen Aufschrei ausgelöst. Der Ausdruck "From the river to the sea" hat das deutsche Innenministerium unter Strafe gestellt. "Vom Fluss bis ans Meer wird Palästina frei sein" ist eine politische Parole der Palästinenser, die unter dem Verdacht steht, Israel das Existenzrecht abzusprechen.

Das zentrale Thema jedes ALFILM-Festivals ist eine Reaktion auf aktuelle Konflikte, und so lautet das diesjährige Motto: "Here is Elsewhere: Palästina im arabischen Kino und darüber hinaus". Laut Fakhry haben die Programmgestalter dieses Motto gegenüber ihren Geldgebern, die dem Team ihr Vertrauen schenken, transparent gemacht. So konnten sie sich in gewisser Weise "sicher fühlen".

Die Zukunft der Veranstaltung bleibt jedoch ungewiss, da die Berliner Landesregierung, die auch ALFILM finanziert, im Januar versucht hat, eine sogenannte Antidiskriminierungsklausel einzuführen. Danach darf niemand, der "antisemitische Äußerungen" getätigt hat, finanzielle Unterstützung von der Stadt erhalten.

Definition von Antisemitismus

Diese Klausel folgt der Definition von Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA). Die wird allerdings oft dafür kritisiert, dass sie als "antisemitisch" bezeichnet, was andere als legitime Kritik an Israel ansehen. Nach der IHRA-Definition ist "das Vergleichen zwischen der gegenwärtigen israelischen Politik und der Politik der Nazis" ebenso antisemitisch wie "das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z. B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen".

Auch wenn die umstrittene Klausel verworfen wurde, ist die Debatte in der deutschen Hauptstadt und im ganzen Land noch sehr präsent. "Wir sind uns sehr wohl bewusst, dass das, was wir tun, für viele politische und kulturelle Akteure in Deutschland nicht akzeptabel ist", sagt Fakhry, aber für das ALFILM-Team sei es "existenziell", eine unzensierte Plattform für den Dialog zu bieten.

"Jede palästinensische Geschichte ist politisch"

Das Festival wurde am Mittwoch (24. April 2024) mit dem Dokumentarfilm "Bye Bye Tiberias" von der französisch-palästinensisch-algerischen Filmemacherin Lina Soualem eröffnet. Dass sie den Film in Berlin präsentiert habe, habe sie nicht nervöser gemacht, als wenn er anderswo gezeigt worden wäre, sagte sie der DW. "Es ist immer schwer, über solche Dinge zu sprechen." Ihr Dokumentarfilm basiert auf der persönlichen Geschichte ihrer Familie. Diese "Lebenserfahrungen sind real und verdienen es, gezeigt zu werden", so Soualem.

Im Mittelpunkt von "Bye Bye Tiberias" stehen vier Generationen starker palästinensischer Frauen. In dem Film, der private Videos, Archivaufnahmen, Fotos und Familientreffen kombiniert, erfahren wir, dass Soualems Urgroßmutter ihre acht Kinder allein aufzog. Ihre Familie war 1948 während des Krieges, den die arabischen Staaten nach Gründung des Staates Israel begonnen hatten, aus ihrem Haus in Tiberias vertrieben worden. Die Flucht und Vertreibung hunderttausender Palästinenserinnen und Palästinenser aus dem ehemaligen britische Mandatsgebiet Palästina wird auf arabischer Seite als "Nakba", "Katastrophe", bezeichnet.

Eine weitere zentrale Figur in Soualems Dokumentarfilm ist ihre Mutter, die gefeierte palästinensische Schauspielerin Hiam Abbass. Sie verließ ihr Dorf Deir Hanna, um ihre Schauspielkarriere in Europa fortzusetzen - eine weitere Form des Exils, die sich auf die Identität ihrer Tochter auswirkte. Soualem wuchs in Frankreich auf und sehnte sich danach, ihre Herkunft besser zu verstehen.

Für Soualem führt die Erforschung intimer Beziehungen innerhalb einer palästinensischen Familie automatisch zur kollektiven Geschichte ihres Volkes: "Jede palästinensische Geschichte ist per se politisch", betont sie, da sie "nicht nur überlebten, sondern auch weiterlebten, nachdem sie massive Enteignungen und den Entzug ihrer Identität als Palästinenser erlebt hatten - was bei jedem Palästinenser der Fall ist, insbesondere seit 1948".

Die Geschichten der Ausgeschlossenen erzählen

Ihr Film wurde bereits vor den Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober, die zu den israelischen Vergeltungsschlägen im Gazastreifen führten, fertig gestellt. Er feierte im vergangenen September bei den Filmfestspielen in Venedig Premiere. Außerdem wurde er als palästinensischer Beitrag für die Oscar-Verleihung 2024 ausgewählt.

Doch schon vor und während der Dreharbeiten "gab es die Entmenschlichung der Palästinenser, die Beraubung ihrer Identität, die Unterdrückung. All das war bereits Realität", sagt die Regisseurin.

"Wir sprechen immer von den Palästinensern als Masse, als wären sie ein abstraktes Volk. Wir sprechen über Gaza als Abstraktion. Aber in Wirklichkeit geht es um Leben, es geht um Menschen." Und sie fügt hinzu: "Ich war motiviert, diesen Film zu machen, um den Palästinenserinnen und Palästinensern durch meine persönliche Geschichte Komplexität zurückzugeben, weil sie so entmenschlicht, so stigmatisiert wurden."

Soualems Dokumentarfilm spiegelt auch das diesjährige Motto des Arabischen Filmfestivals wider: "In einem Kontext, in dem Geschichten unsichtbar gemacht und marginalisiert werden, sind Bilder und das Erzählen von Geschichten von entscheidender Bedeutung. Denn wenn wir unsere Geschichten nicht erzählen, wird die Geschichte ohne uns geschrieben", betont sie. "Die Fähigkeit, unser Wissen zu teilen, ist auch eine Art zu überleben. Vor allem in einem Kontext, in dem Leben verschwinden, wird das Kino immer da sein, um an diese Menschen zu erinnern, deren Leben ausgelöscht werden."

Adaption aus dem Englischen: Silke Wünsch.

Item URL https://www.dw.com/de/arabisches-filmfestival-in-berlin-fokussiert-sich-auf-palästinensische-stimmen/a-68910921?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/68896441_302.jpg
Image source Frida Marzouk, Beall Productions
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Item 9
Id 68718806
Date 2024-04-25
Title Italien: Was man über Venedigs neuen Eintritt wissen sollte
Short title Italien: Was man über Venedigs neuen Eintritt wissen sollte
Teaser Die Stadt im Norden Italiens will den Massentourismus eindämmen. Ab 25. April müssen Tagesausflügler Eintritt für Venedig zahlen – nicht die einzige Maßnahme.
Short teaser Venedig will den Massentourismus eindämmen. Nun müssen Tagesausflügler Eintritt zahlen.
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Dass die neueste Initiative von Venedigs Stadtverwaltung die Probleme beseitigen wird, die der dortige Massentourismus mit sich bringt, glaubt Dr. Susanne Kunz-Saponaro nicht. Zunächst versuchsweise müssen Ausflügler, die die Stadt besuchen wollen, ohne dort über Nacht zu bleiben, jetzt eine Zugangsgebühr in Höhe von fünf Euro entrichten, erstmalig am 25. April. Im Laufe des Jahres soll das System, dessen Einführung in den vergangenen Jahren immer wieder verschoben worden war, dann noch an über zwanzig weiteren Tagen getestet werden. "Grundsätzlich ist es ja eine tolle Idee", findet Kunz-Saponaro, die in Venedig lebt und dort als Stadtführerin arbeitet. "So richtig durchdacht aber wirkt das alles nicht."

Es droht ein Bußgeld von bis zu 300 Euro

So gibt es eine lange Liste von Ausnahmen, die den Effekt verwässern dürften. Bewohner der gesamten Region Venetien etwa müssen die Gebühr nicht bezahlen. Außerdem sei völlig unklar, wie überhaupt kontrolliert werden soll, ob die Tagesausflügler sich auch wie vorgeschrieben einen der QR-Codes heruntergeladen haben (möglich ist das auf der Internetseite cda.veneziaunica.it). Laut Stadtverwaltung werden Kontrolleure unterwegs sein und Stichproben vornehmen. Wer die Gebühr nicht vorab bezahlt hat, riskiert ein Bußgeld in Höhe von bis zu 300 Euro, heißt es.

Was Kunz-Saponaro aber für besonders problematisch hält, ist die Tatsache, dass mit der Abgabe nicht auch gleich eine Beschränkung der Besucherzahl eingeführt wird. Täglich kämen im Schnitt etwa 80.000 Urlauber in die Altstadt, 70.000 davon wollen dort nur ein paar Stunden verbringen. Es sei erwiesen, dass diese vergleichsweise wenig Geld ausgeben, dafür aber erheblich zur Überfüllung beitragen. "Mir stehen die Haare zu Berge bei dem Gedanken an die Touristengruppen, die mal wieder die Gasse verstopfen, wenn ich da gerade mit meinen vollen Einkaufstüten vorbei muss", sagt sie. "Die Situation in Venedig ist grenzwertig."

Venedig will den Übernachtungstourismus fördern

Darum versucht die Stadtverwaltung seit geraumer Zeit, zumindest die ärgsten Auswüchse des Massentourismus zu bekämpfen. "Wir laden diejenigen, die unsere Stadt besuchen möchten, dazu ein, Venedig langsam zu erleben und sich in die Stadt einzufühlen", sagt Tourismusdezernent Simone Venturini. Das aber sei nicht in drei Stunden möglich. "Man muss sich die richtige Zeit nehmen." Die Zugangsgebühr werde nun eingeführt, um den Übernachtungstourismus zu fördern. Man sei damit weltweit Vorreiter und werde gewiss noch Anpassungen vornehmen, wenn erste Erfahrungswerte vorliegen.

Bürgermeister Luigi Brugnaro derweil betonte kürzlich im Interview mit der Tageszeitung Corriere della Sera, dass die Stadt auch weiterhin offen zugänglich bleibe und es keine Obergrenze für Tagesausflügler geben solle. Möglicherweise werde die Zugangsgebühr eine psychologisch abschreckende Wirkung haben. "Die Stadt muss menschengerecht sein, sowohl für diejenigen, die in ihr leben, als auch für diejenigen, die sie besuchen", sagte Brugnaro. "An bestimmten Tagen mit besonders hohem Besucheraufkommen besteht die Gefahr, dass dies nicht der Fall ist." Fünf Millionen Touristen kamen vor der Pandemie jährlich in die Stadt. In diesem Jahr dürfte ein ähnlicher Wert erreicht werden.

Die Liste der Benimmregeln ist lang

Darunter waren zuletzt auch immer wieder solche Urlauber, die es am nötigen Respekt mangeln ließen, wie viele Bewohner und auch Politiker finden. Also verschärfte die Stadt in den vergangenen Jahren zunehmend die Vorschriften für Urlauber. Unter dem Motto "Enjoy Respect Venezia" gibt es einen ganzen Katalog der Benimmregeln (nachzulesen auf www.enjoyrespectvenezia.it). Verboten ist unter anderem, sich auf Brücken und Treppen niederzulassen, in die Kanäle zu springen, in Badekleidung durch die Stadt zu laufen, die Tauben zu füttern oder Müll auf den Boden zu werfen. Es drohen Geldbußen in Höhe von bis zu 500 Euro.

Über Zahlen, wie häufig Urlauber zur Kasse gebeten werden, verfüge man nicht, heißt es bei der Pressestelle der Stadtverwaltung. Geld einzunehmen sei jedenfalls nicht das Ziel, ebenso wenig wie bei der neuen Zugangsgebühr für Tagestouristen. Diese soll im ersten Jahr etwa 700.000 Euro in die Stadtkasse spülen. Das Geld werde für die Straßenreinigung und die Verbesserung des touristischen Angebots genutzt – wie auch die Einnahmen durch die Übernachtungssteuer. Diese müssen Urlauber, die in Venedig in einem Beherbergungsbetrieb absteigen, bereits seit 2011 zahlen. Die Abgabe beträgt je nach Hotelkategorie und Jahreszeit zwischen einem und fünf Euro pro Nacht. Im vergangenen Jahr kamen auf diese Weise 34 Millionen Euro zusammen.

Kleinere Gruppen bei Stadtführungen

Das aber ist noch nicht alles: Zum 1. August gelten nun auch neue Regeln für Stadtführungen. Unter anderem wird die Größe der Urlaubergruppen auf 25 Personen begrenzt. Außerdem soll verstärkt darauf geachtet werden, dass die Touristen den Fußgängerverkehr nicht behindern, während sie den Erläuterungen des Reiseführers lauschen. Für Kunz-Saponaro geht auch diese Neuregelung nicht weit genug, obwohl sie selbst davon betroffen ist. Das Limit sollte bei 20 Personen liegen. Sie selbst arbeitet vor allem mit kleineren Gruppen. "Der Tourismus ist natürlich wichtig für Venedig", sagt sie. Es könne aber auch nicht immer nur ums Geld gehen. "Die Leute, die hier in der Stadt leben, müssen auch mit dem Tourismus klarkommen."

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Image caption Die Stadt Venedig führt neue Regeln ein, um des Massentourismus' Herr zu werden.
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Item 10
Id 68910591
Date 2024-04-25
Title Automesse Peking: Letzte Chance für deutsche Hersteller?
Short title Automesse Peking: Letzte Chance für deutsche Hersteller?
Teaser In Peking startet die weltweit wichtigste Automesse. Denn China ist für viele Autohersteller der wichtigste Markt der Welt. Das gilt vor allem für Volkswagen. Größter Konkurrent dort sind: die Chinesen.
Short teaser China ist für viele Autohersteller der wichtigste Markt der Welt. Das gilt vor allem für Volkswagen.
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In keinem anderen Land werden so viele Elektroautos verkauft wie in China. Und in keinem anderen Land tobt derzeit ein vergleichbar erbitterter Preiskampf, um dabei die Nase vorn zu haben oder vorn zu halten. "Im April haben wir eine weitere Runde von Preissenkungen gesehen, der heftige Preiswettbewerb wird in den nächsten Jahren anhalten", sagte VW-Vorstandsmitglied Ralf Brandstätter vor der am Donnerstag beginnenden Automesse in Peking.

Dabei will sich Volkswagen laut Brandstätter in den kommenden beiden Jahren auf den anhaltenden Preiswettbewerb vorbereiten – und das Geschäft mit seinen E-Autos mit den nach wie vor gut laufenden Verkäufen von Verbrenner-Autos finanzieren. Das bedeute für Volkswagen allerdings auch zwei schwere Jahre. Dem stimmt der unabhängige Auto-Analyst Jürgen Pieper zu. "Der Volkswagen-Konzern steht in China gewaltig unter Druck und wird sich diesem sehr harten Preiswettbewerb stellen müssen. In rund zwei Jahren sollte man die Kurve kriegen. Aber das ist im Moment mehr Hoffnung als fester Glaube."

BYD verkauft in China mehr Autos als VW

China ist der wichtigste Absatzmarkt der deutschen Autohersteller Volkswagen, Mercedes und BMW. Ein Absatzmarkt, den sie in der Vergangenheit mit ihren Verbrennern dominiert haben. Chinesische Hersteller konnten nie mit der historisch langen Tradition und der ausgereiften filigranen Technik von Autos "Made in Germany" mithalten. Nur sieht die Sache bei E-Autos nun anders aus. So hat etwa BYD Volkswagen als den Konzern, der im Reich der Mitte die meisten Autos verkauft, abgelöst.

BYD steht für "Build Your Dreams". Erwachsen sind die Träume auf der grünen Wiese der E-Mobilität. Ausgemalt und vergrößert wurden die Träume auch mithilfe staatlicher Subventionen. Doch mit mindestens ebenso viel Erfindergeist haben sich die Träume mittlerweile tatsächlich auf Chinas Straßen materialisiert. Softwareentwicklung und Technik treffen offenbar den Geschmack: BYD hat mittlerweile einen Marktanteil von 25 Prozent bei Elektroautos. Zum Vergleich: Der E-Auto-Pionier Tesla bringt es auf knapp 12 Prozent, Volkswagen bringt es nicht einmal mehr auf fünf Prozent. Und BYD hat technologisch mit seinen Batterien einen deutlichen Vorsprung.

Dabei ist diese Entwicklung in ihrer Brisanz kaum zu unterschätzen. Denn bereits in diesem Jahr erwartet man in China, dass der Anteil von E-Autos an allen verkauften Fahrzeugen bei rund 40 Prozent liegen wird. Im kommenden Jahr soll jedes zweite Auto, das in China verkauft wird, bereits ein Stromer sein.

Schwache Nachfrage nach E-Autos weltweit

Nicht nur für deutsche Autohersteller kommt erschwerend hinzu, dass in jüngster Zeit auch der vorher boomende Automarkt in China an Fahrt verloren hat. Dabei treffen die Auswirkungen dieser Entwicklungen die deutschen Hersteller unterschiedlich. Während Volkswagen derzeit am meisten zu kämpfen hat, sind Hersteller wie BMW oder Mercedes weniger betroffen. Sie sind eher im Markt für hochpreisige Modelle unterwegs - und da können sie, soweit abzusehen, mit anderen Herstellern mithalten.

Beim E-Auto-Pionier Tesla warten dagegen mittlerweile viele produzierte Autos auf den Höfen auf Kaufinteressenten. Die vergleichsweise schwache Nachfrage in China und die Konkurrenz chinesischer Autobauer, die auch preiswertere Modelle in ihrem Angebot haben, führt zu Rabattschlachten bei den Herstellern, was die Margen stark eingrenzt.

Dabei schwächelt aber auch in Deutschland der Verkauf von Elektroautos. Im Nachgang der hohen Inflation halten sich Verbraucher mit dem Kauf von Neuwagen zurück, die Ladeinfrastruktur ist gelinde gesagt lückenhaft und dann sind E-Autos im Vergleich zu Verbrennern noch sehr teuer. Hinzu kommt die zuletzt schwächelnde Konjunktur, die die Nachfrage bremst und vergleichsweise hohe Zinsen, die die Finanzierung neuer Autos erschweren. Nach jüngsten Zahlen des Kraftfahrtbundesamtes (KBA) ist die Zahl an Neuzulassungen reiner Elektroautos im ersten Quartal dieses Jahres um mehr als 14 Prozent zurückgegangen.

Tesla und VW straffen Kosten

Auf den schleppenden Absatz seiner Fahrzeuge hat Tesla in den vergangenen Tagen reagiert: Sein exzentrischer Chef Elon Musk hat angekündigt, weltweit jede zehnte Stelle im Konzern abbauen zu wollen. Am Vorabend der Automesse in Peking hat Tesla den ersten Umsatzrückgang in einem Quartal seit vier Jahren ausgewiesen. Die Gewinne haben sich halbiert. Auch die Auslieferungen an neuen Fahrzeugen lagen im ersten Quartal dieses Jahres um knapp neun Prozent unter dem Vorjahr. Am vergangenen Wochenende hatte Tesla nochmals die Preise für einige seiner Modelle gesenkt.

Auch in Wolfsburg sieht man Handlungsbedarf im Unternehmen. So hat Volkswagen vor wenigen Tagen eine interne Mitteilung verschickt und angekündigt, die Personalkosten in der Verwaltung um 20 Prozent senken zu wollen. Erreichen will man das etwa durch eine Ausweitung von Altersteilzeit oder Abfindungen für jüngere Beschäftigte in der Verwaltung.

Die Neuordnung des Automarktes nimmt weiter Fahrt auf. Nächster Stopp: Die Automesse in Peking.

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Image caption Auftakt zur Automesse Peking 2024, hier bei Volkswagen
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Item 11
Id 68913614
Date 2024-04-25
Title Proteste in Argentinien: Wie angezählt ist Präsident Milei?
Short title Proteste in Argentinien: Wie angezählt ist Präsident Milei?
Teaser Hunderttausende haben gegen den radikalen Sparkurs von Javier Milei protestiert. Der ultraliberale Präsident will Argentiniens Haushalt um jeden Preis sanieren. Beim Bildungssektor hat er womöglich den Bogen überspannt.
Short teaser Präsident Milei will Argentiniens Haushalt radikal sanieren. Beim Bildungssektor hat er womöglich den Bogen überspannt.
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Die Motorsäge ist das Symbol seiner Politik: Präsident Javier Milei will den argentinischen Staat und seine Ausgaben auf ein Minimum zurechtstutzen. Mit dieser Devise war er in den Wahlkampf gezogen, so hat er die Wahl im November 2023 gewonnen, und so verfährt er nun auch.

Nach 15 Jahren defizitärer Haushaltspolitik und drei Staatspleiten in 25 Jahren hat sich die argentinische Wählerschaft mehrheitlich auf die offen angekündigte Rosskur eingelassen. Doch nun scheint der Rückhalt zu bröckeln. Am Dienstag sind in Argentinien landesweit Hunderttausende auf die Straße gegangen, um gegen die radikale Sparpolitik zu protestieren.

Historische Massendemonstrationen

Allein in der argentinischen Hauptstadt versammelten sich nach Polizeiangaben rund 100.000 Demonstranten, die Universität von Buenos Aires sprach von mehr als 500.000. Die tatsächliche Zahl dürfte wie so oft in der Mitte liegen.

Hinzu kamen Kundgebungen in vielen weiteren Universitätsstädten verstreut über das ganze Land, darunter Tucuman, Cordoba, Corrientes und Ushuaia. Sogar vor dem argentinischen Konsulat in Barcelona (Spanien) solidarisierten sich Menschen mit den Demonstranten auf der anderen Seite des Atlantiks. Einige Medien zählen die Proteste zu den größten seit 20 Jahren.

Ein Warnschuss für Milei

Proteste gegen die Regierung von Javier Milei gibt es praktisch seit Beginn seiner Amtszeit Anfang Dezember. Viele davon seien "bedeutende Demonstrationen" gewesen, sagt Facundo Cruz, Politologe von der Universität Buenos Aires: "Aber sie gingen alle von bestimmten politischen Sektoren aus."

Im Januar etwa rief die größte Gewerkschaft des Landes CGT einen Generalstreik aus. Die CGT ist eng mit der peronistischen "Unión por la Patria" (Einheit für das Vaterland) verbunden. Die größte Oppositionspartei hat unter anderem mit Cristina Fernandez de Kirchner an der Spitze in den letzten 20 Jahren Argentiniens Politik dominiert.

In dieser Woche aber, sagt Cruz, sei es anders gewesen: "Diese Demonstration war sektorübergreifend. In vielen Landesteilen waren sogar Menschen dabei, die die Regierung gewählt haben und sich in Umfragen weiterhin für sie aussprechen würden."

Streit um die Hochschulfinanzierung

Maßgeblich für die Beteiligung über das gesamte politische Spektrum hinweg, sagt Cruz, sei der Grund für den Protest: Die Regierung hatte das Budget der öffentlichen Universitäten nominal auf dem Vorjahresniveau belassen. Nach einer Inflation von 280 Prozent in den vergangenen zwölf Monaten bedeutet dies eine reale Kürzung von rund 65 Prozent.

"Für die argentinische Gesellschaft unterschied sich Argentinien vom Rest Lateinamerikas immer dadurch, dass die kostenlose öffentliche Bildung ein Garant der sozialen Mobilität war", erklärt die argentinische Politologin Mariana Llanos vom Hamburger GIGA Institut für Lateinamerika-Studien. "Die Argentinier können sich mit vielen Einschnitten arrangieren, aber die Bildung ist ein sehr sensibles Thema." Milei habe sich mit diesen drastischen Einsparungen ein Eigentor geschossen.

Wie beliebt ist Milei nach fünf Monaten im Amt?

Dass viele Argentinier, wie Llanos sagt, zu Opfern bereit seien, um Staatshaushalt und Wirtschaft wieder auf sichere Füße zu stellen, zeige sich auch in Mileis Zustimmungswerten: Selbst nach massiven Einschnitten und einer Entlassungswelle im öffentlichen Dienst sprechen sich weiterhin rund 50 Prozent der Argentinier für den ultraliberalen Reformkurs der Regierung aus.

Allerdings drückt nahezu die ganze übrige Hälfte auch ihre Ablehnung aus. Unschlüssig gegenüber Milei haben sich in Umfragen selten mehr als fünf Prozent der Befragten geäußert. Ein deutliches Zeichen für die Spaltung der argentinischen Gesellschaft, sagt Politologe Cruz.

Historisch fragil ist Mileis Position in der Legislative: Von den 329 Sitzen im argentinischen Kongress hat Mileis Partei "La Libertad Avanza" (Die Freiheit kommt voran) gerade einmal 45 inne (14 Prozent). Die Opposition sei geteilt, sagt Politologin Llanos. Mit der einen Hälfte könne Milei verhandeln, mit der anderen nicht.

Kann sich Milei im Amt halten?

Auch deshalb spekulieren Beobachter seit seiner Amtsübernahme darüber, wie lange sich der unkonventionelle Politiker wohl im Amt halten wird. Facundo Cruz sieht derzeit allerdings niemanden, die bereit und in der Position wäre, Mileis schwieriges Erbe anzutreten. Der amtierende Präsident hat eine grassierende Inflation und hohe Arbeitslosigkeit von seinen Vorgängern geerbt. Zudem gebe es in der Opposition keinen Konsens über einen politischen Gegenvorschlag, so Cruz. Solange die Zustimmung für ihn in der Bevölkerung so hoch bleibe wie bisher, sehe er daher nicht, dass Milei demnächst aus dem Amt gejagt werden könne.

Ähnlich schätzt Brian Winter, Chefredakteur des US-Politikmagazins "America's Quarterly", die aktuelle Situation ein. Er gibt aber zu bedenken: "Ein Präsident der kein Peronist ist, kann sich nie sicher sein. Insbesondere, wenn er den Haushalt derart zusammenkürzt." Bei den Protesten vom 23. April sei es allerdings nicht um Mileis grundsätzlichen Kurs gegangen, so Winter, sondern darum, wo gekürzt werden soll. Und wo eben nicht.

Für Mariana Llanos sind die drastischen Einsparungen im Bildungssektor ein großer und vor allem vermeidbarer politischer Fehler, der einen Wendepunkt markieren könnte: "Milei ist ein intelligenter Mann. Vielleicht wird er den Fehler auf irgendeine Weise korrigieren."

Item URL https://www.dw.com/de/proteste-in-argentinien-wie-angezählt-ist-präsident-milei/a-68913614?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Proteste gegen Einsparungen an den Universitäten: Demonstrationen gab es im ganzen Land. Allein hier in der Hauptstadt Buenos Aires sollen es mehrere Hunderttausend Teilnehmer gewesen sein
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Item 12
Id 68913937
Date 2024-04-24
Title Steinmeier in der Türkei: Am Ende ein Lächeln mit Erdogan
Short title Steinmeier in der Türkei: Am Ende ein Lächeln mit Erdogan
Teaser Das Fazit der Türkei-Reise von Deutschlands Bundespräsident Steinmeier fällt positiv aus. Es gab keinen öffentlichen Dissens mit Präsident Erdogan. Beide wollten die unterkühlten Beziehungen wieder erwärmen.
Short teaser Das Fazit des dreitägigen Besuchs des deutschen Bundespräsidenten fällt positiv aus. Es gab keinen öffentlichen Dissens.
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Am dritten und letzten Tag des Türkei-Besuchs von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier lag der Fokus auf dem Treffen der beiden Präsidenten. Die Journalistinnen und Journalisten warteten mehr als zwei Stunden, bis Steinmeier und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan zur Pressekonferenz erschienen. Beide traten mit einem Lächeln vor die Kameras. Von einem - durchaus möglichen - Eklat war nichts zu spüren. Sichtlich entspannt scheinen die Konsultationen vonstatten gegangen zu sein. Was war passiert? Keine kontroversen Diskussionen zu Gaza? Keine Einordnung der Hamas? Kein Fingerzeig, was die Deutsche Staatsräson angeht?

Erdogan: "Der Krieg im Nahen Osten muss beendet werden"

In seinem Statement wurde Erdogan deutlich: "Der israelische Ministerpräsident verlängert den Krieg in Gaza, um politisch am Leben zu bleiben. Das Leid der Palästinenser muss beendet werden." In der Vergangenheit hatte der türkische Staatschef den israelischen Premier Benjamin Netanjahu schon oft beschimpft, ihm sogar Nazi-Methoden unterstellt. Auf meine Frage, weshalb die Türkei trotz allem noch immer intensive wirtschaftliche Beziehungen mit Israel unterhalte, antwortete Erdogan einsilbig: "Das ist vorbei!"

Türkische Kolleginnen und Kollegen sagten mir später: "Er lügt, ohne rot zu werden." Erdogan könne gar nicht auf den Wirtschaftspartner Israel verzichten. Seine Worte sollten nur die Bevölkerung in der Türkei besänftigen.

Steinmeier: "Wir müssen gemeinsam humanitäre Hilfe leisten"

Bei Steinmeiers Rede zeigten sich dann doch die Unterschiede in den Positionen zum Nahost-Konflikt. Erdogan sprach nur das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen an und wiederholte mehrfach die Zahl der Toten und Verletzten Palästinenser. Der deutsche Gast hingegen machte deutlich, dass die militant-islamistische Hamas am 7. Oktober den Krieg begonnen hat. Die Palästineserorganisation Hamas wird von Israel, Deutschland, der Europäischen Union, der USA und einigen arabischen Staaten als Terrororganisation eingestuft.

Doch Steinmeier betonte auch, dass die humanitäre Unterstützung der leidenden palästinensischen Bevölkerung nur gemeinsam mit der Türkei und Erdogan erfolgen könne. Bereits zum Auftakt hatte er vom "Ernst" seiner Reise gesprochen, und dass bei Erdogan "alle Themen auf den Tisch" kommen müssten. Wie kontrovers diese Themen diskutiert wurden, wird ein diplomatisches Geheimnis bleiben.

Onay: "Wir haben die ersten Samen gesät"

Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay, der zur Delegation des Bundespräsidenten gehörte, zieht ein positives Reisefazit: "Ich denke, wir haben kleine Schritte gemacht, um die seit sehr langer Zeit belasteten Beziehungen unserer Länder zu verbessern. Wir haben die ersten Samen säen können, um eine deutsch-türkische Freundschaft, wie sie einmal war, ernten zu können."

Die CDU-Bundestagsabgeordnete Serap Güler spricht ebenfalls von einer erfolgreichen Reise - und verweist dabei auf die Gespräche mit Vertretern der Zivilgesellschaft und Oppositionspolitikern in Istanbul und Ankara. Auch der Austausch zwischen Erdogan und Steinmeier sei eine gute Basis, so Güler: "Erdogan war erstaunlicherweise sehr mild." Dies habe wohlmöglich viel mit der Person Steinmeier zu tun.

Lindner: "Hoffnung für die türkische Wirtschaft"

Bundesfinanzminister Christian Lindner wertet die Reise ebenfalls als Erfolg. Unter anderem traf der FDP-Politiker mit seinem türkischen Kollegen Mehmet Simsek zusammen und bei einer Fahrt über den Bosporus mit Vertretern deutscher Unternehmen (Bosch, Siemens, DHL, Mercedes), die in der Türkei aktiv sind: "Wenn sich die türkische Wirtschafts- und Finanzpolitik mittelfristig erholt, werden die Ergebnisse auch einen Einfluss auf deutsche Unternehmer haben, die dann wieder in eine starke Türkei investieren werden", sagte Lindner der DW. Die Aussagen von Simsek weckten Hoffnungen für die türkische Wirtschaft, denn die angekündigten Bemühungen der türkischen Regierung seien vielversprechend.

300 Millionen Euro Kredit für Erdbebengebiet

Zu erwähnen bleibt noch der Tagesbesuch der vom Erdbeben schwer zerstörten südostanatolischen Provinzhauptstadt Gaziantep und der sich in der Nähe befindenden Stadt Nurdagi. Mehrere 10.000 Menschen verloren dort im Februar 2023 ihre Familien, ihre Häuser, ihre Existenzen. Seit mehr als 14 Monaten hausen Überlebende wie Ahmet Atilgan in einem engen Containerdorf. Für ihn sei das Wichtigste, sagt Atilgan, dass er am Leben sei und hoffentlich bald eine Wohnung beziehen könne.

Auch der 90-jährige Abdullah Kapi dankt Gott, dass er noch lebt. Auf eine neue Wohnung müsse er aber noch warten, erzählt er mit zittriger Stimme. Die AKP-Bürgermeisterin von Gaziantep, Fatma Sahin, verkündete, dass mehr als 300 Wohnungen bereits an Mieter und Eigentümer übergeben worden seien. Weitere 2000 sollten binnen Jahresende fertig werden - so Gott will, so wie Abdullah Kapi sagt.

Für weitere Unterstützung der türkischen Regierung, wie etwa zum Wiederaufbau von Bildungseinrichtungen, hat die Bundesregierung einen "ungebundenen Finanzkredit in Höhe von 300 Millionen Euro" bereitgestellt. Ungebunden bedeutet, dass er rein politisch ist. Das Geld wurde, nach Aussage von Beteiligten, bereits vor den Präsidentschaftswahlen in der Türkei im vergangen Jahr in Aussicht gestellt. Am Ende sind Freunde eben doch Freunde.

Item URL https://www.dw.com/de/steinmeier-in-der-türkei-am-ende-ein-lächeln-mit-erdogan/a-68913937?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (l.) und der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan in Ankara.
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Item 13
Id 68865611
Date 2024-04-24
Title 50 Jahre nach der Nelkenrevolution in Portugal: Afrika gehört zur Staatsräson
Short title Nelkenrevolution in Portugal: Afrika gehört zur Staatsräson
Teaser Die Nelkenrevolution war ein Wendepunkt in der Geschichte Portugals und seiner ehemaligen Kolonien. 50 Jahre danach sind vor allem die kulturellen Beziehungen und Begegnungen in den lusophonen Ländern intensiver denn je.
Short teaser Die Nelkenrevolution am 25. April 1974 markierte einen Wendepunkt in der Geschichte Portugals und seiner Kolonien.
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Sie wurde von einer linken "Bewegung der Streitkräfte" angeführt und von der großen Bevölkerungsmehrheit Portugals unterstützt: Die Nelkenrevolution beendete nicht nur die fast 50 Jahre währende Diktatur der Machthaber Salazar und Caetano - sie ebnete auch den Weg für das Ende der portugiesischen Kolonialkriege und die Unabhängigkeit von Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, Kap Verde und São Tomé und Príncipe. Die fünf lusophonen Länder Afrikas blicken in diesem Jahr mit besonderem Interesse auf Lissabon, wo am 25. April 2024 der 50. Jahrestag der Nelkenrevolution gemeinsam begangen werden soll.

Angola: Nelkenrevolution ermöglichte Verhandlungen

"In Angola erweckt die Nelkenrevolution positive Gefühle", sagt der Analyst Nkikinamo Tussamba, der selbst 13 Jahre später in der nordangolanischen Provinz Zaire geboren wurde. Für ihn ist klar: "Die portugiesische Revolution hat den Unabhängigkeitsprozess unseres Landes maßgeblich beeinflusst. Dank ihr konnte die Unabhängigkeit unseres Landes bereits anderthalb Jahre später - am 11. November 1975 - proklamiert werden."

Tatsächlich wurden im Zuge des Regimewechsels in Lissabon direkte Verhandlungen zwischen der portugiesischen Regierung und den Unabhängigkeitsbewegungen in Angola aufgenommen. Im Januar 1975 unterschrieb die Regierung Portugals im südportugiesischen Algarvestädtchen Alvor Unabhängigkeitsabkommen mit den drei Befreiungsorganisationen Angolas MPLA, UNITA und FNLA.

Mosambik: Abkommen mit Portugal kurz nach der Nelkenrevolution

Auch für Mosambik war der 25. April ein Meilenstein, bestätigt der Journalist Fernando Lima: "Die Nelkenrevolution war ausschlaggebend dafür, dass die Befreiungsfront FRELIMO im September 1974 in Lusaka ein Unabhängigkeitsabkommen mit Portugal unterschreiben konnte." Als in Mosambik geborener Sohn portugiesischer Siedler entschied sich Lima nach der Unabhängigkeit für die mosambikanische Staatsangehörigkeit, also dafür, "als Afrikaner in Afrika" zu bleiben.

Anders Fernando Cardoso, Professor für Internationale Beziehungen und Geopolitik an der Autonomen Universität Lissabon: Er wuchs zu Kolonialzeiten ebenfalls in Mosambik auf, siedelte aber kurz nach der Unabhängigkeit mit seinen Eltern nach Lissabon über. Als Erwachsener reiste er dann als Dozent und Leiter von mehreren Forschungsprojekten nach Mosambik, Angola und Kap Verde.

Wachsender Druck auf die Kolonialmacht Portugal

Die Nelkenrevolution habe die Dekolonisierung "ohne Zweifel" beschleunigt, sagt Cardoso. Aber: "Die Unabhängigkeit der portugiesischen Kolonien wäre auch ohne die Nelkenrevolution in Portugal früher oder später eingetreten." Das portugiesische Kolonialimperium sei in den 1970-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts international als "großer Anachronismus" angesehen worden.

Die internationale Gemeinschaft habe damals enormen diplomatischen Druck auf Portugal, die "erste und letzte Kolonialmacht in Afrika", ausgeübt: Praktisch die gesamten Vereinten Nationen (UN) hätten Portugal in mehreren Resolutionen aufgefordert, seine Kolonien in die Unabhängigkeit zu entlassen, so der Politikwissenschaftler.

Auch der militärische Druck auf Portugal wurde erhöht: Angolas Befreiungsorganisationen MPLA, UNITA und FNLA bekamen immer größere Waffenlieferungen und militärische Ausbildung aus der Sowjetunion und anderen Ländern des Ostblocks, aber auch aus China. Vor allem im ländlichen Raum konnten sie so Druck auf die Kolonialmacht ausüben.

In Mosambik rückten die Kämpfer der Befreiungsbewegung FRELIMO immer weiter vom Norden in Richtung Mitte des Landes vor. Es galt nur als eine Frage der Zeit, bis die portugiesische Kolonialarmee die Kontrolle über weite Gebiete des Landes verlieren würde.

Allein was mit São Tomé und Príncipe und den Kapverdischen Inseln ohne die Nelkenrevolution geschehen wäre, ist nach Meinung von Cardoso nicht ganz klar: "In beiden Archipelen gab es keine bewaffneten Befreiungsbewegungen, wohl aber laute Stimmen, die eine umfassende Autonomie oder gar die vollständige Unabhängigkeit der Inseln forderten."

Guinea-Bissau: tonangebend für Portugal und die Kolonien

In Guinea-Bissau war der Unabhängigkeitsprozess am weitesten vorangeschritten: In dem westafrikanischen Land hatte die Unabhängigkeitsbewegung unter Amílcar Cabral bereits am 25. September 1973 - also genau sieben Monate vor der Nelkenrevolution - einseitig die Unabhängigkeit von Portugal erklärt. Als die portugiesische Diktatur und damit das Kolonialregime zusammenbrachen, hatten bereits 34 UN-Mitgliedsstaaten Guinea-Bissau als unabhängigen Staat anerkannt. Militärisch hatte die portugiesische Armee längst die Kontrolle über weite Teile des Landes verloren.

"Wir Guineer wollen nicht unbescheiden sein, aber ich wage dennoch zu behaupten, dass wir einen wichtigen Beitrag zum Erfolg der Nelkenrevolution geleistet haben", sagt die Juristin und ehemalige Justizministerin Guinea-Bissaus, Carmelita Pires, im DW-Gespräch. "Durch unseren erfolgreichen Befreiungskrieg haben wir die Forderungen der portugiesischen Bevölkerung nach einem Ende der Kolonialzeit und des Krieges und nach Freiheit indirekt unterstützt." Und sie fügt hinzu: "Gleichzeitig haben wir dazu beigetragen, dass die anderen, von den Portugiesen kolonisierten Länder unserem Beispiel folgten. Wir waren damals echte Vorbilder für unsere Brüderländer, die ebenfalls gegen den Kolonialismus kämpften."

Beziehungen in der Lusophonie: "Nie besser als jetzt"

In den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit galten die Beziehungen zwischen den befreiten Staaten und der ehemaligen Kolonialmacht als schwierig. Ideologisch ging man getrennte Wege: Während sich Portugal der Europäischen Union zuwandte, begaben sich die fünf afrikanischen Staaten auf den Weg zum Sozialismus und errichteten mit Hilfe des Ostblocks marxistische Einparteiensysteme.

In den Anfangszeiten bezichtigten diese neuen Regime Lissabon immer wieder, Vertreter von Rebellenorganisationen, vor allem der mosambikanischen RENAMO und der angolanischen UNITA, die die marxistischen Regime in ihren Ländern bekämpften, bei sich aufzunehmen und diplomatisch zu unterstützen.

Die Missstimmung zwischen Portugal und den Ex-Kolonien habe aber nicht lange angehalten, betont die guineische Juristin Carmelita Pires: "Nach einer gewissen Übergangszeit haben wir Guineer uns erneut Portugal angenähert. Für uns war immer klar, dass unser Befreiungskampf gegen das portugiesische Kolonialsystem gerichtet war - und keinesfalls gegen das portugiesische Volk."

Familiäre und kulturelle Bande

Es seien vor allem familiäre Bande, die Menschen aus Guinea-Bissau und aus Portugal verbänden, so Carmelita Pires. Man dürfe nicht vergessen, dass Portugiesen und Bissau-Guineer über Jahrhunderte interagiert und untereinander geheiratet hätten. Sie selbst sei Nachfahrin eines einfachen portugiesischen Siedlers, der eine Frau aus der Fulani-Ethnie geheiratet und mit ihr eine Familie gegründet habe. "Viele Guineer tragen heute noch portugiesische Namen. Das unterscheidet uns von Völkern aus anderen - etwa anglophonen oder frankophonen - Kolonialsystemen."

Ähnlich sieht es der mosambikanische Schriftsteller Adelino Timóteo, dessen letzter Roman mit dem Titel "Das Jahr des Abschieds von Übersee" zur Zeit der Nelkenrevolution spielt: "Die Portugiesen haben im Vergleich zu anderen Kolonialmächten länger und intensiver mit den Völkern in den Kolonien zusammengelebt und sich ausgetauscht", sagt er der DW.

"Bei uns in Mosambik gab es schon immer enge Kontakte zwischen afrikanischen, europäischen und arabischen Kulturen, später kamen auch Inder und Chinesen aus den ehemaligen portugiesischen Kolonien in Asien dazu. Sie alle wurden bei uns integriert. Von diesem Erbe der portugiesischen Kolonialzeit sind wir immer noch beeinflusst und sind deshalb heute besser in der Lage, trotz aller Wunden der Vergangenheit, gute Beziehungen zu Portugal und den Portugiesen zu pflegen."

Gründung der Gemeinschaft portugiesischsprachiger Länder

"Nach der Nelkenrevolution stellten die Leute in Portugal bange Fragen: Was wird aus den Beziehungen Portugals zu Afrika?", erinnert sich André Thomashausen, Professor für Internationales Recht und Verfassungsrecht an der University of South Africa: "Ich war damals in Portugal und vertrat die dezidierte Meinung, dass das Land eine wichtige und besondere Rolle in Afrika spielen sollte, und dass Portugal das Potential habe, als Tor Afrikas nach Europa zu fungieren."

Und das sei auch gelungen, so Thomashausen. Alle ehemaligen Kolonien hätten Portugiesisch als Amtssprache übernommen und für viele junge Menschen, aber auch Geschäftsleute aus den ehemaligen Kolonien, sei Portugal heute tatsächlich das wichtigste Eingangstor nach Europa, betont der Verfassungsrechtler mit deutschen Wurzeln. Portugal habe es verstanden, sehr schnell eine enge Kooperation mit den lusophonen Ländern aufzubauen. Die Lusophonie gehöre für Portugal zur "Staatsräson".

1996 habe man deshalb die CPLP gegründet: die Gemeinschaft der portugiesischsprachigen Länder, die alle neun Staaten der Welt umfasst, in denen Portugiesisch Amtssprache ist. Thomashausen: "Die CPLP ist heute wichtiger und funktioniert besser als die Frankophonie der Franzosen. Die portugiesische Diplomatie hat Hervorragendes geleistet."

Wirtschaftliche oder zwischenmenschliche Beziehungen?

Die Beziehungen zu allen ehemaligen Kolonien seien auf allen Ebenen gut. Auf Regierungsebene, im kulturellen und im Ausbildungsbereich. Und auch wirtschaftlich seien die lusophonen Länder Afrikas sehr eng mit Portugal verquickt, fügt Thomashausen hinzu.

Fernando Cardoso von der Autonomen Universität Lissabon bestätigt, dass sich Portugals wirtschaftliche Beziehungen zu den ehemaligen Kolonien gut entwickelt hätten: "Von viel größerer Bedeutung als der Handelsaustausch ist für die Portugiesen aber die historische und emotionale Dimension: In Portugal ist man davon überzeugt, dass eine privilegierte kulturelle und politische Partnerschaft mit den portugiesischsprachigen Ländern unabdingbar ist. Das war auch die Hauptmotivation für der Gründung der CPLP."

Portugal habe viel unternommen, um die negativen Seiten der gemeinsamen Geschichte zu verarbeiten und gleichzeitig die positiven Seiten der historischen Verbindungen hervorzuheben, so Cardoso: "Die positiven Aspekte beruhen vor allem auf der gemeinsamen Sprache. Wenn sich São-Tomeser, Kapverder, Angolaner oder Portugiesen im Ausland treffen, dann unterhalten sie sich selbstverständlich auf Portugiesisch und verbrüdern sich."

Das heiße nicht, dass die jeweiligen Regierungen immer im Einklang seien. Ein Beispiel für konträre Positionen in internationalen Fragen sei die Positionierung bezüglich des Krieges zwischen Russland und der Ukraine. "Die Trennlinien in der Ukrainefrage verlaufen quer durch die portugiesischsprachigen Länder. Einige der Länder Afrikas haben sich bei den Abstimmungen in der UNO über die Verurteilung des russischen Angriffskrieges der Stimme enthalten, im Gegensatz zu Portugal", so Cardoso.

Bei allen Auseinandersetzungen, die immer wieder auf Regierungsebene in Erscheinung treten: Die Begegnungen zwischen den Menschen in den verschiedenen lusophonen Ländern nehmen stetig zu. "Die Leute treten gemeinsam auf, nehmen gemeinsam Schallplatten auf, sie organisieren gemeinsame Feste und Konzerte oder Sportveranstaltungen, oder sie geben gemeinsam Bücher über transnationale Themen heraus", fasst Fernando Cardoso zusammen. "Vor 50 Jahren, in den Wirren der Nelkenrevolution, hätte ich nicht zu träumen gewagt, dass sich die Begegnungen - sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht - so gut entwickeln."

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Image caption Jedes Jahr feiert man in Portugal den 25. April, den Tag der Nelkenrevolution, als Tag der Freiheit für Portugal und die Ex-Kolonien
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Item 14
Id 68903346
Date 2024-04-24
Title Görlach Global: Chinesische Spionage weltweit
Short title Görlach Global: Chinesische Spionage weltweit
Teaser Drei Personen wurden in Deutschland verhaftet, weil sie für die Volksrepublik spioniert haben sollen. Das wirft die Frage auf, wie erfolgreich Chinas Geheimdienste sind.
Short teaser In Deutschland wurden drei mutmaßliche Spione aus China enttarnt. Wie erfolgreich sind Pekings Geheimdienste?
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Die Enttarnung der mutmaßlichen chinesischen Agentinnen und Agenten in Deutschland kommt kurz nach einem Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz im Reich der Mitte, in dem auch über die Wahrung von Geschäftsgeheimnissen deutscher Unternehmen gesprochen wurde. Im März noch hatte der Nationale Volkskongress Chinas - eine Versammlung von Parteikadern - neuen Gesetzen zugestimmt, die ausländische Unternehmen zur Offenlegung sensibler Daten zwingen. Diese Zwangsmaßnahmen im Inland passen zur Wirtschaftsspionage im Ausland.

Ein Blick weg von Deutschland verdeutlicht die Reichweite und Art der Spionage durch die Volksrepublik. Laut einer Studie des Thinktanks CSIS mit Sitz in Washington haben die Spionageaktivitäten seit der Machtübernahme durch den chinesischen Herrscher Xi Jinping im Jahr 2012 deutlich zugenommen. Chinesische Spionage dient seitdem primär strategischen politischen Zielen und weniger kommerziellen Motiven. In ihrem aktuellen Bericht sprechen die Autorinnen und Autoren von 224 bekannten chinesischen Spionagedelikten in den USA seit dem Jahr 2001 - von denen 69 Prozent nach Xis Amtsantritt gemeldet worden seien. Xi habe die Geheimdienste von vorne herein als Erfüllungsgehilfen seiner globalen Strategie gesehen und als solche auch aufgewertet und ausgestattet.

Hinter jedem Ausländer steckt ein potenzieller Spion

Innerhalb Chinas agieren die Geheimdienste mittlerweile in aller Öffentlichkeit und senden die Botschaft, dass hinter jedem Ausländer und jeder Ausländerin im Land ein potenzieller Spion des Westens stecke. Journalisten der britischen BBC fassen diesen Wandel so zusammen: "Unter Xi Jinping, dem autoritärsten Führer Chinas seit Jahrzehnten, hat der notorisch geheimnisvolle Spionagedienst des Landes sein öffentliches Profil drastisch erhöht und seinen Aufgabenbereich erweitert." Die Geheimdienststellen produzieren Propagandafilme, die überall im Land zu sehen sind.

Diese staatlich verordnete Paranoia kommt von der Spitze des Systems: Machthaber Xi hat sich, wie sein Partner und Freund Wladimir Putin auch, in den Jahren der Pandemie zurückgezogen und dabei radikalisiert.

Chinas Unverfrorenheit erfordert Reaktionen

Anders als andere Geheimdienste setzt Peking nicht auf über lange Zeit aufgebaute Kontakte, sondern auf Informanten, die sich für einige Zeit im Ausland aufhalten, als Studierende beispielsweise. So agierten die als Kultureinrichtungen getarnten, an Universitäten eingerichteten Konfuzius-Institute als Spionage-Einheiten für die Kommunistische Partei. Von dort aus wurden junge Chinesinnen und Chinesen unter Druck gesetzt, nicht schlecht über China zu reden. Anderenfalls würde man ihren Familien in der Volksrepublik etwas antun.

Das Vorgehen Pekings ist den Geheimdiensten in den USA und Deutschland nicht erst seit gestern bekannt. Bis vor wenigen Jahren schien es noch so, als würde man sich in der freien Welt mit dieser nicht unüblichen Spionage arrangieren. Erst angesichts von Chinas zunehmender Aggressivität und Unverfrorenheit haben viele Demokratien entschieden, ihre Abhängigkeiten von der Volksrepublik zu reduzieren und Zugänge zu sensiblen Technologien zu beschränken.

Ein Kanzler ohne geo-politisches Gewicht

Deutschland ist hier, bislang, eine traurige Ausnahme. Wie das Magazin Foreign Policy nach dem Besuch von Olaf Scholz in der Volksrepublik vergangene Woche schrieb, scheinen der "Kanzler und seine Sozialdemokraten, anders als die koalierenden Partner der Grünen und der FDP, ihre China-Politik ganz nach dem Willen deutscher Konzernzentralen auszurichten und nicht nach den Interessen der Bürger des Landes." Das machte das Magazin unter anderem daran fest, dass in der Regierungsdelegation mit den Ressorts Verkehr und Landwirtschaft explizit solche Ministerien vertreten gewesen seien, die Chinas desolate Menschenrechtssituation nicht ansprechen, sondern eher auf kommerzielle Interessen beider Länder zielen.

Eine politische Botschaft konnte der Bundeskanzler nicht platzieren. Er besitzt kein geo-politisches Gewicht, sondern muss im Auftrag der deutschen Wirtschaft um Zugänge auf den chinesischen Markt bitten. Solange es Xi Jinping gelingt, die Interessen der demokratischen Länder geschickt zu instrumentalisieren, werden die es nicht schaffen, mit konzertierten Aktionen gegen Pekings Spionage vorzugehen.

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Image caption Nicht nur gegen Deutschland: Chinas Spionageaktivitäten haben laut einer Studie im letzten Jahrzehnt deutlich zugenommen
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Item 15
Id 68911052
Date 2024-04-24
Title Nach Ukraine-Milliardenpaket: US-Nachschub rollt an
Short title Ukraine: US-Nachschub über Deutschland und Polen
Teaser Das Pentagon hatte seit Monaten Munitions-Pakete für die Ukraine bereits vorbereitet. Lieferungen über Polen und die Logistikzentren der US-Armee in Deutschland stehen bereit.
Short teaser Das Pentagon hat seit Monaten Munitions-Pakete für die Ukraine vorbereitet. Lieferungen in Europa stehen bereit.
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Jetzt soll alles schnell gehen: US-Munitionslieferungen werden über Polen und auch Deutschland und anderen Ländern Europas in die Ukraine gebracht. Das US-Verteidigungsministerium hat bereits in den vergangenen Monaten Vorbereitungen für den "Tag X" getroffen. Also der von der Ukraine seit Monaten erhofften positiven Entscheidung im US-Repräsentantenhaus über das neue Ukraine-Hilfspaket über 60 Milliarden US-Dollar (56 Milliarden Euro). An der Front in der Ost-Ukraine sind Kiews Truppen unter massivem russischem Artilleriebeschuss, den die ukrainischen Soldaten Mangels Munition kaum noch erwidern können.

"Ich denke, dass das Verteidigungsministerium in den letzten Wochen hart gearbeitet hat, um bereit zu sein", sagt der frühere Oberkommandierender der US-Landstreitkräfte für Europa, Ben Hodges, im DW-Interview. "Das heißt man hat von Seiten des Pentagon die Dinge schon verpackt, abfahrbereit verstaut in die richtigen Richtungen gebracht, so dass das jetzt ganz schnell geht, dass im Grunde sofort die Dinge über die Grenze können", sagt auch der deutsche Sicherheitsexperte Nico Lange im Gespräch mit der DW.

Dezentrale Logistik in der Ukraine

Ab der ukrainischen Grenze stehe dann ein ausgeklügeltes Transport-System bereit, um den Nachschub vor russischem Angriff aus der Luft zu schützen. Seit Beginn von Russlands Großinvasion vor zwei Jahren habe das Land eine "dezentrale Logistik" für die westlichen Rüstungsgüter aufgebaut, so Lange. "Der Nachschub wird nicht alles auf einen Zug geladen, damit der dann womöglich ein lukratives Ziel ist, sondern das wird verteilt auf unterschiedliche Züge, die häufig auch bei Nacht verkehren und dann an die entsprechenden Einsatzorte gebracht fahren." Der Ukraine steht mittlerweile auch eine Flotte von westlichen Schwerlasttransportern für den Weg über die Straße zur Verfügung. In der Ukraine herrscht Ausgangssperre in der Nacht – das macht es der Moskauer Ziel-Aufklärung, besonders mit Spionen am Boden, schwerer die Versorgungsrouten zu lokalisieren.

"Die russische Luftwaffe, die in Bezug auf Anzahl und Qualität der Flugzeuge einen enormen Vorteil hat, war bislang nicht in der Lage, auch nur einen einzigen Zug oder Konvoi zu zerstören, der Munition oder Ausrüstung von Rzeszow in Polen in die und durch die Ukraine brachte", sagt der frühere US-Generalleutnant Hodges.

Von Deutschland nach Rzeszow in Polen

Auf polnischer Seite der ukrainischen Grenze ist der Regionalflughafen der Kleinstadt Rzeszow im Südosten Polens das wichtigste Drehkreuz für die westlichen Hilfen. Er gehe davon aus, dass dort US-Flugzeuge aus Deutschland kommend landen, so Hodges. "Egal ob mit der Bahn oder mit C-17-Flugzeugen, die sie nach Polen fliegen und dann in Rzeszow absetzen" – die Logistik der US-Streitkräfte könne schnell handeln.

Für die US-Lieferungen in die Ukraine sei Deutschland das wichtigste Drehkreuz "aufgrund seiner geografischen Lage und auch wegen seiner ausgereiften Infrastruktur und schließlich wegen der fast 80-jährigen Präsenz der USA und der Zusammenarbeit mit unserem Gastland Deutschland", so Hodges.

Im Südwesten Deutschlands, im Bundesland Rheinland-Pfalz, befindet sich auch das größte Munitionslager der US-Streitkräfte außerhalb der USA. Das "Miesau Army Depot" liegt in unmittelbarer Nähe der größten US-Luftwaffenbasis in Europa in Ramstein.

ATACMS mit 300 Kilometer Reichweite

Teil des neuen Hilfspakets sollen erstmals auch Artilleriegeschosse vom Typ ATACMS mit einer Reichweite von 300 Kilometern sein, so Hodges. Das sei ihm von Gesprächspartnern in Washington versichert worden. Bislang hatte US-Präsident Biden die Waffe nur mit einer Reichweite von 150 Kilometern liefern lassen. Ähnlich wie Skalp oder Storm Shadow aus Frankreich und Großbritannien.

Mit dem neuen Nachschub könne die Ukraine gezielt Kommandostrukturen und Munitions- und Waffenlager der Russen angreifen, glaubt Hodges. Mehr noch als bislang: "Anstatt darauf zu warten, dass russische Raketen und Flugzeuge gestartet werden, und dann zu versuchen, sie abzufangen oder abzuschießen, ist es viel effektiver, wenn man den Ort zerstören kann, von dem aus diese Dinge kommen."

Vorarbeiten bis zur Kertsch-Brücke

"Wenn man sich die Lage im Süden anguckt, dann ist das unverändert so, dass die drei Zugänge zur Halbinsel Krim zu den wichtigsten militärischen Zielen gehören", sagt Nico Lange, der auch für die Münchner Sicherheitskonferenz arbeitet. Er gehe davon aus, dass die Ukraine in den nächsten Monaten versuchen werde immer mehr neuralgische Punkte der russischen Versorgung auf der Krim auszuschalten – bis hin zur wichtigsten Versorgungsroute, die Kertsch-Brücke, die Russland mit der Krim verbindet. "Es gibt eine ganze Reihe von Munitionstypen, die kann im Moment nur die USA liefern", so Lange. Vor allem weil das Hochfahren der Munitionsproduktion in Europa so lange dauere.

Das jetzt vom US-Senat freigegebene Hilfspaket erkaufe den Europäern vor allem Zeit, ist Christian Mölling überzeugt, der Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung beim deutschen Think Tank DGAP (Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik). Er denke, dass die neuerliche US-Hilfe in diesem Umfang "das Ende der Fahnenstange ist". Monatelang hatten die Unterstützer von US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump im US-Senat die Ukraine-Hilfe blockiert. "Die Amerikaner kaufen uns Zeit, dann muss die europäische Hilfe einsetzen", so Mölling zur DW. Europa müsse selbst aufrüsten – für sich in Anbetracht der Bedrohung durch Russland und für die Ukraine.

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Image caption Artillerienachschub auf dem Weg: An der Front in der Ost-Ukraine musste Kiews Artilleriegranaten seit November 2023 rationieren
Image source Libkos/AP Photo/picture alliance
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Item 16
Id 68902631
Date 2024-04-24
Title Was sind die Gründe für die Massenproteste in Kolumbien?
Short title Was sind die Gründe für die Massenproteste in Kolumbien?
Teaser Zu Hunderttausenden gingen Menschen in den großen Städten Kolumbiens auf die Straße, um gegen die linke Regierung von Gustavo Petro zu protestieren. Der Präsident verliert seine Basis - und die Gründe sind vielfältig.
Short teaser Hunderttausende protestieren in Kolumbien gegen die linke Regierung. Die Gründe für den Unmut sind vielfältig.
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Ob es 250.000 Protestierende gewesen waren oder sogar doppelt so viele, die gegen die Regierung von Präsident Gustavo Petro auf die Straße gingen - für Stefan Reith waren die Demonstrationen "zahlenmäßig massiv" und "gingen weit über das rechte Lager hinaus". Reith ist Leiter des Kolumbien-Büros der deutschen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), die der Christlich-Demokratischen Union nahe steht. "Viele Teilnehmer kamen aus der politischen Mitte und der Mittelschicht", erklärt er im DW-Gespräch. Der Protest sei "als Aufforderung der Bürger an die Regierung zu verstehen, zuzuhören, nachzudenken und den Diskurs und ihre Reformagenda zu mäßigen".

Die Demonstrationen vom Sonntag richteten sich unter anderem gegen die geplante Verstaatlichung des Gesundheitssektors. Aber auch Petros Bestrebungen eines "totalen Friedens" mit bewaffneten Guerillagruppen lehnen die Demonstranten ab.

Kolumbiens Sicherheitslage ist ein Problem

"Kolumbien ist ein Land, in dem Demonstrationen nicht ungewöhnlich sind, aber diese war eine der größten", sagte Gabriel Cifuentes, politischer Analyst und Co-Direktor der Beratungsfirma Greystone Consulting Group Latam. Nach Ansicht des Experten tragen Faktoren wie die "heikle Sicherheitslage, Friedensverhandlungen mit den zahlreichen bewaffneten Gruppen ohne sichtbare Ergebnisse und ein immer noch nicht eingelöstes Versprechen auf Veränderung" zur Unzufriedenheit bei.

"Die wachsende Unsicherheit im Kontext der Friedensverhandlungen" ist auch für Stefan Reith ein wichtiger Faktor. "Viele Menschen kritisieren, dass die Regierung in den Verhandlungen mit den verschiedenen bewaffneten Gruppen Zugeständnisse macht, ohne dass sich die illegalen Akteure wirklich zu etwas verpflichten."

Kolumbien litt 52 Jahre lang unter einem Bürgerkrieg zwischen linken Rebellen, rechten Paramilitärs und dem Militär. 220.000 Menschen kamen ums Leben, Millionen wurden vertrieben. Zwar hat sich die Sicherheitslage nach dem Friedensabkommen zwischen der Regierung und der FARC-Guerilla verbessert, allerdings werden noch immer Teile des südamerikanischen Landes von illegalen Gruppen kontrolliert.

Vielen in Kolumbien gehen die Reformpläne zu weit

Der Analyst Cifuentes betont im DW-Gespräch zudem die allgemeine Unzufriedenheit mit den Reformplänen des Präsidenten. Er sagt, die Vorschläge der Regierung würden "heikle Themen wie das Gesundheitswesen berühren, und das in einem Land, in dem das System zwar Mängel aufwies, aber mehr oder weniger gut funktionierte".

Allzu optimistische Versprechungen hätten Erwartungen geweckt, die nicht erfüllt wurden und zu großen Frustrationen führten. So sei die Klientelpolitik immer noch allgegenwärtig, die wirtschaftliche Situation praktisch unverändert und die öffentliche Ordnung habe sich nicht verbessert, sagt Cifuentes. "Es hat den Anschein, als sei der Wandel eher eine narrative Strategie als eine Tatsache."

Dies würde den Rückgang der Umfragewerte für die Regierung und insbesondere für Präsident Petro erklären. Die Umfragen zeigen, dass die Unterstützung bei etwa 35 Prozent liegt, wobei die Mittelschicht, die den Präsidenten anfangs unterstützte, jetzt zunehmend auf Distanz geht. Die Umfragen, so KAS-Leiter Reith, zeigen "die schwächsten Ergebnisse seit dem Regierungswechsel im August 2022". Seiner Meinung nach gibt es neben der natürlichen Abnutzung eines Mandats auch andere Gründe für diesen Popularitätsverlust: "Die Vertreter der Mittelschicht und der politischen Mitte, die durchaus die Notwendigkeit sozialer Reformen sehen, lehnen radikale Kürzungen ab und bevorzugen gemäßigtere und konsensfähigere Maßnahmen."

Kritik an der Reaktion von Präsident Gustavo Petro

Präsident Gustavo Petro reagierte prompt und warf den Protestierenden vor, sie wollten einen "sanften Staatsstreich". Für den 1. Mai kündigte der Präsident Demonstrationen zugunsten der Regierung an, an denen er selbst teilnehmen werde. "Es geht nicht darum, das Land zu spalten, es ist bereits gespalten. Es geht auch darum, der Stimme des Volkes Gehör zu verschaffen", schrieb er auf X.

"Die unmittelbare Reaktion von Präsident Petro auf die Demonstrationen war praktisch die gleiche wie die seiner Vorgänger in solchen Fällen", erklärt Reith: "Verharmlosung der Zahlen, Infragestellung der legitimen Gründe und Anliegen der Proteste, und die Diffamierung der Teilnehmer, in diesem Fall als diejenigen, die sich nach offener Repression, militärischen Massakern und der Ermordung junger Menschen sehnen."

Der Analyst Cifuentes sieht es ähnlich. Die Reaktion des Präsidenten sei "verständlich, wenn man bedenkt, dass sie auf seine Basis abzielt. Aber angesichts der Realität des Landes war sie ungeschickt und kurzsichtig". Der Präsident müsse einsehen, so der kolumbianische Analyst, "dass es nicht um die unmittelbaren Schlagzeilen und Reaktionen geht, sondern dass sein politisches Projekt und das Erbe der ersten linken Regierung in Kolumbien auf dem Spiel steht".

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Image caption Protest in der Regionalhauptstadt Paso
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Item 17
Id 68908858
Date 2024-04-24
Title Israels Wirtschaft auf dem Weg der Besserung
Short title Israels Wirtschaft auf dem Weg der Besserung
Teaser Der Überfall der Hamas auf Israel im vergangenen Oktober und der darauf folgende Krieg haben Israels Wirtschaft schwer getroffen. Doch während die Kämpfe noch andauern, beginnt Israel, sich wirtschaftlich zu erholen.
Short teaser Während die Kämpfe mit der Hamas noch andauern, beginnt Israel, sich wirtschaftlich zu erholen.
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Obwohl Israels Regierung die statistischen Daten für das erste Quartal 2224 noch nicht veröffentlicht hat, gibt es Grund zur Erleichterung: Die jüngsten Daten vom Arbeitsmarkt, die die Zentrale Statistikbehörde gemeldet hat und die Informationen, die die Bank of Israel zu Kreditkartentransaktionen bekannt gegeben hat, legen die Annahme nahe, dass sich die Wirtschaft des Landes vom Schock des 7. Oktober und den darauf folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen erholt.

Im vierten Quartal 2023 war die Wirtschaftsleistung nach den Terrorattacken der Hamas deutlich eingebrochen - sie sank um 5,2 Prozent im Vergleich zum dritten Quartal. Das war zum großen Teil der Belastung des Arbeitsmarktes geschuldet, als 300.000 Reservisten einberufen worden waren.

Benjamin Bental, Wirtschaftsprofessor an der Universität von Haifa, sagt, der Arbeitsmarkt erhole sich gerade vom Schock, dass viele Arbeiter und Kleinunternehmer der Wirtschaft so plötzlich verloren gegangen waren. "Der Arbeitsmarkt stabilisiert sich tatsächlich recht schnell", sagte er der DW. "Er liegt noch nicht wieder auf dem Vorkriegsniveau, aber die Arbeitslosenquote liegt gegenwärtig einen Prozentpunkt unter der vom September 2023."

Die Rückkehr vieler Reservisten von der Truppe hätte die Arbeitsmarktlage entspannt, und gleichzeitig legten die Kreditkartendaten den Schluss nahe, dass der Optimismus der Verbraucher nach dem großen Einbruch im Herbst 2023 zurückkehre.

Palästinenser fehlen auf israelischen Baustellen

Dennoch, so Bental, litten einige Sektoren noch immer schwer unter dem Mangel an Arbeitskräften, allen voran das Baugewerbe. Vor allem, weil diese Branche in starkem Maße von palästinensischen Arbeitern abhing. Diese waren aus der besetzten Westbank zur Arbeit nach Israel gekommen - das ist wegen der verschärften Sicherheitsmaßnahmen nun nicht mehr möglich.

Ungefähr 75.000 Palästinenser waren täglich zwischen der Westbank und den Baustellen in Israel gependelt. Ihr Fehlen hat die Bautätigkeit fast zum Erliegen gebracht: Der Wohnungsbau brach zum Ende 2023 um 95 Prozent ein. Die Branche hat sich etwas erholt, weil sie tausende Arbeiter aus Indien, Sri Lanka und Usbekistan verpflichtete, um ihre Bauvorhaben beenden zu können. Das ganze Bild werde aber erst sichtbar, wenn alle Daten zum ersten Quartal vorliegen.

Der Krieg und das israelische Haushaltsdefizit

Der Krieg hatte die Regierung gezwungen, die Staatsausgaben dramatisch zu steigern - hauptsächlich für Verteidigungszwecke, aber auch für Wiederaufbaumaßnahmen nach den Terroranschlägen und Neubauten für zehntausende Israelis, die aus dem Norden und dem Süden des Landes hatten fliehen müssen.

Im vergangenen Monat hat Israel einen berichtigten Haushalt für dieses Jahr bekannt gegeben, der 584 Milliarden Schekel, das entspricht rund 144 Milliarden Euro, umfasst. Dabei wurde ein Staatsdefizit von 6,6 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) in 2024 vorhergesagt - ursprünglich hatte man 2,25 Prozent erwartet.

Benjamin Bental sagt indes, das sei deutlich untertrieben und ein Defizit von acht Prozent sei weit wahrscheinlicher. "Das erscheint mehr oder weniger realistisch. Vorausgesetzt", fügt er mit Blick auf die Spannungen mit dem Iran hinzu, "dass es keine weitere Belastung der Sicherheitssituation gibt."

Der Staatshaushalt steht ganz offensichtlich unter Druck. Die Regierung plant, etwa 56 Milliarden Euro mehr an Schulden aufzunehmen und die Steuern zu erhöhen. Das, so die Regierenden, könnte das Land leisten: "Die ökonomischen Voraussetzungen sind gegeben, sagte Yali Rothenberg, Chef-Rechnungsprüfer im Finanzministerium, der Financial Times vor Veröffentlichung des Nachtragshaushalts. "Schauen Sie auf den High-Tech-Sektor, auf die Infrastrukturmaßnahmen und auf den privaten Konsum, dann sehen Sie: Das gibt die Wirtschaft her."

Wird Israels Verteidigung zu teuer?

Vor den Oktober-Attacken der Hamas war die israelische Wirtschaft in guter Verfassung. "Die Wirtschaft lief bemerkenswert gut", so Bental. "Die Inflation sank und die fiskalische Lage war völlig unter Kontrolle." Er weist darauf hin, dass Israel vor dem Überfall ein Wachstum von 3,5 Prozent anpeilte und dass das Land trotz der Erschütterungen im letzten Quartal 2023 ein Wachstum von zwei Prozent erreichen konnte.

Bental sagt, es gebe in den Straßen der großen Städte wie Tel Aviv und Haifa nur wenig Hinweise auf eine Kriegswirtschaft oder Anzeichen von Kürzungen oder Mangel. Hier zeige sich, dass die Erfahrungen aus vorherigen Kriegen und Krisen und deren Auswirkungen auf die Wirtschaft das Handeln der aktuellen Regierung beeinflusst.

Bental ist allerdings wegen der außergewöhnlichen Ausgaben für die Verteidigung besorgt. Während des Yom Kippur Krieges 1973 hatte der Staat die Verteidigungsausgaben dramatisch erhöht, bis zu einem "total untragbaren" Level von 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Gemeinsam mit der Ölkrise und einer allgemeinen Weltwirtschaftskrise habe der Konflikt zu einem "wirklichen ökonomischen Desaster" für Israel geführt. Das hatte zu einer sehr hohen Inflation und einer wirtschaftlichen Stagnation für beinahe zehn Jahre geführt.

Wenn nur die Kämpfe endeten

Bental zufolge hatte die Zweite Intifada der Palästinenser in der Zeit zwischen 2000 und 2005 mehr Ähnlichkeiten mit dem gegenwärtigen Konflikt, weil damals wie heute mehr Zivilisten involviert waren. "Man kann daraus etwas lernen über die Schäden, die aus einem Vertrauensverlust in der Bevölkerung und einem Verlust des persönlichen Sicherheitsgefühls während dieser Periode entstehen", sagt Bental. "Es gibt Schätzungen, dass während dieser Jahre des Konfliktes das israelische BIP deshalb etwa zehn Prozent verloren hat."

Als weiteres Beispiel nennt er den Konflikt mit der Hisbollah und dem Libanon 2006 - ein Konflikt der zeige, wie schnell sich die Wirtschaft erholen könne, wenn die Kämpfe aufhören. Bantal: "Wir reden von einer Situation, in der für etwa einen Monat im Norden Israels nichts mehr funktionierte. Aber wenn man sich die Daten anschaut und nach Spuren dieser Episode sucht, stellt man fest, dass da gar nichts zu sehen ist. Das ist wirklich erstaunlich. Die Wirtschaft hatte sich im Nullkommanichts wieder normalisiert."

Bental hofft, dass das auch diesmal der Fall sein wird, sobald der aktuelle Konflikt beendet ist. Im Moment wiesen einige Zeichen der Erholung in genau diese Richtung.

Dieser Beitrag ist aus dem Englischen adaptiert.

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Image caption Israelischer Alltag im Krieg - Straßenszene in Tel Aviv
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Item 18
Id 68906569
Date 2024-04-24
Title Anzeichen für konjunkturelle Trendwende mehren sich
Short title Anzeichen für konjunkturelle Trendwende mehren sich
Teaser Hat die deutsche Wirtschaft die Talsohle durchschritten? Aktuelle Konjunkturdaten deuten darauf hin. Der Ifo-Index verzeichnet eine bessere Stimmung, die Regierung hebt ihre Wachstumsprognose minimal an.
Short teaser Hat die deutsche Wirtschaft die Talsohle durchschritten? Darauf deuten aktuelle Konjunkturdaten und Umfragen hin.
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Das Bundeswirtschaftsministerium ist trotz struktureller Schwächen zuversichtlich, dass die Konjunktur an einem Wendepunkt steht. Die Anzeichen dafür mehrten sich im Frühjahr, teilte das von Robert Habeck (Grüne) geführte Ministerium am Mittwoch in Berlin mit. Wesentliche Impulse sollten im Jahresverlauf vor allem vom Konsum ausgehen. Insgesamt rechnet die Bundesregierung 2024 mit einem mageren Wachstum der Wirtschaft von 0,3 Prozent. Gegenüber Februar haben sich die Aussichten damit leicht aufgehellt. 2025 dürften es dann 1,0 Prozent werden. Im vergangenen Jahr war die deutsche Wirtschaft noch um 0,3 Prozent geschrumpft. Kein anderes großes Industrieland entwickelt sich derzeit schlechter.

"Trotz dieser Hoffnungssignale machen mir die strukturellen Probleme des Standorts weiterhin Sorge", erklärte der Wirtschaftsminister. "Wenn wir mittel- und langfristig wieder höheres Wachstum erreichen wollen, brauchen wir daher strukturelle Veränderungen." Dazu gehörten die Stärkung von Innovationen und der Abbau unnötiger Bürokratie, aber auch Arbeitsanreize, "damit mehr Menschen freiwillig mehr und länger arbeiten".

Geschäftsklimaindex verzeichnet besser Stimmung

Entsprechend hat sich die Stimmung in der deutschen Wirtschaft im April weiter aufgehellt und ist so gut wie seit fast einem Jahr nicht mehr. Das Ifo-Geschäftsklima stieg überraschend deutlich auf 89,4 Punkte von 87,9 Zählern im Vormonat, wie das Münchner Ifo-Institut am Mittwoch zu seiner Umfrage unter rund 9000 Führungskräften mitteilte. Das Barometer kletterte damit den dritten Monat in Folge, was als Signal für eine Konjunkturwende gilt. Die Firmen beurteilten ihre Geschäftslage und die Aussichten für die kommenden Monate günstiger als zuletzt. "Die Konjunktur stabilisiert sich, vor allem durch die Dienstleister", sagte Ifo-Präsident Clemens Fuest.

In der Industrie verbesserte sich die Stimmung zwar insgesamt, aber die Betriebe beurteilten ihre Lage schlechter. Der Auftragsbestand sank weiter. "Produktionssteigerungen sind nicht in Sicht", betonte Fuest. Im Dienstleistungssektor hingegen hellte sich das Geschäftsklima merklich auf. Auch im Handel stieg der Index. "Die Geschäftserwartungen verbesserten sich deutlich, bleiben allerdings insgesamt pessimistisch", hieß es. Am Bau ging es das dritte Mal in Folge bergauf - dank weniger pessimistischer Erwartungen. Die Lage wurde jedoch schlechter beurteilt und viele Firmen klagten über Auftragsmangel.

"Im tiefen Schacht geht die Lampe an"

Ökonomen erwarten nun eine allmähliche Erholung der Konjunktur. "Die deutsche Wirtschaft arbeitet sich aus ihrer Schwächephase heraus", sagte Ifo-Konjunkturfachmann Klaus Wohlrabe der Nachrichtenagentur Reuters. "Das sieht nach Trendwende aus", betonte LBBW-Experte Jens-Oliver Niklasch. Einiges spreche dafür, "dass wir im Winter das Konjunkturtief gesehen haben". Commerzbank-Chefökonom Jörg Krämer sieht den Ifo-Index als recht klares Aufwärtssignal. "Von nun an sollte die deutsche Wirtschaft wieder wachsen, nachdem sich die Unternehmen an die höheren Leitzinsen gewöhnt haben und die Energiekosten wieder gefallen sind." Die Phase fallender Konjunkturprognosen dürfte vorüber sein. "Im tiefen Schacht geht die Lampe an", sagte Chefvolkswirt Alexander Krüger von der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank.

Die Wirtschaft steckt derzeit wegen sinkender Investitionen und einer Flaute am Bau im Konjunkturtal und schrumpfte Ende 2023 um 0,3 Prozent. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) dürfte laut Bundesbank im ersten Quartal 2024 allerdings "leicht zugenommen haben". Damit bliebe Deutschland eine Rezession erspart. "Die Konjunktur in Deutschland hat sich etwas aufgehellt, eine durchgreifende Belebung ist aber noch nicht gesichert", erklärte die Bundesbank jüngst.

Auch eine am Finanzmarkt viel beachtete Umfrage unter Einkaufsmanagern zeigte, dass die Wirtschaft die lange Durststrecke langsam hinter sich lassen könnte.

hb/bea (rtr)

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Image caption Da! Es geht nach oben! Wirtschaftsminister Habeck mit einer Grafik zur deutschen Industrieproduktion
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Item 19
Id 68899515
Date 2024-04-24
Title Warum die EU und die USA gegen TikTok vorgehen
Short title Warum die EU und die USA gegen TikTok vorgehen
Teaser Die USA fordern einen Zwangsverkauf der chinesischen Video-App TikTok, die EU leitet ein weiteres Verfahren gegen sie ein. Wo liegt das Problem?
Short teaser Die USA fordern einen Zwangsverkauf der Video-App TikTok, die EU leitet ein weiteres Verfahren ein.
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Es gibt wohl kaum eine andere App, die unter Kindern und Jugendlichen weltweit so beliebt ist wie TikTok - und kaum eine, die so umstritten ist. In den vergangenen Tagen zog die chinesische Videoplattform einmal mehr Ärger auf sich. Ein Überblick.

Warum soll TikTok in den USA gebannt werden?

Der US-Senat stimmte am späten Dienstag (Ortszeit) für einen Zwangsverkauf der App in den USA. Das US-Gesetz hatte damit auch die zweite Kongresskammer passiert, erst am Wochenende hatte auch das US-Repräsentantenhaus dafür gestimmt. Damit kommt es nun auf den Tisch von Präsident Joe Biden, der bereits ankündigte, dass er es unterschreiben wird.

TikTok soll sich demnach innerhalb von 270 Tagen von seinem chinesischen Mutterkonzern Bytedance lösen, gegebenenfalls könnte die Frist noch einmal um 90 Tage verlängert werden. Andernfalls müsste TikTok aus den App-Stores von Apple, Google und Co. entfernt werden. Zumindest ein neuer Download würde damit verhindert.

Die parlamentarische Initiative gegen Tiktok entspringt Datenschutzsorgen: Bytedance steht im Verdacht, der Kommunistischen Partei Chinas Zugriff auf die Nutzerdaten zu ermöglichen. In den USA sind das etwa 170 Millionen Menschen. Konkret wird befürchtet, dass Tiktok gezwungen werden könnte, Nutzerdaten herauszugeben. Außerdem könnte China Propaganda und Desinformation über den Algorithmus ausspielen. Das Unternehmen weist die Vorwürfe zurück.

Warum ermittelt die EU?

Auch die EU hat TikTok mal wieder im Visier - wenn auch aus gänzlich anderen Gründen. In einem neuen Verfahren soll geprüft werden, ob die Belohnungsfunktion der neuen App TikTok lite die psychische Gesundheit von Jugendlichen gefährdet und damit gegen EU-Regeln verstößt. Die neue App gibt es seit April und ist innerhalb Europas derzeit nur in Frankreich und Spanien verfügbar.

Große soziale Plattformen wie Facebook, X (ehemals Twitter), Instagram und eben auch TikTok müssen seit August 2023 die Vorgaben des Digital Services Act (DSA) erfüllen. Das Gesetz über digitale Dienste soll illegale oder schädliche Online-Aktivitäten verhindern. Auch sogenannte "dark patterns", also manipulative Praktiken, um Nutzer auf Plattformen zu halten, sind verboten.

Die EU-Kommission kritisiert, TikTok habe die neue App-Version "TikTok Lite" in den beiden EU-Mitgliedsstaaten eingeführt, ohne die Risiken vorab ausreichend zu bewerten. Der Konzern hatte bis zum 18. April Zeit, einen Bericht vorzulegen, die Frist aber zunächst verstreichen lassen. Er bekam eine neuen 24-Stunden-Frist eingeräumt und reichte die geforderte Risikoeinschätzung für die neue App nach eigenen Aussagen diesen Dienstag ein.

Damit wendete die für ihre Tanzvideos bekannte und besonders bei Jugendlichen beliebte Plattform eine Strafzahlung vorerst ab. Andernfalls hätte die EU Geldstrafen verhängen können - in Höhe von bis zu einem Prozent der gesamten Jahreseinnahmen. Auch die umstrittene Belohnungsfunktion der neuen App-Version (siehe unten) hätte blockiert werden können.

Schon im Februar hatte die EU ein Verfahren gegen TikTok eröffnet. Dabei ging es unter anderem um mutmaßlich mangelhaften Jugendschutz.

Warum gilt "TikTok Lite" als besonders süchtig machend?

"TikTok Lite" enthält ein neues Punkte-System, das es in der herkömmlichen TikTok-Version nicht gibt. Wer möglichst viele Videos schaut, Inhalte liked - also positiv bewertet - oder Freunde zu TikTok einlädt, erhält digitale Münzen. Diese Münzen können gegen Gutscheine ausgetauscht werden, zum Beispiel für den Online-Händler Amazon. Diese Funktion sei besonders süchtig machend, hieß es von der EU-Kommission.

Die App, die auch viele Tanz- und Mitsingvideos enthält, ist besonders bei Kindern und Jugendlichen beliebt. Laut den Nutzungsbedingungen müssen Nutzende mindestens 13 Jahre alt sein. Unter 18 Jahren müssen Eltern oder andere Erziehungsberechtigte zudem noch offiziell zustimmen. Es sei jedoch nicht erkennbar, ob das Alter wirksam überprüft werde, erklärte die Kommission weiter.

Macht TikTok generell süchtiger als andere soziale Medien?

Die Algorithmen von TikTok funktionieren etwas anders als die Algorithmen älterer Social-Media-Plattformen - und machen deshalb möglicherweise noch schneller süchtig. Anders als die bisherigen Plattformen zeigen sie von Anfang auch Videos, die andere Nutzende ansprechend fanden, statt vor allem Inhalte von abonnierten Konten abzubilden.

Und: TikToks Algorithmen sind höchst intelligent. Je mehr Zeit Nutzende auf TikTok verbringen, desto präziser werden die Vorhersagen, was gefallen könnte.

Das bleibt nicht ohne Folgen: In den USA verbringen junge TikTok-Nutzerinnen durchschnittlich mehr als 2,5 Stunden vor der App. Das geht aus einer Studie hervor, aus der die "Washington Post" im März 2023 zitierte. Von diesen Mädchen bezeichnet sich fast jede zweite als süchtig. Besonders anfällig sind demnach Mädchen mit Depressionen.

Ein Teil der Jugendlichen benutzt die App sogar mehr oder weniger immer. Laut dem US-amerikanischen Meinungsforschungsinstitut Pew Research mit Stand September 2023 verbringen etwa 17 Prozent der Jugendlichen ihre Zeit damit, eigentlich konstant ("almost constantly" ) durch die App zu scrollen. Ein Spitzenwert im Vergleich zu anderen Apps.

Dieser Artikel wurde am 24. April aktualisiert.

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Image caption TikTok-Logo vor dem US-Firmensitz in Kalifornien, USA : Muss TikTok bald verkauft werden?
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Item 20
Id 68897690
Date 2024-04-24
Title Amnesty zieht dunkle Bilanz bei Menschenrechten
Short title Amnesty: Dunkle Bilanz bei Menschenrechten
Teaser Angesichts der Lage in Gaza wirft Amnesty International der Bundesregierung und der EU Doppelmoral vor. Der neue Jahresbericht 2024 beklagt auch die Missachtung internationaler Übereinkommen.
Short teaser Angesichts der Lage in Gaza wirft Amnesty International der Bundesregierung und der EU Doppelmoral vor.
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In dramatischen Worten beklagt Amnesty International (ai) die Lage der Menschenrechte weltweit und spricht von einem historischen Einschnitt. Dafür macht die Organisation in ihrem am Mittwoch (24.4.2024) vorgelegten Jahresbericht den Umgang der internationalen Politik mit der Eskalation im Nahen Osten und deren fehlendes Engagement zum Schutz der palästinensischen Zivilbevölkerung verantwortlich.

Die Bundesregierung dürfe keine Waffen an Israel und andere Konfliktparteien liefern, mahnte Julia Duchrow, die Generalsekretärin von ai Deutschland, bei der Vorstellung des Berichts. Ausdrücklich kritisierte sie den Kurs der deutschen Außenministerin. Annalena Baerbock betreibe entgegen eigener Aussagen keine menschenrechtsbasierte Außenpolitik und messe im Israel-Gaza-Konflikt "mit zweierlei Maß".

Kritik an "Doppelmoral" der Europäer im Nahen Osten

Im Bericht heißt es, für Menschen weltweit symbolisierten die "Ereignisse" im Gazastreifen "ein Versagen der Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg für die Einhaltung des Universalitätsprinzips und die Achtung unserer gemeinsamen Menschlichkeit sorgen und das Versprechen 'Nie wieder‘ durchsetzen sollten". Dabei nennt ai neben israelischen Behörden und den USA "einige europäische" Staats- und Regierungschefs sowie die EU-Führungsriege. Aus deren Verhalten spreche "Doppelmoral".

Mit Blick auf den Terror der Hamas am 7. Oktober 2023 spricht Amnesty von "schrecklichen Verbrechen". Dabei hatten Akteure der militanten islamistischen Hamas, die von den USA, der EU und einer Reihe weiterer Staaten als terroristisch eingestuft wird, etwa 1200 Menschen getötet und rund 240 Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Amnesty verwendet nach Aussage von Julia Duchrow weder für die Hamas noch für andere Organisationen die Bezeichnung "Terror-Gruppe". Dieser Begriff sei völkerrechtlich nicht definiert.

Nach dem 7. Oktober habe Israel mit "Vergeltungsmaßnahmen" geantwortet, "die einer Kollektivbestrafung gleichkamen". Zivilpersonen und zivile Infrastruktur seien "vorsätzlich und unterschiedslos beschossen" worden, so die Anschuldigung. Die israelische Seite stelle die Angriffe so dar, "als wären sie mit dem humanitären Völkerrecht in Einklang. In Wirklichkeit verstießen sie gegen den Kern dieser Normen."

Für Palästinenserinnen und Palästinenser im Gazastreifen sei die aktuelle Lage "sogar schlimmer" als die "Nakba" im Jahr 1948. Mit diesem arabischen Begriff für "Katastrophe" bezeichnen Palästinenser die Staatsgründung Israels, die damals nachfolgende kriegerische Auseinandersetzung und die Flucht und Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung.

Amnesty, 1961 gegründet, wird seit gut zwei Jahren massiv von israelischer Seite und von jüdischen Organisationen kritisiert, weil es in einem Bericht Israel "Apartheid" vorgeworfen hatte. Israel wies den Vorwurf empört zurück und warf ai wiederholt vor, Antisemitismus zu fördern und den Konflikt einseitig zu betrachten.

Amnesty drängt seit längerem auf ein Ende der israelischen Besatzung der Palästinensergebiete einschließlich Ost-Jerusalems. Zugleich fordert die Organisation derzeit die Freilassung aller Geiseln durch die Hamas und andere palästinensische Gruppen und wirft der Hamas Kriegsverbrechen vor.

Welt macht "Zeitreise" in Jahre ohne Menschenrechte

Amnesty-Generalsekretärin Agnes Callamard spricht in dem Bericht davon, die Welt habe gleichsam "eine Zeitreise gemacht" zurück in jene Jahre vor 1948, in der es keine als allgemeingültig festgeschriebenen Menschenrechte gegeben habe. "Ethische und rechtliche Grundfeste" seien im Jahr 2023 erschüttert worden, so die Französin Callamard. Das untergrabe in zahlreichen Ländern die Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, die Gleichstellung der Geschlechter und die sexuellen und reproduktiven Rechte.

Auch die russische Aggression gegen die Ukraine und chinesische Verstöße gegen das Völkerrecht werden in dem Bericht zum Thema. So sei der russische Angriff auf die Ukraine "durchgehend von Kriegsverbrechen gekennzeichnet". Konkret nennt ai die Folter und Misshandlung von Kriegsgefangenen, Attacken auf bewohnte Gebiete, Infrastruktur für zivile Energie und Getreideexporte sowie die vorsätzliche Zerstörung des Kachowka-Staudamms im Juni 2023, die "enorme Umweltschäden" zur Folge gehabt habe. Als weiteres Beispiel für die weitgehende Missachtung des humanitären Völkerrechts nennt ai den Krieg im Sudan, in dem beide Seiten Verstöße begingen.

Autoritäre Systeme auf dem Vormarsch, Frauenrechte unter Druck

Weiter beklagt Amnesty wachsenden Druck auf Menschen, die sich für wirtschaftliche und soziale Rechte einsetzten. Das gelte beispielsweise für Großbritannien, Ungarn und Indien. So würden Akteure, die sich für den Klimaschutz engagierten und den Ausbau fossiler Brennstoffe kritisierten, als "‘Terrorist*innen‘ gebrandmarkt". Im Nahen Osten führe Kritik an der jeweiligen Wirtschaftspolitik zu willkürlichem Gewahrsam. Insgesamt beklagt ai in dem Bericht ein weltweites Erstarken autoritärer Systeme. Immer weniger Menschen lebten in einer Demokratie als Gesellschaftsform, heißt es.

Mit Blick auf Rechte von Frauen beklagt Amnesty weitere Einschränkungen in Afghanistan und dem Iran. Der Iran setze auch Gesichtserkennungs-Software gegen Frauen ein, die sich nicht verschleierten. Zudem sprach ai von negativen Entwicklungen in den USA und Polen bei der gesetzlichen Regelung von Schwangerschaftsabbrüchen. So seien in 15 US-Bundesstaaten Abtreibungen ganz verboten oder nur in absoluten Ausnahmefällen zugelassen. Mit Besorgnis verweist der Bericht auch auf die mehr als 60 Länder weltweit, in denen LGBTQ-Menschen in ihren Rechten eingeschränkt seien und kriminalisiert würden.

Weiter thematisiert Amnesty die Gefahren neuer Technologien und der "künstlichen Intelligenz" (KI). Man bewege sich "immer schneller" auf eine Zukunft hin, die von Konzernen und unregulierter KI "beherrscht wird". Mit Blick auf neue Technologien beklagt Amnesty "Verstöße durch Tech-Giganten", die "für kommende Zeiten nichts Gutes erahnen" ließen.

Ausdrücklich beklagt ai den Anstieg von Juden- und Muslimfeindlichkeit im Netz. Die alarmierende Verbreitung von Hetze im Internet und anderen schädlichen Inhalten gegen palästinensische und jüdische Gemeinschaften habe auch in Europa und den USA zu einem "deutlichen Anstieg muslimfeindlicher und antisemitischer Hassverbrechen" geführt.

Der aktuelle ai-Jahresbericht umfasst 417 Seiten und erörtert die Lage der Menschenrechte in gut 150 Ländern.

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Image caption Ein Blick auf Chan Junis im Gazastreifen
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Item 21
Id 68901437
Date 2024-04-23
Title Russland-Spionage: "Volksrepublik Donezk" eine Terrorvereinigung?
Short title Spionagefall: "Volksrepublik Donezk" eine Terrorvereinigung?
Teaser Die deutsche Bundesanwaltschaft wirft zwei Männern mit doppelter russischer und deutscher Staatsbürgerschaft vor, an der "Terrorvereinigung Volksrepublik Donezk" beteiligt zu sein. Was bedeutet das aus rechtlicher Sicht?
Short teaser Die deutsche Bundesanwaltschaft spricht von der "Terrorvereinigung Volksrepublik Donezk". Was bedeutet das?
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Im Zuge eines Spionagevorfalls , der im Zusammenhang mit Russland steht, hat die Polizei der Stadt Bayreuth in Bayern zwei Männer festgenommen. Dieter S. und sein Helfer Alexander J. stehen im Verdacht, im Auftrag der russischen Geheimdienste Sabotageakte in Deutschland vorbereitet zu haben. Den deutschen Staatsbürgern russischer Herkunft wird auch vorgeworfen, Spionage gegen Militärstützpunkte der USA betrieben und Attacken auf militärisch genutzte Transportwege geplant zu haben.

Dieter S. sei "Mitglied der ausländischen Terrorvereinigung 'Volksrepublik Donezk'" gewesen, meldet die deutsche Generalbundesanwaltschaft. Damit stuft sie die selbsternannte Volksrepublik faktisch als terroristische Organisation ein: Es handele sich um eine "pro-russische Vereinigung, die ab Frühjahr 2014 die Kontrolle über den ukrainischen Verwaltungsbezirk Donezk mit dem Ziel der Loslösung von der Ukraine beanspruchte und sich intensive Auseinandersetzungen mit den ukrainischen Streitkräften lieferte". Auch habe die Vereinigung immer wieder Gewalt gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt.

Nach derzeitigem Ermittlungsstand hatte Dieter S. seit Oktober 2023 Kontakt zu einer Person, die an einen russischen Geheimdienst angebunden ist. Als Mitglied einer ausländischen terroristischen Vereinigung soll er zudem eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet haben. Die Generalbundesanwaltschaft fügt hinzu: "Nach dem zugrunde liegenden Sachverhalt besteht der dringende Verdacht, dass Dieter S. zwischen Dezember 2014 und September 2016 in der Ostukraine als Kämpfer einer bewaffneten Einheit der 'Volksrepublik Donezk' tätig war und in diesem Zusammenhang über eine Schusswaffe verfügte."

Im Zuge der prowestlichen oppositionellen Proteste und des Machtwechsels in Kiew im Frühjahr 2014 wurden im Osten der Ukraine die sogenannten "Volksrepubliken Donezk und Luhansk" ausgerufen. Im Februar 2022, nur drei Tage vor Russlands großangelegtem Überfall auf die Ukraine, erkannte Staatschef Wladimir Putin die beiden Separatisten-Gebiete schließlich als unabhängig an. Im September desselben Jahres annektierte Russland die ukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk.

Wie man auf die Liste ausländischer Terrororganisationen kommt

"Wir sind davon überzeugt, dass es ständig russische Spionageaktivitäten gegen deutsche Interessen gibt", sagte der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang im DW-Interview. "Deutschland ist ein wichtiger Player in vielen Politikbereichen, wenn es um die Unterstützung der Ukraine geht."

Bislang hatten die deutschen Behörden die "Volksrepublik Donezk" nicht als terroristische Vereinigung eingestuft, was also hat sich geändert? In Deutschland gebe es zwei Möglichkeiten, eine bestimmte Struktur auf die Terroristenliste zu setzen: auf behördlichem und auf strafrechtlichem Wege, erläutert der Jurist Dr. Matthias Hartwig von der Heidelberger Universität im Gespräch mit der DW. Er führt das Beispiel der radikal-islamistischen Bewegung Hamas an, die auf der Ebene der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuft ist, aber auch durch Gerichtsurteile als solche eingeordnet wird.

Das bedeute noch nicht, so Hartwig, dass die "Volksrepublik Donezk" jetzt auch vom deutschen Staat als terroristisch angesehen werde. Aber aus Sicht der Generalbundesanwaltschaft sei sie es. Es bleibe jedoch unklar, ob damit die gesamte von den separatistischen und russischen Behörden geschaffene quasi-staatliche Struktur gemeint sei - oder nur ihr paramilitärischer Teil. Hartwig vermutet, die Bundesanwaltschaft betrachte alle Strukturen dort als illegal. Und das aus guten Gründen, weil die ukrainische Seite zum Schluss gekommen sei, dass diese Strukturen "Mord und Tod betreiben". Es sei nun Sache der Gerichte zu entscheiden, ob diese Strukturen als terroristisch anzusehen seien, so der Jurist.

Auch die ARD bewertet den Schritt der Generalbundesanwaltschaft als ein "Novum". "Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) hat eine entsprechende Verfolgungsermächtigung erteilt. Ein Schritt mit hoher Symbolkraft, der diplomatische Folgen haben dürfte", schreiben die ARD-Terrorismusexperten Michael Götschenberg und Holger Schmidt zur Inhaftierung von Dieter S. und Alexander J.

Als einzige diplomatische Folge bislang ist der russische Botschafter ins Auswärtige Amt einbestellt worden. Doch Völkerrechtler Hartwig schließt nicht aus, dass der Spionageskandal die Spannungen zwischen Deutschland und Russland weiter verschärfen könnte: "Deutschland ist völkerrechtlich nicht gebunden und ist frei zu sagen: das ist ein annektiertes Gebiet und die Strukturen, die dort Macht ausüben, stufen wir als terroristisch ein. Deutschland verletzt dadurch nicht das internationale Recht."

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

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Image caption Papiere der selbsternannten "Volksrepublik Donezk"
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Item 22
Id 68896617
Date 2024-04-23
Title Deutschland-Türkei: 100 Jahre diplomatische Beziehungen
Short title Deutschland-Türkei: 100 Jahre diplomatische Beziehungen
Teaser Vor hundert Jahren nahmen die kurz zuvor gegründete Türkische Republik und das Deutsche Reich diplomatische Beziehungen auf. Seitdem haben beide Länder teilweise turbulente Zeiten zusammen erlebt.
Short teaser 1924 nahmen die Türkische Republik und das Deutsche Reich offizielle Beziehungen auf. Turbulent wurde es immer wieder.
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Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist auf Staatsbesuch in der Türkei, dem ersten dort seit Beginn seiner Amtszeit 2017. Der Zeitpunkt des Besuchs ist kein Zufall. Er erinnert auch an die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern vor hundert Jahren.

Sowohl die Türkische Republik als auch das Deutsche Reich hatten damals 1924 einen tiefgreifenden Neuanfang hinter sich: Beide Staaten hatten nach dem Ersten Weltkrieg als Verbündete auf der Verliererseite gestanden, mussten infolgedessen Gebiete abtreten – die Türkei verlor sogar ein Großreich - und beide hatten die Monarchie abgeschafft. In Deutschland trat die Weimarer Republik an die Stelle des Kaiserreichs.

Der innere Wandel in der Türkei war aber noch deutlich größer: Staatsgründer Kemal Atatürk wollte eine säkulare, europäisch orientierte Türkei. Kalifat und Scharia aus der Zeit des Osmanischen Reiches wurden durch westliche Rechtssysteme ersetzt.

Auch die beiden Vorgängerstaaten, das Osmanische Reich und das Deutsche Kaiserreich, hatten schon enge diplomatische, militärische und Handelsbeziehungen unterhalten. Jetzt, wenige Monate nach Gründung der Türkischen Republik 1923, knüpfte man diplomatisch dort wieder an und schloss einen Freundschaftsvertrag.

Doch besonders ernst nahm Berlin das damals nicht, meint der Historiker und Türkei-Experte Rasim Marz: "Trotz der Wiederaufnahme 1924 maß die krisengeschüttelte Weimarer Republik den diplomatischen Beziehungen zur jungen Republik Türkei bis in die 1930er-Jahre keine hohe politische Bedeutung zu", schreibt er der DW. Aber "das hohe Ansehen Deutschlands in der Türkei blieb davon unberührt".

Türkei: Zufluchtsstätte für Verfolgte des Nazi-Regimes

Ein heute oft vergessenes Kapitel in den deutsch-türkischen Beziehungen war das Exil von mehreren hundert verfolgten Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus in der damals außenpolitisch neutralen Türkei.

"Die Türkei unter Atatürk wurde zur Zufluchtsstätte für viele verfolgte Akademiker. Die türkische Republik bedurfte hochqualifizierter Kräfte", so Rasim Marz. Der SPD-Politiker und spätere Berliner Bürgermeister Ernst Reuter war darunter, der Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Fritz Baade, der Komponist Paul Hindemith und viele andere. Sie "waren am weiteren Ausbau des Staates nach europäischem Vorbild maßgeblich beteiligt".

Türkische Migranten in Deutschland

Wohl keine Entscheidung hat die Beziehungen bis heute so nachhaltig geprägt wie der Abschluss eines Anwerbeabkommens für türkische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland 1961. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes kamen in der Folge etwa 876.000 Menschen aus der Türkei. Sie arbeiteten zum Beispiel im Bergbau, in der Autoindustrie, eröffneten Geschäfte. Viele holten ihre Familien nach und blieben für immer. Heute leben in Deutschland rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat ihre Leistung gleich zu Beginn seines Türkei-Besuchs gewürdigt, und zwar an einem historischen Ort: Am Istanbuler Bahnhof Sirkeci bestiegen viele der angeworbenen Türken die Züge Richtung Deutschland. "Sie haben unser Land mit aufgebaut, sie haben es stark gemacht und sie gehören ins Herz unserer Gesellschaft", sagte Steinmeier.

Verschlechterung der Beziehungen unter Erdogan

Seitdem Recep Tayyip Erdogan Präsident der Türkei ist, haben sich die Beziehungen zunehmend verschlechtert. Vor allem nach einem Putschversuch 2016 ging Erdogan hart gegen politische Gegner vor. Die Bundesregierung hat die Menschenrechtslage in der Türkei wiederholt angeprangert; immer wieder wurde der deutsche Botschafter einbestellt. Es ist ein Zeichen für die Spannungen, dass vor dem jetzigen Besuch zehn Jahre lang kein deutscher Bundespräsident mehr in der Türkei war.

Erdogan verwandelt das Land auch außenpolitisch – und trifft damit nach Meinung von Rasim Marz einen Nerv bei seinen Landsleuten: "Die Türkei unter Präsident Erdogan strebt seit zwei Jahrzehnten danach, das Land unter die führenden Nationen der Welt zu führen. Sowohl in der akademischen wie politischen Elite des Landes, unter Militärs oder Wirtschaftsmagnaten, ob aus dem Regierungslager oder der Opposition - die Vision einer politischen wie militärischen Großmacht Türkei im 21. Jahrhundert hat sich in der Gesellschaft verfestigt."

Für Erdogan ist die Hamas eine Befreiungsorganisation

Besonders brisant für die deutsche Politik ist Erdogans Haltung zur islamistischen Hamas im Gazastreifen. Erdogan hat das Massaker der Hamas vom 7. Oktober an Israelis verteidigt, bezeichnet die Hamas als Befreiungsorganisation. Dagegen ist die Sicherheit Israels – bei aller deutscher Kritik an Israels Vorgehen im Gazastreifen – offizielle deutsche "Staatsräson". Wie zur Bekräftigung der Gegensätze traf sich Erdogan kurz vor Steinmeiers Ankunft mit Hamas-Auslandschef Ismail Hanija.

Auch während seines Besuchs in Istanbul sah sich der Bundespräsident mit Demonstranten konfrontiert, die gegen die deutsche Israel-Politik protestierten.

Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind eingefroren

Die deutsch-türkischen Beziehungen sind längst eingebettet in die Beziehungen der Türkei zu gesamten EU. Zwar ist die Türkei seit 2005 EU-Beitrittskandidat, unterstützt zuvor vom SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Doch faktisch liegen die Beitrittsverhandlungen längst auf Eis, auch das eine Folge von Erdogans hartem innen- und außenpolitischem Kurs.

Bundeskanzlerin Angela Merkel war gegenüber der Türkei relativ vorsichtig aufgetreten, auch weil sie Ankara in der Flüchtlingskrise 2015/16 dringend brauchte. Die Politiker der amtierenden SPD-geführten Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz nennen die Probleme deutlicher beim Namen, nicht zuletzt die grüne Außenministerin Annalena Baerbock.

Das komme bei der türkischen Führung nicht gut an, meint Rasim Marz: "Deutschland hat nach der Ära Angela Merkel erheblichen Einfluss in Ankara verloren. Die Dissonanzen zwischen den beiden Ländern, die während des letzten Besuchs von Außenministerin Annalena Baerbock (im Juli 2022) offen zu Tage traten, sind auf unterschiedlichen Themengebieten tiefgehend." Auch eine Neubelebung der EU-Beitrittsverhandlungen "ist aktuell nicht absehbar", glaubt der Historiker und Türkei-Experte Rasim Marz.

Ein neuer Anfang?

Die Hoffnung der Bundesregierung liegt auf der türkischen Zivilgesellschaft und der türkischen Opposition. Bei den Kommunalwahlen vor wenigen Wochen erlitt Erdogans Partei AKP eine Schlappe. Stattdessen triumphierte landesweit die größte Oppositionspartei CHP. Deren großer Hoffnungsträger, auch als möglicher künftiger Staatspräsident, ist der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu.

Der Bundespräsident hat ihn bei seinem Besuch noch vor Erdogan getroffen. Ein Zeichen, dass man in Berlin auf einen politischen Wandel und weiteren Neuanfang in den türkisch-deutschen Beziehungen hofft.

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Image caption Keine politischen Freunde: Bundespräsident Steinmeier mit dem türkischen Präsidenten Erdogan
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Item 23
Id 68897406
Date 2024-04-23
Title Irak und Türkei: Wille zum Neustart - aber kein Durchbruch
Short title Irak und Türkei: Wille zum Neustart - aber kein Durchbruch
Teaser Lange galt das Verhältnis zwischen Ankara und Bagdad als schwierig. Während eines Besuchs von Präsident Erdogan in Bagdad versuchten beide Seiten, die größten Probleme auszuräumen. Experten ziehen eine gemischte Bilanz.
Short teaser In Bagdad betrieben Präsident Erdogan und seine Gastgeber politische Beziehungsarbeit. Die Bilanz fällt gemischt aus.
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An seinen Vorstellungen für eine bessere Zusammenarbeit ließ der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan während seines Besuchs in Bagdad keinen Zweifel. Der Irak solle gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei (PKK) vorgehen, forderte er. Der Irak müsse "von allen Formen des Terrorismus befreit werden", erklärte Erdogan laut Agenturberichten bei einem Treffen mit dem irakischen Präsidenten Abdul Latif Raschid.

Zudem unterzeichnete Erdogan mit Iraks Regierungschef Mohammed al-Sudani ein Rahmenabkommen zur Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit, Energie und Wirtschaft. Dazu gehört etwa ein rund 16 Milliarden Euro teures Straßen- und Eisenbahnprojekt. Außerdem sollen die derzeit ruhenden Ölexporte aus dem Irak in die Türkei wieder aufgenommen werden. Durch Projekte dieser Art wollten beide Länder "eine dauerhafte Kooperation in allen Bereichen aufbauen", sagte der irakische Premier beim ersten Besuch eines türkischen Spitzenpolitikers seit 2011.

Mit Blick auf die bislang eher angespannten Beziehungen beider Länder sei das Treffen ein deutlicher Schritt nach vorn, sagt Lucas Lamberty, Landesdirektor der Konrad-Adenauer-Stiftung in Bagdad. Es habe bereits im Vorfeld verschiedene Besuche türkischer Politiker in Bagdad gegeben. "Dass der Besuch von Präsident Erdogan nun überhaupt stattgefunden hat, ist an sich schon ein Erfolg." Sicher müsse man abwarten, inwiefern die nun unterzeichneten Beschlüsse auch umgesetzt würden. "Aber der gute Wille ist da", so Lamberty zur DW.

Die Beziehungen beider Staaten waren in der Vergangenheit in mehrfacher Hinsicht angespannt. Während des Krieges in Syrien etwa unterstützte die Türkei die gegen Machthaber Baschar al-Assad kämpfenden Aufständischen. Die Regierung in Bagdad hingegen stand eher dem Assad-Regime nahe - nicht zuletzt unter dem Einfluss Russlands und vor allem des Iran. Dieser unterstützt mehrere Milizen im Irak, allen voran die sogenannten Kataib Hisbollah.

Gemeinsamer Kampf gegen die PKK?

Einer der aus türkischer Sicht wichtigsten Punkte ist der Kampf gegen die in der Türkei, Europa und den USA als Terrororganisation gelisteten PKK in Iraks Autonomer Region Kurdistan. Im Jahr 2019 hatte die Türkei Militäroperationen in der Autonomen Region Kurdistan gegen die PKK begonnen.

Die Türkei argumentiert, nur durch die Präsenz ihrer Armee im Irak ließe sich die PKK von der Grenze fernzuhalten. Aus Sicht des Irak stellt dies jedoch eine nicht hinnehmbare Verletzung seiner territorialen Integrität dar. Doch im März dieses Jahres hatte die irakische Regierung dann überraschend der langjährigen türkischen Forderung nach einem Verbot der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) entsprochen. Wenige Tage vor dem Treffen hatte das türkische Verteidigungsministerium erklärt, seine Operationen im Norden des Nachbarlandes ausweiten zu wollen.

"Aufgrund des Autonomiestatus der Region Kurdistan-Irak, in der ein Großteil der Basen der PKK liegt, hat die Angelegenheit auch eine inner-irakische Dimension", sagt Lucas Lamberty. "Die Regierung in Bagdad hat natürlich einige Schritte unternommen, etwa die PKK zur verbotenen Organisation erklärt. Wie sie der Türkei noch weiter entgegenkommen kann, bleibt jedoch abzuwarten." Grundsätzlich gehe es dem Irak vor allem darum, die eigene Souveränität zu stärken und zu schützen.

Auf türkischer Seite hingegen sieht man in Erdogans Besuch bereits einen wichtigen Schritt in Richtung eines gemeinsamen Kampfes gegen die PKK. Bilgay Duman vom Zentrum für Nahost-Forschung (ORSAM) in Ankara, im DW-Gespräch: "Dieser Schritt gehört zu den größten Errungenschaften der Vereinbarungen."

Streitpunkt Wasserressourcen

Immerhin eine Annäherung hat es bei einem der größten Streitpunkte gegeben, der Aufteilung der Wasserressourcen. Nicht zuletzt aufgrund des Klimawandels leidet der Irak in den vergangenen Jahren zunehmend an Wassermangel. Flossen durch die Flüsse des Landes zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch 1350 Kubikmeter pro Sekunde, hat sich die Menge inzwischen auf gerade 149 Kubikmeter reduziert. Besonders betroffen sind die Zuflüsse zu den großen Strömen Euphrat, Tigris und Diyala. Für den Rückgang mitverantwortlich ist auch die Türkei. Sie hat an Flüssen Tigris und Euphrat mehrere Staudämme errichtet.

Nun wollen der Irak und die Türkei die gemeinsame Wassernutzung aus den Flüssen Euphrat und Tigris mit einem neuen Abkommen besser regeln. In einer für die Dauer von zehn Jahren unterzeichneten Vereinbarung geht es neben besserem Wasser-Management auch um Entwicklungsprojekte und einen besseren Austausch bei Bewässerungssystemen.

"Grundsätzlich sei die Vereinbarung zu begrüßen, sagt Irak-Experte Lamberty von der Konrad-Adenauer-Stiftung. "Die Gespräche haben zwar noch keine endgültige Lösung gebracht. Aber durch die Beschlüsse wurde nun ein Prozess angestoßen, mit dem die Herausforderungen angegangen werden können."

Angesichts der komplexen Ausgangslage stelle das Treffen für beide Seiten einen Erfolg dar, meint der türkische Experte Bilgay Duman. "Die Priorität der Türkei ist der Kampf gegen die PKK. Die Priorität des Irak ist die Wasserfrage. Nun sind sich beide Seiten in diesen beiden Punkten einig, und wir können auch diese Projekte als gemeinsamen Gewinn betrachten."

Doch eine Lösung der chronischen Wasserknappheit sei damit aus irakischer Sicht noch längst nicht geschafft - darauf verweist der Bagdader Politologe Ihsan Al-Shammari. Womöglich sei Iraks Regierung einfach zu schwach, um der Türkei gegenüber eigene Interessen durchzusetzen, so Al-Shammari zur DW.

Redaktionelle Mitarbeit: Elmas Topcu, Alla Ahmed

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Image caption Großer Empfang: der türkische Präsident Erdogan am Flughafen von Bagdad, neben ihm der irakische Premier al-Sudani
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Item 24
Id 68898392
Date 2024-04-23
Title Polens Justizminister verspricht Rückkehr des Rechtsstaats
Short title Polens Justizminister verspricht Rückkehr des Rechtsstaats
Teaser Im DW-Interview berichtet der polnische Justizminister und Generalstaatsanwalt Adam Bodnar, wie er die Rechtsstaatlichkeit im Land wiederherstellen möchte. Sein größer Widersacher dabei: Präsident Andrzej Duda.
Short teaser Im DW-Interview berichtet Polens Justizminister Adam Bodnar, wie er die Rechtsstaatlichkeit wiederherstellen möchte.
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Seit seinem Amtsantritt im Dezember 2023 hat Adam Bodnar viel zu tun. Da wäre zum einen die Sache mit dem Amt an sich: Bodnar ist sowohl Justizminister als auch Generalstaatsanwalt - die Doppelfunktion verdankt er seinem Vorgänger, der beide Ämter zusammengeführt hatte. Mehr noch dürfte ihn jedoch der Rückbau der Justizreform beschäftigen. Die Reform war von der Vorgängerregierung unter Leitung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) initiiert und massiv vorangetrieben worden. Die PiS höhlte durch die Reform das Justizsystem aus und griff in die Unabhängigkeit der Justiz ein, etwa indem sie neue regierungsfreundliche Richter ins Amt hob und unliebsame Richter abstrafte. Die EU leitete ein Ermittlungsverfahren wegen einer Verletzung von Artikel 7 ein - dem Verstoß gegen EU-Werte - und blockierte Milliarden an Fördergeldern, darunter auch Mittel aus dem Corona-Wiederaufbaufonds. Im Februar 2024 gab sie bis zu 137 Milliarden Euro wieder frei.

DW: Wie haben Sie die Europäische Kommission überzeugt, den Corona-Wiederaufbaufonds zu entsperren? Ist Polen jetzt schon ein Rechtsstaat?

Adam Bodnar: Wir müssen zwischen dem Wiederaufbaufonds und Artikel 7 des EU-Vertrags unterscheiden, in dem von der Wahrung der europäischen Werte die Rede ist. Um den Wiederaufbaufonds zu entsperren, mussten wir die Kommission davon überzeugen, dass keine Richter mehr verfolgt werden, die das europäische Recht anwenden und Auslegungsfragen stellen oder die Rechtsstaatlichkeit verteidigen.

Das Verfahren nach Artikel 7 gegen Polen läuft noch. Um es abzuschließen, haben wir einen Aktionsplan vorgelegt, der die Verabschiedung mehrerer Gesetze zur Wiederherstellung des Rechtsstaates vorsieht. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass vieles von der Zustimmung von Präsident Andrzej Duda abhängt, der sich bei der Beurteilung dieser Gesetze besorgt oder zurückhaltend zeigt.

Denn er selbst ist der Autor dieser Gesetze - zumindest einiger.

Eben.

Wie soll es weiter gehen? Wollen Sie ein System schaffen, das der Einflussnahme durch die Politik besser widersteht?

Zunächst müssen wir unser Rechtssystem in Ordnung bringen und stabilisieren.

Eine Rückkehr zum Zustand aus der Zeit vor der Machtübernahme durch die Partei Recht und Gerechtigkeit im Jahr 2015 also?

Eine Rückkehr kann es nicht geben, denn wir haben ziemlich ineffiziente Gerichte. Wir müssen ihre Effizienz wiederherstellen. Und das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen. Wir brauchen aber auch verschiedene Schutzmechanismen, die es 2015 in Polen nicht gab, wie etwa die Überwachung der Geheimdienste. Die Pegasus-Affäre ist ein Beweis dafür.

Pegasus ist eine israelische Spionagesoftware, die eigentlich von Staaten zur Überwachung von Kriminellen eingesetzt werden soll. In Polen wurden damit unter der Vorgängerregierung auch Journalisten und Oppositionspolitiker abgehört.

Genau davor haben wir uns vor 2015 nicht geschützt. Es geht also auch um die Aufarbeitung der Rückstände von damals. Die Gerichte sollten über echte Kontrollmechanismen gegenüber den Geheimdiensten verfügen, insbesondere im Hinblick auf Entscheidungen über Lauschangriffe und operative Kontrollen.

Sie wollen auch Ihre beiden Posten voneinander trennen - zurzeit sind Sie sowohl Justizminister als auch Generalstaatsanwalt. Warum?

Die Trennung der Ämter des Justizministers und des Generalstaatsanwalts ist ein sehr wichtiger Teil des Aktionsplans, den ich in Brüssel vorgestellt habe. Als die PiS 2015 die Macht übernahm, waren beide Ämter getrennt. Zbigniew Ziobro, der dann das Justizressort übernahm, hat jedoch sehr schnell beide Funktionen wieder zusammengeführt. Das habe ich von ihm "geerbt". Nun unternehme ich konkrete Schritte, um sie wieder zu trennen und um die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft wiederherzustellen.

Wie macht man das?

Ich bemühe mich, den Staatsanwälten Handlungsfreiheit zu geben, indem ich zur Seite trete. So äußere ich mich öffentlich zu den Angelegenheiten nicht, mit denen sie befasst sind. Gleichzeitig wird ein Gesetzentwurf erarbeitet, beide Ämter voneinander zu trennen.

Wenn es um die Frage geht, wie die Rechtsstaatlichkeit in Polen wiederhergestellt werden kann, wird oft die die Ernennung von neuen Richtern genannt. Was ist da das Problem?

Ein 2018 verabschiedetes Gesetz ändert die Art und Weise, wie 15 der insgesamt 25 Mitglieder des Landesrates für Gerichtswesen gewählt werden. Sie wurden zuvor von anderen Richtern gewählt. Seit 2018 tut das Parlament dies. Das ist insofern gefährlich, als dass der Rat dem Präsidenten Kandidaten als Richter empfiehlt. Seit 2018 sind so mehr als 2000 Personen nominiert worden.

Ist das viel?

Auf jeden Fall nicht wenig, denn wir haben über 9000 Richter. Dieses Vorgehen wurde von Anfang an in Frage gestellt. Die damalige Regierungsmehrheit konnte auf diese Weise Einfluss auf die Justiz ausüben. Dadurch, dass parteinahe Richter befördert wurden, wurde ein neues Gerichtswesen aufgebaut - ein bisschen so wie in Ungarn.

Die neue Regierung sagt, dass die Wahl dieser 15 Ratsmitglieder durch die Richter selbst, statt durch das Parlament, wiederhergestellt werden muss. Darum geht es in dem Gesetzentwurf, der dem Parlament vorliegt. Aber wenn wir das tun, stellt sich gleich die Frage, was mit den Richtern geschieht, die bereits ernannt wurden.

Und?

Diese Debatte dauert an. Das Wichtigste ist jedoch die Erklärung des Präsidenten, dass alle Ernennungen nach 2018 gültig seien und dass wir sie nicht anrühren dürfen.

Wird Präsident Andrzej Duda also ein Veto einlegen? Er steht der Vorgängerregierung nah.

Der Präsident hat ein Veto im Zusammenhang mit dem Gesetz über den Landesrat für Gerichtswesen angekündigt. Aber es ist noch etwas Zeit, da die Debatte im Senat noch bevorsteht. Die endgültige Position des Präsidenten bleibt also abzuwarten.

Sie haben bereits die Affäre um die Späh-Software Pegasus erwähnt. Wie groß ist dieses Problem?

Enorm. Inzwischen kümmert sich ein Ermittlungsausschuss des Parlaments darum, der meiner Meinung nach noch eine wichtige Rolle spielen wird. Jetzt haben wir Zugang zu Daten, die sich in den Beständen der Geheimdienste befinden, zu Informationen darüber, gegen wen Pegasus eingesetzt wurde. Und die Staatsanwaltschaft hat dadurch die Möglichkeit, festzustellen, ob die Software missbraucht wurde. Unser Ziel ist es, diejenigen vor Gericht zu bringen, die sich des Missbrauchs schuldig gemacht haben.

Vor Kurzem haben Sie berichtet, dass 578 Personen von Pegasus überwacht wurden.

So lauten die Informationen des Militärischen Abwehrdienstes, der Agentur für Innere Sicherheit und des Zentralen Antikorruptionsbüros. Diese drei Dienste und die Staatsanwaltschaft verfügen über vollständige Listen von Personen, gegen die Pegasus eingesetzt wurde. Weitere, zusätzliche Fälle sind mir nicht bekannt.

Sind Sie imstande zu sagen, wie viele dieser Menschen rechtswidrig überwacht wurden und warum?

Allein schon die Pegasus-Software ist fragwürdig, da sie ein tiefes Eindringen in den Inhalt eines Mobiltelefons ermöglicht und darüber hinaus Daten an den Softwarehersteller übertragen kann. Natürlich könnte es sein, dass die Behörden Pegasus in gutem Glauben verwendeten, zum Beispiel zum Schutz der grundlegenden Interessen des Staates im Kontext der Spionage oder bei der Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Es ist nun Aufgabe der Geheimdienste und der Staatsanwaltschaft, jeden einzelnen Fall sorgfältig zu analysieren und festzustellen, wie oft die Technologie missbräuchlich, in trivialen Angelegenheiten, auf unverhältnismäßige Weise oder zur Verfolgung politischer Ziele eingesetzt wurde.

Das Interview führte Aureliusz M. Pedziwol.

Zur Person:

Der 1977 geborene Jurist Adam Bodnar war 2015 bis 2021 Ombudsmann für Bürgerrechte und kritisierte als solcher den Justizumbau durch die PiS. Zuvor hatte er bei der Helsinki-Stiftung für Menschenrechte gearbeitet. 2023 wurde Bodnar in den polnischen Senat gewählt, seit dem 13. Dezember ist er parteiloser Justizminister und Generalstaatsanwalt in der Regierung von Donald Tusk.

Item URL https://www.dw.com/de/polens-justizminister-verspricht-rückkehr-des-rechtsstaats/a-68898392?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Justizminister und Generalstaatsanwalt in Personalunion: Adam Bodnar
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Item 25
Id 68894713
Date 2024-04-23
Title Mehr als Döner: Deutschlands Bundespräsident in der Türkei
Short title Mehr als Döner: Deutschlands Bundespräsident in der Türkei
Teaser Nach mehr als zehn Jahren besucht ein deutscher Bundespräsident die Türkei. Im Vorfeld wurde viel über einen Dönerspieß gesprochen. Doch die Reise hat für die türkische Community in Deutschland einen anderen Stellenwert.
Short teaser Nach mehr als zehn Jahren besucht ein Bundespräsident die Türkei. Es ist ein Balanceakt zwischen Werten und Realpolitik.
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Es ist ein sonniger Tag. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier läuft am Bahnhof von Sirkeci in Istanbul den Bahnsteig hinab, an dem vor mehr als 60 Jahren rund 100.000 türkische Gastarbeiter ihr Glück und ihre Hoffnung in Deutschland suchten. "Es ist kein Zufall, dass wir unsere Reise heute mit einem Besuch dieses Bahnhofs begonnen haben. Ich habe mich gefreut, als erste Station diesen Bahnhof zu besuchen, der für das Schicksal vieler Menschen, die aus der Türkei nach Deutschland reisen, ein Ort großer Emotionen ist" , sagt Steinmeier, sichtlich gerührt von der Geschichte. Er weist darauf hin, dass in Deutschland mehr als drei Millionen Türkei-stämmige Menschen leben: "Menschen aus der Türkei, die in Deutschland leben, sind Teil unserer Gesellschaft geworden. Ihre Geschichten sind auch unsere Geschichten, nicht die Geschichten von Menschen mit Migrationshintergrund, sondern die Geschichten eines Landes mit Migrationshintergrund."

Gestört wird das Programm von einer pro-palästinensischen Gruppe, die Lautstark, "Deutschland - Verbrecher in Gaza, Kindermörder Deutschland" skandiert, bevor nach einiger Zeit die Polizei einschreitet.

Die Freundschaft zwischen Deutschland und der Türkei ist wichtig

Auch Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoguz ist Mitglied der Delegation. Ihre Eltern stammen aus der Türkei. Für sie ist es eine "bedeutsame Reise des Bundespräsidenten". "Wir schauen in die Vergangenheit und auch in die Gegenwart und wollen herausfinden, ob die Probleme zwischen Deutschland und der Türkei dieselben sind", sagt sie und fährt fort: "Ich denke Nein. Wir haben viele Schritte nach Vorne gemacht und ich denke, dass diese Schritte und auch in eine positive Zukunft bringen werden". Aber auch Özoguz ist Realistin. Es bedürfe mehr als einer Reise des Bundespräsidenten, bevor das Verhältnis werde, wie es unter Freunden sein sollte.

Das Verhältnis zwischen Berlin und Ankara ist seit Jahren unterkühlt. Nicht nur massive Menschenrechtsverletzungen, mangelnde Rechtstaatlichkeit und Demokratiedefizite kritisiert Berlin, auch der zunehmende Einfluss der türkischen Regierung auf Deutschtürken führt häufig zu Spannung zwischen beiden Ländern. Erdogans Drohungen, wie etwa die, Flüchtlinge in die EU übersetzen zu lassen oder Erpressungsversuche wie zuletzt vor dem NATO-Beitritt Schwedens belasten das Verhältnis weiter. Auch seine Äußerungen, Israel sei ein Terror-Staat und die Hamas, die in der EU und weiteren Staaten als Terrrorguppe geächtet ist, sei eine Befreiungsorganisation, löste heftige Reaktionen in Berlin aus. Einmal mehr griff er am vergangenen Wochenende den israelischen Premier Benjamin Netanjahu an, während er den Hamas-Chef Ismail Hanija in Istanbul empfing.

Aber Erdogan ist bis 2028 im Amt, auch wenn sein Bündnis bei den Kommunalwahlen am 31. März eine Niederlage erlitt. Das erfordert einen Balanceakt, den der Bundespräsident leisten will. Zu Beginn seiner Reise traf er den Politstar der Opposition, den Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoglu. Heute ist Steinmeier im Erdbebengebiet unterwegs, bevor er am Abend nach Ankara fliegt und am Mittwoch vom türkischen Präsidenten in seinem Palast empfangen wird.

Bundesfinanzminister Lindner: Die Türkei hat ein großes Potential

Neben Abgeordneten, Staatssekretären und Gästen aus Kunst, Literatur und Wirtschaft ist auch Bundesfinanzminister Christian Lindner Teil der Delegation. Am Mittwoch wird er seinen türkischen Amtskollegen Mehmet Simsek in der Hauptstadt treffen, der nicht nur neue Investitionen ins wirtschaftlich angeschlagene Land zu holen versucht, sondern auch die galoppierende Inflation nicht in Griff bekommt. Auf die Frage der DW, welche wirtschaftlichen Ratschläge Lindner seinem Amtskollegen Mehmet Simsek mitgeben werde, sagt Lindner: "Wir sind nicht hier, um Ratschläge zu geben, aber wir unterstützen sehr die Bemühungen der türkischen Regierung, die Wirtschaftsentwicklung zu stabilisieren. Das bedeutet, die Inflation zu bekämpfen. Die Entwicklungen, die wir hier gesehen haben, die zeigen ein Bemühen um mehr Verlässlichkeit".

Für Lindner steht fest, dass die Türkei ein hohes Potenzial hat. Er geht davon aus, dass deutsche und internationale Investoren sich wieder im Land niederlassen werden, wenn die wirtschafts- und währungspolitischen Probleme in der Türkei überwunden werden. "Ich bin davon überzeugt, dass die Türkei es in der Hand hat, sich wirtschaftlich zu erholen, wenn sie wieder auf den Markt setzt und nicht auf interventionistische Eingriffe, wenn die Frage der Verlässlichkeit rechtlicher Rahmenbedingungen, übrigens auch der Menschenrechtssituation, gewährleistet ist, dann hat das auch positive Auswirkungen auf Wachstumsperspektive und die Attraktivität für deutsche Investoren".

Bei der Visavergabe für türkische Unternehmer gab und gibt es immer wieder Probleme. Zahlreiche Geschäftsleute können keine Messen oder Veranstaltungen in Deutschland besuchen, um ihre Produkte auf dem Markt zu präsentieren. Ja, auch dieses Problem sei bekannt und mit Vertretern und Vertreterinnen der Wirtschaft angesprochen worden, sagt Lindner. Das Auswärtige Amt arbeite daran, das Visamanagement zu verbessern und zu beschleunigen. "Wir wollen die Kapazitäten dort ausweiten und verbessern. Da tun wir was" so Lindner weiter.

Es ist eine Ehre, dabei zu sein

Unter den Delegationsteilnehmern sind auch zahlreiche türkeistämmige Gäste. Unter Ihnen ist der vielleicht am meisten interviewte Gastronom Deutschlands, Arif Keles, der in Berlin in dritter Generation einen Dönerimbiss betreibt. Der Bundespräsident sagt am Abend bei einem Empfang in der Sommerresidenz der deutschen Botschaft, dass der Döner eine der Geschmacksrichtungen sei, die die Türkei und Deutschland verbinde und dass er selbst gerne Döner esse. Und so kam es, erzählt Keles der DW, dass das Bundespräsidialamt ihm eine Anfrage machte. "Sie riefen mich an und sagten, dass ich eingeladen bin, den Bundespräsidenten in die Türkei zu begleiten. Es ist für mich natürlich eine Ehre und ich bin stolz darauf, hier dabei zu sein". Dass er einen tiefgefrorenen, 60 Kilo schweren Dönerspieß samt Soßen und anderen Zutaten im Flugzeug mit nach Istanbul nahm, sorgte in sozialen Netzwerken zwar auch für Spott. Aber für Steinmeier symbolisiert Keles genau die Erfolgsgeschichte, die er am Bahnhof Sirkeci angesprochen hatte. Türkeistämmige seien weder in der Kultur, der Wirtschaft oder erst recht in der Gastronomie wegzudenken.

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Image caption Im Garten der Sommerresidenz der deutschen Botschaft wurde Döner aus Berlin serviert. Der Bundespräsident und der Berliner Gastronom Keles
Image source Bernd von Jutrczenka/picture alliance/dpa
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Item 26
Id 68873801
Date 2024-04-23
Title Kulturszene in Deutschland gegen AfD
Short title Kulturszene in Deutschland gegen AfD
Teaser Die rechtspopulistische Partei AfD hat in Deutschland viel Zulauf und könnte nach den nächsten Wahlen die Kunstfreiheit einschränken, so die Sorge vieler Kulturschaffender. Deswegen haben sie eine Kampagne gestartet.
Short teaser Die rechtspopulistische AfD könnte nach den Wahlen die Kunstfreiheit einschränken. Dagegen formiert sich Protest.
Full text

Die Partei AfD (Alternative für Deutschland) ist nationalistisch gesinnt und in Teilen rechtsextremistisch. In Meinungsumfragen ist sie trotzdem auf dem Vormarsch - für das Kulturkollektiv "Die Vielen" ein Grund gegenzusteuern. Der Zusammenschluss von rund 4.500 Theatern, Galerien und anderen Kultureinrichtungen hatte nach der Corona-Pandemie eine Pause eingelegt. Doch jetzt stehen die Europawahl, einige Kommunal- und Landtagswahlen und 2025 die Bundestagswahl bevor - und die Mitglieder des Vereins "Die Vielen" sehen im Erstarken der AFD eine existenzielle Bedrohung für die pluralistische Demokratie, in der sich Kunst frei entfalten kann.

"Demokratischer Schutzschirm" gegen AfD

Bereits im Vorfeld der Europawahl 2019 hatten "Die Vielen" Proteste gegen die AfD initiiert. Jetzt bringt ihre neue Kampagne "Shield & Shine" basisdemokratische Kunstkollektive und Kuratoren mit hochkarätigen Orchestern, Bühnenarbeitern, Opernhäusern und dem Publikum zusammen. Das Ziel: "Tausende demokratische Schutzschirme über alle Bundesländer zu spannen" und so die "Normalisierung rechtsextremer Politik in demokratischen Parlamenten" zu neutralisieren, wie es zum Auftakt der Kampagne am 10. April hieß. Angesichts des zweiten Platzes der AfD in vielen Umfragen sollen Wechselwähler und junge Menschen, von denen viele zum ersten Mal ihre Stimme abgeben dürfen, ermutigt werden, sich der Regenschirm-Bewegung anzuschließen - eine Metapher, die auch von Demokratie-Aktivistinnen und -Aktivisten in Hongkong verwendet wird.

Rund 5000 Menschen war es ein Anliegen, die "Erklärung der Vielen" zu unterzeichnen, nachdem bekannt wurde, dass AfD-Mitglieder bei einem geheimen Treffen im November mit Neonazis zusammensaßen. Dort wurde die Abschiebung von Millionen von Migrantinnen und Migranten aus Deutschland gefordert - auch solcher, die längst einen deutschen Pass haben. In ganz Deutschland kam es daraufhin zu Massenprotesten. Dem Aufruf von "Die Vielen", die Ausgrenzungspläne der Rechtsextremen durch integrative und kreative demokratische Plattformen zu bekämpfen, gab das enormen Auftrieb.

Inzwischen steht Björn Höcke, einer der radikalsten deutschen AfD-Politiker, wegen der Verwendung einer Nazi-Parole vor Gericht.

Angst vor Zensur durch AfD

Es besteht die Befürchtung, dass die AfD - sollte sie nach der Bundestagswahl 2025 zweitstärkste Partei im Land werden - pro-demokratische kulturelle Stimmen aktiv unterdrücken könnte. In Sachsen, wo die AFD seit langem an der Spitze der Wählergunst steht, zensieren sich die Kulturschaffenden in Erwartung eines Wahlsiegs der Partei bei den bevorstehenden Regional- und Landtagswahlen bereits selbst, so Philine Rinnert, Vorstandsmitglied von "Die Vielen" in Berlin. "Einem Theaterfestival in Sachsen droht bereits der Verlust der Finanzierung", erklärte sie. Kuratoren und künstlerische Leiter befürchteten, dass sie ihren Job verlieren könnten, wenn ihre Arbeit nicht mit der monokulturellen und fremdenfeindlichen Agenda der AfD übereinstimme.

Daniel Brunet ist künstlerischer Leiter des English Theatre Berlin und seit der Gründung von "Die Vielen" im Jahr 2017 Mitglied des Kollektivs. Die AfD-Abgeordneten im Berliner Landesparlament würden Kunstinstitutionen überwachen, indem sie "Einzelaufstellungen der Empfänger von Kulturgeldern" verlangen, sagt er. Er befürchtet eine mögliche Zensur, sollte die AfD bei den nächsten Wahlen weiter zulegen. "Es macht uns nervös, dass sie genau diese Informationen wollen", sagte er der DW und deutete damit einen Rachefeldzug gegen Kulturorganisationen an, die liberale oder progressive Ziele verfolgen.

Europawahlen entscheidend, um Rechtsruck zu stoppen

"Die Vielen" planen vor den Europawahlen im Juni eine Aktionswoche, in der laut Vorstandsmitglied Rinnert "unterschiedlichste Kunstinstitutionen im ganzen Land demokratische Schirme bei Veranstaltungen und Performances aufspannen werden".

Brunet vom English Theatre Berlin befürchtet, dass rechtsextreme Fraktionen bald das Europaparlament dominieren könnten, darunter neben der AFD auch der französische Rassemblement National von Marine Le Pen und die Fidesz-Partei des rechtspopulistischen ungarischen Präsidenten Victor Orban - der bereits parteiinterne Besetzungen in staatlichen Kultureinrichtungen vorgenommen hat.

Das English Theatre Berlin will dieser Entwicklung entgegenwirken, indem es für eine höhere Wahlbeteiligung wirbt. Derzeit, so der Intendant, gingen nur rund 60 Prozent der Wahlberechtigten zur Wahl.

Teile der AFD in Ostdeutschland, darunter in Sachsen und Thüringen, wurden vom Bundesnachrichtendienst als "erwiesenermaßen rechtsextremistisch" eingestuft. Brunet ist besorgt, weil die Partei Wahlwerbung mit weißen Menschen und Slogans wie "Wir machen die Deutschen selbst" verbreitet - eine klare Abgrenzung gegen Migranten.

Die Wahlbeteiligung erhöhen

Bei der Europawahl 2024 dürfen Jugendliche erstmals schon ab 16 Jahren wählen. "Die Vielen" wollen der AfD gezielt Konkurrenz machen, um die nächste Generation unter das demokratische Schutzschild" zu nehmen. "Echte Männer sind rechts", verkündete der Rechtsextremist und Spitzenkandidat der AfD zur Europawahl, Maximilian Krah, in einer Reihe von Posts auf TikTok. Um die Stimmen der jungen Leute zu gewinnen, inszeniert sich Krah als Dating-Experte, der jungen Männern Liebestipps gibt. "Echte Männer haben Ideale, echte Männer sind Patrioten", sagt er in seinem Clip. "Dann bekommst du auch eine Freundin." Das Video ging viral.

Nach Beschwerden, Krah verbreite auch Verschwörungstheorien und rassistische Ansichten, schränkte TikTok den Zugang im März 2024 ein und blockierte einige Videos. Experten für politische Kommunikation befürchten, dass die TikTok-Strategie die Wahl beeinflussen könnte.

Kulturszene gegen Rassismus

Für Daniel Brunet ist Deutschland "ein Leuchtturm der Hoffnung in der EU", weil es sich in der Nachkriegszeit für Pluralismus und künstlerische Meinungsfreiheit eingesetzt habe und es immer noch Einwanderung gebe. "Nie wieder dürfen Theater, Opern und Orchester, Museen, Literatur- und Kulturhäuser oder Kinos und Medien ihre Arbeit in den Dienst von Antidemokrat*innen und Faschist*innen stellen", heißt es in einer Erklärung der Initiative "Die Vielen" - die damit eindeutig auf die NS-Zeit anspielt. "Jetzt ist es an der Zeit, der Menschenverachtung und der Zerstörung unserer demokratischen Kultur entgegenzutreten."

Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords

Item URL https://www.dw.com/de/kulturszene-in-deutschland-gegen-afd/a-68873801?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Schon vor den Massenprotesten gegen die AfD im Jahr 2024 formierte sich eine kulturelle Bewegung gegen den Aufstieg der extremen Rechten
Image source Kirill Kudryavtsev/AFP/Getty Images
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Item 27
Id 68871692
Date 2024-04-22
Title Wird Wetter durch KI genauer vorhersagbar?
Short title Wird Wetter durch KI genauer vorhersagbar?
Teaser Zu wissen, wie das Wetter genau wird, ist vor allem für Landwirtschaft und Industrie wichtig - speziell bei Extremwetter. Aber oft sind die Prognosen nicht präzise.
Short teaser Zu wissen, wie das Wetter genau wird, ist vor allem für Landwirtschaft und Industrie wichtig, speziell bei Extremwetter.
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Warum sind Wetterprognosen ungenau?

Im Laufe der Jahre sind die Wetterprognosen viel präziser geworden, weil Messstationen, Satelliten, Schiffe, Bojen und auch Verkehrsflugzeuge permanent Daten sammeln. Am Boden und in der Luft werden zum Beispiel die Temperatur, der Luftdruck und der Niederschlag gemessen. Die Daten werden dann von Computern auf Grundlage von physikalischen Gesetzen verarbeitet. So lassen sich dann - je nach Wetterlage - sehr präzise Vorhersagen für einen bestimmten Zeitraum erstellen.

Allerdings ist unsere Atmosphäre ein sogenanntes "chaotisches System". Wie beim Schmetterlingseffekt können "selbst kleinste Unterschiede in der Temperatur, im Druck, im Wind an relativ weit entfernten Orten und auch mit einem zeitlichen Verzug eine große Wirkung zeigen", sagt Meteorologe Peter Knippertz vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) gegenüber der DW.

Das Messraster ist für solch ein chaotisches System zu grob. "Selbst mit immer größeren Computern und immer besseren Satelliten oder anderen Messsystemen wird immer eine Unsicherheit bleiben", erklärt Knippertz. Da absolute Vorhersagen deshalb unmöglich sind, arbeitet die Meteorologie mit Wahrscheinlichkeiten dafür, ob es Regen, Gewitter oder Sturm gibt.

Warum sind Wetter-Apps oftmals noch unzuverlässiger?

Wetter-Apps auf dem Smartphone suggerieren, dass sie sehr präzise sind und "zehn Tage in die Zukunft, Postleitzahl-genau vorhersagen, wie das Wetter wird", so Knippertz. Dabei liefern Apps stark komprimierte Informationen. "Wenn die App zum Beispiel 21 Grad mit leichter Bewölkung vorhersagt, denkt der Nutzer: Okay, das scheint sehr präzise zu sein." Dabei gelten natürlich auch für die Apps die gleichen Unsicherheiten, aber das wird nach Ansicht des Meteorologen oft nicht wirklich kommuniziert.

Außerdem gibt es keine weltumspannende Qualitätskontrolle für Wetter-Apps. "Das ist ja inzwischen ein offener Markt, jeder kann seine eigene Wetter-App programmieren und an den Markt bringen, und zum Beispiel über Anzeigen Geld verdienen. Woher die Informationen genau kommen und wie sie genau aufbereitet werden, das werden die meisten kommerziellen Anbieter nicht unbedingt der Öffentlichkeit mitteilen", erklärt Knippertz.

Wird Künstliche Intelligenz künftig die Prognosen verbessern?

Bisher basieren Wettervorhersagen auf physikalischen Modellen. Vorhersagen von Künstlicher Intelligenz (KI) sind dagegen vor allem Daten-orientiert und somit eher statistisch. Aus vorhandenen Wetterdaten leitet die KI Muster und Strukturen ab und erstellt anhand eines Algorithmus entsprechende Wettervorhersagen. Physikalische Gesetze werden also eher indirekt erlernt.

Zwar seien die Fortschritte der KI auch in der Meteorologie beeindruckend, so Knippertz, aber da KI die Muster aus Daten der Vergangenheit erhebt und von einem Mittelwert ausgeht, komme die KI vor allem bei extremeren Wetterlagen auch an ihre Grenzen. "Deshalb sollten wir in Zukunft immer mehr versuchen, hybride Vorhersagesysteme zu bauen, die konventionelle Methoden mit physikalischen Gleichungen und KI-Methoden verbinden, um das Risiko einer Fehlvorhersage noch weiter zu reduzieren."

Können KI-Vorhersagen in strukturschwachen Gebieten eine Alternative sein?

Da längst nicht alle Regionen weltweit über Daten von Messstationen, Bojen etc. verfügen, ruhen die Hoffnungen für zuverlässige Prognosen auf KI. Meteorologe Knippertz ist da skeptisch: "Wir brauchen in den Regionen der Welt, wo es bisher wenig Beobachtungen gibt, mehr Anstrengungen, auch vielleicht der internationalen Community, diese Lücken zu schließen. Für die Weltmeteorologie wäre es mit Blick auf Wetterextreme wichtig, dass wir auch Wetterbeobachtungskapazitäten in Afrika, Lateinamerika oder Südostasien ausbauen. Diese Aufgabe kann uns KI meiner Meinung nach nicht abnehmen."

Wie verändert der Klimawandel die Wettervorhersagen?

Auch der Klimawandel ändere nichts an den physikalischen Gesetzen und grundsätzlichen Problem der Wettervorhersage. Allerdings verschieben sich die Klimazonen und damit auch die zum Teil extremen Wetterlagen. "Tornados, Starkregen oder auch Dürren können dann noch heftiger ausfallen, als sie es in der Vergangenheit getan haben, und dadurch ist die Auswirkung auf den Menschen auch entsprechend größer."

Daraus entstehen "neue Herausforderungen in der Vorhersage, im Warnprozess, aber auch in der Bereitschaft der Bevölkerung, dann solche Warnungen ernst zu nehmen und sich entsprechend zu verhalten", so Knippertz.

Warum sind Unwetterwarnungen oftmals so dramatisch?

Bei Starkregen, Gewittern oder Stürmen sind die behördlichen Warnhinweise oftmals dramatischer als das dann lokal auftretende Wetterereignis. Das sorgt zuweilen für Unverständnis oder eine gewisse Abstumpfung. "Wenn Leute evakuiert werden, und es passiert nichts, bricht danach oft in den sozialen Medien und im Internet ein Shitstorm los", sagt Knippertz. "'Was war das jetzt für ein Blödsinn? Sind die eigentlich alle total verrückt? Was für eine Hysterie!'"

Warnungen seinen immer eine schwierige Abwägung, so Knippertz: "Die Kosten einer Evakuierung - ich schlaf mal eine Nacht in der Turnhalle auf der Isomatte - sind in meinen Augen sehr klein gegenüber einem grausamen Ertrinkungstod im eigenen Keller. Aber dafür gibt es in meinen Augen zu wenig Bewusstsein und zu wenig Verständnis in der Bevölkerung."

Item URL https://www.dw.com/de/wird-wetter-durch-ki-genauer-vorhersagbar/a-68871692?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/64108713_302.jpg
Image caption Wettervorhersagen sind nicht so zuverlässig, wie die App auf dem Handy es suggeriert.
Image source Robert Guenther/dpa/picture alliance
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Item 28
Id 68888372
Date 2024-04-22
Title Industrie auf Hannover Messe: Ruf nach Reformen
Short title Industrie auf Hannover Messe: Ruf nach Reformen
Teaser Die deutsche Industrie warnt vor einem besorgniserregenden Abwärtstrend. In diesem Jahr werde die Industrieproduktion erneut sinken. Auf der Hannover Messe fordern Verbände zum Gegensteuern auf.
Short teaser In diesem Jahr wird die Industrieproduktion weiter sinken. Auf der Hannover Messe fordern Verbände mehr Reformen.
Full text

Die deutsche Industrie stellt sich auf ein weiteres schwieriges Jahr ein und fordert deutliche Reformen zur Stärkung des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Zum Auftakt der Hannover Messe am Montag sagte der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, die bisher von der Bundesregierung eingeleiteten Reformen wie das Wachstumsförderungsgesetz und beim Bürokratieabbau reichten bei Weitem nicht aus, um den Industriestandort zukunftsfest zu machen.

In diesem Jahr werde die deutsche Industrieproduktion erneut zurückgehen, nach Schätzung des BDI um Vergleich zu 2023 um 1,5 Prozent. "Trotz moderater Erholungsaussichten dürfen wir uns nichts vormachen: Insgesamt zeigen die Produktionszahlen schon seit Jahren einen besorgniserregenden Abwärtstrend", sagte Russwurm. Im Mittelpunkt der weltgrößten Industrieschau stehen in diesem Jahr der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) und Wasserstoff als Energieträger.

Vor fünf Jahren noch Science Fiction

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte zum Messeauftakt: "Was man hier spürt, ist Innovation, Lust, neue Dinge zu entwickeln. Das gilt insbesondere für die ganz große Aufgabe, wie kriegen wir das hin, mit den Herausforderungen der Digitalisierung umzugehen und die Chancen zu nutzen." KI sei heute selbst in kleinsten Produkten schon zu finden. Das helfe auch, weniger Ressourcen zu verbrauchen.

Der Ministerpräsident des Messe-Partnerlandes Norwegen, Jonas Gahr Støre, zeigte sich ebenfalls beeindruckt: "Viele der Dinge, die wir heute gesehen haben, wären vor fünf Jahren noch Science Fiction gewesen."

Von der Industrie bekam Scholz erneut Forderungen mit auf den Weg durch die Messehallen. BDI-Präsident Russwurm sagte, "was die Bundesregierung bisher getan hat, ist aller Ehren wert. Aber es reicht halt nicht." So lasse sich der Rückgang der Industrieproduktion, der seit Jahren zu beobachten sei, nicht stoppen. "Wir brauchen wettbewerbsfähige und langfristig planbare Energiepreise", forderte Russwurm erneut. Zudem müssten die Unternehmenssteuern gesenkt werden. "Die aktuelle Belastung von knapp 30 Prozent ist ein ernst zu nehmender negativer Standortfaktor."

Auch der Präsident des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), Karl Haeusgen, forderte mehr Tempo in der Wirtschaftspolitik. Die Industriestandorte Deutschland und Europa bräuchten keine Untergangsdebatten, sondern mutige Reformen, um wettbewerbsfähig zu bleiben.

"Neue Investitionsvorhaben finden aktuell vor allem im Ausland statt, etwa in den USA. Das wird, wenn wir dem nichts entgegensetzen, zu einer anhaltenden Schwächung unserer Wirtschaft führen", sagte Haeusgen. "In der aktuellen Wirtschaftspolitik fehlt jedoch die Leidenschaft zur Freiheit."

Rund 4000 Aussteller aus 60 Ländern präsentieren sich auf der Hannover Messe. Leitthemen sind die Entwicklung einer klimaschonenderen Produktion und Lösungen für die Energiewende. 2023 waren 130.000 Besucher zu der Messe gekommen, deutlich weniger als vor der Corona-Pandemie. So waren 2019 noch 215.000 Besucher gezählt worden. Im Jahr 2020 war die Ausstellung coronabedingt erstmals seit der Gründung 1947 ausgefallen. 2021 fand sie nur digital statt.

hb/bea (dpa)

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Image caption Rundgang auf der Hannover Messe: Norwegens Premier Støre (l.) und Bundeskanzler Scholz (r.) an einem Messestand
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Item 29
Id 68869211
Date 2024-04-22
Title Wohin mit den ganzen E-Autos?
Short title Wohin mit den ganzen E-Autos?
Teaser Der sinkende Verkauf von Autos mit elektrischem Antrieb hat auch Folgen, auf die man nicht sofort kommt: Weil mehr Autos aus Übersee importiert als zurzeit verkauft werden, müssen viele Wagen in Häfen geparkt werden.
Short teaser Weil mehr Autos aus Übersee importiert als zurzeit verkauft werden, müssen viele Wagen in Häfen geparkt werden.
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Autos sind eine besondere Ware: Auf der einen Seite sind sie handlicher als etwa Bohrinseln, denn die werden einzeln und "im Stück" ausgeliefert: Andererseits sind sie wieder so groß, dass man sie nicht einfach in ein Regal legen kann. Jedes Auto nimmt eben bis zu zehn Quadratmeter Platz ein, auch wenn es nicht genutzt wird.

Das bereitet den Häfen, in denen Schiffe für den Autotransport be- und entladen werden, Probleme. In Deutschland betrifft das vor allem zwei Städte: Emden und Bremerhaven. Das Autoterminal Bremerhaven gehört zu den größten Autohäfen der Welt. Die dortige BLG Logistics Group teilte der DW mit, sie verlade mehr als 1,7 Millionen Fahrzeuge pro Jahr.

Unternehmenssprecherin Julia Wagner präzisierte, dass der Hafen Platz für ca. 70.000 Fahrzeuge biete: "Alle namhaften Autoreeder bedienen Bremerhaven regelmäßig und jedes Jahr laufen mehr als 1000 CarCarrier das Terminal an." Und dabei stelle die BLG fest, dass "sich der Umschlag von Pkw in den vergangenen Jahren verändert" habe: "Wir hatten lange Zeit 80 Prozent Export und 20 Prozent Import. Dieses Verhältnis liegt mittlerweile bei 50:50."

Das Problem liegt beim Landtransport

Doppelt so viele Autos wie in Bremerhaven werden im belgischen Zeebrügge, dem Hafen der mittelalterlichen Stadt Brügge, verladen. Auch dort sind derzeit viele Autos geparkt, die angelandet, aber noch nicht weitertransportiert wurden. Elke Verbeelen von der Kommunikationsabteilung der Häfen Antwerpen/Brügge bestätigt das der DW: "Das geschieht in allen europäischen Häfen, die große Mengen von Autos verschiffen."

Die verlängerte Verweildauer hängt aber nicht nur an der schieren Menge importierter Wagen: "Das Problem liegt weniger in der Zahl der angelandeten Autos, sondern eher darin, dass sie nicht zügig abtransportiert werden."

Noch reichen die Kapazitäten der großen Terminals aus, um die Autos parken zu können. Julia Wagner aus Bremerhaven betont ausdrücklich: "Eine 'Verstopfung' des Terminals, wie in einigen Medien über die Lage in europäischen Häfen berichtet wurde, stellen wir aktuell nicht fest." Auch aus Antwerpen/Brügge und anderen europäischen Häfen wird derzeit kein akuter Parkplatzmangel gemeldet.

Wo kommen sie her, wo gehen sie hin?

Das Verschiffen von Autos ist entgegen dem ersten Augenschein ein eher undurchsichtiges Geschäft, denn es ist nicht auf den ersten Blick zu erkennen, wo ein Auto gebaut und dann verkauft wird. Westliche Hersteller wie Tesla lassen mitunter in China produzieren und bringen ihre Fahrzeuge dann nach Europa. Gleichzeitig produzieren viele Autobauer ihre Fahrzeuge für asiatische Märkte oder für das US-Geschäft jeweils an Ort und Stelle - unter anderem, um Zölle zu vermeiden.

Außerdem gibt es einen Transportweg, den Hafenbetreiber gar nicht einsehen können, so die Häfen Antwerpen/Brügge: "Wir wissen gar nicht, wie viele Autos in Containern verschifft werden." Diese Art des Transports wird oft von Privatleuten oder Händlern, die nur wenige Fahrzeuge expedieren, genutzt. Da diese Autos den ganzen Transportweg über "eingepackt" sind, nehmen sie aber auch keinen Parkplatz in Anspruch.

Veränderte Gewohnheiten

Auf jeden Fall lohne ein genauerer Blick auf Produktion, Distribution und Verkauf von Automobilen, meint Elke Verbeelen. Dabei habe sich in den vergangenen Jahren einiges verschoben. So bleibe das Autoaufkommen in den Häfen hoch oder stiege sogar, weil sich die Kaufgewohnheiten geändert haben. So gebe es etwa neue Geschäftsmodelle bei manchen Marken, wie den "Direktverkauf an die Kunden. Da bleibt das Auto so lange im Hafen und kommt nicht erst in den Showroom des Händlers."

Auch konjunkturelle Gründe führten zur hohen Auslastung der Hafen-Parkplätze. Das liege an den derzeit "relativ geringen Autoverkäufen." Eine Beobachtung, die auch Julia Wagner macht: "Die Standzeiten der Pkw aller Hersteller auf dem Terminal haben sich mit dem Wegfall der staatlichen Förderung der E-Mobilität verlängert, da sich die Verkaufszahlen der E-Autos in Deutschland verringert haben."

Hinzu komme, so Verbeelen, dass der Autoumsatz insgesamt gestiegen sei. Zwar sei das Niveau der Jahre vor der Corona-Pandemie noch nicht wieder erreicht, doch werde merklich mehr ein- und ausgeführt als "im Vergleich zu 2020-2021". Und auch der Fachkräftemangel im Speditionsgewerbe mache sich bemerkbar: Es sei "eine geringere Kapazität an Straßentransporten von Autos wegen eines Mangels an Lkw-Fahrern" zu beobachten. Das alles führe zu einer "längeren Verweildauer der Autos in den Häfen".

Neue Wege in Emden

Die Volkswagen AG im norddeutschen Emden und das Autoterminal im Hafen der Stadt wollen in Zukunft auf anderem Wege die Verweildauer von Autos in Häfen reduzieren. Das Be- und Entladen der Schiffe soll beschleunigt und dabei auch noch Personal eingespart werden. Einzelheiten dazu berichtete die Ostfriesen-Zeitung am 17. April.

Mit einem vom Bundesverkehrsministerium mit 3,2 Millionen Euro geförderten Testprojekt soll ausprobiert werden, ob autonom fahrende VW-Fahrzeuge sich ohne Fahrer selbständig ver- und entladen können. Die Versuche sollen 2026 beendet werden.

Das Projekt AutoLog soll dazu führen, bis zu 2000 Jobs in Emden einsparen zu können. Laut Ostfriesen-Zeitung sei bei Erfolg auch eine Übertragung auf die "gesamte Distributionskette vom Automobilbauer zum Händler" denkbar. Dann wären an Europas Häfen viele Parkplätze dauerhaft frei.

Item URL https://www.dw.com/de/wohin-mit-den-ganzen-e-autos/a-68869211?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Am Kai geparkt: Autos im Überseehafen Bremerhaven
Image source Jochen Tack/picture alliance
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Item 30
Id 68669493
Date 2024-04-21
Title Immanuel Kant: Warum seine Philosophie noch so aktuell ist
Short title Immanuel Kant: Warum seine Philosophie so aktuell ist
Teaser Wer auf die Stimme der Vernunft setzt, kommt an Immanuel Kant nicht vorbei. Am 22. April jährt sich der Geburtstag des deutschen Philosophen zum 300. Mal. Was hat er uns heute noch zu sagen?
Short teaser Am 22. April jährt sich der Geburtstag des deutschen Philosophen zum 300. Mal. Was hat er uns heute noch zu sagen?
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Wer die Welt verstehen will, muss sie nicht unbedingt bereisen. Es war Immanuel Kant (1724-1804), der das bewies. Am 22. April begeht die Welt seinen 300. Geburtstag. Der deutsche Philosoph hat seine ostpreußische Heimat Königsberg - heute Kaliningrad - nicht verlassen, doch seinem Weltverständnis tat das keinen Abbruch: Mit seinen Ideen revolutionierte er die Philosophie und wurde zum Vordenker der Aufklärung. Sein berühmtestes Werk, "Kritik der reinen Vernunft" gilt als Wendepunkt in der Geistesgeschichte. Heute zählt Kant zu den bedeutendsten Denkern der Geschichte.

Viele seiner Erkenntnisse gelten auch noch angesichts von Klimawandel, Kriegen und andere Krisen unserer Zeit. Was könnte zum Beispiel zu einem dauerhaften Frieden zwischen den Staaten führen? Kant empfahl 1795 in seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" einen "Völkerbund" als föderale Gemeinschaft republikanischer Staaten. Politisches Handeln, so Kant, müsse sich grundsätzlich nach dem Gesetz der Sittlichkeit richten. Sein Werk wurde zur Blaupause für die Gründung des Völkerbundes nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918), dem Vorläufer der Vereinten Nationen, in deren Charta es seine Spuren hinterlassen hat.

Neben dem Völkerrecht entwickelt Kant auch ein Weltbürgerrecht. Damit erteilt er Kolonialismus und Imperialismus eine Absage und formuliert Ideen für einen menschenwürdigen Umgang mit Flüchtlingen: Jeder Mensch habe in jedem Land ein Besuchsrecht, so der Philosoph, aber nicht unbedingt ein Gastrecht.

Für Vernunft und Argumente

Kant begründet Menschenwürde und Menschenrechte nicht religiös mit Gott, sondern philosophisch mit der Vernunft. Kant traute den Menschen viel zu. Er hielt sie für fähig, Verantwortung zu übernehmen - für sich selbst und für die Welt. Mit Vernunft und Argumenten lässt sich das Leben meistern, glaubte Kant und formulierte dafür eine Grundregel: "Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte." Er nannte das den "kategorischen Imperativ". Heute würde man es so formulieren: Du sollst nur das tun, was zum Besten aller wäre.

1781 veröffentlicht Kant sein wohl bedeutendstes Werk. In der "Kritik der reinen Vernunft" stellt er die vier Grundfragen der Philosophie: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch? Seine Suche nach Antworten auf diese Fragen nennt man Erkenntnistheorie. Im Gegensatz zu vielen Philosophen vor ihm legt er in seiner Abhandlung dar, dass der menschliche Verstand Fragen wie die nach der Existenz Gottes, der Seele oder dem Anfang der Welt nicht beantworten kann.

"Kant ist kein Licht der Welt, sondern ein strahlendes Sonnensystem auf einmal." Was für ein Kompliment, das der Schriftsteller Jean Paul (1763-1825) seinem Zeitgenossen machte. Doch andere Geistesgrößen fanden Kants Schriften schwer verdaulich. Es koste "Nervensaft", sie zu lesen, klagte der Philosoph Moses Mendelssohn. Er selbst vermochte es nicht.

Pionier der Aufklärung

Die Lehre und Schriften von Immanuel Kant legten den Grundstein zu einer neuen Denkweise. Kants Satz "Sapere aude" (deutsch: "Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen") wurde berühmt, er outete Kant als Vordenker der Aufklärung. Diese geistige Bewegung, die gegen Ende des 17. Jahrhunderts in Europa entstand, erklärte die Vernunft (Rationalität) des Menschen und ihren richtigen Gebrauch zum Maßstab allen Handelns. In seinen Schriften rief Kant dazu auf, sich von jeglichen Anleitungen (wie etwa Gottes Gebote) zu lösen und Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Dazu stammt auch dieses berühmte Zitat von ihm: "Was du nicht willst, dass man dir tut - das füg auch keinem andren zu."

Über Kant kursieren bis heute zahlreiche Urteile und Vorurteile. Der deutsche Philosoph und Kant-Forscher Otfried Höffe hat in seinem neuen Buch "Der Weltbürger aus Königsberg" einige davon auf den Prüfstand gestellt, darunter die Frage, ob Kant ein "eurozentrischer Rassist" gewesen sei oder ob Kant Frauen diskriminiert habe. In beiden Fällen lautet seine Antwort: "Ja, aber ..."

Kein Stubenhocker

Ein Rassist im heutigen Sinne sei Kant nicht, im Gegenteil: Kolonialismus und Sklaverei habe er verurteilt. Zwar sei Kant nie über Königsberg hinausgekommen, doch sei die Hauptstadt von Ostpreußen seinerzeit eine pulsierende Handelsstadt gewesen, ein "Venedig des Nordens". Außerdem habe Kant Reiseberichte aus anderen Ländern geradezu verschlungen.

Und schließlich: War Kant ein verschrobener Stubengelehrter und Misanthrop? Auch mit diesem Vorurteil räumt die Wissenschaft heute auf: Kant hatte zwar einen streng geregelten Tagesablauf, genoss aber ausgedehnte Mittagessen mit Freunden und Bekannten, liebte Billard und Kartenspiele, ging ins Theater und galt in den Salons der Stadt als charmanter Unterhalter.

Kant-Feiern überall

An Kant und sein Vermächtnis erinnern 2024 viele Veranstaltungen, auch in Deutschland: Die Bundeskunsthalle in Bonn etwa zeigte eine große Kant-Ausstellung. Im Juni folgt in Berlin eine große wissenschaftliche Tagung, im Herbst in Bonn ein Internationaler Kant-Kongress, der eigentlich in Kaliningrad geplant war, dort aber wegen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine nicht stattfinden kann.

Kants Grab ziert die Rückwand des Königsberger Doms - bis heute das Wahrzeichen der Stadt. Als eines der wenigen historischen Bauwerke überstand das gotische Gotteshaus die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs und die anschließende Abrisswelle im Sowjetstaat. So populär Kant heute ist, so sehr werden seine Schriften von vielen politischen Strömungen vereinnahmt. Wer bezeichnet sich selbst als seinen Lieblingsdenker? Richtig - Immanuel Kant!

sd/suc/so (KNA/epd/dpa)

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Image caption Historisches Porträt von Immanuel Kant
Image source Heinz-Dieter Falkenstein/imageBROKER/picture alliance
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Item 31
Id 68865313
Date 2024-04-21
Title Warum Bundespräsident Steinmeier ein Buch schreibt
Short title Warum Bundespräsident Steinmeier ein Buch schreibt
Teaser Ein schwieriger Spagat: "Wir" heißt das neue Buch des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. Gemeint sind die Deutschen. Aber die sind sich oft nicht einig.
Short teaser "Wir" heißt das Buch von Frank-Walter Steinmeier. Gemeint sind die Deutschen. Aber die sind sich oft nicht einig.
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Dass ein amtierender Bundespräsident ein Buch schreibt, ist eher ungewöhnlich. Frank-Walter Steinmeier, seit etwas über sieben Jahren deutsches Staatsoberhaupt, hat es getan. Er nennt zwei Daten, die ihn dazu veranlasst haben: Am 23. Mai dieses Jahres jährt sich die Verkündung des Grundgesetzes, der bundesdeutschen Verfassung, zum 75. Mal. Und am 9. November werden 35 Jahre vergangen sein, seit in Berlin die Mauer friedlich überwunden wurde.

Steinmeier in großer Sorge um das Land

Aber tatsächlich treibt den Bundespräsidenten ein Unwohlsein über den Zustand des Landes, um es vorsichtig auszudrücken. Man könnte auch sagen, er ist alarmiert. Über den grassierenden Rechtspopulismus, über die Verzagtheit vieler Menschen, über die Zweifel an der Demokratie. Über ungelöste Fragen bei der Migration, beim Kampf gegen den Klimawandel, beim Sozialstaat.

Das Buch mit dem Titel "Wir" beschreibt ein Land im Umbruch, das von großer Unsicherheit und dem Wegfall vieler Gewissheiten geplagt wird. Steinmeier führt aus: "Wer niemals ruhen, ankommen, sich verankert wissen kann, sondern jederzeit mit dem Unerwarteten rechnen muss - wie dem Auftauchen eines Virus, das das öffentliche Leben lahmlegt, oder einem Krieg, der einem im Winter das Gas zum Heizen zu rauben droht -, der verliert sein Vertrauen in das Selbstverständlichste."

Ist ein Präsident nicht eher ein Brückenbauer?

Der Bundespräsident reist schon lange unermüdlich durch das Land, in kleine Orte und Gemeinden, und versucht, mit den Menschen zu sprechen. Die immer seltener einer Meinung sind. Deshalb der Versuch, nach dem zu suchen, was noch verbindet, nach dem "Wir" also.

Aber zwei Fragen werden jetzt an Steinmeier gestellt: Ist es Aufgabe des Staatsoberhaupts, so explizit Stellung zu nehmen zu gesellschaftlichen Verwerfungen und aktuellen politischen Kontroversen, wie er das in seinem Buch tut? Oder müsste er auch hier versuchen, Brücken zu bauen, jenseits der Tages-Aktualität, zwischen allen gesellschaftlichen Schichten?

Steinmeier war lange selbst Vertreter des "alten" Deutschland

Und zweitens fragen Kritiker: Wenn er von Irrtümern und falschen Weichenstellungen in der Vergangenheit spricht, vom angenehmen, machtlosen Wohlgefühl in der Abhängigkeit von amerikanischer Sicherheit und billigem russischen Gas, kann dann ausgerechnet er der Aufrüttler sein?

Wo er doch, als langjähriger Außenminister, kräftig mitgewirkt hat daran, dass sich das Land lange in falscher Sicherheit wähnte? Von 2005 bis 2009 und dann noch einmal von 2013 bis 2017 war der damalige SPD-Politiker oberster deutscher Diplomat. Also auch zu dem Zeitpunkt, als Russland die Krim besetzte. Völkerrechtswidrig.

Heftige Kritik an Moskau

Dem letzten Vorwurf dürfte Steinmeier entgegenhalten, dass ein Großteil der deutschen Politik bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine festgehalten hat am Dialog mit Moskau, nicht nur er selbst.

Aber jetzt schreibt er: "Der Krieg radikalisiert das Moskauer Unrechtsregime. Dieses verstrickt eine zum Teil fanatisierte, zum Teil paralysierte russische Gesellschaft in eine Schuld von historischen Ausmaßen." Waren Anzeichen dafür nicht schon sehr früh erkennbar? Gerade für ihn, den Außenminister?

Für eine multiethnische und plurale Gesellschaft

In vielen Aussagen seines Buches wird eine Mehrheit der Menschen in Deutschland dem Bundespräsidenten sicher zustimmen. Etwa wenn er schreibt, homogen sei die Gesellschaft nie gewesen, ständig seien Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen dazugestoßen. Zu Deutschland gehörten heute "solche, die in unsere politische Ordnung hineingeboren wurden, ganz genauso wie diejenigen, die in sie eingewandert sind, die in ihr heimisch sind, die durch die Wahl einer neuen Staatsangehörigkeit Deutsche geworden sind."

Am rechten Rand werden genau diese Aussagen aber kategorisch abgelehnt. An die Adresse der Rechtspopulisten schreibt er: "Einige unter ihnen wollen eine solche Homogenität sogar gewaltsam herstellen und Deutsche ausbürgern, die für sie nicht ins Bild passen. Gegen solche verfassungsfeindlichen Phantasmen stellt sich die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger."

Kritik an der Kultur in manchen sozialen Medien

Aber Tatsache ist eben auch, dass es nicht nur ein paar Verirrte sind, die nicht mehr zum "Wir" des Bundespräsidenten gehören. Die die Demokratie ablehnen, rechtsextrem denken. Und die ganz eigene Dialoge führen, auf eigenen digitalen Plattformen.

Steinmeier erkennt hier eines der zentralen Probleme, er schreibt: "Zu sehr sind die Grenzen des Sagbaren zum Unsäglichen hin verschoben worden. In der politischen Sprache hat sich eine Verrohung festgesetzt, die sich triumphal als Unerschrockenheit gebärdet. Paradoxerweise fühlen sich zur gleichen Zeit viele in der Vorstellung bestätigt, dass man nicht mehr seine Meinung sagen könne und für jedes offene Wort verdächtigt werde."

Verständnis für bedrängte Politiker

Gegen diese Gruppe will der Bundespräsident die große, schweigende Mehrheit der Gesellschaft mobilisieren, das ist sein Ziel. Diese Mehrheit soll etwa ihr Vertrauen behalten in die herrschende Politik, Steinmeier beschwört sie geradezu: "Wichtig ist, sich darüber klar zu werden, dass nicht allein begriffsstutzige oder böswillige Politiker schuld daran sind, dass Deutschland in einer veränderten Lage ist. Kein deutscher Politiker kann der Welt befehlen, sich gefälligst wieder zu unseren Gunsten zu drehen."

Die Rolle des Bundespräsidenten

Die Macht eines Bundespräsidenten ist begrenzt, er wirkt durch das Wort, durch die Zusammenführung über alle Grenzen hinweg. Diese Funktion seines Amtes hat Steinmeier mit seinem Buch bis auf Äußerste ausgereizt. Die Sorge des Bundespräsidenten um die Zukunft des Landes ist das eine. Was fehlt, ist eine ehrliche Einordnung Deutschlands, das immer noch eines der reichsten Länder der Welt ist, mit einem funktionierendem Sozial- und Rechtsstaat. Und dass es Verwerfungen wie die geschilderten nicht nur hier gibt.

Ab und an drängt sich der Eindruck auf, dass es der frühere Machtpolitiker kaum ertragen kann, in diesen aufwühlenden Zeiten nicht wirklich mitgestalten zu können. Aber diese zurückhaltende Rolle des rein repräsentativen Staatsoberhaupts ist seine Aufgabe, auch wenn um ihn herum die Welt verrückt spielt.

Item URL https://www.dw.com/de/warum-bundespräsident-steinmeier-ein-buch-schreibt/a-68865313?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Wer sind wir? Diese Frage stellt sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
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Item 32
Id 68878527
Date 2024-04-20
Title Eindeutige Botschaft und große Kunst: "Rebuild Ukraine"-Gala in Berlin
Short title Rebuild Ukraine-Gala - das Schöne gegen das Böse setzen
Teaser Eine Operngala für die von Russland in einen Krieg gezogene Ukraine. "Rebuild Ukraine" wurde zum großen Erfolg. Die DW sendete live.
Short teaser Eine Operngala für die Ukraine im Krieg. "Rebuild Ukraine" wurde zum großen Erfolg. Die DW sendete live.
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Der große Moment kam zum Schluss: die Box-Legende Wladimir Klitschko kam auf die Bühne des Berliner Konzerthauses.

Wladimir Klitschko: "Wir kämpfen für euch"

Boxlegende Klitschko nahm einen Spendencheck in Höhe von einer Million Euro entgegen, die nun für die von ihm ins Leben gerufene Initiative #WeAreAllUkrainians zur Verfügung stehen. Damit werden vor allem kriegstraumatisierte Kinder unterstützt.

Klitschko kam am Abend des 19. April nach Berlin, um deutliche Worte an die Gäste der Operngala "Rebuild Ukraine" und die zahlreichen Zuschauer der Live-Übertragung des Konzertes (die DW sendete auf dem YouTube-Kanal "DW Classical") zu richten - aber auch an die ganze Welt: "Diese Operngala ist eine Würdigung für das kämpfende ukrainische Volk. Ich bin stolz, ein Ukrainer zu sein - und ein "Adoptivkind" Deutschlands".

Krieg, sinnlose Zerstörung und Tod fänden mitten in Europa statt, von Berlin bis zur ukrainischen Grenze sei es ein Katzensprung, so Klitschko. "Es ist schwer, über den Krieg nachzudenken. Aber es ist noch schwerer, im Krieg zu leben". Und noch eins: "Wenn wir Ukrainer fallen, werden wir nicht das letzte Volk sein, der diesen Krieg führen muss."

Opernkunst gegen den Krieg

Was kann die Musik gegen den Krieg ausrichten? Gerade diese rhetorische Frage wurde in Berlin eindeutig beantwortet: die Kunst steht der sinnlosen Zerstörung des Krieges entgegen, manifestiert Schönheit, Liebe und Solidarität.

Das Programm des Abends war auch ein Bekenntnis zur Ukraine als Kulturnation. Werke der ukrainischen Komponisten Mykola Lysenko und Yuliy Meitus bereicherten das Standardrepertoire. Neben internationalen Stars wie Pretty Yende, Stephen Costello, Elsa Dreisig brillierten die ukrainischen Sängerinnen und Sänger Olga Kulchynska, Nicole Chirka und Andreii Kymach, sowie die Geigerin Diana Tishchenko.

Auszeichnung der Journalisten

Und auf einen weiteren Aspekt des gemeinsamen Kampfes wurde am Abend in Berlin hingewiesen: auf die Bedeutung des unabhängigen Journalismus. Im Namen des Veranstalters würdigte die deutsche Film-Ikone, Schauspielerin Iris Berben, die beiden Journalisten Katrin Eigendorf und Paul Ronzheimer für deren Berichterstattung aus und über die Ukraine.

"Dieser Abend ist für mich ein Zeichen, dass wir das Schöne gegen das Böse setzen können, und dass das Schöne eine große Kraft besitzen kann", sagte Eigendorf in ihrer Dankesrede. "Wir dürfen nicht zulassen, dass die Weltordnung und die Verfahren, die Wladimir Putin durchsetzen will, sich in der Welt verbreiten. Denn in dieser Welt will keiner von uns leben."

Der Gala-Abend ist jederzeit auf dem YouTube-Kanal DW Classical nachzuhören.

Item URL https://www.dw.com/de/eindeutige-botschaft-und-große-kunst-rebuild-ukraine-gala-in-berlin/a-68878527?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image source Till Budde
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Item 33
Id 68869232
Date 2024-04-20
Title Kommissar Mikrobe löst Mordfälle
Short title Kommissar Mikrobe löst Mordfälle
Teaser Ein Leichenfund, keine Zeugen, keine Waffe, keine Hinweise. Ein solcher Fall ist oft nur schwer zu lösen. Doch Pathologen hoffen, dass ihnen Mikroben bald bei der Aufklärung schwieriger Fälle helfen können.
Short teaser Die Untersuchung von Mikroben an Tatorten könnte helfen, schwierige Kriminalfälle zu lösen.
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Der Fund einer Leiche mit zahlreichen Stichwunden versetzte vor etwa 800 Jahren ein chinesisches Dorf in Aufruhr. Der mit der Aufklärung des Falls beauftragte Mediziner Song Ci stellte fest, dass die Wunden von einer Sichel stammten. Um den Täter zu überführen, rief er die Dorfbewohner zusammen und forderte sie auf, ihre Sicheln zu zeigen. Die Schmeißfliegen, die an diesem heißen Nachmittag durch die Luft schwirrten, ließen sich in großer Zahl auf einer der blankgeputzten Klingen nieder. Blutspuren des Opfers hatten den Täter überführt. Er wurde verhaftet, der Fall war gelöst.

Es ist der erste bekannte Fall, bei dem ein Mordverdächtiger durch die Beobachtung von Insekten überführt wurde, ein Forschungsfeld, das heute als forensische Entomologie bekannt ist.

Mark Benecke ist ein deutscher Kriminalbiologe, der regelmäßig die Lebenszyklen von Insekten wie Fliegen, Ameisen und Käfern untersucht, die sich auf Leichen und an Tatorten finden. Es mag unappetitlich klingen, aber in Gerichtsverfahren geben seine Untersuchungen oft wertvolle Hinweise darauf, wann und möglicherweise auch wie ein Opfer zu Tode kam.

In einem Fall aus dem Jahr 2017 konnte Benecke zum Beispiel nachweisen, dass ein 80-Jähriger in Italien wegen Vernachlässigung gestorben war. Die Lebenszyklen von Fliegen und Ameisen in der Wohnung des Verstorbenen führten ihn auf die Spur.

"Viele forensische Entomologen gibt es nicht", sagt Benecke, "aber ihre Arbeit kann in schwer lösbaren Fällen den fehlenden Hinweis geben. Wir können dabei helfen, solche Fragen zu beantworten wie 'Befand sich die Leiche jemals an einem Waldrand, ja oder nein?'"

Insekten am Tatort

Doch obwohl Insekten unter bestimmten Bedingungen zur Aufklärung eines Falls beitragen können, ist es oft schwierig, am Tatort die richtigen Informationen zu sammeln, deren Analyse einen Gerichtsfall weiterbringen, erzählt Benecke.

Temperatur, Feuchtigkeit und Licht haben Einfluss auf den Lebenszyklus von Insekten. Besonders schwierig zu bestimmen ist dieser im Winter oder in kälteren Klimazonen, in denen es weniger Insekten gibt.

Häufig würden am Tatort auch nicht ausreichend Insekten gesammelt oder sie würden falsch gelagert, so Benecke. "Einmal wurde ich gebeten, anhand eines Fotos eines Fotos eines zerquetschten Insekts zu einem Fall beizutragen."

Der Lebenszyklus von Insekten gibt zudem nicht ausreichend präzise Hinweise, um den genauen Todeszeitpunkt zu bestimmen. Doch das sind entscheidende Informationen bei einem Mordverdacht.

Bakterien und Pilze können weiterhelfen

Hier kommen die Mikroben ins Spiel. Wissenschaftler haben in den letzten Jahren untersucht, ob die Analyse von Bakterien und Pilzen dazu dienen könnte, den genauen Todeszeitpunkt und die Todesursache zu bestimmen. Laut einer kürzlich veröffentlichten Studie scheinen die Forscher einiges gefunden zu haben, das für diese Hypothese spricht. Sie konnten eine Gruppe von Mikroben identifizieren, die die Verwesung von Leichen unabhängig von Klima oder Jahreszeit vorantreibt.

Im Zuge der Studie wurden während aller vier Jahreszeiten Kadaver in verschiedenen Klimazonen der USA untersucht. Die Forscher ließen die Leichen 21 Tage lang an verschiedenen Orten liegen und analysierten dann genetisches Material aus Gewebeproben. So erstellten sie eine detaillierte Karte der Bakterien- und Pilzbesiedelung jeder Leiche. Mit diesen Daten fütterten sie dann einen KI-Algorithmus, der eindeutig den Todeszeitpunkt jeder Leiche feststellte.

Die Forscher fanden 20 Mikroben, die mit der Präzision eines Uhrwerks auf jeder der Leichen erschienen, die sie während dieser 21 Tage untersuchten. Unabhängig von Leichenfundort oder Klima besiedelten die gleichen Mikroorganismen die Leichen mit derselben Geschwindigkeit.

Außerdem konnten die Forscher verschiedene mikrobielle Gemeinschaften identifizieren, die sich in verschiedenen Umgebungen auf den Leichen ansiedelten. So unterschieden sich zum Beispiel einige der Mikroben, die Leichen in der Wüste besiedelten, von denen, die sich auf Leichen im Wald ansiedelten.

Forscher wären so in der Lage, anhand geringfügiger Abweichungen zwischen den Mikrobiomen festzustellen, wo eine Leiche vermutlich verwest ist.

Vieles (noch) nicht nutzbar

Die Untersuchung von Mikroben am Tatort könnte Rechtsmedizinern dabei helfen, Tatverdächtige in Mordfällen zu identifizieren und Alibis zu bestätigen oder zu widerlegen. Das wäre besonders in Fällen hilfreich, in denen der Todeszeitpunkt nicht geklärt ist.

Im Gegensatz zu Fingerabdrücken, Blutflecken, Zeugen oder einer Ansammlung von Schmeißfliegen auf einer Sichel, sind mikrobielle Beweise an jedem Tatort zu finden. Doch bislang nutzen die Forensiker Mikroben am Tatort noch nicht als Beweismittel. Weitere Daten seien erforderlich, um zu verstehen, welche Faktoren sich auf ihr Wachstum auswirken, meint Benecke: "Im Moment befinden wir uns noch in der Forschungsphase. Aber es ist immer sinnvoll, alle [am Tatort] verfügbaren Informationen zu nutzen."

"Massendaten und auf Grundlage künstlicher Intelligenz erstellte Statistiken können nicht nur eine gute Schätzung des Intervalls zwischen Tod und Leichenfund ermöglichen, sondern vieles mehr. Dafür ist aber eine Menge Arbeit nötig. Die Leute müssen das Thema lieben, aber das tun nicht viele", fügt Benecke hinzu.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

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Image caption Wie lassen sich Mordfälle aufklären, für die es weder Zeugen noch andere Beweise gibt?
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Item 34
Id 68869157
Date 2024-04-19
Title Indiens Megawahl: Narendra Modi setzt auf die Wirtschaft
Short title Narendra Modi setzt auf die Wirtschaft
Teaser In dem bevölkerungsreichsten Land der Erde wird ein neues Parlament gewählt. Premierminister Narendra Modi will erneut gewählt werden und wirbt deshalb mit seinen wirtschaftlichen Erfolgen. Zu recht?
Short teaser Der Premierminister will wiedergewählt werden und wirbt deshalb mit seinen wirtschaftlichen Erfolgen. Zu recht?
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In Indien findet die größte demokratische Wahl in der Geschichte der Menschheit statt: Fast eine Milliarde Menschen sind berechtigt, bei der Parlamentswahlabzustimmen. Die Wahl läuft sechs Wochen und es gibt eine Million Wahllokale - vom Himalaja bis zum Indischen Ozean.

Der amtierende Premierminister Narendra Modi will fünf weitere Jahre regieren und strebt eine dritte Amtszeit an. Bei einem Thema gibt er sich besonders optimistisch: der Wirtschaft.

Er und seine hindunationalistische Partei BJP sprechen häufig von Viksit Bharat 2047 - was so viel bedeutet wie "Entwickeltes Indien 2047". Ein Versprechen an die Wähler, Indien zur voll entwickelten Wirtschaft zu machen - zum hundertsten Jahrestag der Unabhängigkeit. Doch wie hat sich die Wirtschaft wirklich unter Modi entwickelt? Dazu gibt es unterschiedliche Ansichten.

Indien auf dem Weg zur drittgrößten Wirtschaft der Welt

Noch sind Japan und Deutschland die dritt- und viertgrößten Wirtschaftsnationen der Welt - hinter den USA und China. Doch viele Daten deuteten darauf hin, dass Indien bis 2026 oder 2027 den dritten Platz einnehmen könne, erklärt Arvind Panagariya gegenüber der DW. Der Ökonom von der Columbia University in New York wurde kürzlich von Modi zum Vorsitzenden der einflussreichen indischen Finanzkommission ernannt.

Auch Shumita Deveshwar, Chefökonomin für Indien bei GlobalData TS Lombard, ist optimistsich: "Angesichts des globalen Umfelds gehört Indien zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt", sagt sie der DW.

Beim Wachstum ist Indien derzeit ein Ausreißer unter den großen Volkswirtschaften. In den letzten drei Monaten des Jahres 2023 stieg das BIP um 8,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Damit liegt das Land weit vor den anderen zehn größten Volkswirtschaften der Welt.

Hohe Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen

Doch nicht alles läuft wirtschaftlich nur rosig: Ein besonders hartnäckiges Problem ist die Arbeitslosigkeit. Sie liegt derzeit bei zehn Prozent und ist vor allem unter jungen Menschen hoch. Angesichts der riesigen und schnell wachsenden Bevölkerung des Landes ein großes Problem.

Sushant Singh vom Center for Policy Research in Indien sagt, es gebe "keinen Plan", um das Problem zu lösen. "Die demografische Dividende hat sich in eine demografische Katastrophe verwandelt", so Singh zur DW.

Weitere hausgemachte Probleme von Modi seien schwache Daten in Bezug auf das verarbeitende Gewerbe und ausländische Direktinvestitionen, so Singh. Nach Angaben der Großbank HSBC sind die Netto-Direktinvestitionen in Indien heute niedriger als bei Modis Amtsantritt vor zehn Jahren. "Das ist ernst zu nehmen", sagt Singh, "denn das bedeutet, dass die Menschen nicht in das verarbeitende Gewerbe, die Industrie oder Unternehmen investieren."

Obwohl Modi eine Agenda für die heimische Fertigung mit dem Namen Make in India vorangetrieben hat, entfallen auf das verarbeitende Gewerbe immer noch nur etwa zwölf Prozent der Arbeitsplätze im Land. "Wir haben uns im Grunde genommen von einem Agrarstaat zu einer Dienstleistungswirtschaft entwickelt, und das verarbeitende Gewerbe ist dabei einfach stehen geblieben", so die Ökonomin Deveshwar.

Wirtschaft auf Reformkurs

Der Ökonom Arvind Panagariya sagt, Modi sei wichtige Reformen angegangen. So zum Beispiel in den Bereichen Steuern, Konkursrecht und Immobilien. Das hätte "einen großen Unterschied" für die Wirtschaft gemacht.

Die Ökonomin Deveshwar hingegen sieht die Reformbilanz kritisch. Ihrer Meinung nach fehlt es an weiteren Strukturreformen, um die von Modi angekündigten Ziele zu erreichen. Modis regierende Nationale Demokratische Allianz, in der seine BJP die größte Partei ist, habe beispielsweise die Jahresziele für die Privatisierung staatlicher Unternehmen nicht erreicht. Sie verweist auch auf drei umstrittene Landwirtschaftsgesetze, die Modis Regierung einführte, bevor sie sie 2021 nach Massenprotesten wieder aufhob.

Armut und Ungleichheit

Deveshwar ist jedoch der Meinung, dass Modi auch deshalb so beliebt ist, weil er die Stimmung bei wirtschaftlichen Fragen spürt - so wie bei der Aufhebung der Agrargesetze. "Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er wirklich die Finger am Puls der Nation hat. Und wenn er das Gefühl hat, dass etwas in Indien nicht gut ankommt, kann er es auch zurückziehen", sagt sie.

Und da ist noch ein weiterer Grund für Modis Anziehungskraft: Indien ist in vielerlei Hinsicht nach wie vor ein extrem armes Land. Daten der Weltbank zeigen aber, dass der Anteil der in extremer Armut lebenden Inder während Modis Amtszeit weiter gesunken ist.

Panagariya sagt, dass die Regierung besonders aktiv in Bezug auf Wirtschaftsprogramme im ländlichen Indien gewesen sei. Die große Agrar- und Landbevölkerung des Landes gilt als entscheidend für Modi auf dem Weg zur nächsten Amtszeit.

"Besonders in den ländlichen Gebieten bekommt jeder etwas von der Zentralregierung", sagt Panagariya. Er verweist auf ländliche Wohnungsbauprogramme, Initiativen zum Bau von Toiletten, Bargeldtransfers, Gesetze zur Ernährungssicherheit und die weit verbreitete Verteilung von Flüssiggas zum Kochen. Das alles sei Beweis dafür, dass Modi versuche, Ressourcen an die ärmsten Teile des Landes zu verteilen.

Doch die Meinungen darüber, wie es den Ärmsten in Indien unter Modi wirklich ergangen ist, gehen weit auseinander. Sushant Singh vom Center for Policy Research sagt, die Ungleichheit habe in den letzten zehn Jahren zugenommen und verweist auf Daten aus einem aktuellenBericht des World Inequality Lab. "Sowohl die Einkommensungleichheit als auch die Vermögensungleichheit hat unter Modi zugenommen", und fügt hinzu: "Pro Kopf gemessen ist Indien das ärmste Land der G20."

Modis Infrastrukturinvestitionen

In einem Bereich sind die wirtschaftlichen Erfolge aber besonders sichtbar: der Infrastruktur. Bereits im Vorwahlbudget für 2024 hat Modi eine Erhöhung der Investitionsausgaben für Straßen, Eisenbahnen und Flughäfen um elf Prozent auf umgerechnet rund 125 Milliarden Euro zugesagt.

Bereits während seiner Amtszeit hat Modi stark in die Infrastruktur investiert - in die physische, aber auch in die digitale. Panagariya hält die Investitionen für gerechtfertigt und für unerlässlich, wenn Indien die wirtschaftlichen Ziele erreichen will, von denen der Premierminister spricht.

Deveshwar stimmt dem zu. "Man kann es nicht wirklich als populistisch bezeichnen", sagt sie. "Es ist sehr notwendig. Eines der Hauptprobleme, die Indien seit Jahrzehnten hat, ist seine alte Infrastruktur. Und die politische Richtung ist jetzt sehr positiv."

Dieser Bereich ist für alle besonders greifbar. Der Ausbau der Infrastruktur könnte also als sichtbarer Messgrad dienen, für die Richtung, in die sich Indiens Wirtschaft entwickelt. Für Ökonomen wie Panagariya ist der Ausbau der Infrastruktur auch einer der Gründe, warumdie Wahl Modisbereits als beschlossene Sache angesehen wird.

Doch auch wenn eine dritte Amtszeit Modis wahrscheinlich ist, wirken seine hochgesteckten Ziele wie Viksit Bharat 2047 nicht als realistisch, sondern eher als Wahlkampf.

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

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Item 35
Id 68860304
Date 2024-04-18
Title Kann sich der Iran einen Krieg wirtschaftlich leisten?
Short title Kann sich der Iran einen Krieg wirtschaftlich leisten?
Teaser Der Iran leidet seit Jahren unter hoher Inflation, Währungsverfall und internationalen Sanktionen. Neue westliche Maßnahmen und ein längerer militärischer Konflikt könnten das Land vor massive Herausforderungen stellen.
Short teaser Neue westliche Maßnahmen und ein längerer militärischer Konflikt könnten das Land vor massive Herausforderungen stellen.
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Während die USA und die EU über neue Sanktionen gegen Teheran nachdenken, trumpft der Iran mit einer Erfolgsmeldung auf: Das Land hat mehr Öl als je zuvor in den letzten sechs Jahren exportiert. Und das trotz neuer US-Sanktionen, die 2018 der damalige Präsident Donald Trump in Kraft gesetzt hatte.

Irans Ölminister Javad Owji verkündete im März, dass die Ölexporte 2023 "mehr als 35 Milliarden Dollar" in die iranischen Kassen gespült hätten. Die "Feinde des Iran" wollten zwar seine Öl-Exporte stoppen, "aber heute können wir Öl überall hin exportieren, wo wir wollen, und das mit minimalen Rabatten", zitiert die Financial Times den Ölminister.

Die eingenommenen Dollar-Milliarden sind für das Land enorm wichtig, um innenpolitisch für sozialen Frieden zu sorgen. Denn ein großer Teil der Bevölkerung leidet unter den Folgen der internationalen Sanktionen: Sie haben zu einem Verfall der Landeswährung Rial geführt und die Inflation kräftig in die Höhe getrieben.

Die Inflation ist mit zuletzt rund 40 Prozent ohnehin hoch und jede Verschärfung der geopolitischen Spannungen drückt zusätzlich auf den Wert des Rial, erklärt Djavad Salehi-Isfahani, Wirtschafts-Professor an der US-Hochschule Virginia Tech, im Interview mit der DW.

Der Dollar habe in den letzten Wochen, als man mit einer Verschärfung des Konflikts mit Israel rechnete, um rund 15 Prozent an Wert gegenüber der iranischen Landeswährung zugelegt. Das habe dazu geführt, dass der Rial in den vergangenen Monaten ein Viertel seines Wertes gegenüber dem US-Dollar verloren hat, rechnet Isfahani vor. "Diese Abwertung des Wechselkurses schlägt sich sehr schnell in höheren Preisen nieder, weil der Iran viele Waren importiert." Außerdem hätten viele Waren, die man im Land selbst produziert, auch eine Importkomponente. "Ich denke daher, dass sich das Land aktuell auf eine höhere Inflation einstellen muss."

Lebensstandard auf dem Niveau von 2005

Weil sich der Iran nicht selbst mit Nahrungsmitteln versorgen kann, treiben der Wertverfall der Währung und die starke Inflation die ohnehin schon hohen Preise für Lebensmittel noch weiter oben. "Das wird sich stark auf das Wohlergehen der Armen auswirken, weil Nahrungsmittel etwa die Hälfte ihrer Ausgaben ausmachen", sagt der Experte für die Wirtschaft des Nahen Ostens.

Auch für die Mittelschicht habe sich die wirtschaftliche Lage in den letzten beiden Jahrzehnten spürbar verschlechtert. "Der Lebensstandard ist wegen der Sanktionen wieder auf dem Stand von vor 20 Jahren", so Isfahani. Die Wirtschaftsleistung liege dagegen "etwa auf demselben Niveau oder vielleicht ein paar Prozent höher". Trotzdem würde auch sie sehr empfindlich auf weitere Rückgänge reagieren.

Nach den Zahlen des Datendienstleisters Statista hat im Jahr 2022 die Landwirtschaft geschätzte 12,5 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Iran beigetragen: Die Industrie steuerte rund 40 Prozent und der Dienstleistungssektor etwa 47 Prozent bei.

Wirtschaftliche Situation steht und fällt mit Ölexporten

Dabei ist das Land extrem abhängig vom Rohöl-Export. Seit mehr als 90 Prozent des Öls nach China verschifft werden, laufen auch die Sanktionen des Westens immer mehr ins Leere. Umso mehr sorgen sich die Machthaber in Teheran, dass der Ölsektor als wichtigste Devisenquelle Ziel eines militärischen Vergeltungsschlags Israels werden könnte.

"Ich bin mir sicher, dass sie sehr besorgt sind, weil ein Krieg, der die Infrastruktur für den Ölexport beschädigt, einen schweren Schlag für die Wirtschaft bedeuten würde", bringt es Isfahani auf den Punkt. Nach dem Schock der 2018 durch Trump verhängten Sanktionen habe der Iran mittlerweile wieder 80 Prozent seiner damaligen Exportmenge erreicht. Die meisten Experten führten das auf die Aufweichung der Sanktionen zurück, seit Joe Biden an der Macht ist, so Isfahani.

"Die iranische Wirtschaft ist in der Tat zum Teil durch die Zunahme der Ölexporte gewachsen. Nicht der gesamte Anstieg des BIP, der sich auf etwa fünf Prozent pro Jahr beläuft, was im Vergleich zu dem, was in der Region insgesamt nach der Covid-Pandemie passiert, nicht schlecht ist", erklärt Isfahani.

Allerdings habe sich das nicht in einem höheren Lebensstandard für die Bevölkerung niedergeschlagen, betont der Iran-Experte. Denn viele finanzielle Ressourcen seien in den Ausbau des Militärs und anderer Maßnahmen des Regimes geflossen.

Korruption und Intransparenz

Viel Geld versickert ohnehin in den intransparenten Strukturen der schiitischen Machthaber in Teheran. Im Index von Transparency International, der die wahrgenommene Korruption misst, steht Iran auf Platz 149 von 180 Ländern. Deutschland rangiert dort auf Platz neun, die USA auf dem 24. Rang.

Besonders undurchsichtig ist die Rolle der Revolutionsgarden (eine Parallelarmee) und religiösen Stiftungen, die zentrale Teile der Wirtschaft kontrollieren. Sie zahlen keine Steuern, müssen keine Bilanzen vorlegen und sind vor allem dem politischen und religiösen Oberhaupt der Islamischen Republik, Ajatollah Ali Chamenei, unterstellt.

Für den Nahost-Experten Martin Beck von der University of Southern Denmark (SDU) ist die Wirtschaft des Iran geprägt durch "eine Vermengung der politischen mit der wirtschaftlichen Sphäre, die eine mit hoher Korruption verbundene staatliche Verteilungs- und Klientelpolitik befördert".

Niedrige Wirtschaftsleistung pro Kopf

Aber obwohl sich die Einnahmen aus dem Ölexport in den vergangenen Jahren zunehmend stabilisiert haben, ist der Iran alles andere als ein ökonomisches Schwergewicht. Obwohl seine Bevölkerung mit rund 88 Millionen fast zehnmal so groß ist wie die seines Erzfeindes Israel (neun Millionen), war seine Wirtschaftsleistung 2022 mit 413 Milliarden US-Dollar deutlich niedriger als die des jüdischen Staates mit 525 Milliarden US-Dollar.

Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag 2022 im Iran mit geschätzten rund 4043 US-Dollar weit abgeschlagen hinter Israel (54.336 US-Dollar) und dem regionalen Rivalen Saudi-Arabien mit rund 34.441 US-Dollar. Wie dramatisch der Absturz der Wirtschaftsleistung im Staat der Mullahs ist, macht der Vergleich zum Jahr 1990 deutlich: Damals lag das Bruttoinlandsprodukt laut Statista pro Kopf im Iran bei 10.660 US-Dollar, also mehr als doppelt so hoch.

Wie sich die Wirtschaft des Landes weiter entwickelt, hängt vor allem davon ab, ob neue westliche Sanktionen die iranischen Ölexporte spürbar drosseln können.

Ölexporte sind entscheidend

Teheran ist es gelungen, in den ersten drei Monaten des Jahres durchschnittlich 1,56 Millionen Barrel (ein Barrel sind rund 159 Liter) Rohöl pro Tag zu verkaufen - und zwar fast alles nach China. Das war nach Informationen des Datenanbieters Vortexa der höchste Wert seit dem dritten Quartal 2018.

"Die Iraner beherrschen die Kunst, Sanktionen zu umgehen", wird Fernando Ferreira von der Rapidan Energy Group in den USA in der Financial Times zitiert. "Wenn die Biden-Regierung wirklich etwas bewirken will, muss sie den Fokus auf China verlagern."

Die USA sind zwar mittlerweile viel unabhängiger von Öl-Exporten aus dem Nahen Osten. Trotzdem würden höhere Ölpreise durch eine Verschärfung der Sanktionen gegen den Iran auch die Weltmarkt-Preise - und damit die Inflation weiter in die Höhe treiben. Für US-Präsident Joe Biden wäre das in einem Wahljahr mehr als ungünstig und eine Steilvorlage für seinen Herausforderer Donald Trump.

Doch ganz gleich, ob es zu einer Verschärfung der Sanktionen kommt oder nicht. Wäre die iranische Wirtschaft aktuell bereit für eine mögliche militärische Eskalation mit Israel?

Die Antwort von Djavad Salehi-Isfahani ist deutlich: "Insgesamt ist sie nicht bereit für einen längeren militärischen Konflikt. Deshalb haben sie (die Machthaber in Teheran, Anm. d. Red.) sehr darauf geachtet, sich nicht zu sehr in den Gaza-Krieg einzumischen. Und der Angriff auf Israel war eher symbolisch als einer, der Schaden anrichten wollte."

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Item 36
Id 68860983
Date 2024-04-18
Title Großeinsatz und mehrere Verhaftungen bei Cannabis-Betrugsfall
Short title Mehrere Verhaftungen bei Cannabis-Betrugsfall
Teaser Ermittler haben elf Personen wegen eines Anlage-Betrugssystems mit Cannabis verhaftet. Weitere Haftbefehle stehen aus. Die DW hat den Fall "JuicyFields" eng begleitet und frühzeitig auf die nun Verhafteten hingewiesen.
Short teaser Die DW hat den Betrugsfall um JuicyFields eng begleitet und frühzeitig auf die nun Verhafteten hingewiesen.
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Es war im Juli 2022, als tausende Anleger plötzlich nicht mehr an ihr Geld kamen. Sie hatten in ein Berliner Unternehmen mit dem Namen JuicyFields investiert. Das hatte zwei Jahre lang mit hohen Renditen für ein Investment in Cannabis gelockt. Doch im Juli brannten die Kriminellen mit dem Geld durch und tauchten unter.

Nach den neuesten Schätzungen der europäischen Polizeibehörde Europol hat das Berliner Startup bei Anlegern 645 Millionen Euro eingesammelt. Knapp 200.000 Menschen sollen JuicyFields ihr Geld anvertraut haben.

Weitere Verhaftungen könnten folgen

Ein Jahr und neun Monate später hatte die Polizei nun anscheinend ausreichend Beweise: In einer Nacht- und Nebelaktion mit dem Namen "Action Day"haben Behörden aus mehr als 30 Ländern Ende vergangene Woche gleichzeitig fast 40 Wohnungen und Büros durchsucht. 400 Beamte waren in elf Ländern im Einsatz und verhafteten insgesamt neun Personen - darunter auch den mutmaßlichen Strippenzieher in der Dominkanischen Republik.

Am Stockholmer Flughafen Arlanda wurden wenige Tage später eine Frau und ihr Freund festgenommen. Sie sollen laut einem Medienbericht nach Spanien überführt werden. Weitere Verhaftungen könnten folgen. So sagte ein Pressesprecher der spanischen Polizei im Gespräch mit der DW, dass weitere acht Haftbefehle vorliegen, die noch nicht vollstreckt seien. "Die Aktion ist ein Signal, dass wir in Europa auch bei komplexen Fällen die Kriminellen bekommen können", so der Sprecher weiter.

Die Leitung der Ermittlung lag bei Behörden in Frankreich, Spanien und Deutschland. "Das war auf jeden Fall eine der größeren Nummern", sagte die Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft Berlin, Karen Häußer, zur DW. "Das erfordert auch sehr viele Personen, die daran beteiligt sind. Sehr viele spezialisierte Kräfte. Das war insgesamt schon ein enormer Kräfteaufwand, das zu ermitteln", so Häußer.

Verhaftungen bestätigen DW-Recherchen

Auf internationalen Cannabismessen trat JuicyFields lange Zeit pompös auf: Mit Lamborghinis, Helikoptern, eindrucksvollen Partys und großen Messeständen versuchte das Unternehmen, das Vertrauen von Anlegern zu gewinnen.

Der DW kam das System JuicyFields bereits Mitte 2021 verdächtig vor. Seitdem recherchierte sie zu dem Fall. Sie befragte Manager zum Geschäftsmodell und begleitete euphorische Anleger, als die Betrugsmasche noch nicht aufgeflogen war. Nachdem die Kriminellen sich Mitte 2022 mit dem Geld der Anleger aus dem Staub machten, begab sich die DW auf die Spurensuche nach den Drahtziehern. Aus den Recherchen entstand der achtteilige Podcast Cannabis Cowboys, zu hören auf Englisch und Deutsch.

Die internationalen Verhaftungen bestätigen nun die DW-Nachforschungen. Weder die deutschen Behörden noch Europol wollen sich zur Identität der Verhafteten äußern. Doch durch eigene Recherchen und Insiderinformationen sind der DW die Namen bekannt. Dabei handelt es sich um diejenigen Personen, die schon im Rahmen der Podcast-Reihe beleuchtet wurden - bis hin zum mutmaßlichen Boss der Bande.

Wer steckt hinter JuicyFields?

In der Dominikanischen Republik wurde nun ein Mann mit russischem Pass festgenommen. Laut lokalen Medien handelt es sich dabei um Sergei Berezin, der auch unter dem Decknamen Paul Bergholts auftrat. Europol bezeichnet den Mann als den "möglichen Hauptorganisator des Betrugssystems".

Laut einem Whistleblower, den die DW Anfang 2023 in Finnland traf, hat sich Sergei Berezin alias Paul Berholts die Betrugsmasche bis ins letzte Detail ausgedacht. Demnach soll Paul Berholts ein Computernerd sein, der selbst gerne Cannabis raucht und mit seinem engsten Kreis vom russischen St. Petersburg aus agierte.

Nach dem Ende von JuicyFields sollen er und sein enger Kreis mit Yachten in der Karibik gesegelt sein. "Sie haben dort Häuser und Land gekauft und in Unternehmen investiert", so der Whistleblower. Der nun verhaftete mutmaßliche Drahtzieher soll nun von der Dominikanischen Republik nach Spanien ausgeliefert werden.

Bei ihrem Großeinsatz konnte die Polizei Bargeld, Konten, Kryptowährungen und Immobilien im Wert von insgesamt neun Millionen Euro beschlagnahmen. Sollte die Summe im Laufe der weiteren Ermittlungen nicht anwachsen, werden Anleger wohl kaum einen Großteil ihre Einlagen wiedersehen.

Was war JuicyFields?

JuicyFields bot Investoren sogenanntes E-Growing an. Dabei konnte man am Anbau und Verkauf von medizinischem Cannabis profitieren. Anleger konnten auf dem Computer verfolgen, wie ihre Pflanzen wuchsen, getrocknet und verkauft wurden. JuicyFields versprach dabei absurd hohe Renditen von bis zu 100 Prozent im Jahr. Wie üblich bei einem Schneeballsystem, wurden diese anfangs auch ausbezahlt, um möglichst viele neue Anleger zu gewinnen. Denn bei einem Schneeballsystem werden alte Anleger mit den Einzahlungen von neuen Anlegern bedient.

Die Einstiegshürde war dabei sehr niedrig. Schon ab 50 Euro konnten Anleger eine virtuelle Cannabis-Pflanze kaufen. Zwei Jahre funktionierte die Masche - JuicyFields eröffnete währenddessen Büros und Niederlassungen in Amsterdam und der Schweiz und verkündete etliche Partnerschaften und Beteiligungen.

Die Spur führt nach Russland

Bei ihren Recherchen hat die DW auch frühzeitig darauf hingewiesen, dass die Drahtzieher des Betrugssystems in Russland sitzen. Das bestätigt auch Karen Häußer von der Staatsanwaltschaft Berlin: "Momentan wird weiter davon ausgegangen, dass die Unternehmensstruktur von Russland aus gesteuert wurde."

Den Verhafteten muss nun der Prozess gemacht werden. In Deutschland muss das innerhalb von sechs Monaten stattfinden; in Spanien bis zu zwei Jahre nach Verhaftung. Verlängerungen sind möglich. Die Behörden müssen nun alle Daten auswerten, die ihnen zur Verfügung stehen. Womöglich setzen sie auch darauf, dass einige der Verhafteten mit der Polizei kooperieren.

Hier finden Sie achtteilige Podcast-Serie Cannabis Cowboys finden sie hier auf Deutschund hier auf Englisch. Und überall da wo es Podcasts gibt.

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Image source Juicy Fields
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Item 37
Id 68848244
Date 2024-04-18
Title Burn On - wenn ständiger Stress zur Depression führt
Short title Burn On - wenn ständiger Stress zur Depression führt
Teaser Ein hektisches Leben ohne Verschnaufpausen kann zu einem Burn On, einer chronischen Erschöpfungsdepression führen. Betroffene brechen nicht zusammen wie beim Burn Out, sondern rennen in ihrem Hamsterrad immer weiter.
Short teaser Betroffene brechen nicht zusammen wie beim Burn Out, sondern rennen in ihrem Hamsterrad immer weiter.
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Viele Menschen stehen permanent unter Strom. Sie brennen für ihren Job: Das Handy ist ihr ständiger Begleiter, immer sind sie erreichbar, auch abends oder am Wochenende. Die Arbeit macht ihnen Spaß, aber es wird immer mehr. Termine hier, Probleme da. Dazu die Familie, Kinder, die Freunde - allen wollen sie gerecht werden. Auch den eigenen Ansprüchen: trotz der Hektik wollen sie noch Sport machen und Veranstaltungen besuchen.

Aber wenn jemand ständig "on fire" ist, kann das gefährlich werden. Dauerstress ohne echte Verschnaufpausen macht krank. Diese chronische Überlastung beschreibt der vergleichsweise neue Begriff "Burn On".

Was ist der Unterschied zwischen Burn Out und Burn On?

Den Begriff "Burn On" haben die Psychologen Timo Schiele und Berndt te Wildt von der psychosomatischen Klinik im Kloster Dießen am Ammersee, in der Nähe von München geprägt. Sie behandeln Patientinnen und Patienten mit Burn Out-Syndrom.

Burn Out-Symptome sind:

  • Erschöpfung
  • verringertes Leistungsvermögen
  • Zynismus/eine mentale Distanz zur Arbeit

Beim Burn On sind die Symptome anders, so Timo Schiele gegenüber der DW: "Stattdessen beschrieben Betroffene eine zu enge und begeisterte Verbindung zu ihrer Arbeit, teilweise eher eine Hyper-Erregung. Daraus entstand die Beschreibung des Burn On-Syndroms."

Wie sind die Symptome bei Burn On?

Betroffene brennen für ihre Arbeit, aber der permanente Stress führt zu einer Daueranspannung. Viele leiden zunächst unter:

  • Nackenschmerzen
  • Rückenschmerzen
  • Kopfschmerzen
  • Zähneknirschen (Bruxismus)

Das erschöpfende Leben im Hamsterrad lässt sie verzweifeln, sie verlieren die Hoffnung auf eine Besserung, sie können sich nicht mehr recht freuen und stellen sich die Sinnfrage.

"Neben psychischen Begleit- und Folgeerkrankungen wie Depressionen, Angst- oder auch Suchterkrankungen, gehen wir auch davon aus, dass Betroffene möglicherweise vermehrt an psychosomatischen Phänomenen wie beispielsweise Bluthochdruck und dessen möglichen Folgen leiden", so Schiele. Durch Bluthochdruck steigt die Gefahr von Herzinfarkten und Schlaganfällen deutlich an.

Was sind die häufigsten Ursachen von Burn On?

Unser Alltag wird immer hektischer. Beruflicher Erfolg und gesellschaftliche Anerkennung sind von zentraler Bedeutung. Starke Konkurrenz, wirtschaftliche Krisen oder hohe Kosten können den Stress verstärken. Zahlen gibt es bislang eher zum Burn Out: Bei der Krankenkasse Pronova hatte die Zahl der Burn Out-Fälle 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent zugenommen, ein Fünftel der Beschäftigten fürchtet einen Burn Out.

Wer im hektischen Alltags nicht nur besonders viel erledigen will, sondern dies auch noch möglichst gut machen möchte, neigt besonders zum Burn On, so Schiele: "Wir gehen davon aus, dass viele Betroffene eine hohe Leistungsmotivation in sich tragen, sich eher schwer damit tun, Fehler zu machen oder Dinge nicht perfekt zu gestalten."

Betroffene glauben durch gewisse (Sach-)Zwänge nur wenig Handlungsspielräume zu haben, so Schiele. "Oftmals erleben wir aber auch Menschen, die sich selbst viele Zwänge auferlegen, zum Beispiel durch Perfektionismus."

Wie kann man Burn On behandeln?

Um dem Hamsterrad und der chronischen Daueranspannung zu entkommen, muss das Problem zunächst erkannt werden, so Schiele: "Erster Schritt einer Behandlung ist wie so oft die Bewusstwerdung eines Problems. Betroffene eines Burn Ons scheinen ja oftmals nach Außen hin noch zu funktionieren, weshalb sie häufig auf Rückmeldungen von Familienangehörigen oder anderen nahestehenden Personen angewiesen sind. Ebenfalls wichtig ist eine Besinnung auf eigene, persönliche Werte."

Gerade wenn jemand für die Arbeit brennt, neigt er im stressigen Alltag dazu, persönliche Bedürfnisse zu vernachlässigen. "Wenn das zum Dauerzustand wird, werden wir unzufriedener. Daher erscheint es wichtig, immer wieder innezuhalten und sich zu fragen – wie wichtig sind mir die Dinge, mit denen ich meinen Alltag fülle? Setze ich meine Energie in den für mich richtigen Bereichen ein? Wenn nein, gilt es etwas zu verändern und zu prüfen, welche inneren wie auch äußeren kleinen Freiräume ich mir dafür schaffen kann. Damit ist oftmals schon ein großer Schritt getan", so Schiele.

Wie kann man permanenten Stress abbauen?

Welche Art der Entspannung jemandem gut tut, hängt von den individuellen Vorlieben ab. Das können Wanderungen, Meditationen oder Yoga sein. Entscheidend ist, den Alltag zu entschleunigen und runterzukommen.

Es kann auch sinnvoll sein, sich professionelle Hilfe zu suchen, etwa durch eine ärztliche oder eine psychotherapeutische Betreuung.

Warum ist die Benennung der Erkrankung wichtig für Betroffene?

Lange galt Burn Out als Modekrankheit. Bislang sind weder Burn Out noch Burn On als eigenständige psychische Krankheiten definiert, auch wenn der gravierende Einfluss auf die Gesundheit anerkannt wird.

Die Symptome variieren sehr stark, das erschwert eine einheitliche Klassifikation nach der ICD. In dieser "International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems" hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auch alle psychischen Erkrankungen aufgelistet.

Trotzdem sei es für Betroffene extrem wichtig, einen Begriff wie "Burn On" zu haben, der ihre Beschwerden beschreibe, so Schiele: "Sich in einem beschriebenen Phänomen wiederzufinden ist für viele Betroffene sehr entlastend und der erste Schritt zur Veränderung. Betroffene fühlen sich dadurch nicht mehr so alleine mit ihrem Problem. Sie können Hoffnung schöpfen, wenn sie erleben, dass es auch andere Menschen gibt, die darunter leiden."

Item URL https://www.dw.com/de/burn-on-wenn-ständiger-stress-zur-depression-führt/a-68848244?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Beruf, Familie, Freunde sind wichtig, aber Dauerstress ohne echte Verschnaufpausen macht krank
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Item 38
Id 68840877
Date 2024-04-17
Title Ernährungsmythen überprüft: Macht Kaffee süchtig?
Short title Ernährungsmythen überprüft: Macht Kaffee süchtig?
Teaser Kaffee ist Genussmittel, Wachmacher und bringt Menschen an einen gemeinsamen Tisch. Doch das im Kaffee enthaltene Koffein ist die beliebteste psychoaktiv wirkende Droge der Welt. Ist das ein Problem?
Short teaser Das im Kaffee enthaltene Koffein ist die beliebteste psychoaktiv wirkende Droge der Welt. Ist das ein Problem?
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Eine Tasse nach dem Aufstehen. Ein Kaffee-Date mit Kollegen oder Freundinnen. Kaffee entspannt, macht munter und ist soziales Bindeglied. Kurz: Kaffee ist aus dem Leben vieler Menschen nicht wegzudenken. "Kaffee kann definitiv süchtig machen", sagt Carsten Schleh. Er ist Toxikologe und Autor des Buches "Die Wahrheit über unsere Drogen".

Viele Studien kommen ebenfalls zu diesem Ergebnis, weshalb die Koffeinkonsumstörung (Caffeine use disorder) mittlerweile eine anerkannte medizinische Diagnose ist.

Möglich, dass der Konsum in den kommenden Jahren zurückgeht, weil der Klimawandel die Kaffeeproduktion und -ernte bedroht und die Preise steigen lässt. Bisher geht der Trend allerdings in die andere Richtung. In Luxemburg wurde im Jahr 2023 mit 8,5 kg pro Person am meisten Kaffee getrunken. In Deutschland lag der Absatz bei gut 4,8 kg pro Kopf und in Brasilien waren es 4,5 kg.

Was steckt in Kaffee drin?

Kaffee ist ein komplexes Gemisch aus mehr als 1000 verschiedenen Inhaltsstoffen. Dazu gehören Polyphenole, die in Pflanzen als Farb- oder Geschmacksstoffe vorkommen, Vitamin B2 und Magnesium.

Was den Kaffee als Getränk aber so besonders beliebt macht, ist ein anderer Inhaltsstoff: Koffein. Koffein ist eine natürliche Substanz, die in Kaffee- und Kakaobohnen und in manchen Teeblättern (Teein) enthalten ist. Auch Energy-Drinks stecken voller Koffein.

Wie wirkt Koffein im Körper?

15 bis 30 Minuten nach dem ersten Schluck Kaffee ist das darin enthaltene Koffein im Gehirn angekommen. "Dort bindet es an die Adenosinrezeptoren", sagt Schleh.

Adenosin blockiert die Ausschüttung aktivierender Botenstoffe wie Dopamin oder Noradrenalin. "Adenosin spielt Sandmännchen im Gehirn. Wir werden müde und träge", erklärt Schleh.

Koffein blockiert die Adenosinrezeptoren und nimmt dem Adenosin damit seinen Platz weg. Die einschläfernde und beruhigende Wirkung des Signalmoleküls bleibt aus. Oder anders gesagt: Wer Kaffee trinkt, bleibt wach.

"Kaffee regt den Blutdruck an und macht fitter, agiler und leistungsbereiter", sagt Schleh über die schönen Seiten des Kaffeetrinkens.

Wann spricht man von Kaffeesucht?

Koffein sei die am häufigsten konsumierte psychoaktive Droge der Welt, heißt es in einem Review in der Zeitschrift Psychopharmacology.

Wie viele psychoaktive Substanzen erhöht auch Koffein die Ausschüttung von Dopamin. Dopamin wirkt positiv erregend im Körper und ist deshalb auch als Glückshormon bekannt. Adenosin hemmt die Dopamin-Ausschüttung, sobald es an die Rezeptoren bindet. Sind die allerdings schon vom Koffein besetzt, bleibt das Glückshormon-Level ungebremst hoch.

Das hat auch körperliche Folgen: "Wenn Sie viel Kaffee trinken, bilden sich weitere Adenosinrezeptoren aus", sagt Schleh. Das bedeutet: Läuft kein Kaffee nach, hat das Adenosin plötzlich sehr viele Bindungsstellen. Starke Müdigkeit und Gereiztheit können die Folge sein. Es sind Koffeinentzugserscheinungen. Weitere Symptome sind:

  • Kopfschmerzen
  • Konzentrationsschwierigkeiten
  • Niedergeschlagenheit
  • Unzufriedenheit

"Das tolle, entspannende Gefühl während der ersten Tasse Kaffee am Morgen kommt auch daher, dass wir unsere Entzugserscheinungen lindern", sagt Schleh.

Ist Kaffee gesund oder nicht?

Auch wenn das Koffein in Kaffee Suchtpotential hat, ein moderater Kaffeekonsum schadet gesunden erwachsenen Menschen nicht. "Die Dosis macht das Gift", sagt der Toxikologe Schleh.

Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) empfiehlt eine über den Tag verteilte Koffeinmenge von 400 mg. Das sind, je nach Größe der Kaffeetasse, etwa zwei bis fünf Tassen. Schwangere sollten 200 mg Koffein pro Tag nicht überschreiten.

Innerhalb dieser Grenzwerte hat Kaffee durchaus gesundheitliche Vorteile: Das Getränk wird mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit von Typ-2-Diabetes, Herzerkrankungen, Leber- und Gebärmutterkrebs, Parkinson und Depressionen in Verbindung gebracht.

Wer auf Kaffeeentzug mit Symptomen wie Zittern, Schwitzen oder depressiver Verstimmung reagiert, könnte unter einer Koffeinsucht leiden. Da eine Abhängigkeit von Koffein lange keine anerkannte Sucht war, werden Betroffene oft nicht ernst genug genommen.

Carsten Schleh empfiehlt allen, deren Koffeinkonsum über dem empfohlenen Tagesmaß liegt, den Kaffee langsam zu reduzieren. "Koffein ist eine der harmloseren Drogen." Ein kalter Entzug ist selten notwendig und kann sehr unangenehme Symptome mit sich bringen. Die Gefahr für einen Rückfall ist dann besonders groß."

Quellen:

EFSA erklärt Risikobewertung - Koffein, Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA)

Caffeine Use Disorder: A Comprehensive Review and Research Agenda, Journal of Caffeine Research, Steven E. Meredith, Laura M. Juliano, John R. Hughes and Roland R. Griffiths

An update on the mechanisms of the psychostimulant effects of caffeine, Journal of Neurochemistry, Sergi Ferré

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Image caption Koffein beeinflusst wie alle psychoaktiven Substanzen die Ausschüttung des Glückshormons Dopamin
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Item 39
Id 67583662
Date 2024-04-17
Title 250 Jahre Caspar David Friedrich: Neue Ausstellung in Berlin
Short title 250 Jahre Caspar David Friedrich: Neue Ausstellung in Berlin
Teaser Nach dem Publikumserfolg in Hamburg eröffnet nun in Berlin eine weitere Blockbuster-Ausstellung mit Werken von Caspar David Friedrich. Wir erklären, was ihn und sein Werk so besonders macht.
Short teaser In Berlin eröffnet nun eine weitere Blockbuster-Ausstellung mit Werken des romantischen Malers.
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Caspar David Friedrichs Geburtstag jährt sich in diesem Jahr zum 250. Mal - der Maler wurde am 5. September 1774 geboren. Unter dem Titel "Caspar David Friedrich. Unendliche Landschaften" ist ab Freitag in der Alten Nationalgalerie Berlin eine umfassende Ausstellung zum 250. Geburtstag des Künstlers zu sehen.

Das berühmteste Gemälde leuchtet in Blau: Ein riesiger Himmel, der sich fast über die gesamte Bildfläche erstreckt, zum Horizont hin verdunkelt und schließlich in das nachtschwarze Blau des Meeres übergeht. Ganz unten am Bildrand steht, wie verloren, ein winziger Mensch: Caspar David Friedrichs "Mönch am Meer". Die Zeitgenossen waren fasziniert, es wirke, "als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären", brachte Heinrich von Kleist (1777-1811) seinen Eindruck in den Berliner Abendblättern auf den Punkt. Gleich daneben hängt die "Abtei im Eichwald", die düstere Ansicht einer Kirchenruine mit Trauerzug, gerahmt von kahlen Bäumen, die in den Winterhimmel ragen. 1810 gelang Caspar David Friedrich (1774-1840) mit diesen beiden Gemälden der künstlerische Durchbruch in Berlin. Das Bilderpaar, das der preußische König Wilhelm III. sofort ankaufte, bildet den Auftakt zu der großen Friedrich-Ausstellung. Mit 61 Gemälden, darunter 15 aus eigenem Bestand, sowie 54 Zeichnungen, überwiegend aus dem Berliner Kupferstichkabinett, vermittelt die Ausstellung einen umfassenden Eindruck von Friedrichs Schaffen.

Jubiläumsjahr mit vielen Friedrich-Highlights

Los ging es mit den Feierlichkeiten aber bereits im Dezember mit dem Start einer Blockbuster-Ausstellung in derHamburger Kunsthalle , der "umfangreichsten Werkschau des bedeutendsten Künstlers der deutschen Romantik seit vielen Jahren", wie es das Museum bewarb.

Die Schau bildete den Auftakt zum "Caspar David Friedrich-Festival", in dessen Rahmen nun die Alte Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin und ab September die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden dem Künstler eine Schau widmen. Sie stehen unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Friedrichs Werk ist "national wertvolles Kulturgut"

Ende November wurde in Berlin Caspar David Friedrichs Skizzenbuch für 1,8 Millionen Euro versteigert. Kurz vor der Auktion hatte die Berliner Kulturverwaltung ein Verfahren eingeleitet, damit das Werk des Romantikers in das Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes des Landes Berlin eingetragen wird.

Das "Karlsruher Skizzenbuch", wie es genannt wird, befand sich 200 Jahre im Besitz der Familie Kersting. Georg Friedrich Kersting war ebenfalls ein großer romantischer Maler und obendrein ein Freund von Caspar David Friedrich.

Zeitgenossen berichten, so schreibt es Florian Illies in seinem Bestseller über Caspar David Friedrich, "Zauber der Stille", dass Kersting seinem Malerfreund bei den Figurendarstellungen in seinen Gemälden geholfen haben soll. Warum?

Caspar David Friedrich selbst, so Illies, sei ein wenig talentierter Porträtist gewesen sein, schon in seiner Zeit an der Akademie in Kopenhagen sei er deswegen verspottet worden. Vielleicht hat Friedrich aus diesem Grund die Figuren in seinen Gemälden meist von hinten dargestellt?

Schicksalsschläge

1774 wird Caspar David Friedrich als sechstes Kind des Seifensieders und Kerzenmachers Adolf Gottlieb Friedrich und seiner Frau Sophie Dorothea in Greifswald geboren. 1781 stirbt seine Mutter, seine Schwester erliegt dem Typhus. Sein jüngerer Bruder Johann Christopher erleidet einen Herzinfarkt, als er seinen Bruder Caspar David retten will, der im Eis der Elbe eingebrochen ist. Nur fünf der neun Geschwister erreichen das Erwachsenenalter.

Friedrich ist ab 1790 Schüler des Greifswalder Universitäts- und Zeichenlehrers Johann Gottfried Quistorp, der ihn besonders fördert. Seine künstlerischen Studien setzt er an der Kunstakademie in Kopenhagen fort. Ab 1798 lebt und arbeitet Friedrich in Dresden, wo er am 7. Mai 1840 stirbt.

Von vielen geschätzt- aber nicht von Goethe

"Mystiker mit dem Pinsel": So nannte der schwedische Dichter Per Daniel Amadeus Atterbom Caspar David Friedrich. Der romantische Maler wird schon zu Lebzeiten von seinen Kollegen geschätzt.

Nur Johann Wolfgang von Goethe wusste mit den Gemälden des Romantikers zunächst wenig anzufangen. Er verspottet sie als "neudeutsch, religiös-patriotisch". Der Dichter soll sogar ein Bild Friedrichs auf der Tischkante zerschlagen haben, das ihm nicht behagte.

1794 besucht Friedrich für vier Jahre die Kopenhagener Akademie und kommt dort mit der Naturmystik in Kontakt, die seine Kunst beeinflusst. Sein erstes Ölgemälde provoziert: Caspar David Friedrich widmet sich mit dem Bild "Kreuz im Gebirge" - auch wegen seines späteren Aufstellungsorts "Tetschener Altar" genannt - von 1807/1808 dem Verhältnis von Natur und Gott.

Seine Kunst ist nicht mehr ein Fenster zur Welt, wie noch in der Aufklärung, sondern ein Fenster zur Seele, ganz im Sinne der Romantik. Das "Kreuz im Gebirge" sorgt für Aufregung, weil der Maler der Kirche und der Natur gleich viel Raum einräumt.

Ein patriotischer Kauz

Caspar David Friedrich ist ein zurückgezogen lebender Künstler, der sein Haus in Dresden erst nach der Dämmerung zu langen Spaziergängen verlässt. Am 21. Januar des Jahres 1818 heiratet er die 25-jährige Caroline Bommer - und zwar um sechs Uhr morgens.

Napoleons Feldzüge und die französischen Truppen bringen ihn aus der Ruhe, weil sie ihn und seine Heimat bedrohen. 1806 hatte Napoleon die meisten deutschen Länder besetzt.

In Friedrich regt sich deutsches Nationalgefühl. Der Künstler träumt vom Ideal eines vereinigten Deutschlands und verehrt das Christliche und das Germanische gleichermaßen. In seinen Gemälden tauchen Personen auf, die altdeutsche Trachten tragen, auch das ein geheimer Akt des Patriotismus.

Erfundene Landschaften

Caspar David Friedrich hält zwar mit dem Bleistift jeden Baum, jeden Felsen, jedes Gebirge oder jedes gehisste Segel naturgetreu fest, doch in seinen Werken setzt er die einzelnen festgehaltenen Beobachtungen frei wieder zusammen. Die Natur ist für ihn nur Inspiration.

Er collagiert aus seinen Eindrücken nach eigenem Gusto in seinem Atelier erfundene Landschaften wie das "Eismeer". Das apokalyptische Gemälde verwandelt die zugefrorene Elbe mit dem fest eingekeilten Schiffswrack in ein weites Meer. Die Eisplatten türmen sich bedrohlich auf, doch sie entspringen nicht der eigenen Beobachtung, sondern seiner Fantasie.

Caspar David Friedrich lebt ab 1820 bis zu seinem Tod nur einen Steinwurf von der Elbe entfernt. In seinem Zuhause "An der Elbe 33" in Dresden empfängt er sogar den späteren Zar Nikolaus von Russland, der bei ihm zahlreiche Gemälde ankaufen lässt.

Auf Aufklärung folgt Romantik

Während die Aufklärung noch auf den Verstand und die rationale Erfassung der Welt setzt, folgt mit der Romantik eine Phase des Gefühls und der Empfindsamkeit. Subjektive Stimmungen erhalten einen Platz, was sich auch in der Kunst von Caspar David Friedrich nachweisen lässt.

Auf die strengen Kompositionen der Aufklärung antwortet Friedrich mit Irritation und Empfindung: zerklüftete Berglandschaften, Morgennebel, düstere Wolkenschichten, die den Menschen mitunter zu verschlucken drohen.

Eines seiner Hauptwerke ist "Der Mönch am Meer", das er 1808 beginnt, und das als eines seiner unkonventionellsten gilt, da es keine Tiefenperspektive gibt, Meer und Himmel gehen ineinander über. Im Vordergrund steht klein und ehrfürchtig ein Mann, der dem Betrachter den Rücken zukehrt - und so eine Stellvertreterrolle und Identifikationsfigur abgibt. Unendlichkeit und die Größe des Universums sind das Thema dieses Gemäldes.

Berühmte Kreidefelsen auf Rügen

Das Gemälde "Kreidefelsen auf Rügen" gilt als eines der schönsten und wohl auch bekanntesten Werke von Caspar David Friedrich. Es entstand während seiner Hochzeitsreise im Sommer 1818. Wie durch ein Fenster, das ein häufig verwendetes Motiv des Malers ist, öffnet sich der Blick auf die Ostsee und in der Ferne auf einen hellen Himmel. Das Auge folgt den Segelschiffen, die dem Horizont entgegengleiten.

Immer wieder gehen Werke von Caspar David Friedrich in Flammen auf. Am 10. Oktober 1901 brennt Caspar David Friedrichs Geburtshaus in der Langen Straße 28 in Greifswald. Einige Gemälde können gerettet werden, doch wohlmeinende Verwandte übermalen sie und zerstören sie damit.

Auch im Zweiten Weltkrieg beim berühmten Bombenangriff auf Dresden verbrennen etliche von Friedrichs Gemälden. Heute verwahren Museen in Hamburg, Dresden und Berlin den Großteil der Kunstwerke von Caspar David Friedrich.

Im Rad der Geschichte

Caspar David Friedrich stirbt am 7. Mai 1840 verarmt - und vergessen. Seine Kunst ist plötzlich nicht mehr angesagt. Neue Strömungen lösen die Romantik ab. Naturalismus und Impressionismus überholen und ziehen an ihm vorbei.

Schon ab Mitte der 1820er-Jahre verliert sein Werk an Ansehen, damals kommt in Deutschland die Düsseldorfer Malerschule in Mode. Die Wiederentdeckung begann erst 1906 mit einer kleinen Ausstellung in Berlin, die Gemälde und Skulpturen aus der Zeit von 1775-1875 vorstellte und 32 Werke von Caspar David Friedrich präsentiert. An diese Ausstellung knüpft nun die Nationalgalerie in Berlin an und rekonstruiert die Geschichte von Aufstieg, Fall und Wiederentdeckung des romantischen Malers. Friedrich selbst hat wohl nicht daran geglaubt, dass man sich wohl immer an seinen Namen erinnern werde; darum hat er darauf verzichtet, jemals eines seiner Bilder zu signieren.

Buchtipp: Florian Illies "Zauber der Stille - Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten"

Dieser Artikel wurde am 17. April aktualisiert.

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Item 40
Id 68797372
Date 2024-04-17
Title Aus Protest: Israelischer Pavillon auf der Biennale geschlossen
Short title Israelischer Pavillon auf der Biennale bleibt geschlossen
Teaser Überschattet von Krisen und Kriegen beginnt in Venedig die 60. Kunst-Biennale. Ihr Motto: "Foreigners Everywhere" (Fremde/Ausländer überall). Der israelische Pavillon öffnet erst bei einer Feuerpause im Gaza-Krieg.
Short teaser In Venedig beginnt die 60. Kunst-Biennale. Der israelische Pavillon öffnet erst bei einer Feuerpause im Gaza-Krieg.
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Die Künstlerin Ruth Patir, die Israelbei der renommierten Kunst-Biennale in Venedig vertritt, will den Pavillon ihres Landes erst der Öffentlichkeit zugänglich machen, wenn eine Feuerpause im Gaza-Kriegvereinbart ist. Die Video-Installation mit dem Titel "(M)otherland" hätte eigentlich am Samstag in dem Pavillon in der italienischen Lagunenstadt präsentiert werden sollen. Am Dienstag erklärte Patir jedoch, dass ihr Kunstwerk verhüllt bleibe. Angesichts aktueller Diskussionen über Israels Biennale-Teilnahme vor dem Hintergrund des Gaza-Kriegs führte die Künstlerin auf Instagram aus, sie und die Kuratorinnen Mira Lapidot und Tamar Margalit seien mittlerweile die Nachricht geworden, und nicht die Kunst. "Und wenn mir solch eine bemerkenswerte Bühne geboten wird, möchte ich, dass sie zählt." Sie habe "daher entscheiden, dass der Pavillon erst geöffnet wird, wenn sich die Freilassung der Geiseln und eine Feuerpause ereignet". Der anhaltende Konflikt sei nicht mehr zu ertragen. Sie gehöre zu der großen Gruppe in Israel, "die zu einem Wandel aufruft".

Der Gaza-Krieg dürfte in diesem Jahr eins der beherrschenden Themen in Venedig sein, das in den nächsten Monaten (20. April bis 24. November) erneut zum Zentrum der internationalen Kunstwelt wird. Mehr als 800.000 Kunstfreunde pilgerten vor zwei Jahren in die auf Pfählen erbaute Lagunenstadt, davon zwei Drittel aus dem Ausland - ein neuer Rekord.

Politische Ausrichtung der Biennale

Die älteste Kunst-Biennaleder Welt ist wahrscheinlich noch politischer und internationaler als in den letzten Jahrzehnten. Erstmals sind Ost-Timor und Panama mit eigenen Pavillons vertreten. Auch der afrikanische Kontinent ist immer präsenter. Ghana und Madagaskar waren 2019 erstmals dabei. Im Jahr 2022 folgten Uganda, Kamerun und Namibia. Die afrikanischen Neuzugänge auf diesem - neben der documenta in Kassel - wichtigsten Kunstspektakel der Welt heißen Äthiopien, Benin, Tansania und Senegal. Unter das Motto "Everyting precious is fragile" (Alles Wertvolle ist zerbrechlich) stellt Azu Nwagbogu den Beitrag des westafrikanischen Benin. Der international vernetzte nigerianische Kurator verbindet die Werke der Künstlerinnen Chloé Quenum und Moufouli Bello, ihres Kollegen Ishola Akpo und die Arbeit von Romuald Hazoumé, dem aktuellen Star der Kunstszene Benins. Nwagbogu ist Gründer und Direktor des Lagos Photo Festivals und der African Artists' Foundation (AAF), eine gemeinnützige Organisation, die sich auf die Fahnen geschrieben hat, zeitgenössische afrikanische Kunst zu fördern und weltweit zu promoten.

Stimmen Afrikas auf der Kunst-Biennale

Mit Erfolg, wie sich zeigt: Hazoumés berührendes Werk "Dream" (Traum) hatte den heute 62-jährigen Künstler auf der Kasseler documenta 12 von 2007 weltbekannt gemacht; Hazoumé präsentierte ein mehrere Meter langes Boot aus Plastikkanistern, Glasflaschen, Briefen und Fotos, das er vor einer Fotoleinwand platzierte. Flucht, Vertreibung, Verlust von Heimat - Assoziationen wie diese entstanden nicht zufällig.

Kurator Nwagbogu will mit dem nationalen Beitrag Benins ebenfalls, wie er vor Journalisten sagte, zum "Umdenken" anregen. Er möchte die "Restitution von Wissen" fördern und dabei mit Hilfe einer "Bibliothek des Widerstands" vor allem Frauen Gehör verschaffen - zu Themen wie afrikanischer Identität, zu Ökologie und Wissenschaft.

Sind afrikanische Stimmen in Venedig nun ausreichend präsent? "Ich würde gerne viel mehr davon sehen", sagt Nwagbogu im Deutsche Welle-Interview, "vor allem würde ich mir wünschen, dass auf dem Kontinent eine umfassendere kulturelle Infrastruktur aufgebaut und unterstützt wird und dass die beeindruckenden Veranstaltungen, die wir bereits in ganz Afrika aufgebaut haben, mehr Unterstützung erhalten."

Biennale-Motto kreist um "Fremdheit"

Die Hauptausstellung der Kunst-Biennale verantwortet in diesem Jahr der Brasilianer Adriano Pedrosa, als erster Lateinamerikaner überhaupt auf diesem prestigeträchtigen Posten. "Stranieri Ovunque - Fremde überall", taufte er seine Schau, die sich nun über die parkähnlichen Giardini, die "Arsenale" genannten historischen Werfthallen und weitere Kunst-Orte der Lagunenstadt erstreckt. Pedrosas Fokus liegt, wie er ankündigte, "auf Künstlern, die selbst Ausländer, Immigranten, Expatriates, Diaspora, Emigranten, Exilanten oder Flüchtlinge sind". Der Kreis ist riesig. Insgesamt 330 Künstler wurden eingeladen, 88 Länder unterhalten Pavillons, 34 Begleit-Events verteilen sich über das Stadtgebiet.

Die Idee des Chefkurators: Er möchte Kunst aus den weniger privilegierten und weniger industrialisierten Regionen des Globalen Südens zeigen. Der Slogan selbst geht zurück auf das Pariser Künstlerkollektiv Claire Fontaine, das ihn als Neonschrift in 53 verschiedenen Sprachen produzieren ließ. Sie leuchten jetzt in den Arsenale.

Russlands Pavillon bleibt wieder leer

Die Kriegsgegner Ukraine und Russland werden in Venedig kaum aufeinanderprallen: Der russische Pavillon bleibt abermals leer. Die Ukraine nimmt mit der Gruppenausstellung "Nest Building" teil. Nach dem Überfall auf das Nachbarland im Februar 2022 hatten die für den russischen Pavillon ausgewählten Künstler und Kuratoren ihren Verzicht erklärt. Einen offiziellen Ausschluss Russlands gab es nicht.

Der Deutsche Pavillon öffnet mit einer Präsentation des Berliner Theaterregisseurs Ersan Mondtag und der israelischen Künstlerin Yael Bartana. Unter dem Titel "Thresholds" (Schwellen) wollen sie Geschichte und Zukunft aus der Perspektive verschiedener künstlerischer Positionen ergründen. Kuratorin ist in diesem Jahr - nach Yilmaz Dziewior 2022 - die in Istanbul geborene Architektin und Co-Direktorin der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, Çağla Ilk. "Wir befinden uns auf der Schwelle", wird Ilk zitiert, "nichts ist sicher."

Einen der spektakulärsten Auftritte hat in diesem Jahr der Vatikan: Er platziert seinen Pavillon in das Frauengefängnis der Lagunenstadt. Insassinnen begleiten Besucher auf einem Kunstparcours durch die Haftanstalt. Auch Papst Franziskus will den Pavillon besuchen. Er wäre der bisher erste Pontifex bei einer Biennale.

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Image caption Mit einem Schild weisen Künstlerin Ruth Patir und Kuratoren auf die Schließung des israelischen Pavillons hin
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Item 41
Id 68823336
Date 2024-04-15
Title Salman Rushdie: Neues Buch "Knife" handelt von Messerattacke
Short title Salman Rushdie: Neues Buch "Knife" handelt von Messerattacke
Teaser Im August 2022 wurde der Schriftsteller Salman Rushdie bei einem Attentat in den USA schwer verletzt. Nun hat er den Angriff in seinem Essay "Knife. Gedanken nach einem Mordversuch" verarbeitet.
Short teaser Salman Rushdie verarbeitet das Attentat auf ihn in seinem neuen Buch "Knife. Gedanken nach einem Mordversuch".
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Nach der Fatwa, einem islamischen Todesurteil, das vor über 30 Jahren über ihn verhängt worden war, ging Salman Rushdie in den Untergrund, doch schweigen wollte er nie. In seiner Wahlheimat, den USA, fühlte er sich sicher, doch der 12. August 2022 zeigte, dass die vermeintliche Sicherheit eine Fehleinschätzung war - und der jahrelange Hass auf ihn offenbar nicht nachgelassen hat.

Ein damals 24-jähriger Attentäter griff Rushdie bei einer Literaturveranstaltung im US-Bundesstaat New York mit einem Messer an und verletzte ihn schwer. Damals sagte Rushdie in einem Interview mit der "Zeit", er habe enormes Glück gehabt. "Hätte mich der Angreifer an anderen Stellen des Körpers getroffen, meine Geschichte wäre beendet." Der 76-jährige Schriftsteller und Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels kämpft bis heute mit den Folgen: Er ist auf einem Auge blind und kann eine Hand nicht mehr bewegen.

Rushdie: "Meine Antwort auf Gewalt ist Kunst"

In mehr als 15 Ländern erscheint nun das Buch "Knife. Gedanken nach einem Mordversuch". Das Buch sei seine Art, "das, was geschehen ist, in den Griff zu bekommen und auf Gewalt mit Kunst zu antworten", erklärte Rushdie in einer Mittelung seines Verlags Penguin Random House. Der Verlag schreibt weiter: "Rushdie hält seinem Angreifer das schärfste Schwert entgegen: Er verarbeitet diese unvorstellbare Tat (…) zu einer Geschichte über Angst, Dankbarkeit und den Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung."

Rushdie hatte über sein Vorhaben, ein Buch über den Angriff zu schreiben, bereits im Februar 2023 mit dem US-Magazin "The New Yorker" gesprochen. Die Geschichte habe er allerdings in der ersten Person schreiben wollen. "Wenn jemand mit einem Messer in dich hineinsticht, dann ist das eine Ich-Geschichte." Es sei nicht das einfachste Buch auf der Welt, aber er müsse es schreiben und sich mit dem Anschlag auseinandersetzen, damit er sich wieder anderem zuwenden könne. "Ich kann nicht einfach einen Roman schreiben, der nichts damit zu tun hat," sagte er in dem langen Interview. So ähnlich sei es ihm auch in den Jahren direkt nach der Fatwa gegangen.

Bis heute wurde die Fatwa nicht zurückgenommen

Diese war im Februar 1989 als Reaktion auf das Buch "Die Satanischen Verse" vom damaligen obersten Glaubenshüter des Islam, Ajatollah Ruhollah Chomeini aus dem Iran ausgesprochen worden. Er verhängte damit das Todesurteil über Rushdie und alle, die an der Veröffentlichung des Buches beteiligt waren. Seitdem läuft der Schriftsteller ständig Gefahr, von islamistischen Extremisten angegriffen zu werden - bis heute.Doch der Furcht wollte Rushdie nie einen großen Raum geben.

Der Attentäter vom August 2022 hatte bei der Kulturveranstaltung ein leichtes Spiel, denn Sicherheitsvorkehrungen waren so gut wie nicht vorhanden. Der Angreifer konnte im Anschluss überwältigt und verhaftet werden. Die Anklage wegen versuchten Mordes weist der mutmaßliche Täter zurück und bekennt sich nicht schuldig. Der Prozess gegen ihn hätte bereits im Januar 2024 beginnen sollen. Doch die Verteidigung hatte erklärt, ihr Mandant habe das Recht, das Buchmanuskript als potenzielles Beweismittel einzusehen. Ein neuer Termin für den Prozessbeginn ist noch nicht bekannt.

Nachdem im April 2023 sein letzter Roman "Victory City" erschienen war, ist "Knife" nun das sechzehnte Buch von Salman Rushdie. Es erscheint am 16. April 2024.

Item URL https://www.dw.com/de/salman-rushdie-neues-buch-knife-handelt-von-messerattacke/a-68823336?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Oktober 2023: Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Image source Arne Dedert/dpa/picture alliance
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Item 42
Id 58313006
Date 2024-04-15
Title Hochwasser: Wie aus Regen zerstörerische Fluten entstehen
Short title Wie aus Regen zerstörerische Fluten entstehen
Teaser Massive Regenfälle und Schneeschmelze bei frühlingshaften Temperaturen haben in Russland, Kasachstan und Afghanistan zu verheerenden Überschwemmungen geführt. Wie entwickelt Wasser diese gewaltigen Kräfte?
Short teaser Regenfälle und Schneeschmelze haben in Russland, Kasachstan und Afghanistan zu verheerenden Überschwemmungen geführt.
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Nach einem schneereichen Winter fällt das Frühjahrshochwasser im geografischen Grenzgebiet zwischen Europa und Asien in diesem Jahr besonders stark aus. In Russland, Kasachstan und Afghanistan traten viele Flüsse über die Ufer, Dämme brachen, riesige Gebiete wurden meterhoch überflutet. Hunderttausende mussten evakuiert werden, Menschen kamen ums Leben, ganze Existenzen wurden zerstört.

Immer wieder beweist uns die Natur mit ihren gewaltigen Elementen, wer hier die Oberhand hat. Die Menschen sind es jedenfalls nicht. Aber wie kann das Wasser eine solche Kraft entfalten? Genau diese Frage beantwortet Dr. Michael Dietze von der Sektion Geomorphologie am Helmholtz-Zentrum Potsdam auf der Webseite des Deutschen GeoForschungsZentrums GFZ.

Dafür ist es zunächst wichtig zu wissen, dass ein Kubikmeter Wasser eine Tonne wiegt. Das ist also schon mal nicht ohne! Und das heißt: "Wasser kann einen enormen Druck aufbauen, wenn es direkt auf ein Hindernis trifft. In Bewegung gebracht, ergibt das ungeheure Kräfte, die auf Autos oder Container wirken und diese einfach vor sich herschieben können, wenn sie nicht sehr fest verankert sind", sagt Dietze.

"Dazu kommt dann das Phänomen der Erosion, das vermeintlich stabile Oberflächen zerstören kann: (Erd-)Oberfläche wird durch schnell fließendes Wasser abgetragen."

Am GFZ Potsdam wird unter anderem untersucht, wie genau Wasser Sediment mobilisiert, wie sich Flutwellen bewegen, und mit welcher Wucht sie sich ihren Weg durch die Landschaft bahnen.

Starkregen gehört zu einer der meist unterschätzten Gefahren, warnt der Deutsche Wetterdienst (DWD). Er kann nur schwer vorhersagt werden und tritt bezogen auf einen Ort nur selten auf. Die Meteorologen können zwar die Region vorhersagen, aber nicht genau, wann oder wie viel es an einem bestimmten Ort regnen wird.

So kann es auch in den Regionen zu schweren Schäden kommen, in denen man es zuerst nicht vermuten würde – auch abseits von größeren Flüssen oder engen Tälern.

"Die starken Niederschläge bringen so große Wassermengen auf die – oft bereits durch vorherige Niederschläge gesättigten – Böden, dass sie dort nicht mehr versickern können", erklärt der Geomorphologe Dietze.

Lehm, Ton, Sand, trocken, feucht: Bodentypen nehmen Wasser unterschiedlich auf

Dabei kommt es nicht ausschließlich auf die Wassermenge an, auch die spielt eine große Rolle oder vielmehr die Wasserführung des Bodens. Das heißt: Wie gut kann der Boden das Wasser aufnehmen, speichern oder versickern lassen?

Hier spielen Faktoren wie die Porengröße der Bodenteilchen oder sogenannte Bodenkolloide eine Rolle. Bodenkolloide sind Teilchen mit einem Durchmesser von unter zwei Mikrometern (0,002 mm).

Diese Partikel sind so klein, dass sie mit bloßem Auge nicht erkennbar sind. Obwohl sie so winzig sind, erreicht eine große Anzahl an Bodenkolloiden auch eine gigantische Oberfläche, an der Wassermoleküle binden.

Ton- und Lehmböden enthalten viele solcher Bodenkolloide, an denen Wasser als sogenanntes Haftwasser festgehalten wird und nicht abfließen kann. Diese Böden enthalten wenig Poren und können daher, wenn sie erst einmal richtig durchweichen, mehr Wasser speichern als Sand.

Sand hingegen hat aufgrund seiner großen Korngröße viele große luftgefüllte Poren und enthält nur wenig Kolloide. Das Wasser kann daher kaum als Haftwasser festgehalten werden. Es fließt schnell ab.

Außerdem ist wichtig: In welchem Zustand war der Boden vor dem Regen?

Gesunde, humusreiche Böden - das heißt: sie sind nicht versiegelt, verkrustet oder verdichtet - können grundsätzlich mehr Regenwasser aufnehmen, große Mengen davon speichern, sodass es später Pflanzen und Bodentieren zur Verfügung steht. Der Rest versickert gereinigt und trägt zur Grundwasserbildung bei.

Wenn es allerdings nach einer längeren Dürreperiode plötzlich stark regnet, können Böden nicht so viel Wasser auf einmal aufnehmen. Ein ausgetrockneter Boden hat eine sogenannte "Benetzungshemmung". Die Folge: Das Wasser versickert nicht, sondern fließt an der Oberfläche ab. Dazu tragen auch Pflanzenreste im Boden bei, da sich aus ihnen Fette und wachsartige Substanzen lösen, wenn es trocken ist.

Wasser bahnt sich seinen Weg

Ist der Boden nach langen Regenperioden gesättigt, bleibt dem Wasser ebenfalls nichts anders übrig als oberflächlich abzufließen. Dann bahnt es sich seinen Weg bis in Bäche und Flüsse. "Einmal in diesen Gerinnen angekommen, kann es sehr hohe Geschwindigkeiten erreichen", sagt Dietze.

"Je höher nun die Geschwindigkeit, je höher das Gefälle – speziell an lokalen Stufen wie Böschungen und Geländekanten – und je tiefer der Fluss, desto mehr Kraft kann das Wasser am Untergrund entfalten: Dort, wo es entlang strömt, zieht es quasi mit der Kraft eines Gewichts von mehreren Kilogramm. Das reicht aus, um Sand, Steine und auch Schutt wegzureißen", erläutert Dietze weiter.

Mehr als nur Wasser: Eine fatale Mischung

Das allein reicht allerdings noch nicht aus, um Häuser und Straßen mitzureißen. Aber dabei spielt auch nicht allein das Wasser eine Rolle – sondern auch die mitgeführten Partikel. Diese schlagen in Boden, Straßen und Hauswände ein und entfalten dabei eine enorme Erosionsleistung.

"Sobald Teile davon erst einmal angegriffen sind, kann das darunter liegende Material viel leichter davongetragen werden", erklärt Dietze. Es entstehen Unterhöhlungen, da Straßen und Häuser oft auf nicht verfestigtem Grund gebaut seien. Weiteres Material kann dann leicht nachbrechen. "Dieses Zusammenspiel von mitgeführtem Material und der Kraft, freigelegtes weiteres Material einfach wegzuführen, verleiht dem schnell fließenden Wasser die Kraft, solch enorme Schäden in kurzer Zeit herbeizuführen."

Dabei betont Michael Dietze vom Helmholtz-Zentrum Potsdam, solche Fluten entstünden überall, wo Starkniederschläge auftreten könnten. Besonders gefährlich seien derartige Niederschlagsereignisse im Hochgebirge, wo in der Folge plötzlich versagende Dämme ganze Seen zum Auslaufen bringen oder Bergstürze gewaltige Eismengen schmelzen, und damit Flutwellen in den engen Tälern erzeugen.

Bevor das Wasser kommt

In den betroffenen Gebieten beklagen Einwohner, dass die Behörden seit Jahren zu wenig getan hätten, um sich gegen das Frühjahrshochwasser zu rüsten. Dämme seien gebrochen, weil zu wenig in die marode Infrastruktur investiert wurde. Zudem hätten die Behörden Warnungen von Experten vor einem gefährlichen Frühjahrshochwasser ignoriert und die Bevölkerung zu spät über die drohende Gefahr informiert.

Dabei gibt es Möglichkeiten, um vor solchen Extremwetterereignissen zu warnen.

"Aus Wettervorhersagen lassen sich Warnhinweise ableiten", sagt Dietze. "Zum Beispiel können Wettervorhersagen in hydrologische Modelle gespeist werden, um Vorhersagen zum Auftreten und zur Wahrscheinlichkeit von Hochwasserereignissen zu machen."

Problematisch seien dagegen immer noch die Erosionsprozesse. "Sie vorherzusagen ist schwierig, vor allem weil diese Ereignisse sehr schnell ablaufen und ihre Intensität schwer genau einzuschätzen ist", so der Geomorphologe.

Mithilfe von Satellitenbildern und vor allem Seismometern versuchen die Forschenden seit einigen Jahren, die Flutwellen nahezu in Echtzeit zu verfolgen und deren Intensität zu berechnen.

Der Artikel ist ursprünglich am 19.07.2021 erschienen und wurde am 07.08.2023 und am 15.04.24 aktualisiert.

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Image caption Behörden sollen Warnungen vor gefährlichem Frühjahrshochwasser ignoriert und die Bevölkerung zu spät informiert haben.
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Item 43
Id 68793728
Date 2024-04-13
Title Cybersecurity-Regeln fordern Autobauer heraus
Short title Cybersecurity-Regeln fordern Autobauer heraus
Teaser Ab Sommer gelten in Europa neue Regeln für die Cybersicherheit in Autos. Das nutzen mehrere Hersteller, um ihr Angebot zu verschlanken. Dabei verfolgen die neuen Regeln einen sicherheitspolitischen Zweck.
Short teaser Neue und schärfere Cybersicherheits-Regeln in Europa bedeuten das Aus für manche ältere Automodelle.
Full text

Im Kino rettet Meisterspion James Bond mit seinen bestens ausgestatteten Autos gleich die ganze Welt. In der Wirklichkeit können echte Spione unsere Autos als Werkzeuge benutzen. Dem wird nun ein Riegel vorgeschoben.

Denn die elektronische Ausstattung der Autos dient nicht nur der Bequemlichkeit ihrer Fahrer und soll zur Sicherheit im Straßenverkehr beitragen. Sie ermöglicht ebenso, dass Autos und ihre Benutzer immer besser beobachtet werden können.

Das haben die Vereinten Nationen und die Europäische Union erkannt und darauf reagiert: Mit den UN-Regeln R155 und R156, die die Cybersecurity und die damit verbundenen Software-Updates betreffen, werden höhere Anforderungen auch an Autofirmen und ihre Zulieferer gestellt. Diese UN-Maßgaben werden ab dem 7. Juli dieses Jahres auch in der EU umgesetzt.

Spione mit vier Rädern

Die Relevanz von Cybersecurity im Verkehr erklärte der Wirtschaftsforscher Moritz Schularick dem Handelsblatt am 23. März damit, dass "Fragen der nationalen Sicherheit" berührt seien: "Es geht um sensible Daten, die abgesaugt werden können - auch bei den E-Autos. Diese sind mit ihren vielen Sensoren und Kameras aus Sicht von Geheimdiensten nichts anderes als Spionage-Maschinen auf vier Rädern."

Bei einer Veranstaltung der Helmut Schmidt Foundation und der DW in Berlin hatte er bereits im Dezember 2023 gesagt: "Diese Autos, die durch die Straßen von Berlin fahren, filmen alles, was um sie herum passiert und geben es an ihre Unternehmen weiter - auch an ihre Muttergesellschaften in China". Und Schularick stellte die rhetorische Frage: "Wollen wir das? Wollen wir Augen und Ohren einer ausländischen Regierung millionenfach auf unseren Straßen?"

Die Spione sind schon da

Das zeigt auch die Studie Automotive Cyber Security, die vom Center of Automotive Management (CAM) in Kooperation mit dem Unternehmen Cisco Systems im März 2024 verfasst wurde. Mit der zunehmenden Vernetzung und Digitalisierung von Autos, Produktion und Logistik steige das Risiko für Cyberangriffe auf die Automobilindustrie.

"Die Cybergefahrenlage für die Automobilbranche ist kontinuierlich angestiegen. Mit der Verbreitung von Software-definierten Fahrzeugen, der Elektromobilität, dem autonomen Fahren und der vernetzten Lieferkette erhöhen sich die Cyberrisiken weiter", fasst Studienleiter Stefan Bratzel, Direktor des CAM, zusammen.

Die Studie zeigt an Beispielen, wie gefährdet die Industrie schon jetzt ist. So musste der weltgrößte Autobauer Toyota vor zwei Jahren seine Produktion unterbrechen, weil ein Zulieferer von "von einem mutmaßlichen Cyberangriff" betroffen war. Im Sommer 2022 wurde der Zulieferer Continental zum Ziel von Cyberkriminellen: Angreifer hatten trotz etablierter Sicherheitsvorkehrungen Daten aus IT-Systemen entwendet. Im März 2023 sei auch Tesla angegriffen worden. Hacker wählten sich in ein Fahrzeug ein und konnten diverse Funktionen ausführen. Sie konnten etwa die Hupe betätigen, den Kofferraum öffnen, das Abblendlicht einschalten und das Infotainment-System manipulieren.

Das Aus für Up & Bulli?

Auch wegen der neuen Regeln nehmen nun einige Hersteller Modelle aus dem Programm. Bei Volkswagen ist das der Kleinwagen Up und der Transporter T6.1, bei Porsche sind es die Modelle Macan, Boxster und Cayman, die als "Verbrenner" nur noch in den Export gehen, wie die Deutsche Presseagentur (dpa) meldet. Auch Audi, Renault und Smart würden ältere Modelle nach dem Stichtag nicht mehr bauen.

Der Agentur gegenüber begründete VW-Markenchef Thomas Schäfer die Maßnahmen mit dem hohen Aufwand, der für die neuen Regeln erforderlich sei: "Wir müssten da sonst noch einmal eine komplett neue Elektronik-Architektur integrieren. Das wäre schlichtweg zu teuer."

Wiebke Fastenrath von der Unternehmenskommunikation Volkswagen Nutzfahrzeuge bestätigt das der DW gegenüber: "Um die gesetzlichen Regelungen für die Elektronik-Architektur des T6.1 umzusetzen, hätte es sehr hoher Investitionen in eine auslaufende Plattform bedurft. Aufgrund der geringen Restlaufzeit des Modells wurden diese Investitionen nicht mehr getätigt, zumal die Nachfolgemodelle bereits auf dem Markt sind."

"Ein unerlässlicher Hygienefaktor"

Bestens vorbereitet scheint der schwäbische Konkurrent Mercedes-Benz zu sein. Unternehmenssprecherin Juliane Weckenmann teilte der DW mit, dass die "Regularien keine Auswirkungen auf das Portfolio von Mercedes-Benz" hätten: "Alle unsere Architekturen erfüllen die Anforderungen und sind oder werden rechtzeitig nach UN R155/ R156 zertifiziert."

Auch bei Volkswagen sieht man sich gerüstet: "Zum neuen Modelljahr 2025", teilte uns Wiebke Fastenrath mit, "werden unsere Modelle entsprechend überarbeitet". Das hält Stefan Bratzel auch für bitter nötig, denn "eine professionelle Cybersecurity-Strategie von Unternehmen gewinnt als unerlässlicher Hygienefaktor in der Automobilindustrie stark an Bedeutung".

"Für Automotive-Unternehmen wird das Thema Cybersecurity entscheidend", ergänzt Christian Korff, Mitglied der Geschäftsleitung von Cisco Deutschland und Auftraggeber der CAM-Studie. "Die Automobilindustrie ist ein Eckpfeiler unserer Wirtschaft. Wir dürfen uns hier keine Anfälligkeiten im Cyberbereich erlauben. Nur wer auf allen ebenen sichere Fahrzeuge und Services bereitstellt, behält das Vertrauen der Kunden."

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Image caption Schöne neue, vernetzte Auto-Welt: Auch für Hacker ein spannendes Ziel
Image source Michaela Rehle/REUTERS
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Item 44
Id 65286314
Date 2024-04-12
Title Notre-Dame: Pariser Kathedrale putzt sich heraus
Short title Notre-Dame putzt sich wieder heraus
Teaser Zum fünften Mal jährt sich der Brand der Pariser Kathedrale Notre-Dame. Frisch renoviert soll sie im Dezember 2024 wieder erstrahlen - "schöner als je zuvor".
Short teaser Frisch renoviert soll die Pariser Kathedrale im Dezember 2024 wieder erstrahlen - "schöner als je zuvor".
Full text

Großes hatte Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron noch in der Brandnacht vom 15. auf den 16. April 2019 versprochen, wohl um die geschockte Nation zu beruhigen: Er erklärte Renovierung und Wiederaufbau binnen fünf Jahren zum nationalen Projekt. Seither laufen die Arbeiten an der gotischen Bischofskirche "Notre-Dame de Paris" auf Hochtouren - und liegen zeitlich offenbar im Plan.

Nach Einschätzung des neuen Bauleiters Philippe Jost hat jetzt "die vielleicht emblematischste Operation der Bau­stelle begonnen, da sie den Wiederaufbau der Kathedrale nach außen hin sichtbar macht". Schon sein Vorgänger, der bei einer Bergwanderung tödlich verunglückte Ex-General Jean-Louis Georgelin, hatte sich zufrieden mit den Baufortschritten gezeigt. Für Gottesdienste und die Öffentlichkeit werde die Pariser Kathedrale im Dezember 2024 wieder geöffnet sein, versprach Georgelin im Interview der Zeitungsgruppe "Ouest-France".

Untersuchungen der Bausubstanz ergaben, dass die Mauern der Kathedrale trotz des Großbrandes stabil geblieben sind, ebenso die meisten Gewölbe. Inzwischen wurden die nördlichen und südlichen Querschiffe sowie die Joche des Langhauses von ihren Gerüsten befreit. Die Buntglasfenster und die große Orgel, die vom Brand verschont blieben, wurden gründlich gereinigt. Nach der Sicherungsphase begann die Restaurierung im Inneren.

Kurzschluss oder Zigarette?

Genau fünf Jahre liegt die Brandkatastrophe jetzt zurück. Das historische Bauwerk im Herzen von Paris wurde dabei teilweise zerstört. Die Pariser Feuerwehr kämpfte vier Stunden, bis sie den Brand auf den hölzernen Dachstuhl eingrenzen konnte. Die Westfassade mit den Haupttürmen, die Wände des Mittelschiffs, das Strebewerk sowie große Teile des Deckengewölbes, auch die Seitenschiffe und Chorumgänge blieben stabil. Hitze, Rauch, Ruß und Löschwasser setzten der Kirchenausstattung zwar zu, doch auch hier blieben größere Schäden aus. Ob ein Kurzschluss den Brand auslöste oder die Zigarette eines Bauarbeiters, ist bis heute offen.

Das Ausmaß der Zerstörung war nicht so groß wie zunächst befürchtet. "Gott sei Dank sind nicht alle Gewölbe eingestürzt," bilanzierte seinerzeit im DW-Interview die deutsche Kathedralen-Expertin Barbara Schock-Werner. Lediglich drei kamen herunter. Im Chor klaffte ein Loch. Die gotische Madonna blieb indessen unversehrt, obwohl neben ihr der Vierungsturm herunterbrach. "Das ist das Wunder von Notre Dame", so Schock-Werner.

Fenster-Restaurierung in Köln

Bilder der brennenden Kathedrale gingen um die Welt. Sie lösten weltweite Bestürzung aus - und eine Welle der Hilfsbereitschaft. Präsident Macron versprach die Wiederherstellung binnen fünf Jahren. Allein französische Spender sagten 850 Millionen Euro zu. Doch Geld und Expertise kamen auch aus Deutschland. Kölns ehemalige Dombaumeisterin Barbara Schock-Werner übernahm die Koordination der deutschen Hilfen.

So restaurierte die Kölner Dombauhütte vier Kirchenfenster, die Flammen und Hitze schwer beschädigt hatten. Die vier Obergadenfenster mit abstrakten Formen sind ein Werk des französischen Glasmalers Jacques Le Chevalier (1896-1987), gefertigt in den 1960er-Jahren. In der Glaswerkstatt der Kölner Dombauhütte wurden sie zunächst in einer - eigens eingerichteten - Dekontaminationskammer von giftigem Bleistaub befreit. Danach reinigten die Restauratorinnen die Fensterscheiben, klebten Sprünge im Glas, löteten Brüche im Bleinetz, erneuerten die Randbleie und verkitteten die Außenseiten der Fensterpanele neu. Die wiederhergestellten "Kölner” Fenster kehrten im Sommer 2023 zurück nach Paris.

Sensationsfund nach dem Brand

So dramatisch der Brand - so sensationell war diese Entdeckung französischer Forscher an der Brandstelle: Eisenklammern halten die Steine des Bauwerks zusammen. Datierungen und metallurgische Analysen enthüllten, dass diese Eisenarmierungen schon aus der ersten Bauphase der Kirche im 12. Jahrhundert stammen. Damit dürfte Notre-Dame der weltweit älteste Kirchenbau mit einer solchen Eisenverstärkung sein. Aber wichtiger noch: Gelüftet ist auch das Rätsel, warum das Kirchenschiff überhaupt diese Höhe erreichen konnte.

Als ihr Bau im Jahr 1163 begann, war Notre-Dame mit ihrem mehr als 32 Meter hohen Kirchenschiff bald das höchste Gebäude der damaligen Zeit - dank der Kombination architektonischer Finessen: Der fünfschiffige Grundriss, das Kreuzrippengewölbe mit dünnen Verstrebungen und die offenen, ebenfalls relativ dünnen Strebebögen an der Außenseite des Hochschiffs, die die Last des Bauwerks von den Wänden ableiten, machten die enorme Höhe möglich. Spätere Kathedralen erhielten zusätzlich zu Stein und Holzkonstruktionen auch Eisenarmierungen. So gewannen sie Stabilität.

Wiederaufbau im alten Stil

Für den Wiederaufbau des mittelalterlichen Dachstuhls mussten 2000 Eichen gefällt werden. Um die Stämme zu Balken zu bearbeiten, erhielten die Handwerker spezielle Äxte, auf deren Blatt die Fassade der Kathedrale eingraviert ist. Dies kann man unter anderem in einer Sonderausstellung im Pariser Architekturmuseumbewundern. Die Schau zeigt auch, welch mühsame Puzzlearbeit dahinter steckt, all die Steine und Holzstücke wieder an ihren ursprünglichen Platz zu setzen, das Gebäude so originalgetreu wie möglich wiederherzustellen.

Die Prachtstücke der Schau aber sind die Statuen der zwölf Apostel und vier Evangelisten, die der Architekt Eugène Viollet-le-Duc im 19. Jahrhundert um den von ihm entworfenen Dachreiter gruppierte. Sie überstanden den Brand unbeschadet, weil man sie - Glück im Unglück - kurz zuvor zwecks Restaurierung vom Dach abmontiert hatte.

Sogar eine Architekturdebatte hat der Wiederaufbau von Notre-Dame ausgelöst. Zankapfel war der abgebrannte Spitzturm, der die Kreuzung von Quer- und Langschiff markiert. Die Befürworter einer modernen Version - etwa in Stahl und Glas und von innen beleuchtet - konnten sich nicht durchsetzen. Auch andere Ideen hatten keine Chance, wie Chefarchitekt Philippe Villeneuve dem "Spiegel" erklärte. Er habe jedoch die Diskussion über "all diese idiotischen Ideen" nie gebremst, sagte er. "Ich wusste, je irrer die Entwürfe, desto größer sind die Chancen für eine originalgetreue Rekonstruktion."

Eine nationale Fachkommission entschied sich schließlich einstimmig für einen historischen Wiederaufbau. Und so erstrahlt der Spitzturm seit Februar 2024 samt goldenem Hahn und Kreuz in altem Glanz. Auch der Dachstuhl ist fertiggestellt, und sukzessive wird das Gerüst abgebaut.

Im Inneren geht es in den kommenden Monaten vor allem um die Elektrizität, den Brandschutz, ein Heizsystem und schließlich das Mobiliar. Die Franzosen fiebern nun dem 8. Dezember 2024 entgegen, dem Tag, an dem "Unsere liebe Frau von Paris” wieder ihre Türen öffnet - für alle, egal, ob gläubig oder nicht.

Dies ist eine aktualisierte Fassung eines früheren Beitrags.

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Image caption Vor fünf Jahren brannte die Kathedrale Notre-Dame. Nun ist ein Ende der Restaurierungsarbeiten in Sicht.
Image source picture-alliance/Photoshot/A. Morissard
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Item 45
Id 68796105
Date 2024-04-11
Title Todesstrafe für Vietnams Immobilienmagnatin Truong My Lan
Short title Todesstrafe für Vietnams Immobilienmagnatin Truong My Lan
Teaser Es ist der größte Finanzskandal in der Geschichte Vietnams. Truong My Lan ist laut Gericht für immensen Schaden verantwortlich. Ein solch drakonisches Strafmaß ist jedoch ungewöhnlich.
Short teaser Es ist der größte Finanzskandal in der Geschichte Vietnams. Ein solch drakonischer Urteilsspruch ist aber ungewöhnlich.
Full text

Das Volksgericht in Ho-Chi-Minh-Stadt hat die Immobilienmanagerin Truong My Lan zum Tode verurteilt. Die Jury befand die 67-Jährige der Bestechung, Veruntreuung und der Verletzung von Bankvorschriften für schuldig. "Die Handlungen der Angeklagten haben das Vertrauen in die Führungsstärke der Kommunistischen Partei (KP) Vietnams und den Staat untergraben", hieß es bei der Urteilsverkündung. Sie soll in den vergangenen Jahren mit Hilfe von Finanzfunktionären 42.000 Menschen geschädigt haben.

"Riesiges Netz organisierter Kriminalität"

Die Staatsanwaltschaft bezeichnete Lan, die Präsidentin der Immobilienfirma Van Thinh Phat ist, Berichten zufolge als Drahtzieherin eines riesigen Netzes der organisierten Kriminalität. Konkret soll das staatliche Geldinstitut Saigon Commercial Bank (SCB) dadurch einen Schaden von 677 Billionen Vietnamesischen Dong (etwa 25 Milliarden Euro) erlitten haben. Das Gericht legte von dieser Summe Lan persönlich 11,5 Milliarden Euro zur Last - das entspricht etwa drei Prozent des 2022 erwirtschafteten Bruttoinlandsproduktes des kommunistischen Landes.

Laut staatlichen Medienberichten kontrollierte Lan de facto zeitweise die Saigon Commercial Bank über zahlreiche Vollmachtgeber. Sie wies die Verantwortlichen des Geldinstitutes demnach an, Kredite an Tausende von Briefkastenfirmen zu genehmigen, bevor sie Beamte bestach und die Gelder in bar abzweigen ließ. Ihre Komplizen sollen rund 2500 Kredite bewilligt haben.

Der Zeitung "Thanh Nien" zufolge wurden 85 Mitangeklagte zu Freiheitsstrafen zwischen drei Jahren auf Bewährung und lebenslanger Haft verurteilt. Unter ihnen sind Beamte der Zentralbank, Ex-Regierungsmitglieder sowie Führungspersonal der SCB. Unter anderem sollen Bestechungsgelder im Wert von umgerechnet fünf Millionen Euro Bargeld den Besitzer gewechselt haben, versteckt in Styroporbehältern.

Mehr als 1000 Immobilien beschlagnahmt

Die Staatsanwaltschaft beschlagnahmte mehr als 1000 Immobilien Lans. Sie selbst war im vergangenen Oktober verhaftet worden. Geschädigte können seither nach Polizeiangaben kein Geld mehr von ihren Konten der SCB abheben.

Lan bestreitet sämtliche Vorwürfe und beschuldigte vor Gericht Untergebene. Bereits vor Verkündung des Urteils hatte ein Familienmitglied erklärt, man werde Berufung einlegen. Nun hieß es, man werde weiter kämpfen und sehen, was man tun könne.

Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei, Nguyen Phu Trong, hat 2016 eine breit angelegte Anti-Korruptionskampagne in Vietnam eingeleitet. Allein seit 2021 gab es 1700 Verfahren gegen mehr als 4400 Personen, darunter bekannte Geschäftsleute und Regierungsbeamte. Im März trat Vietnams Präsident Vo Van Thuong von seinem Amt zurück - wegen Verstrickung in einen Korruptionsskandal.

Dass bei Finanzverbrechen die Todesstrafe in Vietnam verhängt wird, ist allerdings ungewöhnlich. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International geht davon aus, dass in dem südostasiatischen Land jedes Jahr einige Dutzend Todesurteile auch vollstreckt werden.

se/pg (dpa, rtr, afp)

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Image caption Truong My Lan während der Urteilsverkündung
Image source AFP
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Item 46
Id 68796175
Date 2024-04-11
Title Leitzinsen in der Eurozone bleiben (noch) unverändert
Short title Leitzinsen in der Eurozone bleiben (noch) unverändert
Teaser Zwar halten Europas Währungshüter den Zinssatz noch unverändert, deuten aber erstmals eine Lockerung der Geldpolitik und somit eine Zinswende an. Am 6. Juni könnte es soweit sein.
Short teaser Erstmals deuten die Währungshüter eine Zinswende an. Am 6. Juni könnte es soweit sein.
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Die Europäische Zentralbank (EZB) bereitet die Finanzmärkte auf eine womöglich nahende erste Zinssenkung vor. Die Währungshüter um EZB-Präsidentin Christine Lagarde beschlossen am Donnerstag auf ihrer Geldpolitik-Sitzung in Frankfurt, den Leitzins weiter bei 4,50 Prozent und den am Finanzmarkt richtungsweisenden Einlagensatz bei 4,00 Prozent zu belassen. Zugleich deuteten sie aber an, demnächst die Zinswende einzuleiten. "Sollte seine aktualisierte Beurteilung der Inflationsaussichten, der Dynamik der zugrunde liegenden Inflation und der Stärke der geldpolitischen Transmission die Zuversicht des EZB-Rats weiter stärken, dass die Inflation sich nachhaltig dem Zielwert annähert, wäre eine Lockerung der aktuellen geldpolitischen Straffung angemessen", erklärten die Euro-Wächter.

Die EZB stehe in den Startlöchern, kommentierte Volkswirt Bastian Hepperle von der Hauck Aufhäuser Lampe Privatbank die EZB-Beschlüsse. "Mit ihrem rhetorischen Schwenk heute öffnet sie die Tür für eine Zinssenkung, durch die sie im Juni gehen wird." Mit der Konjunktur im Euroraum laufe es eher schlecht als recht und die Gesamtinflationsrate liege bereits relativ nahe am Zielwert der EZB. Auch aus Sicht von Friedrich Heinemann vom Mannheimer Forschungsinstitut ZEW ist es fast sicher, dass die EZB im Juni mit der Zinssenkung beginnt.

Zinswende vor der US-Notenbank?

Die EZB erklärte, dass sie sich nicht im Voraus auf einen bestimmten Zinspfad festlegt. Wie bisher werde sie von Sitzung zu Sitzung entscheiden. Die Höhe und Dauer des angemessenen konjunkturbremsenden Zinsniveaus will sie auch in Zukunft abhängig von der Datenlage festlegen. Inzwischen befänden sich die Schlüsselzinsen auf einem Niveau, das einen erheblichen Beitrag leiste zum Rückgang der Teuerung im Euroraum. "Die Inflation ist weiter zurückgegangen, was vor allem dem schwächeren Preisauftrieb bei Nahrungsmitteln und Waren zuzuschreiben ist", erklärten die Währungshüter.

Die EZB könnte somit vor der US-Notenbank die Zinswende einleiten. Denn auf der anderen Seite des Atlantiks brummt die Wirtschaft, der Arbeitsmarkt zeigt sich robust und die Inflation ist anders als erhofft zuletzt sogar wieder gestiegen. Die Verbraucherpreise in den USA nahmen im März zum Vorjahresmonat um 3,5 Prozent zu nach 3,2 Prozent im Februar. Daher rechnen Börsianer inzwischen erst im September mit einer ersten Zinssenkung der Fed.

Zinsen seit September auf Rekordniveau

Die EZB hält inzwischen seit September 2023, als sie im Kampf gegen die Inflation zuletzt die Zinsen angehoben hatte, an den rekordhohen Schlüsselsätzen fest. Inzwischen ist die Inflation aber in der Euro-Zone im März auf 2,4 Prozent gefallen, nach 2,6 Prozent im Februar und 2,8 Prozent im Januar. Die Zielmarke der EZB von 2,00 Prozent, die sie mittelfristig als optimales Niveau für den Währungsraum anstrebt, rückt damit in greifbare Nähe. Die Zeiten der Hochinflation, die im Herbst 2022 zeitweise auf über zehn Prozent anstieg, sind längst vorbei. Zehn Zinsanhebungen der EZB zwischen Sommer 2022 und September 2023 zeigten Wirkung.

In den vergangenen Wochen hatte bereits eine Reihe von Währungshütern die Ansicht geäußert, die Zinssitzung am 6. Juni könnte der geeignete Startpunkt für die Zinswende sein. Denn das Lohnwachstum, das zuletzt einer der stärksten Inflationstreiber im Euroraum war, hat sich zuletzt etwas abgeschwächt. Zudem dämpfen die straffen Finanzierungsbedingungen weiterhin die Konjunktur. EZB-Präsidentin Lagarde hatte im März gesagt, die Notenbank werde von der Datenlage her wohl im Juni ausreichend Sicherheit haben, um über eine erste Zinssenkung zu entscheiden. Dann dürften den Währungshütern unter anderem wichtige Daten zu den diesjährigen Tarifabschlüssen aus den Euro-Ländern vorliegen. Zudem werden zu der Sitzung neue Konjunktur- und Inflationsprognosen der EZB-Volkswirte erwartet.
In der jüngsten Zinsumfrage der Nachrichtenagentur Reuters waren Ende März mehr als 88 Prozent der befragten Volkswirte davon ausgegangen, dass die Euro-Notenbank im Juni erstmals wieder die Schlüsselsätze senken wird. Aktuell wird mit mindestens drei Zinssenkungen der Währungshüter in diesem Jahr gerechnet.

hb/dk (rtr)

Item URL https://www.dw.com/de/leitzinsen-in-der-eurozone-bleiben-noch-unverändert/a-68796175?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/68467744_302.jpg
Image caption EZB-Chefin Christine Lagarde
Image source Florian Wiegan/Eibner-Pressefoto/picture alliance
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Item 47
Id 68522575
Date 2024-04-11
Title Wie das Fliegen bis 2050 klimaneutral werden soll
Short title Wie das Fliegen bis 2050 klimaneutral werden soll
Teaser Die Fluggesellschaften haben sich große Ziele gesteckt: Bis 2050 soll das Fliegen klimaneutral sein. Es gibt vielversprechende Ideen, bereits gestartete Projekte und auch erste Erfolge. Aber wird das reichen?
Short teaser Bis 2050 soll des Fliegen klimaneutral sein. Es gibt gute Ideen, bereits gestartete Projekte und auch erste Erfolge.
Full text

Marte van der Graaf spart nicht mit Kritik, wenn es um die Bemühungen der Fluggesellschaften in Sachen Klimaschutz geht. "Es ist schwierig, die Netto-Null-Ziele der Luftfahrtindustrie derzeit ernst zu nehmen", sagt die Referentin für Luftfahrt der auf nachhaltigen Verkehr spezialisierten Nichtregierungsorganisation Transport & Environment. "Der Luftfahrtsektor muss seinen Verbrauch an fossilen Brennstoffen in den kommenden Jahrzehnten deutlich senken. Doch im Moment geht es genau in die entgegengesetzte Richtung."

Die Zahl der Flugreisenden steigt weiter stark

Denn während der Klimawandel voranschreitet, steigt der Treibhausgasausstoß der Branche weiter an. Zudem wird die Zahl der Flugreisenden allen Prognosen zufolge auch in den kommenden Jahren stark wachsen. Und so beteuert man auch beim Netzwerk Stay Grounded, das sich für eine Reduzierung des Flugverkehrs einsetzt: "Grünes Wachstum und ein CO2-neutraler Luftverkehr bleiben eine Illusion."

Dennoch steckt sich die Branche hohe Ziele. "Das Bestreben ist, bis 2050 klimaneutral zu sein", sagt Wolf-Dietrich Kindt, Leiter Klima- und Umweltschutz beim Bundesverband der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL). Die Fluggesellschaften hätten in den vergangenen Jahrzehnten viele Milliarden Euro in die Erneuerung ihrer Flotten investiert. So sei es möglich gewesen, den Kerosin-Verbrauch und damit den Schadstoff-Ausstoß drastisch zu reduzieren. "Das ist eine ganz erhebliche Leistung", sagt Kindt.

Neue Flugzeuge fliegen immer effizienter

Mit jeder neuen Flottengeneration lasse sich die Effizienz um 20 Prozent steigern. Dies sei der größte Hebel, den man derzeit habe, um die Emissionen zu senken. Immer neue Belastungen wie die Beimischungsquoten für klimafreundlichere, aber deutlich teurere Treibstoffe, das EU-Emissionshandelssystem, die Luftverkehrsteuer in Deutschland oder die immer wieder diskutierte Kerosinsteuer hätten den Effekt, dass europäische Airlines im Wettbewerb mit Nicht-EU-Fluggesellschaften benachteiligt werden. Das mache Investitionen in modernere Flugzeuge immer schwieriger.

An die Innovationskraft der Branche glaubt auch Markus Fischer, der Bereichsvorstand Luftfahrt beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). "Die Branche hat immer schon alles versucht, ihre Effizienz durch bessere Triebwerke und Aerodynamik zu steigern", sagt er. "Mit großem Erfolg." So betrage der mittlere Treibstoffverbrauch pro Sitz und Kilometer heute nur noch ein Drittel des Wertes von vor 50 Jahren. Klar sei aber auch, dass das nicht reiche. An alternativen, nicht-fossilen Treibstoffen führt kein Weg vorbei.

Alternative Treibstoffe für Flugzeuge gibt es nur in geringen Mengen

Gerade hier aber tut sich die Branche schwer. Zwar gibt es vielversprechende Ansätze mit elektrischen Flugzeugen – allerdings nur auf der Kurzstrecke. Airbus derweil kündigt ein wasserstoffbetriebenes Flugzeug an – für das Jahr 2035. Nachhaltige, aus erneuerbaren Energien oder Biomasse hergestellte Treibstoffe, die fossiles Kerosin kurzfristig ersetzen könnten und weniger klimaschädlich sind, gibt es auf absehbare Zeit nur in geringen Mengen und zu sehr hohen Preisen. "Revolutionäre und unmittelbar verfügbare Lösungen für eine emissionsfreie Luftfahrt gibt es aufgrund der immensen technologischen Herausforderungen derzeit nicht", heißt es folglich beim DLR.

Ändern möchte das Michael Haid. Er ist der Chef des Unternehmens EDL Anlagenbau, das in der Nähe von Leipzig eine der weltweit ersten Fabriken zur industriellen Herstellung von "grünem", nachhaltig hergestelltem Kerosin plant. "Es wird sehr schwierig, das Ziel klimaneutrales Fliegen bis 2050 zu erreichen", sagt er. "Vor allem, wenn man sieht, wie lange alles dauert." Insbesondere die komplizierte Regulierung in der Europäischen Union sorge für Verzögerungen. Seit 2021 laufen die Planungen, nicht vor Ende 2027 wird die Herstellung beginnen können.

Zweifel am Ziel der klimaneutralen Luftfahrt

Ohnehin gibt es an dem Ziel einer klimaneutralen Luftfahrt noch ganz andere Zweifel. Das CO2 nämlich macht lediglich einen Teil der klimaschädlichen Emissionen von Flugzeugen aus. Markus Fischer vom DLR schätzt, dass die sogenannten "Nicht-CO2-Effekte" für mindestens 50 Prozent der Klimawirkung sorgen. Unter anderem die Bildung von Kondensstreifen trägt zur Erderwärmung bei. "Selbst ohne alternative Treibstoffe kann man eine ganze Menge für das Klima tun", sagt er. Durch die Modifizierung von Fluggeschwindigkeit, -höhe und -routen ließen sich unerwünschte Effekte verringern.

Und dennoch: So ganz glaubt die Branche selbst nicht an das gesteckte Ziel einer klimaneutralen Luftfahrt bis zum Jahr 2050. Beim internationalen Luftfahrtverband IATA etwa ist lediglich von CO2-Neutralität die Rede. Und auch die wird wohl nur durch Kompensation erreicht werden können. Außerdem will man der Atmosphäre CO2 künstlich wieder entziehen und so die eigene Bilanz aufbessern.

"Kompensationsmaßnahmen sind eine Scheinlösung für das Klima", kritisiert Marte van der Graaf. "Die Fluggesellschaften sollten aufhören, sie als Vorwand zu benutzen, um echte Klimaschutzmaßnahmen aufzuschieben." Für sie ist eines ganz klar: "Der einzige wirklich grüne Flug ist der, der am Boden bleibt."

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Image caption Wie weit ist die Luftfahrtbranche mit ihren Klimazielen?
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Item 48
Id 68734197
Date 2024-04-11
Title Was wir von Juden lernen können
Short title Was wir von Juden lernen können
Teaser Jeder muss die Welt besser machen, üble Nachrede ist schlimmer als Mord, Frauen haben das Recht auf guten Sex: Mirna Funk zeigt in ihrem Buch "Von Juden lernen", wie aktuell Gebote aus biblischer Zeit noch heute sind.
Short teaser Jeder muss die Welt besser machen, und üble Nachrede ist schlimmer als Mord: Jüdische Gebote sind noch heute aktuell.
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"Es wird viel über Juden gesprochen, es wird viel über Juden geschrieben, aber keiner weiß irgendetwas über Juden", sagt Mirna Funk. Die 43-jährige Berliner Journalistin und Schriftstellerin wuchs selbst ohne jüdische Traditionen auf, erzählt sie der DW. Doch mittlerweile hat sie sich kundig gemacht über das Judentum und die wichtigsten Lehrsätze in ihrem Buch "Von Juden lernen" zusammengestellt.

Der Auftrag: die Welt verbessern

Mirna Funk steht unter der Dusche und hadert mit dem Leben - Krieg in der Ukraine, zu wenig Geld auf dem Konto, kein Lover in Sicht, könnte Gott da nicht etwas drehen? Jammern allerdings widerspricht dem jüdischen Gebot "Tikkun Olam" - was so viel heißt wie: die Welt reparieren. Während Christen geduldig auf die Rückkehr des Messias beim Jüngsten Gericht warten, der ihnen dann das Paradies bringt, ist im Judentum Eigeninitiative gefragt: Gott erwarte Aktivität, nicht ein passives Erstarren und den illusorischen Glauben daran, dass die Dinge schon irgendwie laufen werden, erläutert Mirna Funk.

Also heißt es anpacken, um diese Welt zu verbessern. Das Paradies auf Erden allerdings sei ein utopischer Wunsch. "Menschen haben immer positive und negative Eigenschaften, dementsprechend können sie diese Welt auch nicht zu einem paradiesischen Ort machen." Aber man kann zumindest versuchen, sein Bestes zu geben.

Hilfe zur Selbsthilfe

Die Welt besser zu machen, bedeutet auch, anderen zu helfen, wenn sie Hilfe brauchen. "Es ist keine Tugend, sondern eine Pflicht", schreibt Mirna Funk. "Zedaka" heißt sie auf Hebräisch, was sowohl Gerechtigkeit als auch Wohltätigkeit bedeuten kann. Almosen zu geben ist die niedrigste Stufe der Zedaka. Das eigentliche Ziel ist es, bedürftige Menschen in Arbeit zu bringen, damit sie nicht von anderen abhängig sind. Insofern hat Mirna Funk auch wenig Verständnis dafür, wenn heute in Deutschland von manchen ein bedingungsloses Grundeinkommen gefordert wird. Sie plädiert für Eigenverantwortung: "Es ist wichtig, Menschen nicht in Abhängigkeit und Unfreiheit zu lassen, indem man sie durch finanzielle Hilfen in ihrer eigenen Selbstständigkeit beschränkt."

Schon Eva war ungehorsam

Im Christentum ist Eva schuld an der Vertreibung der Menschen aus dem Paradies. Sie aß gegen den Willen Gottes einen Apfel vom Baum der Erkenntnis und verführte auch Adam dazu. Für Mirna Funk ist Eva eine Rebellin.

Widerspruch auszuhalten ist ein Grundpfeiler der jüdischen Tradition, die auf Dialog setzt und den anderen nicht verteufelt, wenn er anderer Meinung ist. Das gilt auch für die Partnerschaft. Man dürfe nicht versuchen, sich möglichst ähnlich zu werden, denn: "Keine Bewegung ohne Reibung. Keine Entwicklung ohne Kritik", so Funk.

Und weil die Frau eben keine Ja-Sagerin ist, nimmt sie im Judentum nicht die Rolle der gehorsamen Gefährtin ein. Vor mehr als 3000 Jahren schrieb König Salomon das Gedicht "eshet chayil", das übersetzt "tapfere Frau" bedeutet und noch heute am Schabbat gesungen wird. "In diesem Loblied kümmert die Frau sich um die Kinder, backt und kocht, aber gleichzeitig hat sie ein eigenes Geschäft", sagt Funk. "Sie ist stark, sie ist mutig, sie ist tapfer."

Diese Frauenbild prägt die jüdische Gemeinschaft. "In Israel gab es schon in den 70er-Jahren eine Premierministerin, Golda Meir, so Funk. "Als in Westdeutschland Frauen noch nicht mal ein eigenes Konto eröffnen durften, hatte Israel schon eine Politikerin, die das Land geführt hat."

Wie lässt sich dieses Selbstbewusstsein mit dem Bild der züchtig gekleideten jüdischen Frau mit Perücke vereinbaren, die ihrem Mann Gehorsam schuldet und vor allem möglichst viele Kinder kriegen soll? Das seien Orthodoxe und Ultraorthodoxe, und sie machten den kleinsten Teil der jüdischen Weltbevölkerung aus, sagt Mirna Funk. "Das ist einfach eine sektenähnliche Absplitterung, und die gibt es in jeder Religion. Es wird viel über sie geschrieben, aber für mich sind sie nicht relevant, weil sie für das Judentum keine große Rolle spielen."

Das Recht auf guten Sex

Frauen haben das Recht auf guten Sex, so steht es in der Thora. Der jüdische Gelehrte Maimonides (1138-1204) brachte es zu Papier: "Ein Mann hat die Pflicht, seine Frau in sexuellen Angelegenheiten zu befriedigen." Tat er das nicht, hatte sie das Recht, sich scheiden zu lassen. Die Sexualität der Frau war im Judentum also nie tabuisiert, Keuschheit wurde nicht zum Ideal erhoben wie im Christentum. "Yada" bedeutet sexuelle Vereinigung - "einander erkennen und durch den Akt auch die Beziehung zu Gott einzugehen".

Von Federn im Wind und Shitstorms

In einer bekannten jüdischen Erzählung verbreitet ein Mann Lügen über eine andere Person, bekommt ein schlechtes Gewissen und geht zum Rabbiner. "Was soll ich bloß tun", fragt er? Der Rabbi rät ihm, ein Kissen aufzuschlitzen und alle Federn dem Wind zu übergeben. Der Mann hält sich an die Anweisung und wird wieder beim Rabbiner vorstellig. "Und nun sammle alle Federn wieder ein", fordert der ihn auf. "Unmöglich!", ruft der Mann. "Siehst du", antwortet der Rabbi, "das ist wie mit den Gerüchten, die du über eine andere Person verbreitest. Du kannst sie niemals wieder rückgängig machen."

Genau deswegen gilt üble Nachrede - "lashon hara" - im Judentum als schwere Sünde, schlimmer als Mord. Heute heißt dieses allzu menschliche Phänomen Shitstorm und er sei, so schreibt Funk, "mittlerweile kein Ausnahmephänomen mehr, sondern die Regel. "Er zeigt auf erschreckende Weise, dass die Meinung eines anderen nicht anerkannt wird, sobald sie nicht der eigenen entspricht", so Funk. "Derjenige, der dem Shitstorm ausgesetzt ist, wird diffamiert und entwürdigt." Ein Dialog hat in dieser polarisierten Sichtweise keine Chance mehr, denn "was den Shitstorm ausmacht, ist die totalitäre Verneinung von Andersartigkeit".

Das Judentum lehnt diese Sichtweise ab, die Welt wird nicht ideologisch in Gut und Böse eingeteilt. Statt den anderen zu verdammen, soll man lernen, richtig zu streiten: "Machloket" gilt als Methode zur Erkundung unterschiedlicher Perspektiven und wird als Zeichen von Engagement und Respekt betrachtet. Im aktuellen gesellschaftlichen Klima, so Funk, sei die differenzierte Sichtweise verloren gegangen.

Im Dialog mit der Vergangenheit

Der amerikanisch-jüdische Schriftsteller Elie Wiesel sagte einmal: "Jüdisch zu sein, bedeutet zu erinnern." Doch heute, so Funk, sei das anders: Wir lebten in einer geschichtsvergessenen Zeit, in der der Fokus auf dem Jetzt liege. "Wenn seit dem 7. Oktober 2023 verstärkt Begriffe wie Apartheid, Genozid, ethnische Säuberungen und Kolonialmacht auf Israel angewendet und als Wahrheit verkauft werden, dann offenbart sich ein absolut unzulängliches Geschichtsverständnis."

Derzeit, so stellt sie fest, politisiere sich eine sehr junge Generation und stelle sich gegen Israel. "Begriffe, die schon aufgeladen sind mit Geschichte, so wie Apartheid, lösen sofort Emotionen im anderen aus." Was sie besonders erschreckt: "Jetzt werden auch deutsche oder europäische Juden angegriffen wegen dieses Krieges." Um so wichtiger sei es, die Vergangenheit nie zu vergessen, sondern mit ihr in Dialog zu treten und daraus eine bewusste Zukunft zu kreieren.

Aktuell wie eh und je

"Was das Judentum so besonders macht, sind die Flexibilität und der Mut zum Zweifel", erklärt Mirna Funk. Das sei den Rabbinern zu verdanken, die sich von überholten Traditionen verabschiedet und die Regeln und Gesetze immer wieder der Moderne angepasst hätten. Zudem drehe sich das Judentum nicht nur um metaphysische Fragen, sondern denke immer auch an das Dilemma der menschlichen Existenz. "Das sind alles Gründe, warum die meisten Juden, die ein säkulares Leben leben, sich dennoch mit ihrer Religion identifizieren können."

Für sie hat Funk dieses Buch geschrieben - und für alle, denen beim Stichwort Juden zuerst die Begriffe Holocaust, Antisemitismus oder der arabisch-israelische Konflikt in den Sinn kämen, "so als sei das alles, was jüdisches Leben oder jüdische Kultur oder Jüdischsein ausmacht". Dass es viel mehr ist, wird in dem Buch von Mirna Funk eindrucksvoll unter Beweis gestellt.

Buchtipp: Mirna Funk: Von Juden lernen. dtv 2024

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Image caption Die Thora ist die hebräische Bibel und Hauptquelle jüdischer Ethik und jüdischer Bräuche.
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Item 49
Id 68783961
Date 2024-04-10
Title Chip-Krieg: USA und EU fürchten Chinas Dominanz bei älteren Chips
Short title Chip-Krieg: USA und EU fürchten Chinas Dominanz
Teaser Nach dem Streit um Exportverbote für moderne KI-Chips werden nun selbst ältere Chips, die auch in Haushaltsgeräten stecken, zum Problem.
Short teaser Im Wettbewerb mit China werden selbst ältere Chips, die auch in Haushaltsgeräten stecken, zum Problem.
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Sie sind nicht zu vergleichen mit den hochmodernen Super-Chips, die Plattformen für künstliche Intelligenz (KI) antreiben. Dafür sind sie überall im Einsatz: ältere, ausgereifte Halbleiter, die in Waschmaschinen, Autos, Fernsehern oder medizinischen Geräten verbaut werden.

In der Branche werden sie Legacy Chips genannt, was man mit "älteren Chips" übersetzen könnte. Dass China hier eine große Marktmacht hat, bereitet Strategen in den USA und der EU zunehmend Kopfzerbrechen.

China investiert stark

Mit Exportverboten hat Washington chinesischen Unternehmen bereits den Zugang zu den modernsten Chips westlicher Bauart erschwert- in der Hoffnung, Pekings Aufstieg zu einer technologische Supermacht zu bremsen. Nun richtet sich die Aufmerksamkeit auf die älteren Chips, von denen fast jeder dritte derzeit in China produziert wird.

Peking will seine Investitionen in die Herstellung älterer Chips stark erhöhen. Im September 2023 hat die die chinesische Regierung einen staatlich geförderten Investitionsfonds in Höhe von umgerechnet 40 Milliarden US-Dollar (37 Milliarden Euro) angekündigt, um die heimische Halbleiterproduktion zu stärken. Seitdem werden in den USA und in der EU Rufe laut, die heimische Halbleiterindustrie besser vor der chinesischen Übermacht zu schützen.

USA und EU prüfen Chinas Chip-Dominanz

Im Dezember ordnete die Regierung von US-Präsident Joe Biden eine Überprüfung der gesamten Halbleiter-Lieferkette an, um Chinas Dominanz bei älteren Chips zu bewerten. Eine Sitzung des EU-US-Handels- und Technologierats Anfang April im belgischen Leuven könnte eine ähnliche Überprüfung durch die EU-Kommission nach sich ziehen, die Exekutive der Europäischen Union.

In einer Erklärung des Rates nach der Sitzung hieß es, beide Seiten könnten "gemeinsame oder kooperative Maßnahmen entwickeln", um etwas gegen die "verzerrenden Auswirkungen" auf die globalen Lieferketten zu unternehmen, die sich bei Legacy Chips abzeichnen.

Überkapazitäten und Chip-Dumping

Sollte China den Markt mit herkömmlichen, von Peking subventionierten Chips überschwemmen, könnten westliche Chiphersteller schnell vom Markt verdrängt werden, warnen Brancheninsider. Sie verweisen auf ein ähnliches Dumping billiger chinesischer Solarpaneele, mit dem sich China aus EU-Sicht einen unfairen Vorteil verschafft hat.

"Wenn Unternehmen wie Lam Research und Applied Materials dauerhaft die Hälfte ihres Marktes verlieren, müssten sie sich verkleinern", sagt Penn über die beiden großen US-Hersteller von Legacy Chips. "Im Moment gehen sie noch davon aus, dass sich die Größe ihres Marktes verdoppelt."

In den nächsten drei Jahren wird Chinas Kapazität für Standard-Halbleiter dank staatlicher Subventionen so wachsen, dass das Land 39 Prozent der weltweiten Nachfrage bedienen kann, so Daten von Trendforce, einer auf den Sektor spezialisierten Analysefirma mit Sitz in Taiwan.

Laut einer separaten Prognose von Gavekal Dragonomics, einem Finanzdienstleister mit Sitz in Hongkong, wird China in diesem Jahr mehr Kapazitäten für die Chipherstellung aufbauen als der Rest der Welt zusammen - eine Million Chips pro Monat mehr als im letzten Jahr.

Auch Indien will ein Stück vom Kuchen abhaben, was die Überkapazitäten in der Chipproduktion noch verstärken könnte. Der indische Mischkonzern Tata Group allein investiert umgerechnet elf Milliarden Dollar in den Bau einer eigenen Chip-Fabrik in Dholera im Bundesstaat Gujarat.

Die taiwanesischen Chiphersteller, die derzeit fast die Hälfte der weltweiten Chipproduktion abdecken, verlagern unterdessen ihren Schwerpunkt und wollen sich, wie auch die USA, Südkorea und Japan, stärker auf moderne Hochleistungschips konzentrieren. TrendForce erwartet, dass der Marktanteil Taiwans bei Legacy Chips aufgrund des Investitionsschubs in China insgesamt zurückgehen wird.

Abhängigkeiten und Sicherheitsrisiken

Abhängigkeit ist ein weiteres Problem. Wenn westliche Hersteller von Legacy Chips ihre Produktion herunterfahren müssen, weil sie nicht mit der chinesischen Konkurrenz mithalten können, würde sich die Abhängigkeit der USA und der EU von China erhöhen.

China könnte seine dominante Stellung dann ausnutzen, so ein Szenario, um es dem Westen schwerer zu machen, an Legacy Chips zu kommen. Die werden nicht nur für Unterhaltungselektronik und Haushaltsgeräte benötigt, sondern auch für Autos und militärische Geräte.

Die Auswirkungen könnten schlimmer sein als die Chip-Knappheit während der Corona-Pandemie, wegen der viele Autohersteller ihre Produktion herunterfahren mussten. Schon damals war die Knappheit von Legacy Chips das Problem, nicht ein Mangel an modernen Hochleistungships.

"Für die Verbraucher sind ältere Technologien wichtiger als moderne Chips für KI", sagte Joanne Chiao, Analystin bei TrendForce in Taiwan zur DW. KI-Chips sorgten zwar für Schlagzeilen, machten aber derzeit weniger als ein Prozent des weltweiten Halbleiterverbrauchs aus.

Sanktionen und Subventionen

Branchenexperten scheinen sich darüber einig zu sein, dass Washington und Brüssel handeln müssen. "Der Druck ist groß, hier etwas zu tun", sagt Malcom Penn, CEO der britischen Chip-Beratungsfirma Future Horizons. Doch er bezweifelt, dass Sanktionen wie Importbeschränkungen für Chips aus China sinnvoll sind. "Das wäre die falsche Lösung", so Penn zur DW. "Sanktionen werden Chinas Dominanz nur verzögern, sie werden sie nicht aufhalten."

Sanktionen können immer umgangen werden, sagt Penn. Außerdem wären die westlichen Länder nicht in der Lage sein, ihre Chipproduktion schnell genug hochzufahren, um einen etwaigen Mangel an Chips aus China auszugleichen. Mindestens drei Jahre würde das dauern, "wahrscheinlich sogar noch länger - selbst wenn es keine Verzögerungen beim Bau der Fabriken gäbe und man die Leute mit den nötigen Fähigkeiten fände, sie zu betreiben", sagt Penn.

Einige Brancheninsider halten Ausfuhrkontrollen bei Werkzeugen für die Chipproduktion für effektiver als Sanktionen gegen Chips aus China. Um ihre Abhängigkeit von China zu verringern, könnten Washington und Brüssel auch auf das so genannte Friendshoring setzen, d. h. auf die Fertigung und Beschaffung bei geopolitischen Verbündeten wie Indien.

Möglich wären auch Subventionen, um heimische Hersteller zu ermutigen, trotz eines drohenden Preisverfalls weiterhin die älteren Legacy Chips zu produzieren. Durch die Verabschiedung zweier neuerer Chip-Gesetze haben die EU und die USA dem Halbleitersektor in den nächsten zehn Jahren bereits Subventionen in Höhe von rund 86 Milliarden Dollar zugesagt.

Dieser Bericht wurde aus dem Englischen adaptiert.

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Image caption Taiwan ist der weltweit größte Chiphersteller, doch China holt auf
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Item 50
Id 68730215
Date 2024-04-09
Title Elektro-Lkw kommen nicht ins Rollen
Short title Elektro-Lkw kommen nicht ins Rollen
Teaser Obwohl die Hersteller inzwischen Fahrzeuge mit einer Reichweite von 500 Kilometern anbieten, stagniert der Absatz. Die Autos sind zu teuer, zudem fehlt es an ausreichender Lade-Infrastruktur.
Short teaser Die Angebote sind da, nur: Die Autos sind zu teuer, zudem fehlt es an ausreichender Lade-Infrastruktur.
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Der Umstieg auf mit Elektromotoren betriebene Lastkraftwagen ist ins Stottern geraten, bevor er überhaupt ins Rollen gekommen ist. Und damit ist auch das gesteckte Ziel der Bundesregierung, bei den Nutzfahrzeugen bis 2030 den CO2-Ausstoß gegenüber 1990 um über 40 Prozent zu reduzieren, in weite Ferne gerückt.

Nach Angaben des Bundesverbandes Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) rollen täglich 800.000 Lkw über 7,5 Tonnen durch die Bundesrepublik. Davon wurden Ende vergangenen Jahres, so der Verband, lediglich 475 Fahrzeuge elektrisch betrieben. Das entspricht einem Anteil an der Tagesflotte von nicht einmal einem Prozent. Der Großteil der Brummi-Flotte tankt weiterhin Diesel. Dabei bieten Hersteller mittlerweile Elektro-Nutzfahrzeuge mit einer Reichweite von bis zu 500 Kilometern an. Was fehlt, monieren Hersteller und Spediteure, sei vor allem eine fehlende Lade-Infrastruktur.

Und wenn es noch eines Beweises für den schleppenden Markthochlauf bedurft hätte, dann liefern ihn die an diesem Dienstag (9.4.2024) veröffentlichten Auslieferungszahlen des Marktführers Daimler Truck für das erste Quartal: Da legten batterieelektrische Fahrzeuge zwar um 183 Prozent im Vergleich zum Vorjahresquartal zu. In Zahlen sind das aber gerade mal 813 der insgesamt ausgelieferten knapp 109.000 Fahrzeuge.

Hohe Anschaffungskosten und fehlende Infrastruktur

Ein Leitsatz seiner Branche, so Daimler Truck-Vorstandschef Martin Daum zuvor in einem Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ), laute: "Ein Lkw wird nicht aus Spaß gefahren. Es geht darum, Güter effizient von einem Ort zum anderen Ort zu transportieren." Und das, so die Schlussfolgerung, müsse sich rechnen. "Daher dürfen Elektro-Lkw in der Gesamtrechnung nicht teurer sein als Diesel-Lkw."

Noch kosten Elektro-Lkw mit über 300.000 Euro in der Anschaffung deutlich mehr als ein Diesel-Lkw, den es ab 100.000 Euro gibt. Seit es aus Sparzwängen im Bundeshaushalt keine Förderung bei den Mehrkosten mehr gibt, halten sich Spediteure bei der Umstellung ihres Fuhrparks auf Elektro-Brummis deutlich zurück.

"Bei dreifach höheren Kosten für einen E-Lkw im Vergleich zu einem Diesel-Lkw und einer durchschnittlichen Marge von 0,1 bis drei Prozent kann sich kein Mittelständler die Umstellung auf klimafreundliche Antriebe leisten", resümiert BGL-Vorstandssprecher Engelhardt. An der Preisfront könnte sich aber absehbar etwas tun, denn auch hier - wie schon im Pkw-Bereich - holen chinesische Hersteller wie BYD auf.

Für Karin Radström, Vorstandsmitglied der Daimler-Truck Holding AG, steht zudem außer Frage, dass es für die Antriebswende "eine flächendeckende Lade- und Tank-Infrastruktur für batterie- und wasserstoffbetriebene Fahrzeuge braucht." Oder wie es BGL-Vorstandssprecher Engelhardt formuliert: "Was nutzt es dem Transportunternehmer, wenn er E-Lkw kaufen, aber nicht laden kann."

In einer gemeinsamen Erklärung fordern BGL, der Bundesverband Spedition und Logistik (DSLV) sowie die Hersteller Daimler Truck und MAN die Einrichtung von mindestens 10.000 öffentlich zugängliche Ladepunkten für E-Lkw, einschließlich 4000 sogenannter Mega-Charger. Dabei handelt es sich um Ladestationen, an denen Lkw-Batterien binnen 45 Minuten aufgeladen werden können. Denn gerade in der Speditionsbranche lautet das Motto "Zeit ist Geld". Derzeit werden Elektro-Lastwagen vor allem auf den Betriebshöfen der Speditionen über Nacht geladen. Dieses sogenannte Depot-Laden dauert bis zu acht Stunden.

Kommunale Stromnetze sind überfordert

Das Depot-Laden ist übrigens derzeit in den lokalen Stromnetzen allerdings auch nicht ohne weiteres möglich. Erst recht nicht der Betrieb von Schnellladesäulen (Mega-Charger), wie der Bochumer Spediteur Christian Graf erfahren musste. Rund 100 Schwerlastwagen, also 40-Tonner, umfasst der Fuhrpark von Graf. Gut ein Viertel der Brummis, die durch ganz Europa rollen, fährt aus Klimaschutzgründen mit LNG-Gas. Außerdem neuerdings auch mit Bio-Erdgas, das aus Gülle hergestellt wird. Das heißt, die Lkw stoßen kein CO2 mehr aus.

"Dadurch", so Christian Graf, "kann ich jetzt sicherstellen, dass die Fahrzeuge klimaneutral fahren." Unter dem Strich werden so jedes Jahr rund 4000 Tonnen CO2 eingespart. Damit schont Graf zwar die Umwelt, wird bei der Maut aber wieder zur Kasse gebeten, da nur noch elektrisch oder mit Wasserstoff betriebene Lkw davon befreit sind. Doch selbst wenn der Preis für E-Lkw deutlich sinken würde, bei der Spedition Graf könnte man sie nicht aufladen.

Denn das gibt das Stromnetz der Stadtwerke Bochum nicht her. Über die Installation von fünf Schnelladesäulen hatte Christian Graf nachgedacht, für die jeweils eine Kapazität von einem Megawatt erforderlich gewesen wäre. Insgesamt fünf Megawatt konnten die Stadtwerke aber nicht zusagen, da dies das Stromnetz überfordern würde. Zum Vergleich: einen ganzen Stadtteil versorgen die Stadtwerke mit sieben Megawatt. Und selbst wenn die Versorgung mit fünf Megawatt möglich gewesen wäre, hätte der Speditionschef noch etwa drei Millionen Euro investieren müssen. Und zwar in ein großes Grundstück, auf dem eigens für die Schnellladesäulen ein Umspannwerk hätte errichtet werden müssen.

Nur grüner Strom macht Sinn

Angesichts derartiger Rahmenbedingungen verwundert es nicht, dass es bei der Verkehrswende alles andere als rund läuft. Ganz abgesehen vom dafür erforderlichen Strom. Mit Blick auf den Klimaschutz gibt Martin Daum von Daimler Truck zu bedenken: "Nur wenn ein Lkw mit regenerativer Energie betrieben wird, hilft die Elektrifizierung weiter." Und BGL-Chef Engelhardt ergänzt, "E-Lkw sind auch nur dann fürs Klima gut, wenn sie mit grüner Energie geladen werden".

Es kommt also auf den Strommix an. Allein für den Straßenverkehr, rechnet Dirk Engelhardt vor, seien dafür theoretisch 18.800 Windkraftanlagen notwendig. "Bei einem derzeitigen Bestand von rund 28.000 Windkraftanlagen eine Riesenherausforderung." Dem Klima, resümiert der BGL-Vorstandssprecher, sei partout nicht geholfen, wenn die E-Lkw ihren Strom aus Braunkohle oder importierten Atomstrom bezögen. Ganz abgesehen von dem enormen Mehrgewicht der Batterien, das bewegt werden muss und zusätzlich Energie kostet.

Item URL https://www.dw.com/de/elektro-lkw-kommen-nicht-ins-rollen/a-68730215?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Ein Lkw mit Elektroantrieb auf der Automesse für Nutzfahrzeuge in Hannover (2022)
Image source Julian Stratenschulte/dpa/picture alliance
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Item 51
Id 68766562
Date 2024-04-08
Title USA beklagen "Exportflut" aus China
Short title USA beklagen "Exportflut" aus China
Teaser US-Finanzministerin Janet Yellen hat bei ihrem Besuch in China die große Ausfuhrmenge chinesischer Industriegüter zu Niedrigpreisen beklagt. Eine solche Flut von Exporten wolle ihr Land nicht tatenlos hinnehmen,
Short teaser US-Finanzministerin Janet Yellen hat die große Ausfuhrmenge chinesischer Industriegüter zu Niedrigpreisen beklagt.
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"Wir haben diese Geschichte schon einmal erlebt", sagte sie vor Journalisten in Peking. Vor mehr als einem Jahrzehnt habe die massive Unterstützung der chinesischen Regierung dazu geführt, dass billiger Stahl aus der Volksrepublik den Weltmarkt überschwemmte. Das habe in der US-Industrie viele Jobs vernichtet. "Ich habe deutlich gemacht, dass Präsident Joe Biden und ich diese Realität nicht noch einmal akzeptieren werden", sagte sie nach viertägigen Gesprächen in China.

Konkret wurde Janet Yellen allerdings nicht. Weder drohte sie mit neuen Zöllen noch mit anderen handelspolitischen Maßnahmen, sollte China die massive staatliche Unterstützung für Elektrofahrzeuge, Batterien, Solarpaneele und andere grüne Energieprodukte fortsetzen.

Yellen sieht Gefahren nicht nur für die USA

Experten befürchten, dass die teils stark subventionierten Produkte billig auf den Weltmarkt geworfen werden und Erzeugnisse aus Industrieländern verdrängen könnten, die ohne staatliche Hilfe auskommen müssen. Werde der Weltmarkt mit künstlich billig gehaltenen chinesischen Produkten überschwemmt, "wird die Lebensfähigkeit amerikanischer und anderer ausländischer Unternehmen infrage gestellt", betonte die Finanzministerin.

Als mögliche kurzfristige Lösung nannte Yellen, dass China Maßnahmen ergreifen sollte, um die heimische Konsumnachfrage zu stärken. Sie sprach dazu ausführlich mit Ministerpräsident Li Qiang und traf am Sonntag auch mit Finanzminister Lan Foan zusammen. Am Montag sprach sie mit Notenbankchef Pan Gongsheng.

Chinas Sichtweise ist eine andere

Peking hält die Debatte über Überkapazitäten für fehlgeleitet. Zölle oder andere Handelsbeschränkungen würden den Verbrauchern weltweit grüne Energiealternativen vorenthalten, die für die Erreichung der globalen Klimaziele wichtig seien. Die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua zitierte Regierungschef Li mit den Worten, die USA sollten "davon absehen, Wirtschafts- und Handelsfragen zu politischen oder sicherheitspolitischen Fragen zu machen".

Handelsminister Wang Wentao bezeichnete Sorgen der USA und Europas über chinesische Überkapazitäten bei Elektroautos als unbegründet. Statt auf Subventionen setzten die heimischen Elektrofahrzeughersteller auf kontinuierliche technologische Innovation.

Auch den Krieg in der Ukraine zur Sprache gebracht

Die US-Finanzministerin nutzte ihre zweite Chinareise innerhalb von neun Monaten auch dazu, um den Krieg in der Ukraine zur Sprache zu bringen. Yellen warnte Firmen in China davor, Produkte nach Russland zu exportieren, die auch für den Krieg Moskaus gegen die Ukraine verwendet werden können. "Ich habe betont, dass Firmen, jene in der Volksrepublik China eingeschlossen, keine materielle Unterstützung für Russlands Krieg bereitstellen dürfen und dass sie deutliche Konsequenzen spüren werden, wenn sie das machen", sagte die Finanzministerin der USA am Montag zum Abschluss ihrer Reise in Peking.

haz/pg (rtr, dpa)

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Image caption US-Finanzministerin Janet Yellen sprach bei ihrem Besuch in Peking auch brisante Themen an
Image source Johannes Neudecker/dpa/picture alliance
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Item 52
Id 68736643
Date 2024-04-08
Title Ernährungsmythen überprüft: Macht Gluten krank?
Short title Ernährungsmythen überprüft: Macht Gluten krank?
Teaser Gluten hat keinen guten Ruf: Immer mehr Menschen vertragen das Eiweiß nicht, das in Weizen und anderen Getreiden vorkommt. Ist es also ratsam, sich lieber gleich glutenfrei zu ernähren? Die kurze Antwort lautet: nein.
Short teaser Immer mehr Menschen vertragen das Weizeneiweiß Gluten nicht. Ist Gluten per se schlecht? Die kurze Antwort lautet: nein.
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Pizza, Kuchen, Brot, Nudeln - üblicherweise enthalten all diese Leckereien Weizen, Gerste oder Roggen. Und damit Gluten. Für die meisten Menschen ist das einfach lecker. Für andere folgt nach dem Verzehr die Qual: Bauchschmerzen, Übelkeit und andere unschöne Symptome. Die Zahl der Menschen, die Gluten nicht vertragen, nimmt zu.

Darauf weisen nicht nur Daten aus einzelnen Ländern wie Finnland hin. Eine Meta-Analyse aus dem Jahr 2020 zeigt ebenfalls: Im Verlauf der letzten Jahrzehnte sind immer mehr Menschen an Zöliakie erkrankt - einer besonders schlimmen Form der Glutenunverträglichkeit.

Es muss nicht gleich Zöliakie sein: Auch eine Weizenallergie oder die sogenannte Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität können Ursachen für schmerzhafte Symptome sein. Ist Gluten ein Teufelszeug, um das wir alle am besten einen großen Bogen machen sollten?

Was ist Gluten eigentlich?

Gluten ist nichts anderes als eines von mehreren Eiweißen, die in Getreiden vorkommen. Es sorgt beispielsweise bei Weizenprodukten dafür, dass ein Teig dehnbar ist und sich kneten und ausrollen lässt. Neben Weizen, Roggen und Gerste enthalten auch deren Abstammungen und Kreuzungen Gluten:

  • Dinkel
  • Hartweizen
  • Emmer
  • Einkorn
  • Kamut
  • Grünkern
  • Triticale

"Gluten ist so spannend, weil es tolle funktionelle Eigenschaften hat und aus Weizen ein tolles Brot macht", sagt Katharina Scherf. Sie ist Professorin für Lebensmittelchemie am Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München. Gluten ist eines ihrer Hauptforschungsgebiete. "Andererseits ist Gluten Auslöser für gewisse Krankheiten."

Was kann Gluten im Körper auslösen?

"Es gibt drei große Weizenunverträglichkeiten", erklärt Scherf. Die Weizenallergie sei eine klassische Nahrungsmittelallergie, die sich durch bestimmte Antikörper im Blut nachweisen lasse. Diese sogenannten Immunglobuline E (IgE) bilden sich im Körper von Menschen, die auf eines oder mehrere Eiweiße im Weizen allergisch reagieren.

Laut der Harvard School of Public Health können die Symptome einer solchen Allergie Juckreiz und Schwellungen von Mund, Rachen oder Augen sein. Bei schwereren allergischen Reaktionen kann es zu Kurzatmigkeit, Übelkeit, Krämpfen bis hin zum Kreislaufzusammenbruch kommen. "Die Weizenallergie kommt bei Kindern häufiger vor als bei Erwachsenen", sagt Scherf. Sie könne sich im Laufe der Jahre "verwachsen" und wieder verschwinden.

Im Gegensatz zur Weizenallergie sei der Nachweis der sogenannten Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität schwieriger, so Scherf. Bauchschmerzen durch Blähungen oder Verstopfung, Durchfall und Müdigkeit gehören zu den Symptomen. Erwachsene sind häufiger betroffen als Kinder. Einen Marker zur Diagnose einer Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität gibt es bisher jedoch nicht.

Was ist Zöliakie?

Die Zöliakie ist die am besten erforschte Erkrankung im Zusammenhang mit einer Glutenunverträglichkeit. Laut der Deutschen Zöliakie Gesellschaft ist Zöliakie selbst allerdings weder eine Allergie noch eine Unverträglichkeit gegen Weizen oder Gluten. Stattdessen löst Gluten eine Autoimmunreaktion aus: Antikörper greifen körpereigenes Gewebe an.

Bei einer Zöliakie bedeutet das, dass sich die Dünndarmschleimhaut entzündet und abgebaut wird. "Die Oberfläche des Dünndarms verkleinert sich dadurch", sagt die Lebensmittelchemikerin Scherf. Das sei nicht nur sehr schmerzhaft, sondern könne in der Folge auch zu starken Mangelerscheinungen führen. Zöliakie hat zumindest teilweise einen genetischen Ursprung. Aber: "Viele Menschen haben die entsprechende genetische Voraussetzung, aber nicht alle entwickeln eine Zöliakie", sagt Katharina Scherf.

Wie teste ich eine Glutenunverträglichkeit oder Zöliakie?

Zöliakie und Weizenallergie lassen sich durch Antikörpertests im Blut nachweisen. Oft dauere es dennoch sehr lange, bis Betroffene die Diagnose Zöliakie erhalten, so Scherf. "Gerade bei Erwachsenen sind die Symptome häufig keine typischen Magen-Darmbeschwerden." Stattdessen eher Müdigkeit und Erschöpfung, die sich durch die zerstörte Darmschleimhaut und den daraus entstehenden Nährstoffmangel erklären ließen.

"Die Diagnostik hat sich allerdings deutlich verbessert", sagt Katharina Scherf. Möglicherweise sei das ein Grund dafür, dass die Zahl der Zöliakie-Patienten steige.

Bei der Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität gibt es bisher keine spezifischen Antikörper, die die Krankheit anzeigen. Im Zweifel hilft nur der Verzicht auf alle glutenhaltigen Produkte. "Bislang gibt es keine Alternative zur glutenfreien Diät", sagt Scherf. Glutenfrei sind beispielsweise:

  • Mais
  • Reis
  • Hirse
  • Buchweizen
  • Quinoa
  • Amaranth
  • unkontaminierter Hafer

Eine glutenfreie Ernährung klingt einfacher als sie ist. "Man muss sich sehr stark mit dem Thema Ernährung auseinandersetzen", sagt die Lebensmittelchemikerin. Denn Gluten versteckt sich als Bindemittel oder Emulgator auch in vielen Fertiggerichten.

Die gute Nachricht ist: Mit dem Verzicht auf Gluten verschwinden die unangenehmen und schmerzhaften Symptome. Selbst ein durch eine Zöliakie entzündeter Darm erholt sich in den meisten Fällen wieder.

Für alle Menschen ohne Weizenallergie oder -unverträglichkeit gilt: Gluten ist nicht schädlich.

Quellen:

Alimentary Pharmacology and Therapeutics: Increasing prevalence of coeliac disease over time (2007) https://onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/j.1365-2036.2007.03502.x

The American Journal of Gastroenterology Incidence of Celiac Disease Is Increasing Over Time: A Systematic Review and Meta-analysis (2020) https://journals.lww.com/ajg/abstract/2020/04000/incidence_of_celiac_disease_is_increasing_over.9.aspx

Deutsche Zöliakie Gesellschaft: Was ist Zöliakie? https://www.dzg-online.de/was-ist-zoeliakie

Harvard School of Public Health: Gluten: A Benefit or Harm to the Body? https://www.hsph.harvard.edu/nutritionsource/gluten/

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Image caption Gluten ist ein Eiweiß, das in Weizen, Gerste und Roggen vorkommt - und per se nichts Schlechtes ist
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Item 53
Id 68766572
Date 2024-04-08
Title Produktion zieht spürbar an - Beginn einer Trendwende?
Short title Produktion zieht spürbar an - Beginn einer Trendwende?
Teaser Gute und schlechte Nachrichten aus der deutschen Wirtschaft. Im Februar gab ein deutliches Plus bei der Produktion. Das lässt auf eine Bodenbildung hoffen. Gleichzeitig brachen die Ausfuhren deutlich ein.
Short teaser Im Februar gab ein deutliches Plus bei der Produktion. Gleichzeitig brachen die Ausfuhren deutlich ein.
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Der größte Produktionsanstieg seit mehr als einem Jahr deutet auf ein Ende der wirtschaftlichen Flaute in Deutschland hin. Im Februar stellten Industrie, Bau und Energieversorger zusammen 2,1 Prozent mehr her als im Vormonat, wie das Statistische Bundesamt am Montag mitteilte. Von der Nachrichtenagentur Reuters befragte Ökonomen hatten lediglich mit einem Wachstum von 0,3 Prozent gerechnet, nachdem es im Januar bereits einen Anstieg von 1,3 Prozent gegeben hatte. Selbst von stark gestiegenen Kosten gebeutelte energieintensive Branchen wie die Chemieindustrie fuhren ihre Erzeugung kräftig nach oben. Womöglich kann Europas größte Volkswirtschaft die lange sicher geglaubte Winterrezession noch vermeiden, sagten Experten. Einen kräftigen Aufschwung erwarten sie allerdings nicht.

"Das ist vielleicht noch keine Trendwende, könnte aber der Beginn einer solchen sein", sagte LBBW-Experte Jens-Oliver Niklasch. Das Bundeswirtschaftsministerium sieht "Anzeichen für eine allmähliche konjunkturelle Bodenbildung". Allerdings kamen parallel zu den positiven Produktionszahlen auch überraschend schlecht ausgefallene Exportdaten: Wegen der sinkenden Nachfrage aus Europa und China fielen die deutschen Ausfuhren im Februar um 2,0 Prozent zum Vormonat - viermal so stark wie von Ökonomen vorausgesagt. Dies folgt auf einen außergewöhnlich kräftigen Anstieg von 6,3 Prozent im Januar. Die Importe legten den zweiten Monat in Folge spürbar zu, was eine anziehende Binnennachfrage signalisieren könnte, ist doch die Wirtschaft auf viele Rohstoffe und Vorprodukte aus dem Ausland angewiesen.

"Belastung lässt langsam nach"

Die Stimmung in der deutschen Exportindustrie hat sich zuletzt allerdings aufgehellt: Das Barometer für die Exporterwartungen legte im März auf den höchsten Stand seit zehn Monaten zu, wie das Münchner Ifo-Institut bei seiner Unternehmensumfrage herausfand. "Der Welthandel dürfte in den kommenden Monaten anziehen", sagte der Leiter der Ifo-Umfragen, Klaus Wohlrabe. "Die deutsche Exportwirtschaft hofft davon zu profitieren."

Einen kräftigen Aufschwung lesen Experten allerdings nicht aus den Daten. "Die Belastung durch die zurückliegenden Erhöhungen von Leitzinsen und Energiekosten lässt langsam nach", sagte Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. "Im Sommerhalbjahr dürfte die Rezession in Deutschland enden, wobei die ungelösten Strukturprobleme gegen eine kräftige Erholung sprechen." Auch die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) bleibt skeptisch. "Die Neuaufträge in der Industrie bewegen sich weiter auf niedrigem Niveau", sagte DIHK-Konjunkturexperte Jupp Zenzen. "Strukturelle Probleme wie nach wie vor hohe Energiekosten, Fachkräftemangel und überbordende Bürokratie hemmen die Betriebe hierzulande weiterhin."

Zudem schwächelte der private Konsum bis zuletzt, der immerhin rund zwei Drittel der Wirtschaftsleistung ausmacht. Der Einzelhandel etwa meldete im Februar sinkende Umsätze. "Unter Umständen könnte dann die Industrieproduktion zumindest so viel kompensieren, dass es zu zumindest zu einer schwarzen Null des gesamtwirtschaftlichen Wachstums reicht", sagte der Chefvolkswirt der VP Bank, Thomas Gitzel. Ende 2023 war das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 0,3 Prozent geschrumpft. Sinkt es von Januar bis März 2024 das zweite Quartal in Folge, wird von einer technischen Rezession gesprochen. Die Bundesbank geht bislang davon aus, dass das BIP im ersten Vierteljahr "wohl erneut etwas sinken" dürfte.

Die Industrieproduktion allein nahm im Februar um 1,9 Prozent zu. Dieser Anstieg ist weitgehend auf die Produktionszuwächse in der Automobilindustrie (plus 5,7 Prozent) sowie der chemischen Industrie (plus 4,6 Prozent) zurückzuführen. Dagegen wurde der Ausstoß im ebenfalls gewichtigen Bereich Maschinenbau etwas heruntergefahren (minus 1,0 Prozent), so das Wirtschaftsministerium. Das gute Abschneiden im Februar ist auch dem Baugewerbe zu verdanken: Hier gab es ein Plus von 7,9 Prozent. Dagegen sank die Energieerzeugung um 6,5 Prozent.

hb/iw (rtr)

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Image caption Wieder mehr zu tun: Die Produktion in vielen Branchen zieht wieder an
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Item 54
Id 68732336
Date 2024-04-08
Title Neues Gesetz: Frankreich will Fast Fashion eingrenzen
Short title Neues Gesetz: Frankreich will Fast Fashion eingrenzen
Teaser Frankreich arbeitet an einem Gesetz, um das Wachstum der Fast Fashion zu bremsen. Experten und Umweltaktivisten jubeln, obwohl manche ein anderes Vorgehen bevorzugt hätten.
Short teaser Paris arbeitet an einem Gesetz, um das Wachstum der Fast Fashion zu bremsen. Wird Frankreich Europas Vorreiter?
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Dass in Frankreichs Nationalversammlung Einigkeit herrscht, ist dieser Tage eher selten. Die Regierung hat im Parlament keine absolute Mehrheit und stößt häufig auf heftigen Widerstand der Opposition. Aber hinter dem "Gesetz zur Begrenzung der Umweltbelastung der Textilindustrie" standen alle Fraktionen.

Umweltminister Christophe Béchu sprach von einem "großen Schritt nach vorne", der Frankreich "zum ersten Land der Welt macht, das die Exzesse der Fast Fashion durch ein Gesetz begrenzt". Dessen endgültige Version steht noch nicht fest. Ab Mitte April berät der Senat darüber. In Kraft treten könnten die neuen Regeln in den nächsten Monaten. Doch schon jetzt freuen sich Modeexperten und Umweltaktivisten über das Gesetz. Auch wenn nicht jeder die geplante Vorgehensweise begrüßt.

Die neuen Regeln sollen Mode-Unternehmen betreffen, die täglich eine gewisse Mindestanzahl an Produkten auf den Markt bringen. Diesen Schwellenwert will man später per Verordnung definieren. Gemeint sind damit vor allem Fast-Fashion-Riesen wie der Produzent Shein und die Online-Verkaufsplattform Temu, beide in China ansässig. Solche Firmen sollen künftig gut sichtbar auf ihren Seiten auf die Umweltbelastung der Mode hinweisen und dazu anhalten, Artikel zu recyceln - sonst müssen sie Strafen von bis zu 15.000 Euro zahlen.

Mithilfe eines neuen Ökopunktesystems sollen schlecht bewertete Unternehmen künftig zunächst eine Abgabe von bis zu fünf Euro und 2030 bis zu zehn Euro pro Artikel zahlen. Ab 2025 soll außerdem Werbung für Fast-Fashion-Unternehmen oder deren Produkte verboten sein. Andernfalls drohen den Firmen Strafen von bis zu 100.000 Euro.

"Wir haben einen Kulturkampf gewonnen"

Für Julia Faure ist der Gesetzesentwurf "eine super Neuigkeit". Sie ist Modeschöpferin und Co-Präsidentin der Bewegung En Mode Climat, zu der rund 600 Firmen gehören, die nachhaltig Mode produzieren. "Wir haben einen Kulturkampf gewonnen", sagt sie gegenüber der DW. "Fast Fashion ist eine Katastrophe in ökologischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht und macht wie eine Dampfwalze alles außer dem Luxussektor platt."

So sei es ein klares Signal, wenn lokal produzierte Mode aus Wolle eine gute Ökobewertung und weit weg produzierte Mode aus synthetischen Stoffen eine schlechte Bewertung bekomme. "Trotzdem müssen wir aufpassen, dass die Regierung den Schwellenwert, durch den sie die Fast-Fashion-Unternehmen definiert, nicht zu hoch ansetzt", warnt sie.

Philippe Moati, Wirtschaftsprofessor an der Universität Paris Cité und Gründer des Pariser Marktforschungsinstituts ObSoCo, macht sich indes Sorgen, dieser Schwellenwert könne zu niedrig ausfallen und somit auch französische Unternehmen betreffen. Auch sonst ist der Experte eher skeptisch, was das Gesetz angeht. "Dadurch stigmatisiert man die Käufer dieser Mode, die laut einer Studie, die wir gerade durchführen, aus der Arbeiterklasse kommen und ein relativ niedriges Einkommen haben", erklärt er im DW-Interview. "Sich etwas leisten zu können gibt ihnen das Gefühl, zur Gesellschaft zu gehören." Moati schätzt, dass "Ultra-Fast Fashion", wie er sie nennt, etwa drei Prozent des Modemarktes in Frankreich ausmacht - genaue Zahlen gibt es nicht.

"Es ist die Zuspitzung des Trends der Fast Fashion, den Marken wie Zara oder H&M in den 1990er Jahren eingeführt haben. Anstatt zweimal im Jahr bieten sie seitdem jede Woche neue Kollektionen an, was viele anderen Unternehmen übernommen haben", erklärt er. "Die Ultra-Fast-Fashion-Firma Shein bringt inzwischen täglich rund 7200 Artikel auf den Markt."

Der Experte meint, die Regierung müsse das eingrenzen - allerdings indem sie bereits existierenden Regelungen durchsetze. Dazu gehöre eine gesetzliche zweijährige Garantie auf Kleidung, das Verbot, unter Selbstkosten zu verkaufen, und die Verpflichtung, einen realistischen Referenzpreis bei Rabatten anzusetzen. "Zudem sollten wir Importzölle nicht mehr wie bisher ab einem Wert von 150 Euro, sondern auf alle Kleidungseinfuhren erheben", sagt der Ökonom und fügt hinzu, dass Ultra-Fast-Fashion auch gute Seiten habe. "Diese Unternehmen produzieren sehr kleine Serien - und haben so kaum nicht verkauften Bestand."

Auf Anfragen der DW haben weder Shein, noch Temu, Zara oder H&M geantwortet.

Frankreich Vorreiter für Europa?

Gildas Minvielle, Direktor der Wirtschafts-Beobachtungsstelle der Pariser Modeschule Institut Français de la Mode, glaubt, dass sich zeigen wird, ob die Methode der Regierung die richtige ist. "Dies ist gesetzliches Neuland - man muss schauen, was funktioniert", sagt er zu DW. "In jedem Fall sollte man Konsumenten auf die verheerenden Umweltauswirkungen der Fast Fashion aufmerksam machen."

So sei es bezeichnend, dass fast alle Parlamentarier hinter dem Text stünden. "Die neuen Regeln sind eine Reaktion auf die tiefe Krise, in der der Prêt-à-Porter-Sektor seit 2022 steckt. Zahlreiche Marken haben Konkurs angemeldet. Fast Fashion hat die Krise noch verstärkt und die Konkurrenz weiter verschärft", meint Minvielle. "Frankreich, das Land der Mode, hat ein wegweisendes Gesetz herausgebracht. Allerdings sollte man die neuen Regelungen auf Europa ausweiten - schließlich ist auch der Markt ein europäischer."

Eine der wenigen zumindest leicht abweichenden Stimmen im Parlament ist Antoine Vermorel-Marques, Abgeordneter für das mittelfranzösische Département Loire der konservativen Republikaner. "In meinem Heimatbezirk haben Textilfirmen in den 1980er Jahren rund 10.000 Leute beschäftigt. Dann haben viele Unternehmen ihre Produktion nach Asien verlagert, so dass inzwischen nur noch 2000 Menschen in dem Sektor arbeiten", sagt er zu DW.

"Diese Unternehmen hatten gerade wieder angefangen, Leute einzustellen, weil es eine Tendenz zu lokal produzierter Ware gibt. Dann kam die Fast Fashion und setzte die Industrie erneut unter Kosten-Druck - da müssen wir gegensteuern." Allerdings sei ein Werbeverbot nicht der richtige Weg. "Es behindert den Markt anstatt ihn zu regulieren - wir sollten uns auf ein Ökopunktesystem beschränken, durch das man negative Externalitäten wie Umweltverschmutzung durch Produkte in den Preis integrieren kann", findet Vermorel-Marques.

Nötig, um Pariser Klimaabkommen zu respektieren

Doch für Pierre Condamine, Sprecher der Vereinigung Stop Fash Fashion, zu der mehrere Nichtregierungsorganisationen gehören, die sich für Umweltschutz einsetzen, gehen die Regeln nicht weit genug. "Man sollte schon im Gesetz den Schwellenwert für Fast Fashion so definieren, dass er auch französische Marken wie den Sporthändler Decathlon umfasst", fordert er gegenüber der DW.

"Und Unternehmen sollten bei einer negativen Ökobewertung eine Mindestabgabe pro Produkt zahlen, was bisher nicht der Fall wäre. Außerdem sollten Fast-Fashion-Unternehmen ihre Verkaufszahlen in Frankreich veröffentlichen müssen - so wissen wir endlich, womit wir es zu tun haben. Das wird uns auch dabei helfen, das Pariser Klimaabkommen zu respektieren. Schließlich dürfte dafür jeder Bürger nur fünf Kleidungsstücke pro Jahr kaufen - und nicht 50, wie das gerade der Fall ist."

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Image caption Billige Kleidungsstücke in einem Geschäft der Modekette Primark (hier in München)
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Item 55
Id 68739902
Date 2024-04-06
Title Warum braucht Deutschland eine neue Hafenstrategie?
Short title Warum braucht Deutschland eine neue Hafenstrategie?
Teaser Häfen gehören zur "kritischen Infrastruktur", sie müssen deshalb besonders geschützt werden - real und auch digital. Dazu entwickelt die Bundesregierung eine Hafenstrategie, die das Konzept von 2015 ersetzen soll.
Short teaser Häfen gehören zur "kritischen Infrastruktur" und müssen deshalb besonders geschützt werden.
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Beispiel Hamburg: Deutschlands größter Hafen war ein lebendiger Teil der Stadt, er war das "Tor zur Welt". Jeder konnte ihn besichtigen, den Arbeitern zusehen, die Schiffe bewundern und von fernen Ufern träumen. Das hat sich grundlegend geändert. Inzwischen sind ganze Areale abgesperrt, stehen Besucher vor Zäunen oder verschlossenen Toren.

Spätestens seit dem September 2001, als die Terroranschläge in den USA Tausende Todesopfer forderten und die gesamte westliche Welt erschütterten, gelten die Häfen als sicherheitsrelevante Orte, über die Terroristen einfallen könnten. Auch der Umschlag von Rauschgift, die illegale Ein- und Ausfuhr von Waffen oder auch von Menschen fordern nicht mehr nur Zollbeamte, sondern alle Sicherheitsapparate eines Staates heraus.

Darauf wurde international mit der Einführung des ISPS-Codes (International Ship and Port Facility Security Code) reagiert, der 2002 unter Leitung der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation IMO verhandelt wurde und in Europa 2004 in Kraft trat. In Deutschland hat jetzt das Bundeskabinett am 20. März 2024 eine Nationale Hafenstrategie auf den Weg gebracht, um das noch bis 2025 gültige Nationale Hafenkonzept zu ersetzen. Laut Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) sei "ein Kursbuch mit knapp 140 konkreten Maßnahmen, die Lösungswege für die drängendsten Herausforderungen der Häfen aufzeigen" erstellt worden.

Entscheidend für den Wirtschaftsstandort

Häfen, so das zuständige Bundesministerium für Digitales und Verkehr auf seiner Website, seien "nachhaltige Knotenpunkte der Energiewende" und wichtige "Ausbildungs- und Beschäftigungsorte", von denen mehr als fünf Millionen Arbeitsplätze abhingen. Ihre Wettbewerbsfähigkeit müsse gewährleistet, ihre "digitalen, automatisierten und innovativen" Fähigkeiten gestärkt und sie mit "bedarfsgerechter Verkehrs- und Kommunikationsinfrastruktur" ausgestattet werden. Dementsprechend sollen fünf Arbeitsgruppen "Leitlinien ausarbeiten und mit konkreten Maßnahmen füllen".

Duisport, der Betreiber des Binnenhafens in Duisburg (Nordrhein-Westfalen), begrüßt es sehr, "dass die Bundesregierung die Nationale Hafenstrategie aufgestellt hat." Die oben zitierten Handlungsfelder träfen "im Kern die aktuellen Herausforderungen. Hinsichtlich der Wettbewerbsfähigkeit, nicht nur des Hafenstandorts Deutschland, behindern wir uns immer wieder selbst und verhindern Wachstum durch zu hohe bürokratische Hürden."

Der Zentralverband der deutschen Seehafenbetriebe (ZDS), ein Wirtschafts- und Arbeitgeberverband, begrüßt die Initiative ebenfalls ausdrücklich. Sein Hauptgeschäftsführer, Daniel Hosseus, sagte der DW: "Wir teilen die darin enthaltenen Einschätzungen zur Bedeutung der Häfen. Die geplanten Maßnahmen finden wir weitgehend sinnvoll; viele davon entsprechen Vorschlägen, die wir eingebracht haben."

Bedeutung der Binnenhäfen

Der DW gegenüber zeigt sich die Duisburger Hafen AG erfreut, dass die Bedeutung der Häfen auch im Landesinneren gewürdigt werden. Die Strategie enthalte "viele Forderungen, die seit Jahren von den See- und Binnenhäfen gestellt werden." Dazu zähle nämlich auch die "besondere Bedeutung der Binnenhäfen für die Versorgung der Industrie."

Der Hafen Duisburg gilt als größter Binnenhafen Europas. Seine Bedeutung für das Ruhrgebiet und der dort noch immer ansässigen Stahlindustrie und für die Chemiestandorte entlang des Rheines, etwa für die Konzerne Bayer und BASF, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Außerdem liegt die Stadt am westlichen Ende von Chinas Neuer Seidenstraße, einem Verbund von Straßen- und Schienenverkehrswegen, der Westeuropa mit Innerasien und China verbindet. Der Hafen bildet den Übergang vom landgebunden Verkehr auf die Wasserwege Deutschlands und über den Rhein bis in die Nordsee.

Sicherheitslage im Blick

Gerade im Hinblick auf die Bedeutung Chinas für die deutsche Wirtschaft ist der Faktor "Sicherheit" ein zentraler Punkt einer nationalen Hafenstrategie. Doch gerade dabei halten sich die Hafenbetreiber auffallend zurück. "Der Schutz kritischer Infrastrukturen betrifft eine Vielzahl von Gefahrenlagen, die von militärischen Angriffen über kriminelle und terroristische Machenschaften bis hin zu Naturkatastrophen reichen", so etwa Daniel Hosseus.

Aber, fügt er beruhigend hinzu: "Die Unternehmen selbst machen schon aus Eigeninteresse sehr viel." Konkret möchte er da aber nicht werden und mahnt: "In jedem Fall sollten wir vermeiden, mit viel Bürokratie Scheinsicherheit zu kreieren."

Ähnlich äußert sich das Duisport-Management: "Unabhängig von gesetzlichen Vorgaben sind wir ständig damit befasst, unsere Sicherheitsvorkehrungen zu verbessern und anzupassen. Dies läuft beispielsweise durch den Einsatz eines Hafensicherheitsteams - aber natürlich werden viele Maßnahmen im Hintergrund umgesetzt." Es gäbe bereits "eine Vielzahl an Regularien." Eine Erhöhung der Sicherheitsstandards sei auf jeden Fall erforderlich, "jedoch muss stets berücksichtigt werden, dass diese für die Unternehmen umsetzbar und wirtschaftlich leistbar sind."

Doch woher soll das Geld kommen?

Schon bevor die Hafenstrategie überhaupt fertig geschrieben ist, zeigt sich für den ZDS bereits, woran es der neuen Strategie mangeln wird: am Geld. Daniel Hosseus nennt ein Beispiel: "Der Bund gibt derzeit nur 38 Millionen in den Erhalt und Ausbau von Häfen - nur 38 Millionen! Für die Fertigstellung eines unfertigen Hochhauses in Hamburg werden aktuell 500 bis 600 Millionen Euro veranschlagt!" Daher fordert er unmissverständlich, "dass sich der Bund stärker engagiert."

Das beklagt auch der Hafen in Duisburg. Hinter den Absichten stünde "keine finanziell verbindliche Beteiligung des Bundes". Dazu brauche es auch "klare und verbindliche Regelwerke. Der Abbau bürokratischer Hemmnisse bedeutet Planungssicherheit und somit eine Stärkung des Standorts Deutschland und dies ist ja das Ziel der Nationalen Hafenstrategie."

Item URL https://www.dw.com/de/warum-braucht-deutschland-eine-neue-hafenstrategie/a-68739902?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Kritische Infrastruktur: Der größte deutsche Hafen in Hamburg
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Item 56
Id 68738700
Date 2024-04-06
Title Vor 50 Jahren: Abba gewinnt mit "Waterloo" den ESC
Short title Vor 50 Jahren: Abba gewinnt mit "Waterloo" den ESC
Teaser Am 6. März 1974 überzeugte die schwedische Popband Abba im englischen Seebad Brighton beim 19. Eurovision Song Contest und legte damit den Grundstein für ihre Weltkarriere.
Short teaser Am 6. März 1974 überzeugte Abba beim Eurovision Song Contest und legte damit den Grundstein für eine Weltkarriere.
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Die Buchmacher hatten eigentlich auf die die britisch-australische Sängerin Olivia Newton-John gesetzt. Sie war schon damals ein Star und eindeutige Favoritin.

Auch der Sängerin Gigliola Cinquetti, die schon 1964 für Italien den Pokal geholt hatte, wurden gute Chancen eingeräumt. Aber Schweden? Noch nie hatte das Land diesen Wettbewerb gewonnen. Und niemand glaubte, dass sich das ändern würde. Die Band Abba war außerhalb ihres Heimatlands unbekannt. Im Jahr zuvor hatte sie mit "Ring Ring" schon mal einen Anlauf auf die ESC-Krone gestartet, war aber im Vorentscheid gescheitert. 1974 klappte es dann; beim "Melodifestivalen", wie der schwedische Vorentscheid heißt, setzte sich das Quartett mit "Waterloo" durch und durfte als Repräsentant für Schweden nach England reisen. Der Rest ist Musikgeschichte.

Napoleons Waterloo als Liebeslied

32 Länder sind bei der Veranstaltung zugeschaltet, die damals noch Grand Prix Eurovision de la Chanson heißt. Als Abbas Auftritt als achter von insgesamt 17 an diesem Abend angekündigt wird, betritt ein als Napoleon verkleideter Mann die Bühne, sein Name: Sven-Olof Walldoff. Er wird den Song dirigieren, der Abba weltberühmt machen wird: "Waterloo". Ihm folgen - nicht in historischer Kostümierung, sondern in Glitzerklamotten, Samthosen und schwindelerregend hohen Plateauschuhen - Benny Andersson, Björn Ulvaeus, Agnetha Fältskog und Anni-Frid Lyngstad.

Geschrieben hat ihren Song der Manager der Band, Stikkan "Stig" Anderson. Er summte ihn Björn und Benny am Telefon vor, sie komponierten in abgeschiedener Natur auf der Insel Viggsö die Musik dazu. Es geht um die Liebe - sich zu ergeben wie der französische Feldherr einst in der Schlacht von Waterloo. Neben diesem Song hielt die Band auch den Titel "Hasta mañana" für einen aussichtsreichen ESC-Beitrag, doch Manger Stig hielt dagegen: "Überlasst einfach mir die Entscheidung, welchen Song wir nehmen", soll er zu Benny und Björn gesagt haben, "sollte es schief gehen, könnt ihr mich ja anschließend umbringen." Es kam zu keinem Mord, im Gegenteil: Abba gewinnt den Wettbewerb mit 24 Punkten vor Italien mit 18 Punkten.

120 Pfund auf den Sieg gesetzt

Für Manager Anderson war der Sieg nicht das wichtigste Ziel. Er wollte Abba vor rund 500 Millionen Fernsehzuschauern präsentieren - und danach viele Platten verkaufen. Trotzdem war er hoffnungsvoll und setzte 120 Pfund auf den Sieg.

Nicht länger als zwei Minuten und 45 Sekunden dauert der Song, nach 90 Minuten stehen Abba als Sieger des Grand Prix fest. Doch die Siegerehrung verzögert sich, weil ein Ordner Björn Ulvaeus nicht auf die Bühne lassen will: Er kann nicht glauben, dass der Mann in dem seltsamen Glitzer-Outfit ein Teilnehmer des Wettbewerbs ist. Für den Schweden im Nachhinein verständlich: "Noch nie ist jemand so hässlich und schlecht angezogen auf die Bühne gekommen wie wir", gibt er später zu.

Waterloo stürmt die Charts

Unmittelbar nach dem Grand Prix Eurovision de la Chanson in Brighton wird Waterloo als Single in 54 Ländern der Welt veröffentlicht und gelangt in nahezu 20 davon in die Top Ten der Charts. In Deutschland und Großbritannien landen Abba mit "Waterloo" den ersten Nummer Eins-Hit von vielen, die noch folgen sollten. Der Song wurde in Schwedisch, Englisch, Deutsch und Französisch aufgenommen und mausert sich zum Megaseller. Über fünf Millionen Mal geht die Single über den Ladentisch. 2004 erreicht das Lied bei seiner Wiederveröffentlichung zum 30. Jubiläum erneut Platz 20 der britischen Charts. Am 22. Oktober 2005 wird "Waterloo" beim 50. ESC zum "Besten Lied in der Geschichte des Wettbewerbs" gekürt.

Abba forever - auch virtuell

Anfangs habe man die Schweden für ein One-Hit-Wonder gehalten, dessen Ruhm bald verblassen würde, erzählt Benny Anderson später. So kann man sich täuschen. In den folgenden Jahren verkauften Abba 400 Millionen Platten, landeten 17 Nummer-eins-Hits - darunter "The Winner Takes It All", "Dancing Queen", "Thank You For The Music" und "Gimme, Gimme, Gimme" - und produzierten das Musical "Mamma Mia", das seit über 20 Jahren erfolgreich aufgeführt wird. Dass sich die Gruppe 1982 auflöste, tat ihrem Erfolg keinen Abbruch. Jahrzehntelang hofften die Fans auf ein Comeback, 2021 war es soweit. Die Schweden kehrten mit dem Album "Voyage" und einer virtuellen Konzertshow zurück - als "Abbatare". Und natürlich steht auch "Waterloo" wieder auf dem Programm.

Item URL https://www.dw.com/de/vor-50-jahren-abba-gewinnt-mit-waterloo-den-esc/a-68738700?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption So sehen Gewinner aus: Abba mit Dirigent und Manager 1974
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Item 57
Id 68686977
Date 2024-04-05
Title Wie sich Kölns jüdische Gemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg neu erfand
Short title Wie sich Kölns jüdische Gemeinde nach dem Krieg neu erfand
Teaser Konnte es nach dem Holocaust noch ein normales jüdisches Leben geben? Die verbliebenen Kölner Juden versuchten es, sie beteten in den Trümmern ihrer Synagoge. 1949 wurde dann ein neues Gotteshaus eingeweiht.
Short teaser Konnte es nach dem Holocaust noch ein normales jüdisches Leben geben? Die verbliebenen Kölner Juden versuchten es.
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Der Radiologe Michael Rado erinnert sich gut an den ebenerdigen, schmucklosen Saal in der Kölner Ottostraße 85. Nicht ganz 15 Sitzreihen nahmen die Betenden auf, ein Vorhang trennte die Bereiche von Männern und Frauen. Rado erlebte hier als 13-Jähriger seine Bar Mizwa, das Erlangen der religiösen Mündigkeit. Heute ist Rado 75 und Co-Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Kölns, Deutschlands ältester jüdischer Gemeinde überhaupt.

1949, genauer: am 6. April vor 75 Jahren, schlägt hier die Wiedergeburtsstunde der Jüdischen Gemeinde zu Köln. Das kleine Gotteshaus in der Ottostraße war Teil des früheren, um 1908 errichteten "Israelitischen Asyls", zu dem ursprünglich auch ein Krankenhaus und ein Altenheim gehörten. Gestapo und SS, verbrecherische Einheiten der Nazis, deportieren 1942 die Alten und Kranken. Bomben fallen auf den Gebäudekomplex.

Schwieriger Neuanfang nach 1945

Mehr als 11.000 Kölner Juden starben in den Vernichtungslagern der Nazis. Wer fand - nach dem Zweiten Weltkrieg und so kurz nach dem systematischen Mord an Millionen Juden - in Köln noch zur jüdischen Gemeinschaft zusammen? "Es waren nur wenige", erzählt Michael Rado, "eine Handvoll." Wer von diesen wenigen hatte Vertrauen in die Möglichkeit eines Neuanfangs an diesem Ort? In einem Land, dessen Bevölkerung Juden jahrelang ausgegrenzt und verfolgt hatte? "Das kann ich Ihnen nicht sagen", sagt Rado und schweigt eine Weile.

"Die meisten von uns saßen auf gepackten Koffern", berichtet Rado, dessen Eltern es zum Glück rechtzeitig aus Deutschland herausgeschafft hatten - nach Palästina, ins heutige Israel. "Allen war klar, dass man hier nicht bleibt", erinnert er sich, "mit dieser Gewissheit bin ich aufgewachsen." Diese Einstellung habe sich unter den Kölner Juden noch lange gehalten. Seine Eltern kamen 1952 mit ihrem siebenjährigen Sohn zurück nach Deutschland.

Rado zeigt vergilbte Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Familienalbum, darauf Fußball spielende Kinder, ein freundlich lächelnder Rabbi mit seinen Schützlingen. Erinnerungen an das jüdische Gemeindeleben, wie es sich in der Ottostraße zu regen begann und später anderswo fortsetzte.

Bewegte Geschichte der Kölner Juden

Denn die Gemeinde wuchs. Sie beschloss, die alte, von den Nazis niedergebrannte Synagoge an der Roonstraße wiederaufzubauen. Gut zehn Jahre später wird am 20. September 1959 das neue alte Gotteshaus eingeweiht. Es ist der jüngste Höhepunkt in der 1.700 Jahre alten Geschichte der Kölner Gemeinde. Sie gilt als die älteste im Europa nördlich der Alpen, in Deutschland sowieso. Erstmals erwähnte der römische Kaiser Konstantin in einem Edikt aus dem Jahr 321 eine jüdische Gemeinde in Köln. Die Juden lebten in Köln, bis sie der Rat 1423 der Stadt verwies. Erst 1798, unter französischer Besatzung, durften sie zurückkehren.

Mehrere Synagogenbauten folgten, darunter 1861 ein großer Komplex in der Glockengasse - nahe dem berühmten Duftwasserhersteller 4711 - und schließlich 1899 das Gotteshaus an der Roonstraße, erkennbar im neo-romanischen Stil. Bis 1933, dem Beginn der Naziherrschaft, hat Köln mit rund 18.000 Mitgliedern die fünftgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland. Doch sämtliche Synagogen und Bethäuser der Domstadt werden 1938 geplündert und dann in Brand gesetzt.

Gottesdienste in Trümmern

1945: Zum Gottesdienst treffen sich die wenigen überlebenden Kölner Juden zunächst in den Trümmern an der Roonstraße, später dann in einem Betsaal in der Ottostraße, schließlich in der kleinen Synagoge.

In der wiedererrichteten Synagoge in der Roonstraße entsteht ein Zentrum mit Saal, Verwaltungstrakt, Jugendheim, Kindergarten und Altersheim. Der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer, der einst von den Nazis abgesetzte Kölner Oberbürgermeister, fördert das Projekt. Das Land Nordrhein-Westfalen gibt Geld für den Wiederaufbau. An der Eröffnung im September 1959 nehmen Vertreter aus Politik, Kirche und Kultur teil. "Neben der Freude standen sicherlich auch die Schatten der Vergangenheit", zitiert der Sender Domradio aus dem Gemeindeblatt.

"Die Situation in Köln war damals keineswegs so, dass man von einem friedlichen Miteinander von jüdischen und nichtjüdischen Kölner Bürgern hätte sprechen können." Der damalige Rabbiner Zvi Asaria wird mit den Worten zitiert: "Wir werden toleriert. Das ist alles."

Zur Geschichte der jüdischen Gemeinde zählt auch der Besuch von Papst Benedikt XVI. während des katholischen Weltjugendtages 2005 in Köln. Heute hat die jüdische Gemeinde Kölns rund 5000 Mitglieder. "Manche von Ihnen haben wieder das Gefühl, auf gepackten Koffern zu sitzen", sagt der Co-Vorsitzende Michael Rado. Grund sei die gewachsene Bedrohung durch Rechtsextremismus und Antisemitismus. Doch sei die Hälfte der Mitglieder über 50 Jahre alt. Bei ihnen gebe es wenig Tendenzen, Deutschland in Richtung Israel zu verlassen. "Ich persönlich fühle mich nicht bedroht", sagt Rado, "solange diese Regierung die Juden ausreichend schützt - und das tut sie."

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Image caption In Köln begann das jüdische Leben nach dem Zweiten Weltkrieg in einer kleinen Synagoge in der Ottostraße. Heute hat Köln eine der größten jüdischen Gemeinden Deutschlands.
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Item 58
Id 68691661
Date 2024-04-04
Title Nitazene sind stärker und tödlicher als Heroin
Short title Nitazene sind stärker und tödlicher als Heroin
Teaser Nitazene sind starke synthetische Opioide. Entwickelt wurden sie in den 1950er-Jahren, klinisch eingesetzt wurden sie nie. Als Droge konsumiert, sorgen sie nun immer häufiger für Todesfälle.
Short teaser Nitazene sind starke synthetische Opioide. Als Droge konsumiert, sorgen sie nun immer häufiger für Todesfälle.
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Vor allem in den USA und in Großbritannien sind die Drogenbehörden zunehmend besorgt über den Konsum synthetischer Straßendrogen - also Drogen, die in öffentlichen Räumen wie Parks oder in Clubs verkauft werden. Darunter sind synthetisches Marihuana wie "Spice", aber auch Fentanyl und Oxycodon.

Die potentiell tödliche Wirkung von Fentanyl und Oxycodon war kaum erkannt, da tauchte ein weiteres schmerzstillendes Opioid auf und wurde zu einer lebensgefährlichen Straßendroge. Die gemeinhin als Nitazene bekannten 2-Benzyl-Benzimidazol-Opioide stammen ursprünglich aus der Pharmaindustrie und sind bis zu 500 Mal stärker als Heroin. Und sie machen sehr schnell abhängig.

Drogen- und Gesundheitsbehörden in Großbritannien und in weiteren europäischen Ländern sowie in den USA melden, dass die Zahl von Überdosierungen und Todesfällen wegen des Konsums von Nitazenen gestiegen ist. Es gibt zudem Hinweise darauf, dass Nitazene anderen Substanzen wie Heroin und Fentanyl, und sogar Cannabis, beigemischt werden, um etwa die Herstellungskosten zu senken.

Was sind Nitazene?

Nitazene, eine Klasse von mehr als 20 synthetischen chemischen Verbindungen, wurden ursprünglich in den 1950er-Jahren als opioide Schmerzmittel, sogenannte Analgetika, entwickelt. Sie wurden jedoch nie für die Verwendung in der Human- oder Veterinärmedizin zugelassen. Synthetische Drogen wie Nitazene und Fentanyl werden nicht wie Heroin oder Cannabis auf natürliche Weise angebaut oder kultiviert, sondern mithilfe von Chemikalien künstlich hergestellt.

Sie tauchten um 2019 in Großbritannien, in den USA und in den baltischen Staaten als illegale Substanzen auf. Berichten zufolge gab es in Russland bereits 1998 eine Reihe von Todesfällen, die mit Nitazenen in Verbindung gebracht wurden.

Nitazene haben eine psychoaktive Wirkung, was laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) bedeutet, dass sie "mentale Prozesse, einschließlich Wahrnehmung, Bewusstsein, Kognition oder Stimmung und Emotionen, beeinflussen".

In Pulverform verkauft, haben Nitazene eine gelbe, braune oder gebrochen weiße Farbe. Nach Angaben der US-Drogenbekämpfungsbehörde werden Nitazene auch in Pillen gepresst und "fälschlicherweise als Arzneimittel vermarktet, wie Dilaudid 'M-8'-Tabletten und Oxycodon 'M30'-Tabletten". Die Wirkung ähnelt denen anderer Opioide. Es kommt zu Euphorie, Sedierung und zu einer Art Wach-Schlaf-Bewusstsein, aber auch zu Atemdepression und Atemstillstand.

Warum ist das Risiko einer Überdosierung so hoch?

In einem offenen Brief an die Zeitschrift Lancet Public Health vom Februar 2024 schrieb die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD), dass Nitazene "seit 2022 zunehmend in Post-mortem-Analysen von drogenbedingten Todesfällen identifiziert wurden".

Adam Holland von der School of Psychological Science der Universität Bristol kommentierte - ebenfalls in Lancet Public Health - dass Nitazene in Substanzen nachgewiesen wurden, die als andere Opioide, Benzodiazepine und Cannabisprodukte verkauft wurden. "Das bedeutet, dass viele Verbraucher unbeabsichtigt Nitazene konsumieren, ohne sich der Risiken bewusst zu sein", schrieb Holland.

In solchen Fällen ist die Gefahr einer Überdosierung besonders groß. Daten aus Großbritannien zeigen beispielsweise, dass zwischen Juli und Dezember 2023 mehr als 50 Menschen nach dem Konsum von Nitazenen starben.

Was bewirken Nitazene im Körper?

Nitazene interagieren mit verschiedenen Opioidrezeptoren im Gehirn und Nervensystem. Einer dieser Rezeptortypen wurde in einem Beratungspapier der britischen Regierung als "Hauptvermittler" im Gehirn beschrieben. Dieser beeinflusst positive, therapeutische Funktionen wie Schmerzlinderung und die Belohnung des Gehirns und ruft ein Gefühl der Euphorie hervor.

Eine 2022 durchgeführte Untersuchung, die sich mit der Funktion eines anderen Rezeptors beschäftigt, stellte allerdings fest, dass "sowohl therapeutische als auch unerwünschte Wirkungen von Opioiddrogen durch ihre Bindung" an die Rezeptoren hervorgerufen werden. Zu diesen unerwünschten Wirkungen gehören Sucht, Abhängigkeit und Entzugserscheinungen.

Quellen:

European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA): "New psychoactive substances" in the European Drug Report 2023: https://www.emcdda.europa.eu/publications/european-drug-report/2023/new-psychoactive-substances_en

Advisory Council on the Misuse of Drugs (UK, 2022): "Advice on 2-benzyl benzimidazole and piperidine benzimidazolone opioids" — updated December 2023: https://www.gov.uk/government/publications/acmd-advice-on-2-benzyl-benzimidazole-and-piperidine-benzimidazolone-opioids/acmd-advice-on-2-benzyl-benzimidazole-and-piperidine-benzimidazolone-opioids-accessible-version#pharmacology

Zhang JJ, Song CG, Dai JM, Li L, Yang XM, Chen ZN. "Mechanism of opioid addiction and its intervention therapy: Focusing on the reward circuitry and mu-opioid receptor" in MedComm, June 2022: https://doi.org/10.1002/mco2.148

Pergolizzi J Jr, Raffa R, LeQuang JAK, Breve F, Varrassi G. "Old Drugs and New Challenges: A Narrative Review of Nitazenes" in Cureus, June 2023: https://doi.org/10.7759/cureus.40736

Schüller M, Lucic I, Øiestad ÅML, Pedersen-Bjergaard S, Øiestad EL. "High-throughput quantification of emerging "nitazene" benzimidazole opioid analogs by microextraction and UHPLC-MS-MS" in Journal of Analytical Toxicology, September 2023: https://doi.org/10.1093/jat/bkad071

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Image caption Drogenbehörden sind zunehmend besorgt wegen synthetischer Straßendrogen, darunter synthetisches Marihuana, Fentanyl und verschiedene Nitazene
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Item 59
Id 58982555
Date 2024-04-04
Title Was weiß die Wissenschaft über das Havanna-Syndrom?
Short title Was weiß die Wissenschaft über das Havanna-Syndrom?
Teaser Laut Medienberichten soll der russische Geheimdienst hinter dem Havanna-Syndrom stecken. Der US-Geheimdienst wiederum sieht keine Hinweise darauf. Auch aus der Wissenschaft heißt es zum Havanna-Syndrom: Ursache unklar.
Short teaser Auch wenn die Gerüchteküche immer wieder brodelt, heißt es aus der Wissenschaft zum Havanna-Syndrom: Ursache unklar.
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Das rätselhafte Syndrom wurde erstmals 2016 bekannt. Damals wurden in der kubanischen Hauptstadt dutzende Fälle unter US- und kanadischen Diplomaten sowie ihren Familienangehörigen festgestellt. Laut Medienberichten soll es allerdings bereits 2014 im US-Konsulat in Frankfurt am Main in Deutschland erste Havanna-Syndrom-Fälle gegeben haben. Die Betroffenen litten unter Benommenheit, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Hör- und Sehproblemen. Einige der Betroffenen verloren dauerhaft ihr Gehör.

Seit den Vorfällen in Kuba wurden die Symptome immer wieder von US-Diplomaten und -Geheimdienstmitarbeitern gemeldet, unter anderem in Russland, China, Österreich und zuletzt in Berlin. Die Betroffenen berichteten von Übelkeit, Schwindel, starken Kopfschmerzen, Ohrenschmerzen und Müdigkeit, einige von ihnen seien arbeitsunfähig, schrieb das Wall Street Journal.

Auch in anderen europäischen Ländern habe man US-Vertreter mit dem rätselhaften Havanna-Syndrom registriert, berichtete die Zeitung weiter. Einige der Erkrankten hätten sich mit Themen wie Gasexporte, Cybersicherheit oder politische Einmischung befasst.

Symptome wie bei einer Gehirnerschütterung

Die Symptome treten sehr plötzlich auf. Einen Betroffenen in Moskau erwischte es 2017, als er nachts im Bett lag, wie das Magazin GQ berichtete. Aufgrund seiner Übelkeit dachte er zunächst an eine Lebensmittelvergiftung, dann war ihm aber so schwindelig, dass er beim Versuch, ins Bad zu gehen, immer wieder hinfiel.

Es habe sich angefühlt, "als ob ich mich übergeben müsste und gleichzeitig ohnmächtig werden würde", sagte der CIA-Mitarbeiter dem Magazin. Das Ganze traf ihn vollkommen unvorbereitet. Anders als einige amerikanische Staatsangehörige in der Botschaft in Havanna 2016 habe er beispielsweise keinen hohen Ton gehört.

Experten am Center for Brain Injury and Repair an der University of Pennsylvania untersuchten einige der US-Bürger, die in Kuba verletzt wurden, und veröffentlichten 2018 eine Studie in der Fachzeitschrift Journal of the American Medical Association. Darin schreiben die Forscher, die Patienten seien stark beeinträchtigt in ihren Gleichgewichts-, kognitiven, motorischen und sensorischen Fähigkeiten - so wie Menschen, die eine schwere Gehirnerschütterung erlitten.

Aber anders als bei Gehirnerschütterungen verschwanden die Symptome nicht, sondern nahmen nur immer mal ab, um dann mit geballter Kraft zurückzukehren.

Psychisches Leid der Havanna-Syndrom Patienten

In einer aktuelleren Studie untersuchten Forschende in den Jahren zwischen 2018 und 2022 insgesamt 86 US-Regierungsmitarbeitende und deren Familienmitglieder, die von solchen Symptomen betroffen waren. Im Vergleich mit der gesunden Kontrollgruppe, berichteten Havanna-Syndrom Betroffene signifikant häufiger von Erschöpfung, posttraumatischer Belastungsstörung oder Depressionen.

In den klinischen Tests konnten die Forschenden jedoch keine Veränderungen in Organen und Geweben oder im Blut der Patienten feststellen. Auch in der Gedächtnisleistung sowie in Hör- und Sehtests waren keine signifikanten Unterschiede zu den Teilnehmenden der Kontrollgruppe feststellbar.

Ursache unbekannt

Was die "anormalen Gesundheitsvorfälle" auslösen könnte, bleibt ebenfalls weiterhin unklar. Aber Vermutungen gibt es natürlich.

Eine davon äußerten Experten der National Academies of Sciences, Engineering and Medicine in den USA bereits im Dezember 2020. Sie vermuten, dass gezielte Impulse von Radio-Frequenz-Energie stecken hinter den Symptomen stecken.

Andere Forscher gehen davon aus, dass Mikrowellen-Waffen hinter dem Havanna Syndrom stecken, die Gegner der USA gezielt gegen Diplomaten, Geheimdienstangestellte und ihre Familien einsetzen. Solche Waffen, die mit hochfrequenter Strahlung arbeiten, wurden bereits entwickelt.

Mikrowellen arbeiten im Bereich von einem bis zu 300 Gigahertz. Die Mikrowelle, die viele zuhause haben, erhitzt Mahlzeiten bei einer Frequenz von 2,5 Gigahertz. Mit zunehmender Frequenz wird die Strahlung energiereicher. Mit entsprechendem Gerät kann sie gezielt auf Menschen gerichtet werden, die Strahlen dringen dann bis zu einer von der Frequenz abhängigen Tiefe in den Körper ein und können dort Schaden anrichten. Das US-Verteidigungsministerium entwickelte beispielsweise ein Waffensystem, das mit Mikrowellen bei einer Frequenz von 95 Gigahertz arbeitet.

Eine weitere Möglichkeit sind Schallwaffen - dafür spräche beispielsweise, dass einige Betroffene in Havanna einen durchdringenden Ton gehört haben, bevor ihre Symptome begannen. Andere Havanna-Syndrom Patienten hörten jedoch nichts.

Zwar könnte es auch Systeme geben, die Angriffe im nicht hörbaren Bereich ermöglichen. Doch über die ist wenig bekannt, außer, dass Militärs daran forschen ließen. Dass sie existieren wurde von Experten bisher als sehr unwahrscheinlich eingestuft.

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Image caption Das Havanna-Syndrom geht mit Schwindel, Kopfschmerzen und Orientierungslosigkeit einher
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Item 60
Id 68727293
Date 2024-04-03
Title Anja Niedringhaus: Erinnerung an die "Bilderkriegerin"
Short title Anja Niedringhaus: Erinnerung an die "Bilderkriegerin"
Teaser Mit ihrer Kamera dokumentierte Anja Niedringhaus das Leben in Krisengebieten. Am 4. April 2014 - genau vor zehn Jahren - wurde die Pulitzer-Preisträgerin in Afghanistan erschossen.
Short teaser Mit ihrer Kamera dokumentierte Anja Niedringhaus das Leben in Krisengebieten. Am 4. April 2014 wurde sie getötet.
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Banda Khel, Afghanistan, 4. April 2014. "Ich bin glücklich", schreibt Anja Niedringhaus an ihren besten Freund und Fotografen Muhammed Muheisen. Eines ihrer Bilder ist an diesem Tag auf der Titelseite der "New York Times" abgedruckt. Anja ist gerade unterwegs in der ostafghanischen Provinz Chost. Begleitet wird sie von der kanadischen Reporterin und Freundin Kathy Gannon. Die beiden sind ein eingespieltes und erfahrenes Team. Für die amerikanische Nachrichtenagentur Associated Press berichten sie über die Präsidentschaftswahlen in Afghanistan.

Die Reise ist gut vorbereitet und gilt als sicher. Sie fahren in einem Konvoi mit Polizei, Militär und Wahlhelfern. Anja möchte ein Foto von den Dorfbewohnern machen, die sich für die Wahl registrieren lassen. Der Konvoi hat gerade an einem gut bewachten Polizeigelände angehalten. Anja und Kathy warten auf dem Rücksitz des Wagens, reden und scherzen. Plötzlich eröffnet ein junger Polizist das Feuer. Er schießt mit einer Kalaschnikow auf den Wagen und ruft dabei "Allahu Akbar" ("Gott ist groß"). Anja Niedringhaus stirbt auf der Stelle, die schwer verletzte Kathy wird ins Krankenhaus gebracht.

"Sie hat Afghanistan geliebt"

Anjas Familie kann nicht glauben, dass die Fotoreporterin tot ist. "Tief in meinem Inneren habe ich gedacht, dass das nicht wahr ist", erinnert sich Elke Niedringhaus-Haasper, Anjas ältere Schwester, im Gespräch mit der DW. "Meine Schwester liebte Afghanistan und die Menschen dort, war begeistert von ihrer Gastfreundschaft", fügt sie hinzu. Von gefährlichen Situationen habe sie der Familie nie erzählt. "Sie berichtete von schönen Dingen, die man zum Teil auch auf ihren Fotos sieht", sagt die Schwester. Ein Foto aus Kabul zeigt einen lächelnden Jungen vor einer dunklen Bergkette. Er springt auf, um einen selbst gebastelten Drachen steigen zu lassen. Drachensteigen war unter den Taliban verboten. Ein anderes Foto zeigt drei Frauen in Burkas mit einem Baby auf dem Arm. Ihre bunten Gewänder flattern im Wind. Auf einem anderen - das Ende des Ramadan und Jungen, die auf einem Karussell fahren, einer mit einer Gewehrattrappe.

Anja Niedringhaus: mutig und entschlossen

Anja Niedringhaus glaubte an die Macht der Bilder, wollte sie der Welt zeigen und Kriege beenden. "Doch schon im ehemaligen Jugoslawienmusste sie erkennen, dass Fotos nicht ausreichen, um einen brutalen Krieg zu beenden", sagt Christine Longère, ehemalige Redakteurin der Tageszeitung Neue Westfälische und Mitbegründerin des Anja Niedringhaus Forums im westfälischen Höxter, Anjas Heimatstadt. Dort, in der Redaktion der Lokalzeitung, lernte Longère die 17-jährige Anja kennen, die als freie Mitarbeiterin begann.

Anjas erster Auftrag war es, über die Verabschiedung eines verdienten Rathausmitarbeiters im 30 Kilometer entfernten Bad Driburg zu berichten. "Sie war 17 und hatte noch keinen Führerschein, aber auf die Frage der Sekretärin antwortete sie wahrheitsgemäß, dass sie Auto fahren könne. Als Segelfliegerin war sie oft mit dem Auto über das Flugplatzgelände gefahren. Sie holte sich die Schlüssel für den Dienstwagen und fuhr los", erzählt Longère, die noch heute das erste Foto von Anja für die Neue Westfälische" aufbewahrt. Es erschien auf der Titelseite. "Schon damals war sie unglaublich mutig und zielstrebig. Sie wusste, was sie wollte", sagt Longère.

Der erste Kriegseinsatz

Die junge Fotoreporterin war noch sehr unerfahren, als sie 1991 für die European Pressphoto Agency (EPA) in den Krieg in das damalige Jugoslawien reiste. "Ein Krieg mitten in Europa? Ich fragte mich: Was mache ich hier eigentlich? Und bin sofort zu meinem Chefredakteur: 'Ich will da hin.' Der dachte, ich spinne. 'Welche Erfahrungen hast du überhaupt?' Ich hatte keine, ich war erst 26 Jahre alt. Aber ich schrieb ihm sechs Wochen lang jeden Tag einen Brief auf der Schreibmaschine, bis er endlich sagte: 'Na, dann fahr.' Er und meine Kollegen waren sicher, die Niedringhaus ruft nach zwei Tagen an und will wieder zurück. Ich blieb fünf Wochen am Stück. Insgesamt habe ich dann fünf Jahre in Sarajewo verbracht", erzählt Anja Niedringhaus in einem Interview für das Buch "Bilderkrieger".

"Sie hat mir viel über den Krieg erzählt, über Sarajevo und die Momente, in denen ihre Fotos entstanden sind", erinnert sich Anjas Mutter Heide Ute Niedringhaus. Wie damals in Sarajevo, in einem Hinterhof. Es schneite, Kinder fuhren Schlitten und sie dachte, wie schön es ist, dass diese Kinder den Krieg für einen Moment vergessen können. Plötzlich flog eine Granate und tötete ein Mädchen. "Ihr Name war Emine. Sie hatte lange dunkle Haare. Anja sagte, dass sie wie Schneewittchen aussah. Die Eltern des Mädchens und der Bruder des Vaters kamen aus dem Haus gerannt. Sie hielten ihre Hände über den Kopf von Emine. Das Foto ging um die Welt. Ein trauriges und bewegendes Bild", sagt Heide Ute Niedringhaus.

Fotos, die das Geschehen mit der Welt teilen

Für Anja Niedringhaus war es wichtig, als Augenzeugin das Geschehen zu dokumentieren und mit der Welt zu teilen. Auf ihren Bildern sieht man Frauen, die ihre Kinder aus brennenden Dörfern tragen, Männer, die am Straßenrand Totenwache halten, oder eine Frau, die an einer Wasserausgabestelle in Sarajevo in Tränen ausbricht, als sie erfährt, dass es kein Trinkwasser mehr gibt. Auch Soldaten erscheinen als Opfer des Krieges. Es sind junge Männer, die aus den amerikanischen Provinzen in den Irak geschickt wurden. Einer von ihnen trägt während der blutigen Schlacht um Falludscha eine G.I.-Joe-Figur als Glücksbringer. Für dieses und andere Bilder aus dem Irak erhält Anja Niedringhaus 2005 den Pulitzer-Preis. Sie ist die erste deutsche Fotojournalistin, die diese Auszeichnung erhält. Anja Niedringhaus berichtet unter anderem aus dem Gazastreifen, Israel, Kuwait, Libyen, Pakistan und Afghanistan. Immer wieder entkommt sie dem Tod. 2010 läuft sie in Afghanistan mit Soldaten durch eine Gasse, der Vordermann tritt mit dem Fuß nach einem Huhn. Anja hält das im Bild fest, doch Sekunden später schlägt eine Granate ein - sie wird durch Splitter schwer verletzt.

In Falludscha 2004 werden 60 Prozent der Einheit, die sie mit der Kamera begleitet, getötet. "Wenn ich vorher gewusst hätte, was ich in den zwei Wochen sehen würde, hätte ich es nicht gemacht, nein", sagt sie im Interview mit "Bilderkrieger". Und doch kehrt sie immer wieder in Kriegs- und Krisengebiete zurück. "Wir haben einen journalistischen Auftrag, wir haben eine gesellschaftliche Verpflichtung", wiederholt sie.

Als Journalistin mit dem Leben bezahlt

Anja Niedringhaus ist eine von zahlreichen Journalistinnen und Journalisten, die jedes Jahr bei der Ausübung ihres Berufs ums Leben kommen. Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen (ROG) wurden im Jahr 2023 weltweit 50 Journalistinnen und Journalisten getötet. Andere Organisationen nennen - aufgrund unterschiedlicher Herangehensweisen bei der Überprüfung der einzelnen Fälle - noch höhere Zahlen. Laut dem Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) wurden im vergangenen Jahr 99 Medienschaffende getötet, mehr als drei Viertel davon im Zusammenhang mit dem Krieg zwischen Israel und der Hamas.

Rund 80 Prozent der Verbrechen blieben für die Täterinnen und Täter ohne Konsequenzen. "Wo kein Kläger, da kein Richter", sagt Christopher Resch von ROG. "Oft sind es nur internationale Organisationen wie Reporter ohne Grenzen, die den gewaltsamen Tod von Medienschaffenden anprangern. In den betroffenen Ländern selbst werden diese Fälle aus verschiedenen Gründen oft nicht untersucht", erklärt er.

Zehn Jahre nach dem Tod von Anja Niedringhaus

Der Mörder von Anja Niedringhaus wurde gefasst und vor Gericht gestellt. Er gab an, aus Rache für den Tod von Familienangehörigen bei einem Bombenangriff der NATO-Truppen gehandelt zu haben. Ein Gericht in Kabul verurteilte ihn zum Tode. Anja war eine Gegnerin der Todesstrafe, ihre Familie wehrte sich gegen das harte Urteil. Der Oberste Gerichtshof Afghanistans reduzierte das Urteil auf 20 Jahre Haft. Zwei Jahre später bemühte sich die einflussreiche Familie des Täters um seine Freilassung. "Jetzt ist er wohl auf freiem Fuß", sagt Heide Ute Niedringhaus nachdenklich.

Am 4. April, dem zehnten Todestag ihrer Tochter, lässt sie weiße Blumen auf ihr Grab legen und Lichter in Herzform neben das Foto stellen. Das Forum Anja Niedringhaus in Höxter zeigt in der Ausstellung The Power of Facts" Fotos von Anjas mutigen Einsätzen in Kriegsgebieten. Am gleichen Tag eröffnen Freunde von Anja im Bronx Documentary Center in New York eine Ausstellung über ihr Werk. Elke Niedringhaus-Haasper und Christine Longère werden ebenfalls anwesend sein, um die Erinnerung an Anja wach zu halten". Am selben Abend und Ort verleiht die International Women's Media Foundation (IWMF) den Anja Niedringhaus Courage in Photojournalism Award, um die Arbeit mutiger Fotojournalistinnen weltweit zu würdigen.

So mutig wie Anja, die mit ihrer Kamera und ihrem Herzen" über Menschen in Krisengebieten berichtet. Hätte der afghanische Polizist am 4. April 2014 nicht auf sie geschossen, würde Anja Niedringhaus heute vielleicht wieder das Schicksal der Menschen im Gaza-Krieg dokumentieren.

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Image caption Anja Niedringhaus hat dieses Bild mit dem afghanischen Jungen im Mai 2013 fotografiert
Image source Anja Niedringhaus/AP Photo/picture alliance
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Item 61
Id 66765542
Date 2024-04-03
Title Tote und Verletzte in Taiwan: Wie entstehen Erdbeben?
Short title Tote und Verletzte in Taiwan: Wie entstehen Erdbeben?
Teaser Ein starkes Erdbeben hat die Ostküste Taiwans erschüttert – es ist der schwerste Erdstoß seit 25 Jahren. Die Insel liegt in einem Gebiet, das besonders erdbebengefährdet ist. Was passiert in diesen Regionen?
Short teaser Die Insel Taiwan liegt in einem Gebiet, das besonders erdbebengefährdet ist. Was passiert in diesen Regionen?
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Die Zahl der Todesopfer und Verletzten nach dem Erdbeben in Taiwan steigt weiter. Laut Agenturberichten gab es die meisten Opfer nahe dem Epizentrum in der Region Hualien, einer bergigen Gegend an der Ostküste des Landes.

Wie stark war das Erdbeben in Taiwan?

Die US-Erdbebenwarte USGS gab die Stärke des Bebens mit 7,4 auf der Richterskala an. Zahlreiche Gebäude stürzten ein oder gerieten in eine bedrohliche Schieflage. Laut Agenturberichten haben strengere Bauvorschriften offenbar eine größere Katastrophe verhindert.

Eine ähnlich starke Erschütterung hatte es in Taiwan zuletzt 1999 gegeben. Damals waren mehr als 2.400 Menschen ums Leben gekommen.

Erdbeben in Taiwan sind keine Seltenheit. Die Insel liegt auf einer sogenannten Verwerfungslinie, zwei Erdplatten treffen hier aufeinander.

Wie entstehen Erdbeben?

Die Erdkruste ist wie eine Art Puzzle aufgebaut, das aus vielen Einzelteilen besteht: aus ein paar gigantischen ozeanischen Platten und mehreren kleinen kontinentalen Krustenplatten. Wie viele kleine und kleinste Erdplatten es tatsächlich gibt, ist in der Wissenschaft umstritten.

Die verschiedenen Platten "schwimmen" auf dem flüssigen Erdinneren. Durch aufquellendes Magma aus dem Erdkern an einigen Bruchstellen verschieben sie sich und wandern einige Zentimeter pro Jahr.

Das passiert seit Milliarden Jahren, ist also ganz normal. Sie bewegen sich entweder voneinander weg, reiben aneinander oder schieben sich untereinander. Dann bewegt sich der darüber liegende Kontinent. Diese Bewegungen heißen Plattentektonik.

Die Plattentektonik führt immer wieder dazu, dass sich Platten verhaken. Die Spannungen im Gestein wachsen dann und können sich, wenn sie zu groß werden, ruckartig lösen. Von diesem Epizentrum aus verbreiten sich dann Druckwellen bis an die Erdoberfläche und werden als Erdbeben spürbar.

Besonders gefährdet sind deshalb Regionen, die über sogenannten Verwerfungslinien liegen, also wo zwei tektonische Platten der Erdkruste aufeinandertreffen. Ab 5,0 auf der sogenannten Richterskala, mit deren Hilfe Seismologen die Stärke eines Erdbebens angeben, kann es zu sichtbaren Schäden beispielsweise an Gebäuden kommen.

Kommt es zu einem Beben unterhalb eines Ozeans, können Tsunamis entstehen. Diese sich mit hoher Geschwindigkeit verbreitenden Wellen können zu verheerende Überflutungen führen, wenn sie auf Festland treffen. Aufgrund der ständigen seismischen Aktivität in Regionen an den Plattenrändern sei es sehr schwierig, schwerere Beben vorauszusagen, sagt Fabrice Cotton, Professor für Seismologie am Geoforschungsinstitut (GFZ) in Potsdam.

Was sind Nachbeben?

Starke Erdbeben ziehen so gut wie immer eine Serie kleinerer Erschütterungen nach sich. Diese Nachbeben entstehen, weil sich die tektonischen Platten am Epizentrum noch hin und her bewegen und erst langsam wieder zur Ruhe kommen. Doch auch die schwächeren Nachbeben können großen Schaden anrichten: Gebäude, die durch das eigentliche Erdbeben nur beschädigt wurden, stürzen schließlich doch zusammen und sorgen für noch mehr tote, verletzte und obdachlose Menschen.

"Die einzige Möglichkeit, Menschen vor Erdbeben zu schützen, ist durch erdbebensicheres Bauen", sagt Cotton.

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Image caption Der einzige Schutz vor katastrophalen Schäden ist eine erdbebensichere Bauweise
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Item 62
Id 43185105
Date 2024-04-02
Title Autismus - Krankheit oder Charakterzug?
Short title Autismus - Krankheit oder Charakterzug?
Teaser Oft meiden sie Menschen, oft verstehen sie die Gefühle anderer nur schwer. Autisten sind anders. Aber wie genau? Weltweit suchen Forscher nach den Gründen der Störung und fragen sich: Was genau ist autistisch?
Short teaser Autisten sind irgendwie anders. Aber warum und inwiefern - da sind sich selbst die Forscher uneinig.
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Wenn die Sonne scheint, bleibt John gern im Zimmer. Es stört ihn, wenn alles glitzert und reflektiert. Es stört ihn auch, wenn es laut ist oder ein Fremder neben ihm im Bus sitzt. John ist Autist. "Er kann nicht schreiben, nicht sprechen und nicht alles verstehen", sagt Monika Scheele-Knight, Johns Mutter. "Man kann sagen, dass er wie ein ein- oder zweijähriges Kind ist."

Als John drei Jahre alt war, stellten Ärzte bei ihm frühkindlichen Autismus fest. Menschen mit dieser Autismus-Form entwickeln kaum Gestik und Mimik und haben Probleme, Gefühle zu verstehen. Viele halten zwanghaft an immer gleichen, wiederkehrenden Ritualen fest, an festgelegten Wegen oder Tagesabläufen.

Auch Rainer Döhle ist Autist. Er war bereits erwachsen, als bei ihm ein Asperger-Syndrom festgestellt wurde - eine Form von Autismus, die nicht mit sprachlichen und geistigen Beeinträchtigungen einhergeht. "Aber in meinem Zeugnis stand immer: Er findet keinen Zugang zur Klassengemeinschaft", erzählt er. "Ich habe einfach nie verstanden, wie Freundschaft funktioniert und war immer froh, wenn man mich in Ruhe gelassen hat und ich lesen konnte." Die Diagnose "Asperger-Syndrom" sei für ihn eine große Erleichterung gewesen - endlich gab es eine Erklärung für die Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen. Heute sitzt Rainer Döhle im Vorstand von Aspies e.V., dem größten deutschen Selbsthilfeverein für Autisten. Er arbeitet als Übersetzer und ist Autor bei Wikipedia. "Ich hab eine Hochbegabung und spezielle Interessen im Bereich Geographie und Geschichte. Manchmal schreibe ich stundenlang Listen über Regenten oder Hauptstädte. Aber inzwischen kann ich das konstruktiv nutzen."

Von hochbegabt bis geistig beeinträchtigt

Während einige Autisten nie sprechen lernen, fallen andere schon früh durch ihre gewählte Sprache auf. Die einen sind motorisch ungeschickt, andere zeichnen stundenlang - es gibt den geistig beeinträchtigten Autisten ebenso wie den mit dem außergewöhnlichen Zahlengedächtnis. Sie alle zeigen aber in der Regel immer dieselben, wiederkehrenden Verhaltensmuster und haben ähnliche Schwierigkeiten, mit anderen zu interagieren.

Während man noch vor einigen Jahren dachte, dass es sich bei den verschiedenen Formen von Autismus um qualitativ unterschiedliche Zustände handelt, die jeweils unterschiedliche Ursachen haben, weiß man heute aus vielen Studien, dass sie sich eher graduell unterscheiden.

"Autismus ist nichts qualitativ anderes als das Asperger-Syndrom", erklärt Sven Bölte, Leiter der Forschungsgruppe "Autismus-Spektrum-Störungen" am Stockholmer Karolinska-Institut. "Beide Autismusformen unterscheiden sich eher in der Schwere ihrer Symptome." Autismus-Forscher sprechen daher heute von Autismus-Spektrum-Störungen, die sie auf eine andersartig verlaufene neurologische Entwicklung zurückführen. Was da bei Autisten allerdings genau untypisch verläuft in der Entwicklung von Gehirn und Nervensystem ist unklar.

Eine Extremvariante des männlichen Gehirns?

Aus Hirnscans etwa weiß man, dass Autisten weniger Aktivität in Hirnregionen zeigen, die für die Verarbeitung von Gefühlen und Sprache zuständig sind oder für die Erinnerung an Gesichter. Dafür gibt es eine stärkere Aktivität dort, wo Objekte verarbeitet und Details eines Systems erkannt werden.

Der britische Autismus-Forscher Simon Baron-Cohen vertritt daher die Ansicht, Autisten besäßen eine Extrem-Variante des männlichen Hirns. In einer Studie hatte er im Fruchtwasser von Schwangeren den Spiegel des sogenannten pränatalen Testosterons gemessen, das Einfluss auf die Hirnentwicklung hat. "Als wir nach der Geburt die Kinder untersuchten, fanden wir: Je höher das Niveau des pränatalen Testosterons war, desto mehr zeigten die Kinder später autistische Züge - und desto mehr Interesse für Systeme."

Gehirne von Autisten unterscheiden sich von typischen Gehirnen außerdem durch eine andere Verteilung der Andockstellen für die Botenstoffe Dopamin und Serotonin - die unter anderem bei der Steuerung von Angst und Motivation eine Rolle spielen. Studien der Universität Freiburg zeigen, dass die Kommunikation zwischen Neuronen in den Gehirnen von Autisten gestört ist und auch Gene und Genveränderungen sind im Zusammenhang mit Autismus entdeckt worden.

Die jedoch erklären häufig nur einige autistische Symptome, zum Beispiel eine gestörte Sprachfähigkeit. Sie tauchen nur bei wenigen untersuchten Personen auf oder finden sich ebenso bei gesunden Menschen oder bei Nichtautisten mit Intelligenzminderung, Aufmerksamkeitsdefizitstörung oder Epilepsie.

Umweltfaktoren beeinflussen Autismus-Risiko

Wahrscheinlich sei es deshalb so, erläutert Sven Bölte, dass neben der Genetik auch noch andere Faktoren bei der Entstehung von Autismus eine Rolle spielen. "In einer dänischen Studie wurde der Zusammenhang von Autismus und viralen Infektionen in der Schwangerschaft untersucht. Dabei hat man festgestellt, dass das Autismus-Risiko des Kindes von einem auf zwei Prozent gestiegen ist, wenn die Mutter während der Schwangerschaft eine solche Infektion hatte."

Auch bestimmte Medikamente, die während der Schwangerschaft genommen werden, Komplikationen bei der Geburt und sogar Umweltgifte oder Luftverschmutzung sind mögliche Risikofaktoren für Autismus. Allerdings: "Diese Faktoren sind nicht für jeden gleichermaßen ein Risiko. Die Entstehung von Autismus kann individuell ein ziemlich komplexes Wechselspiel sein."

Autismus-Diagnose bleibt subjektiv

Was Autismus ist, entscheiden Psychiater und Neurologen daher noch immer in erster Linie aufgrund des beobachtbaren Verhaltens: Dieselben, immer wiederkehrenden Verhaltensweisen, Probleme in der sozialen Interaktion. Es bleibt eine subjektive Einschätzung. Mehr noch: Je komplexer das Bild, das Genetiker, Epidemiologen und Neurowissenschaftler von Autismus zeichnen, desto mehr verschwimmen die Kriterien dafür, was Autismus ist - und was nicht.

"Im Moment beobachten wir so ein 'Ausfransen'. Wir wissen nicht mehr: Wo ist das Ende des Spektrums?", kritisiert Inge Kamp-Becker, Leiterin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Marburg. "Viele Studien zeigen aber, dass Autismus eher eine Eigenschaft ist, dass es autistische Züge gibt, die man eben auch in der Normalbevölkerung findet und noch viel mehr zusammen mit anderen Störungsbildern. Aber was genau dann Autismus ist, das wird immer unklarer."

Diagnostisch wird die Grenze zwischen gesund und krank meist dort gezogen, wo autistisches Verhalten dazu führt, dass jemand alltägliche Aufgaben nicht selbstständig erfüllen kann und wo Hilfebedarf besteht.

Die Grenze jedoch ist fließend. Und auch in der Autismus-Forschung, so Sven Bölte, bleibt die Frage - Krankheit oder Charakterzug - vorerst unentschieden: "Es spricht nichts dagegen, zu sagen, dass alle Menschen im Bereich ihrer sozialen Fertigkeiten variieren. Und wenn wir in einen Bereich von sehr gering ausgeprägtem Sozialverhalten kommen, befinden wir uns im Bereich des Autismus. Auf der anderen Seite wären dann die Leute, die sehr kommunikativ und sozial sind. Es ist nicht undenkbar, dass man da mal hinkommt."

Aber? "Viele Forscher - und auch ich - sind nicht sicher, ob es nicht doch diesen Shift gibt, ob sich die Entwicklung beim Autismus nicht doch qualitativ von anderen Störungen und von einer typischen neuronalen Entwicklung unterscheidet. Ich habe meine Meinung da auch 20 bis 30 Mal geändert, weil's einfach schwierig ist."

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Image caption Stephen Wiltshire: Hat er etwas einmal gesehen, zeichnet er es bis ins kleinste Detail nach
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Item 63
Id 61302268
Date 2024-04-02
Title Die Welt mit den Augen eines Autisten sehen
Short title Die Welt mit den Augen eines Autisten sehen
Teaser Oft werden Autisten von anderen einfach in bestimmte Schubladen gesteckt. So einfach ist das aber nicht, denn den typischen Autisten gibt es nicht. Das wissen Betroffene wie Ricky Zehrer am besten.
Short teaser Oft werden Autisten von anderen einfach in bestimmte Schubladen gesteckt, aber den typischen Autisten gibt es nicht.
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Autisten wissen, wovon sie reden, wenn sie sich und ihre Situation beschreiben. Sie sehen Autismus aus einer anderen, aus ihrer eigenen Perspektive, so wie Ricky Zehrer. "Autismus ist als tiefgreifende Entwicklungsstörung definiert. Aber es ist anders: Autismus ist angeboren. Das Gehirn funktioniert etwas anders als bei Nicht-Autisten. Aus meiner Sicht ist es vor allem eine Frage der Wahrnehmung und die Frage, wie ein Autist Ereignisse filtert."

Bei den meisten Autisten fehlt dieser Schritt des Filterns oder er ist nicht so ausgeprägt. Etwa elf Millionen Sinneseindrücke werden pro Sekunde von unserem Gehirn verarbeitet. Nur etwa 40 davon nehmen wir bewusst wahr. Nicht alles wird zur Weiterverarbeitung an das Gehirn geleitet, denn es ist nicht darauf ausgerichtet, all die Informationen, auf die wir tagtäglich treffen, zu sortieren und zu verarbeiten.

Folglich selektieren wir. Bei Autisten wie Zehrer ist das anders. "Ich bekomme quasi alles, was ich sehe, fühle und erlebe, unverdünnt vorgesetzt, und damit muss ich dann zurechtkommen." Diese Überstimulation bedeutet permanenten Stress.

Autisten versuchen, ein "Zuviel" zu vermeiden

Autisten gehen unterschiedlich mit der Reizüberflutung um, die auf ihr Gehirn einwirkt. Und so versuchen sie, aus der Situation rauszukommen und all das abzuwehren, was einfach zu viel ist.

Das sei eine erste, wichtige Maßnahme und nötig, um den Alltag einigermaßen bewältigen zu können, sagt Zehrer. Die Reize, die im Gehirn ankommen und die einem Autisten Probleme bereiten, sind ganz unterschiedlich.

Licht ist beispielsweise ein Faktor. "Ich gehe nur mit Sonnenbrille raus. Im Auto nutze ich Blendschutzscheiben", sagt Zehrer. "Ich bin extrem lichtempfindlich. Jemand anders kann sich vielleicht problemlos in den Scheinwerfer stellen. Manche können Augenkontakt überhaupt nicht aushalten. Andere wiederum starren ihr Gegenüber an", erklärt Zehrer. Aber irgendetwas sei immer anders.

Während Zehrer große Schwierigkeiten mit intensiven Lichtverhältnissen hat, reagieren andere extrem auf Geräusche. Sie müssen sich vor diesen Geräuschen schützen, damit sie ihr Gehirn nicht überladen und damit nicht alles aus dem Ruder läuft. Vielen geräuschempfindlichen Autisten fällt es beispielsweise schwer, die Stimme eines Gesprächspartners aus Hintergrundgeräuschen herauszufiltern. Dann wird ihnen schnell alles zu viel, im Gehirn entsteht Chaos.

Mit Geräuschen gegen Geräusche angehen

Gewinnen Geräusche die Übermacht, gebe es verschiedene Möglichkeiten, dies zu beeinflussen, sagt Ricky Zehrer. Eine Option seien Kopfhörer, die Geräusche unterdrücken. Hilft das nicht, nutzen Autisten häufig auch das sogenannte Stimming, was so viel wie "selbstregulierendes Verhalten" bedeutet. Auch das kann vor Reizüberflutung ein wenig schützen. Diese Methode wirkt beruhigend und kann inneren Druck abbauen.

Motorische Abläufe wie etwa Wippen oder Springen gehören dazu, aber auch die Erzeugung verschiedener Laute wie beispielsweise Zählen oder das Schnippen mit den Fingern. So wird ein störender Reiz, der alles andere überlagert, mit einem Reiz überdeckt, der kontrollierbar ist.

"Für jeden nachvollziehbar ist es, wenn es irgendwo juckt. Jucken ist ein unkontrollierter, extrem unangenehmer Reiz. Der Betroffene kann diesen Reiz mit Schmerzen überdecken, etwa mit Kratzen. Das heißt, über den unkontrollierten, unangenehmen Reiz legt sich ein kontrollierter, selbstausgelöster Reiz, und der ist einfacher zu ertragen", erklärt Zehrer. Sie selbst beiße sich in solchen Situationen beispielsweise in die Wange.

Wenn rausgehen zum Problem wird

Eine der Eigenarten, die oft mit Autismus in Verbindung gebracht werden ist, dass Autisten große Probleme haben, unter Menschen zu sein.

Mit solchen Situationen wird auch Ricky Zehrer häufig konfrontiert. "Ich vergleiche das gerne mit einem Waschbecken. Jeder Reiz, der reinkommt, ist wie ein bisschen Wasser, das hineingekippt wird. Das kann ein Fingerhut voll sein. Das kann eine Tasse sein. Das kann ein Eimer sein. Bei einem Nicht-Autisten kann ich jede Menge Wasser hineinkippen. Das läuft alles ab. Beim Autisten hingegen verstopft der Abfluss." Der Stresspegel steigt immer weiter an.

Dem Gegenüber in die Augen sehen

Was bei autistischen Menschen oft als charakteristisch angeführt wird, ist der Mangel an Blickkontakt. Zehrer erzählt von einer blinden Freundin. Sie zu treffen sei eine äußerst angenehme Situation, denn sie müssten sich nicht anschauen. Bei Menschen, die sehen können, sei das eben anders. Sie suchten den Blickkontakt zum Gegenüber.

"Diese ganze Partie im Gesicht bewegt sich ständig. Und dadurch, dass mir mein Hirn ja alles ungefiltert hinwirft, sehe ich jede dieser Bewegungen, jedes Zucken, jedes Blinzeln. Da ist dann einfach viel zu viel los. Ich kann mich dann auf nichts konzentrieren." Es entsteht Unordnung im Kopf, die nicht bewältigt werden kann.

Autisten und Gefühle

Autisten seien gefühlsarm, heißt es oft. Dafür hat Zehrer eine Erklärung: "Bei Autisten ist oft nicht zu wenig, sondern eher zu viel eigenes Gefühl da. Und auch ein Gefühl ist ein Reiz. Und bei einigen ist es so, dass sie gar nicht so genau wissen, wie sie sich gerade fühlen." Es sei einfach alles viel zu durcheinander. Es fehle die Zeit, Gefühle zu sortieren und zu ordnen. Die meisten Autisten seien sowieso viel zu beschäftigt damit, sich so zu benehmen wie Nicht-Autisten. Das koste Kraft und Energie.

Autisten leisten oft überdurchschnittlich viel

Autisten versuchen, äußere Reize jeglicher Art so gut wie möglich zu reduzieren, um sich nicht einer Reizüberflutung auszusetzen. So sind sie in der Lage, sich nur auf eine einzige Sache zu konzentrieren, alles andere bleibt außen vor.

Dieser Zustand könne aber durch kleine Dinge massiv gestört werden, etwa durch das Flackern einer Lampe. Dieser Hyperfokus, die absolute Konzentration auf eine einzige Sache, kann durchaus negative Folgen haben. Bei einem Autisten kann es sein, dass sich kein Hungergefühl einstellt oder auch, dass die Person keinen Durst hat - egal ob es draußen kalt oder heiß ist.

Alles konzentriert sich eben nur auf eines. Das kann die Lösung komplizierter mathematischer Aufgaben sein oder etwa das Entwickeln einer Software. Wegen dieser Eigenschaften sind Autisten mittlerweile sehr beliebt in Hightech-Unternehmen, denn sie lassen sich meist durch nichts und niemanden von der Arbeit ablenken.

Achtsamkeit ist wichtig

Ideale Bedingungen für das Leben eines Autisten gibt es nicht. Jedes Geräusch oder auch blinkende Lichter können den Reizpegel verstärken und damit den Stress. Dafür aber gibt es keine gängige Maßeinheit, die auf alle zutrifft.

"Ich empfehle in der Regel anderen Autisten eine Sport-Watch, die Blutdruck und den Puls misst. Daran kann man ganz gut ablesen, wie hoch der Stresspegel gerade ist", sagt Zehrer.

Und der Stresspegel kann sogar in eigentlich entspannten Situationen ansteigen. "Ich kann in den Wald gehen, da ganz für mich alleine sein und trotzdem mein Gehirn überladen, weil im falschen Moment vielleicht das Licht aus der falschen Richtung kommt, weil ich zu viel rieche, weil ein Vogel singt, der nicht eingeplant war. Es gibt keine Umwelt, in der ich als Autist nicht auf meinen Autismus achten müsste."

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Image caption Autisten können zu viele Sinneseindrücke meist nicht verarbeiten
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Item 64
Id 65184054
Date 2024-03-31
Title Aprilscherze in Zeiten von Fake News
Short title Aprilscherze in Zeiten von Fake News
Teaser Am 1. April dachte sich die Presse früher wilde Geschichten aus, in Zeiten von Fake News geht das nicht mehr so einfach. Mit welchen Aprilscherzen Medien Schlagzeilen machten und warum sie heute darauf verzichten.
Short teaser Früher dachte sich die Presse am 1. April wilde Geschichten aus, in Zeiten von Fake News geht das nicht mehr so leicht.
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Wie ist der Aprilscherz eigentlich entstanden? Schon darum ranken sich Mythen. Hartnäckig hält sich die Legende, dass dies mit der Kalenderumstellung im Jahr 1582 zusammenhängen könnte. Damals, 20 Jahre nach dem Konzil von Trient, wurde der julianische Kalender abgeschafft unddurch den gregorianischen ersetzt. Papst Gregor XIII. wollte es so: Das neue Jahr sollte am 1. Januar beginnen. Doch wer den Umstellungstermin verpasst hatte, hielt weiterhin den 1. April für den ersten Tag des neuen Jahres. Und wurde so zur Zielscheibe des Spotts - der Aprilscherz war geboren.

Aber auch andere Theorien halten sich hartnäckig. Bis heute machen Aprilscherze die Runde, meist lustige Schwindeleien, die mit einem "April, April" enden. Auch die Medien wagten sich vor, wie etwa die BBC am 1. April 1957, als sie in ihrem Vorzeigeprogramm Panorama einen dreiminütigen Film ausstrahlte, der eine Familie in der Südschweiz zeigte, die angeblich Spaghetti von einem Spaghettibaum erntete. Da Spaghetti im Vereinigten Königreich zu dieser Zeit ein relativ unbekanntes Produkt waren, wandten sich viele Zuschauer an die BBC und baten um Rat, wie sie ihre eigenen Spaghettibäume anbauen könnten.

Wenn Aprilscherze missverstanden werden

Heutzutage gehen viele Nachrichten in den soziale Medien viral. Das birgt die Gefahr, dass Witze für bare Münze genommen werden können und sogar weltweit für Schlagzeilen sorgen, was wiederum den Medien schadet, die immer häufiger zu Unrecht verdächtigt werden, Fake News zu verbreiten. Oder umgekehrt, dass ihre Aprilscherze mit der Realität verwechselt werden.

So veröffentlichte die Internetplattform "Futurism.com 2017" einen Artikel mit der Überschrift "Pluto wurde offiziell als Planet eingestuft" und fügte obendrein die Statusänderung der Internationalen Astronomischen Union hinzu. Obwohl es sich um einen Aprilscherz handelte, wurde diese "Nachricht" von anderen Websites ohne jeglichen Faktencheck übernommen. Als der Wörterbuchverlag Collins "Fake News" zum Wort des Jahres 2017 deklarierte, veranlasste das diverse Zeitungen weltweit, von der Tradition der Veröffentlichung von Aprilscherzen abzusehen.

Redaktionen verabschieden die Aprilscherztradtion

Magnus Karlsson, Chefredakteur der schwedischen Tageszeitung Smalandsposten, erklärte auf der Website des Blatts, er wolle nicht, dass die Marke der Zeitung "mit einer potenziell viralen und falschen Geschichte beschädigt wird". "Wir arbeiten mit echten Nachrichten, auch am 1. April", schrieb er. In der Zwischenzeit haben viele namhafte "Scherzkekse", darunter auch Google, auf die Aprilscherztradition verzichtet. Seit dem Pandemiejahr 2020 kamen mit der Entdeckung des Corona-Virus nämlich bereits sehr viele Fehlinformationen in Umlauf.

Trotzdem verkneifen wir es uns jetzt nicht, ein paar Streiche aufzuzählen, die am 1. April für Schlagzeilen gesorgt haben:

1977: Kennen Sie den Weg nach San Serriffe?

Der Guardian berichtete am 1. April über den 10. Unabhängigkeitstag der tropischen Insel San Serriffe, einem Paradies in Form eines Strichpunkts in der Nähe der Seychellen. Dem siebenseitigen Bericht lag eine Karte des Archipels bei, auf der Orte, Häfen und Gegenden verzeichnet waren, deren Namen allesamt Wortspiele aus Schriftarten und Schriftbildern waren.

1993: Um der Fortpflanzung willen

Der Westdeutsche Rundfunk meldet einen Erlass der Stadt Köln, wonach Jogger nur noch mit einer Höchstgeschwindigkeit von 10 Kilometern pro Stunde durch die Parks der Stadt laufen dürfen. Ein höheres Tempo wäre für die Eichhörnchen in der Paarungszeit nicht förderlich.

2009: Aufregung um gefälschte Pandas

In der Taipei Times hieß es: "Die Beziehungen zwischen Taiwan und China haben gestern einen schweren Rückschlag erlitten, als sich herausstellte, dass die Pandas des Taipeh-Zoos nicht das sind, was sie zu sein scheinen."

2016: Keine Nacktheit bitte

National Geographic, bekannt für seine Naturdokumentationen, kündigte 2016 via Twitter an, dass sie keine Fotos von nackten Tieren mehr veröffentlichen werden.

Adaption aus dem Englischen: Sabine Oelze

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Image caption Am 1. April ist es erlaubt, sich Scherze zu erlauben, aber die haben sich gewandelt
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Item 65
Id 68690887
Date 2024-03-30
Title "Damals" - ein Comic über ältere queere Menschen
Short title "Damals" - ein Comic über ältere queere Menschen
Teaser Ein neues Buch im Berliner Verlag "Moom Comics" will älteren queeren Menschen eine Stimme geben. 14 Illustratoren setzen die Lebensgeschichten von LGBTQ-Menschen ins Bild.
Short teaser Ein neues Buch des queeren Berliner Comic-Verlags Moom Comics illustriert die Lebensgeschichten älterer LGBTQ-Menschen.
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"Ich war 23, als ich von meinem Elternhaus nach Chemnitz zog. Und dann begann das wahre Leben", heißt es auf einer Seite des Comics "Damals". Die Illustration zeigt einen jungen Mann mit freudig ausgebreiteten Armen vor einer Discokugel in der ostdeutschen Stadt. "Chemnitz klingt für die meisten Menschen unglaublich langweilig. Es hat einen schlechten Ruf", lautet der Text im nächsten Bild. "Für mich als jungen Schwulen, der hier eine kleine Community, schwule Clubs und vieles andere gefunden hat, war es der beste Ort der Welt."

Der Comic ist von dem Zeichner Jean-Côme in Schwarz, Weiß und Gelb illustriert. Es ist eine von mehreren Geschichten aus der Graphic Novel "Damals". Im Mai kommt der Sammelband im Berliner Comic-Verlag Moom Comics auf Deutsch und Englisch heraus.

Das Buch ist ein Herzensprojekt von Moom Comics-Gründer Lukasz Majcher. Der 39-Jährige, der 2015 aus seiner polnischen Heimat nach Berlin gezogen ist, ist schon lange von den Geschichten schwuler Männer über 50 fasziniert. Auch dank des Freundeskreises, den er mit seinem Partner Stefan, 53, teilt. "Ich habe so viel Zeit mit diesen Jungs verbracht. Sie sprechen häufig über das schwule Leben in den 1980er Jahren. Mein Freund Malcolm zum Beispiel hat die AIDS-Pandemie überlebt", erzählt Majcher im DW-Gespräch. "Mir wurde schnell klar, dass die Leute heute, vor allem die jüngeren, keine Ahnung haben, wie es für die Menschen war, die sich damals geoutet haben. Deshalb heißt das Buch auch 'Damals'."

Zusammen mit 13 anderen Comiczeichnerinnen und -zeichnern machte er sich daran, die Geschichten von zwölf queeren Menschen über 50 zu recherchieren. Ihre Geschichten werden durch lebendige Illustrationen im Stil der einzelnen Künstler erzählt. Über mehrere Monate führten die Zeichnerinnen und Zeichner Interviews, erstellten Storyboards und illustrierten dann Geschichten aus der Kindheit und Jugend der Protagonistinnen und Protagonisten.

Geteiltes Leid

Alle interviewten Personen leben heute in Berlin. Und obwohl einige von ihnen aus Majchers Freundeskreis stammen, erfuhr er während des Entstehungsprozesses des Sammelbands noch viel mehr über sie.

Als er die Interviews führte, fiel ihm auf, wie schwierig es für die befragten LGBTQ-Personen war, genau zu verstehen, wer sie waren und was sie vor mehreren Jahrzehnten - vor dem Internet - erlebt hatten. "Sie hatten damals ja keine Mittel, sich über Sexualität aufzuklären, wie wir sie heute haben - sie mussten alles durch Intuition lernen. Es war also sehr schwierig für sie, herauszufinden, was mit ihnen los war - ob sie 'normal' waren. Viele von ihnen hatten Angst, dass sie psychische Probleme hätten oder pervers wären - auch wegen der gesellschaftlichen Stigmatisierung", berichtet Majcher.

Viele der befragten Personen hätten Jahre gebraucht, um zu verstehen und zu akzeptieren, wer sie wirklich sind. "Mein Partner Stefan, der auch in dem Buch vorkommt, war zum Beispiel immer davon überzeugt, dass es für Jungen normal ist, andere Jungen zu beobachten und sich sogar von deren Körperbau angezogen zu fühlen. Er hielt diese sexuellen Gefühle für normal, obwohl er niemanden hatte, mit dem er darüber sprechen konnte." Da es damals nur wenige Menschen gab, an die man sich wenden konnten, "schuf man seine eigene Definitionen von Sexualität", sagt Majcher.

Ein Comic-Verlag der sich queeren Geschichten widmet

In seiner Heimat Polen arbeitete Majcher im Marketing und auf Musikfestivals. 2015 zog er für die Liebe nach Berlin. Es war nicht einfach für ihn. Während er sich anstrengte, Deutsch zu lernen, nahm er eine Reihe von Nebenjobs an. Er putzte unter anderem Toiletten am Flughafen. "Ich habe mein ganzes Leben lang Comics gezeichnet, aber nie professionell - ich hatte das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Aber dann traf ich die richtigen Leute, die mich davon überzeugten, dass ich mehr Talent habe, als ich dachte." Schließlich begann er, seine eigenen Comics zu veröffentlichen, und beschloss 2023, den nächsten Schritt zu tun und seinen eigenen unabhängigen Comic-Verlag, Moom Comics, in Berlin zu gründen, um auch die Arbeiten anderer queerer Künstlerinnen und Künstler veröffentlichen zu können.

Moom Comics ist der erste Comic-Verlag in Deutschland, der sich ganz auf queere Themen konzentriert. Zu den bisherigen Veröffentlichungen gehört die Superhelden-Serie "Power Bear", die sich mit psychischer Gesundheit befasst. Der Comicheld ist Max, ein Büroangestellter aus Berlin, der eines Tages übermenschliche Fähigkeiten erlangt.

Die Hauptfiguren der verkauften Bücher sind zwar queer, "aber unsere Comics richten sich an alle Leserinnen und Leser. Unabhängig von Hautfarbe, Nationalität und Weltanschauung", sagt Majcher. Dass er einen unabhängigen Verlag hat, gebe ihm die Freiheit, zu veröffentlichen, was er will, ohne sich an Mainstream-Normen halten zu müssen, führt er aus. "Ich denke, ein Comic ist eine großartige Möglichkeit, verschiedene Arten von Menschen zu zeigen".

Majcher hofft auch, dass der jetzt erscheinende Sammelband dazu beitragen wird, die Alterskluft innerhalb der LGBTQ-Gemeinschaft zu überbrücken. Das sei besonders wichtig, weil viele Medien - ebenso wie Social-Media-Plattformen wie TikTok oder Instagram - queere Stimmen in dieser Altersgruppe oft überhörten und sich lieber auf jüngere, "schönere" Menschen konzentrierten.

"Das ist heutzutage ein wirklich großes Thema: Was ist mit queeren Menschen, wenn sie älter werden?" Sie hätten es oft nicht einfach. "Viele haben keine große Familie - manche nur ihren Partner". Dabei sei es so wichtig, sagt Majcher, Empathie aufzubringen und die Kluft zwischen den Generationen zu überbrücken.

Adaption aus dem Englischen: Kevin Tschierse

Item URL https://www.dw.com/de/damals-ein-comic-über-ältere-queere-menschen/a-68690887?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Die Graphic Novel "Damals" illustriert zwölf queere Geschichten
Image source Moom Comics
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Item 66
Id 68681501
Date 2024-03-28
Title Appell für mehr Menschlichkeit: Bachs Johannes-Passion
Short title Appell für Menschlichkeit: Bachs Johannes-Passion
Teaser Kein Osterfest ohne die Johannes-Passion: Am Karfreitag 1724 wurde Bachs Meisterwerk uraufgeführt. Es kreist um Liebe und Verrat - und ist heute so aktuell wie vor 300 Jahren.
Short teaser Am Karfreitag 1724 wurde Bachs Meisterwerk uraufgeführt. Es kreist um Liebe und Verrat - und ist noch immer hochaktuell.
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Ein 33-jähriger Mann wird eines Verbrechens beschuldigt, das er nicht begangen hat. Er wird verhaftet, gefoltert und stirbt am Kreuz. Seine Mitmenschen, darunter seine Mutter, müssen die grausamen Qualen mit ansehen und können nichts tun. Dieses schwarze Kapitel in der Geschichte des Christentums wird von einem Zeugen persönlich und eindringlich geschildert: dem Evangelisten Johannes, einem engen Freund des Opfers. Der Ermordete heißt Jesus.

So könnte man das Thema der Johannes-Passion zusammenfassen - jenes Werks von Johann Sebastian Bach, das vielen neben Beethovens Neunter Symphonie als die größte Errungenschaft der europäischen Musik, ja der europäischen Kultur überhaupt gilt.

"Es sind die zeitlosen Themen, die dieses Werk so aktuell und universell machen", so Michael Maul, Bachforscher und Intendant des Leipziger Bachfestes, zur DW. "Liebe und Mitleid. Der Umgang mit Verrat, mit Trauer. Man muss kein gläubiger Christ oder gar Lutheraner sein, um das zu spüren."

Ostern vor 300 Jahren

7. April 1724, Karfreitag. Es ist das erste Osterfest in Leipzig für den 39-jährigen Komponisten Johann Sebastian Bach. Vor knapp einem Jahr ist er mit seiner zweiten Frau Anna Magdalena und den vier Kindern aus erster Ehe in die sächsische Messestadt gezogen - als Thomaskantor, also als Chef der gesamten städtischen Musik inklusive der 54 Chorknaben der Thomaskirche. Eine nicht immer dankbare Aufgabe.

Für die Leipziger war der Köthener Kapellmeister Bach bei weitem nicht die erste Wahl: "Da man von den Besten keinen bekommen kann, so bleibt nichts anderes übrig, als sich an einen Mittleren zu wenden", hieß es enttäuscht aus dem Rathaus.

Aber Bach ist ehrgeizig, er will, er muss sich beweisen. Die Karwochen-Musik ist dafür das beste Mittel: Sie ist so etwas wie die Königsdisziplin, das zentrale musikalische Ereignis des Kirchenjahres. Die große Karfreitagsmusik erklingt nach dem "tempus clausum", einer mehrwöchigen musikalischen Abstinenz in der Fastenzeit.

Und es ist das einzige Mal im Jahr, dass der Thomaskantor auf alle musikalischen Kräfte der Stadt zurückgreifen kann, die sonst auf die vier Leipziger Hauptkirchen verteilt sind: nicht nur sämtliche Internatsschüler der Thomaskirche, sondern auch vier Stadtpfeifer und ganze drei Kunstgeiger samt Gesellen.

Es ist aber nicht genug für den Komponisten: Für seine zwei Stunden Musik mit etwa 40 sich abwechselnden Chören, Arien, Rezitativen und Chorälen braucht er noch vier Solisten, zwei Flöten, zwei Oboen, sowie weitere klangschöne Luxusinstrumente wie Oboe da caccia, Viola d'amore oder Laute. Mindestens 15 Musiker insgesamt, dem Chor gehört ein Drittel des Werkes.

Ein Blockbuster also.

Reaktionen auf die Johannes-Passion sind nicht überliefert

Doch so detailliert das bürokratische Theater im Vorfeld der Aufführung überliefert ist, so wenig weiß man darüber, wie das Werk seinerzeit bei den Zuhörern ankam. "Wir haben noch nicht den Zeitzeugen gefunden, der wirklich auspackt und aufschreibt, wie er dieses Meisterwerk empfunden hat", bedauert Michael Maul mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Zu bedauern sei auch, dass es damals noch keine Tonaufnahmen gab. "Sonst würde man vielleicht über manches staunen: die Klangästhetik, die Tempi."

Manch einer mag überwältigt gewesen sein, denn Bachs Musik ist drastisch, dramatisch, fast aggressiv. Man kann auch wohl davon ausgehen, dass die Gemeinde am Ende erschöpft war - denn mit Predigten und anderen "Texteinlagen" dauerte das Ganze fast fünf Stunden. Aber immerhin, da sind sich die Forscher einig, hat kein Handy geklingelt.

Passion in der Corona-Zeit

Es ist wieder Karfreitag in Leipzig - man schreibt den 10. April 2020, mitten in der Corona-Pandemie. An eine Aufführung der Passionen ist nicht zu denken, nirgendwo auf der Welt. Doch das Bachfest Leipzig schreibt Geschichte: Mit einer kleinen Gruppe kreativer Köpfe entwickelt es ein einzigartiges Kunstprojekt. Zur Todesstunde Jesu, um 15 Uhr, erklingt an Bachs Grab in der Thomaskirche eine Fassung der Johannes-Passion, die gerade mal von drei Künstlern umgesetzt wird.

Im Mittelpunkt stehen der Schlagzeuger Philipp Lamprecht, die Cembalistin Elina Albach und der Tenor Benedikt Kristjánsson, der Bachs Werk weitgehend als One-Man-Show präsentiert. In dieser reduzierten Form verliert Bachs Musik mitunter an Farbigkeit, dafür kommt die Botschaft der Passionen umso drastischer und klarer zur Geltung. Mit von der Partie ist Steven Walter, der designierte Intendant des Beethovenfestes Bonn, von dem die Idee der Passion als Trio stammt.

Die Aufführung wird live gestreamt, die weltweite Bach-Gemeinde ist zum Mitsingen eingeladen. Das Video wird millionenfach angeklickt.

Johannes-Passion als Live-Ticker

Mehr als 50 Mal wurde das Erfolgsprojekt seither an verschiedenen Orten aufgeführt. "Ich finde, die Johannes-Passion ist tatsächlich immer noch ein Werk, das uns auch 300 Jahre nach der Uraufführung unglaublich viel zu erzählen hat, und sie klingt jedes Mal anders", sagt Elina Albach im Gespräch mit der DW. "Bei jeder Aufführung, bei jedem Konzert haben wir das Gefühl, die Geschichte neu zu erzählen."

So war es auch in der Passionszeit 2022, als die Bilder aus dem ukrainischen Butscha die Welt erschütterten. "An diesem Tag haben wir die Johannespassion gespielt", erinnert sich Albach. "Und plötzlich klangen die Rezitative und Kreuzigungstexte wie Zeitungsmeldungen oder Nachrichten, die uns aus der Ukraine sozusagen live im Ticker erreichten..."

"Bach entlarvt, Bach klagt an, aber Bach tröstet auch", sagt die Musikwissenschaftlerin Particia Siegert. Und: "Er hält uns allen einen Spiegel vor, voller Nachdenklichkeit über Verantwortung, Liebe, Leben und Tod."

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Image caption Ein Mutter trauert am Grab ihres Sohnes in Butscha, Ukraine
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Item 67
Id 68676632
Date 2024-03-27
Title US-Stahlbildhauer Richard Serra ist tot
Short title US-Stahlbildhauer Richard Serra ist tot
Teaser Das Schwere machte er leicht: Richard Serra schuf Skulpturen aus Stahlplatten von gigantischen Ausmaßen. Viele von ihnen ließ er in Deutschland produzieren. Jetzt ist der US-Amerikaner im Alter von 85 Jahren gestorben.
Short teaser Das Schwere machte er leicht. Mit Serra ist einer der bedeutendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts ist gestorben.
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Was wäre die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts ohne Richard Serra? Ohne sein unerschütterliches Vertrauen in die wundersamen Energien der Schwerkraft und das Zusammenspiel von Technik und Natur. Sein ganzes Leben lang hat er daran gearbeitet, Werke zu schaffen, die mit ihrer Umgebung interagieren und die erst durch den Betrachter vollendet werden. Denn nur, wer einmal eine Skulptur von Serra betreten oder sie langsamen Schrittes umrundet hat, weiß, wie sehr diese Werke für den Menschen geschaffen wurden. Und das, obwohl ihr Volumen menschliche Maße weit übersteigt. Serras Skulpturen wachsen in den Himmel, sind tonnenschwer, stellen sich den Menschen in den Weg oder verschmelzen mit der Natur.

Richard Serra war eine Mischung aus Bildhauer und Baumeister

Serra sah sich selbst nicht als Bildhauer, sondern als Baumeister. Das lag daran, dass er viele Skulpturen für den öffentlichen Raum schuf: auf Verkehrsinseln, vor Museen, in Parks. Außerdem verlangte das Material Stahl, das er in den 1970er-Jahren für seine Kunst entdeckte, eine besondere Logistik. Serra arbeitete nicht in der Abgeschiedenheit des Ateliers: sondern mit Ingenieuren, Stadtplanern, Transportarbeitern und Monteuren. Anderswo als in den Hallen der Schwerindustrie war es gar nicht möglich, seine Riesenkunst zu produzieren.

Die bedeutendsten seiner Stahlskulpturen wurden in deutschen Stahlhütten gefertigt. BeiThyssen in Hattingen oder bei Krupp am Niederrhein. Das Ruhrgebietnannte Serra deshalb einmal sein "wahres Atelier". Nicht nur dort, auch im Saarland ließ er produzieren. Er verwendete Cor-Ten-Stahl, ein Edelroststahl, der besonders aufwendig zu bearbeiten war. Dieser hatte den Vorteil, beim Verwittern keinen Rost im herkömmlichen Sinn zu bilden. Es entstand eine braun-violette Färbung, eine spezielle Farbigkeit, die Serra als "Patina" bezeichnete.

Sohn einer Einwandererfamilie

Richard Serra wurde als Sohn einer jüdisch-russischen Mutter und eines spanischen Vaters am 2. November 1939 in San Francisco geboren. Er war der erste gebürtige US-Amerikaner seiner Familie, was ihm ermöglichte, wie er selbst einmal sagte, "einen kritischen Blick auf sein Heimatland zu werfen". Nach dem Studium der englischen Literatur in Berkeley begann er in Yale Kunst zu studieren und wurde zum Assistenten des deutschen Exilkünstlers Josef Albers. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, schuftete er in einem Stahlwerk.

Schon in seinem Frühwerk, bei dem er mit Gummi und Blei arbeitete, machte er sich auf die Suche nach einer eigenen Formensprache. Seine ersten Schritte richteten sich gegen die fest definierten Regeln der Minimal Art: Gummistreifen ließ er wie Halfter von der Wand hängen, 1968 schleuderte er flüssiges Blei in Raumecken. Auch seine stählernen Skulpturen aus geraden, gekurvten, gekippten Platten waren nicht "L'Art pour l'Art", sondern bauten eine Beziehung mit der Umgebung auf.

Serra wurde auf der Documenta in Kassel entdeckt

1977 war Richard Serra zum zweiten Mal zur Weltkunstschau Documenta nach Kassel eingeladen. Für die Ausstellungszeit von 100 Tagen stellte er die Skulptur "Terminal", Endstation, vor dem Fridericianum, dem zentralen Ausstellungsgebäude, auf. Drei gigantische Stahlplatten lehnten so aneinander, dass sie aussahen, als könnten sie jederzeit kollabieren. Nach dem Ende der Ausstellung wurde "Terminal" für 300 000 Mark nach Bochum verkauft, wo die Skulptur auf einer Verkehrsinsel in der Nähe des Bahnhofs aufgestellt wurde. Der Ankauf sorgte für großes Aufsehen und erntete auch viel Protest in der Bergarbeiterstadt, die so viel Geld für "Schrott" für Verschwendung hielten. 2005 schuf Serra für das Guggenheim Museum in Bilbao (Spanien) eine begehbare Installation aus 7 monumentalen Stahlskulpturen - zu diesem Zeitpunkt mit 20 Millionen € das teuerste und mit gut 1000 Tonnen Gewicht wohl auch das schwerste Auftragswerk, das je für einen Museumsraum entwickelt wurde.

Ortsbezogenheit von Serras Kunst

Richard Serra war ein Künstler, der wie kaum ein anderer ortsbezogen gearbeitet hat, ja der dem Begriff "site-specific" in der Kunstgeschichte eine neue Bedeutung gegeben hat. Er entwarf seine Stahlarbeiten für jeden Ort neu: In der Planungsphase baute er maßstabsgetreue Modelle und simulierte die Umgebung. So konnte er seine Werke perfekt an den Raum anpassen. Mal ordneten sie sich der Natur unter. Mal stellten sie sich dem Betrachter provokativ in den Weg - wie in Bochum - oder zwangen ihn, seinen Weg zu ändern. Immer sind sie von überwältigender physischer Präsenz.

In einem Interview aus dem Jahre 1980 äußert sich Serra ausführlich zu den kontextuellen Bezügen seiner Skulpturen: "Ich glaube, dass wenn Skulptur überhaupt ein Potential hat, dann das, sich ihren eigenen Ort und Raum zu schaffen und sich in Widerspruch zu den Räumen und Orten zu stellen, für die sie gemacht wurde." Mit Richard Serra ist ein großer und visionärer Künstler gestorben. Er starb im Alter von 85 Jahren in New York an den Folgen einer Lungenentzündung.

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Image caption US-Künstler Richard Serra
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Item 68
Id 68542931
Date 2024-03-26
Title Impfung gegen Kokainsucht – funktioniert das?
Short title Impfung gegen Kokainsucht – funktioniert das?
Teaser Brasilien entwickelt eine Impfung, die gegen Kokainsucht helfen könnte. Antikörper bremsen den Rausch und sollen vor Abhängigkeit schützen. Doch es gibt auch Bedenken.
Short teaser Brasilien entwickelt eine Impfung, die gegen Kokainsucht helfen könnte. Doch es gibt auch Bedenken.
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Der Kokainkonsum ist auf einem Rekordhoch: Nach Berechnungen der Vereinten Nationen konsumierten im Jahr 2021 ungefähr 22 Millionen Menschen den Stoff, der aus Cocablättern des Cocastrauchs gewonnen wird. Das sind mehr Menschen als im US-Bundesstaat New York leben. In Europa ist Kokain die zweithäufigste illegale Droge nach Cannabis. Auch in Deutschland gibt es einen hohen Kokain-Konsum, wie Abwasseranalysen zeigen.

Die Droge macht stark abhängig und schädigt lebenswichtige Organe. Der Konsum bringt den Kreislauf an seine Grenzen - vergleichbar mit einem Marathon. Ein Entzug wiederum geht mit großer körperlicher und mentaler Belastung einher. In Brasilien entwickeln Forschende jetzt eine Impfung, die bei der Therapie unterstützen soll.

Wie wirkt Koks?

Die meisten Konsumenten ziehen Kokain oder Koks als Pulver durch die Nase. Alternativ wird es mit einer Pfeife als Crack geraucht. Die Substanz gelangt über das Blut ins Gehirn. Dort regt die Droge den Körper dazu an, verschiedene Botenstoffe auszuschütten - darunter Dopamin. Das alles beherrschende Gefühl: intensive Euphorie.

Der Körper ist hyperaktiv und gereizt. Das Herz pumpt bereits auf voller Leistung, während sich die Arterien verengen. Der Blutdruck steigt ebenso wie die Körpertemperatur. Bedürfnisse wie Hunger und Durst werden unwichtig. Im schlimmsten Fall kann der Trip zu Krämpfen führen oder im Koma enden - bis hin zum Atem- und Herzstillstand.

Der Rausch dauert zwischen fünf und dreißig Minuten. "Es fühlt sich an, als seien alle Ampeln auf Grün gestellt", beschreibt Hanspeter Eckert den Rausch. Er ist Therapeut bei einem Berliner Verein für Drogentherapie.

Das Gehirn prägt sich ein: Das war intensiv und großartig, das will ich wieder erleben! Der Körper speichert den Konsum als "überlebenswichtig", so Eckert. Das Verlangen nach mehr Kokain dominiert die Gedanken. Die inneren Stimmen, die vor den Folgen warnen, werden leiser. Gesundheit, soziale Kontakte und Beruf werden vernachlässigt. Eine Sucht entwickelt sich.

Impfung gegen Kokainsucht als Lösung?

Die Anti-Kokain-Impfung kann bei der Behandlung der Sucht helfen. Nach der Impfung bilden sich Antikörper im Blut. Diese Antikörper binden gezielt an das Kokain. Der Stoff ist damit zu groß, um die Blut-Hirn-Schranke zu passieren. So kann das Gehirn nicht stimuliert werden. Der Rausch bleibt aus.

Die Hirnreaktionen, die normalerweise das Verlangen nach der Droge auslösen, werden unterbunden. Dadurch nimmt der Patient die Droge anders wahr, sagt Frederico Garcia von der brasilianischen Universität UFMG, in einem Interview mit DW Brasil.Sein Forschungsteam hat Versuche mit dem Impfstoff an Ratten durchgeführt.

Garcia glaubt, dass die Ergebnisse aus den Tierversuchen auf den Menschen übertragbar sein könnten. Es wäre der erste Anti-Kokain-Impfstoff weltweit, der zur Therapie eingesetzt würde. Weitere Forschungsteams in den USA arbeiten ebenfalls an Impfstoffen. Derzeit stehen klinische Studien am Menschen noch aus, und es ist daher ungewiss, wann und ob es eine Impfung für Kokainsüchtige tatsächlich geben wird.

Kann die Impfung vor Sucht schützen?

Therapeut Eckert begrüßt die Impfstoff-Forschung grundsätzlich: Bleibt der Rausch aus, darf der Kopf zur Ruhe kommen. Der Körper kann sich von der permanenten Reizung befreien. Der Mensch kann positive Erfahrungen machen und merkt: Das gute Gefühl liegt an mir selbst und nicht an der Droge.

Skeptisch ist Eckert dennoch, denn eine Therapie sei harte Arbeit. Er braucht für die Behandlung mindestens ein Jahr. Süchtige lernen, ihren Körper und ihre Psyche zu verstehen. Sie sprechen über ihre Gefühle und Probleme - und müssen schwierige Entscheidungen treffen. Von welchen Freunden sollte ich mich fernhalten? Wie ertrage ich die körperlichen Schmerzen? Durch diesen Prozess erarbeiten sie sich mehr Kontrolle über ihr Leben.

Zur Vorsorge oder für Gelegenheits-Konsumierende ist die Impfung nicht gedacht. Eckert warnt, dass bei Geimpften die Gefahr einer Überdosierung bestehe. Denn aufgrund der Impfung "kickt" der Rausch nicht. Die Person greift eventuell nach einer höheren Dosis, die den Kreislauf überlasten kann - Herz- und Atemstillstand können die Folge sein.

Marica Ferri von der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EMCDDA) hat weitere Bedenken: "Die Substanz selbst ist kein isoliertes Problem." Nur weil nicht mehr gekokst werde, seien nicht automatisch alle Probleme gelöst. Körperliche Schäden müssten heilen, ebenso wie die mentale Gesundheit. In einer Therapie werde auch an der Psyche gearbeitet und am sozialen Umfeld. "Das braucht Zeit", sagt Ferri.

Sie strebt nach umfassenderen Lösungen. Als Expertin für öffentliche Gesundheit kämpft sie für mehr Therapieplätze. Die Impfung sei für einen kleinen Teil der Menschen geeignet, die bereits in Therapie sind, so Ferri.

Quellen:

European Monitoring Centre for Drugs and Drug Addiction (EMCDDA): "New psychoactive substances" in the European Drug Report 2023: https://www.emcdda.europa.eu/publications/european-drug-report/2023/new-psychoactive-substances_en

Safety and immunogenicity of the anti-cocaine vaccine UFMG-VAC-V4N2 in a non-human primate model. Published in the National Library of Medicine by Brian Sabato, Augusto PSA et al 2023: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/36822966/

Global report on Cocaine 2023 – Local dynamics, global challenge: https://www.unodc.org/documents/data-and-analysis/cocaine/Global_cocaine_report_2023.pdf

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Image caption Die meisten ziehen Kokain als Pulver durch die Nase. Alternativ wird es mit einer Pfeife als Crack geraucht.
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Item 69
Id 68623566
Date 2024-03-25
Title Luzides Träumen: Nie wieder Albträume?
Short title Luzides Träumen: Nie wieder Albträume?
Teaser Den eigenen Traum kontrollieren und die Leistung steigern? Luzide Träume machen das möglich. In der Psychotherapie helfen sie gegen Traumata und Albträume. Doch die Superpower birgt auch Risiken.
Short teaser Wer luzide träumt, kontrolliert seine Träume. Die Psychotherapie nutzt dies gegen Traumata. Aber es gibt auch Risiken.
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Wie ein Vogel fliegen oder den Albtraum kontrollieren - was wie eine Superkraft klingt, macht luzides Träumen möglich. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Traum und Realität: eine schlafende Person träumt, ist sich dieser Situation aber vollkommen bewusst. Oft kann sich der Träumende auch frei entscheiden und aktiv in den Traum eingreifen. Die Erfahrung heißt deshalb auch Klartraum.

Luzides Träumen lernen

Nicht jeder hat dieses sonderbare Erlebnis oder kennt den Fachbegriff dafür: Wie eine Meta-Analyse zeigt, meint jeder Zweite, schon einmal einen Klartraum erlebt zu haben. Etwa ein Viertel aller Erwachsenen erlebt luzide Träume auch regelmäßig.

Wer nie oder nur selten luzid träumt, kann das ändern. Im Internet finden sich zahlreiche Lernmethoden. Deren wissenschaftliche Begutachtung falle jedoch nüchtern aus, beurteilt Psychologe Daniel Erlach. Da es bei Online-Kursen nicht wirklich eine Qualitätssicherung gibt, lässt sich oftmals schwer beurteilen, welche Kurse seriös sind.

Luzides Träumen lässt sich trainieren. Die einfachste Lerntechnik ist der Realitätscheck: Hier stellt man sich mehrmals am Tag die Frage: "Träume ich, oder bin ich wach?" Der Trick ist, diese Frage zur Gewohnheit zu machen, sodass sie auch im Traum auftaucht.

Am Tag und im Traum beantwortet man sich diese Frage mit einem Selbsttest, zum Beispiel sich selbst spürbar zu kneifen. Im wachen Zustand spürt man den Schmerz, im Traum jedoch misslingt der Test. Alternativ kann man sich auch Mund und Nase zuhalten. Wenn man trotzdem nach wie vor atmen kann, dann weiß man, dass man träumt.

Auch ein Traumtagebuch kann für luzides Träumen helfen. Wer häufiger mit Albträumen zu kämpfen hat, sollte sich aber nicht ohne therapeutische Begleitung an das luzide Träumen wagen.

Was passiert bei luziden Träumen?

Die Schlafforschung nimmt das Phänomen seit den 1980er Jahren stärker in den Fokus. (Traumforschung: Träum ich oder wach ich? - Spektrum der Wissenschaft).

Forschende konnten zeigen, dass Klarträume kurz vor dem Aufwachen in der REM (Rapid-Eye-Movement) -Phase stattfinden. Von außen kann man die REM-Phase an den raschen Augenbewegungen unter den Augenlidern erkennen. Anders als in der Tiefschlaf-Phase ist das Gehirn hier wieder aktiver.

Einige Hirnregionen sind beim luziden Träumen auffallend aktiv: "Dazu zählt zum Beispiel ein Hirnbereich, der im Wachzustand aktiv ist, wenn wir über uns selbst nachdenken", sagt Neurowissenschaftler Martin Dresler von der Radboud Universität in Nimwegen.

Bei Personen, die häufig luzid träumen, zeigt das Gehirn eine weitere Auffälligkeit: Bei ihnen ist das vordere Stirnhirn größer. Diese Region ist wichtig für die Selbstreflektion.

Klarträume können auch helfen, Bewegungsabläufe im Wachzustand zu verbessern, wenn sie vorher im Klartraum geübt wurden. Die Übungen im Traum sind ähnlich effektiv wie mentales Training.

Luzide Träume in der Psychotherapie

In der Therapie nehmen Klarträume an Bedeutung zu. Dr. Brigitte Holzinger ist Psychotherapeutin und eine Pionierin in der Schlaf- und Traumforschung. "Es ist gelungen zu zeigen, dass luzides Träumen für Albtraumbewältigung wirklich hervorragend geeignet ist", berichtet Holzinger.

Der Kampf gegen Albträume ist besonders wichtig für Personen, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden. Betroffene haben eine extreme Belastung oder Bedrohung erlebt. In Albträumen müssen sie diesem traumatisierenden Ereignis immer wieder begegnen.

Das luzide Träumen kann PTBS-Patienten Selbstwirksamkeit, also ein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten schenken: "Meine Erfahrung ist, dass die Personen, die mit einer Traumatisierung die Albträume entwickelt haben, erst einmal eine riesige Erleichterung erfahren, wenn sie nicht mehr so hilflos sind", beschreibt Holzinger den Effekt.

Träumer mildern Traumata selber ab

In der Therapie gibt die Psychotherapeutin den Betroffenen keine strikte Lösung für den Albtraum vor: "Wir besprechen Möglichkeiten und was dann der Träumer, die Träumerin kreativ in den eigenen Träumern unternimmt, überlassen wir den Träumenden."

Im luziden Traum können die Patienten das traumatische Erlebnis mit eigenen Vorstellungen abmildern. Indem die Person sich zum Beispiel eine Gruppe von Menschen vorstellt, die sie beschützt oder unterstützt, so Holzinger.

Sie freut sich über die Fortschritte der Patienten im luziden Traum: "Zum Beispiel, dass sie gelernt haben, jemandem zu sagen 'Geh weg!'. Oder dass sie überhaupt gelernt haben, sich zu wehren."

Auch bei der Therapie von Schizophrenie können Klarträume helfen. Hier ist das Bewusstsein der Erkrankten gestört. Klarträume helfen, ihr Bewusstsein zu trainieren.

Risiken und Nebenwirkungen von luziden Träumen

Luzides Träumen ist für jeden attraktiv, der im Traum das Unmögliche möglich machen will. Doch die Psychotherapeutin rät, dem luziden Traum mit Respekt zu begegnen. Die Traumwelt habe auch ihre Schattenseiten: "Manche steigern sich da so rein, dass sie versuchen jede Nacht klar zu träumen", beschreibt Brigitte Holzinger. Klarträume könnten helfen, dürften aber keine Ersatzwelt werden.

Eine professionelle Begleitung der luziden Träume sei bei Personen mit starken Albträumen besonders wichtig. "Da muss man schrittweise arbeiten, man darf die Leute nicht überfordern", betont Holzinger.

Wer zu schnell und ohne Begleitung luzide Träume erfährt, könnte ungewollt das Gegenteil bewirken. "Dann kann man erst recht eine psychische Erkrankung entwickeln", warnt Holzinger.

Quellen:

Metacognitive Mechanisms Underlying Lucid Dreaming, https://www.jneurosci.org/content/35/3/1082

Lucid dreaming incidence: A quality effects meta-analysis of 50 years of research, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/27337287/

Effectiveness of motor practice in lucid dreams: a comparison with physical and mental practice, https://doi.org/10.1080/02640414.2015.1030342

Das Phänomen Klartraum, https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-662-58132-2_6

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Image caption Der Kampf gegen Albträume ist besonders wichtig für Personen, die an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden
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Item 70
Id 68652439
Date 2024-03-23
Title Zwei Raumfahrerinnen und ein Kosmonaut unterwegs zur ISS
Short title Zwei Raumfahrerinnen und ein Kosmonaut unterwegs zur ISS
Teaser Im zweiten Anlauf hat der Start in Baikonur geklappt: Eine neue Crew ist auf dem Weg zur Internationalen Raumstation. Erstmals an Bord: eine Kosmonautin aus Belarus.
Short teaser Im zweiten Anlauf hat der Start zur ISS geklappt. Erstmals an Bord: eine Kosmonautin aus Belarus.
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Um 13.36 Uhr Mitteleuropäischer Zeit grollte es in der Steppe der zentralasiatischen Republik Kasachstan: Eine Sojus-Trägerrakete mit dem Raumschiff "Sojus MS-25" an der Spitze hob vom russischen Kosmodrom Baikonur ab.

Die belarussische Kosmonautin Marina Wassilewskaja, die Astronautin Tracy Dyson aus den USA und der russische Kosmonaut Oleg Nowizki sind nun auf dem Weg zur Internationalen Raumstation ISS. "An Bord ist alles in Ordnung", versicherte Nowizki per Funk, als die Rakete auf dem Weg in den Weltraum war.

Der erste Startversuch war am Donnerstag 20 Sekunden vor dem Abheben wegen technischer Probleme abgebrochen worden. Der Chef der russischen Weltraumagentur Roskosmos, Juri Borisow, sprach später von einem "Spannungsabfall" bei einer Energiequelle während der Startvorbereitungen.

Geplante Ankunft: Montag

Nach einem gut 50-stündigen Flug soll die Sojus am Montag um 16.10 Uhr Mitteleuropäischer Zeit am russischen Teil der ISS andocken. Die Zusammenarbeit in der Raumfahrt läuft zwischen den an der ISS beteiligten Länder weiter - trotz der westlichen Sanktionen gegen Russland und Belarus und trotz der politischen Spannungen aufgrund des russischen Überfalls auf die Ukraine.

Marina Wassilewskaja ist die erste belarussische Frau, die in den Weltraum fliegt. Für Tracy Dyson ist es bereits der dritte Flug ins All, für Oleg Nowizki der vierte.

Wassilewskaja arbeitet bei der belarussischen Gesellschaft Belavia als Flugbegleiterin. Sie soll während ihres zweiwöchigen Aufenthalts auf der ISS wissenschaftliche Experimente absolvieren und Spektralaufnahmen von der Erdoberfläche machen. Anfang April soll sie nach Angaben der russischen Raumfahrtbehörde Roskosmos mit Nowizki und der US-Astronautin Loral O'Hara in der "Sojus MS-24" zur Erde zurückkehren.

Die Astronautin Dyson bleibt noch bis September auf der ISS und tritt dann mit den Kosmonauten Oleg Kononenko und Nikolai Tschub die Heimreise an. Der 59-jährige Kononenko ist Rekordhalter mit der längsten Aufenthaltsdauer auf der ISS. Bis zum Ende seines inzwischen fünften aktuellen Aufenthalts dort, der bis zum 23. September geplant ist, werden auf Kononenkos kosmischem Konto mehr als 1000 Tage im All stehen.

AR/al (dpa, afp)

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Image caption Startende Sojus-Rakete in Baikonur: 50-Stunden-Flug zur ISS
Image source Natalya Berezhnaya/Roscosmos space corporation/AP/dpa/picture alliance
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Item 71
Id 68642426
Date 2024-03-22
Title Wem gehört der Milliarden-Schatz der San José?
Short title Wem gehört der Milliarden-Schatz der San José?
Teaser Seit Jahrzehnten streiten Kolumbien, Spanien und eine Schatzsucherfirma um den Milliarden-Schatz der San José. Auch das indigene Volk der Qhara Qhara erhebt Ansprüche. Im April soll die Bergung des Schatzes beginnen.
Short teaser Kolumbien, Spanien, eine Schatzsucherfirma und Indigene streiten seit Jahrzenten. Im April soll die Bergung beginnen.
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Gold, Silber, Smaragde - mehrere Milliarden Euro soll der Schatz der San José heute wert sein. Das Wrack liegt in 600 Metern Tiefe vor der kolumbianischen Küste. Kolumbien will den Schatz nun bergen, obwohl noch gar nicht geklärt ist, wem der Schatz eigentlich gehört. Die Rechtslage ist kompliziert. Und da noch viele Wracks mit großen Kostbarkeiten an Bord auf ihre Entdeckung warten, ist der Rechtsstreit richtungsweisend.

Viele Verlierer an einem Tag

Um im "spanischen Erbfolgekrieg" den seit 1701 tobenden Krieg mit England, zu finanzieren, wollen die Spanier im Juni 1708 insgesamt 344 Tonnen Gold- und Silbermünzen sowie 116 Kisten mit Smaragden ins Mutterland bringen. Diese Kostbarkeiten hatten die Spanier in ihren amerikanischen Kolonien zusammengerafft.

Sicherheitshalber wurde der gewaltige Schatz auf mehrere Schiffe verteilt, so auch auf die mit 64 Kanonen bestückte Galeone San José, das Hauptschiff der spanischen Silberflotte. Eskortiert wurde die San José von zwei weiteren Galeonen und mehr als einem Dutzend Kriegsschiffen. Schließlich wurden voll beladene spanische Schiffe regelmäßig von englischen oder niederländischen Freibeutern überfallen.

Rund 30 Kilometer vor dem Hafen von Cartagena, das heute zu Kolumbien gehört, lauerten vier britische Kriegsschiffe den Spaniern auf. In der fast zehnstündigen Seeschlacht fing die San José Feuer. Bevor die Engländern die wertvolle Fracht rauben konnten, explodierte die Pulverkammer und in kürzester Zeit sank das Schiff mitsamt der kostbaren Ladung und Besatzung. 578 Menschen kamen ums Leben, es gab nur elf Überlebende. Der Schatz war für alle verloren. Eine Galeone konnten die Engländer kapern, die andere kehrte in den Hafen Cartagena zurück.

Das Gold der San José: verschollen, aber nicht vergessen

Die Erinnerung blieb, aber der kostbare Schatz lag mehr als 270 Jahre lang irgendwo vor der kolumbianischen Küste verborgen. Kolumbien selber war nicht in der Lage, nach dem Schatz zu suchen. Und so finanzierte 1979 ein US-amerikanischer Geschäftsmann eine private Schatzsuche. Vorab schloss seine private Firma Sea Search Armada (SSA) einen Vertrag mit dem kolumbianischen Staat, der ihnen im Erfolgsfall einen satten Anteil an dem Schatz zusichern sollte.

Und tatsächlich konnten die Schatzsucher das Wrack bald lokalisieren und erste, qualitativ noch bescheidene Filmaufnahmen machen. Doch statt Ruhm und Geld gab es nur Verhaftungen und Ärger. Kolumbien erkannte den Fund nicht an, die Firma habe illegal nach dem Schatz gesucht und überhaupt sei ja nicht klar, ob es sich bei dem Wrack auch tatsächlich um die San José handele.

Juristisches Tauziehen um einen Schatz auf dem Meeresgrund

Die US-Firma klagte wegen Vertragsbruchs, ein jahrelanger Rechtsstreit folgte. Im Jahr 2007 gab zunächst ein kolumbianisches Gericht der Bergungsfirma SSA recht. Allerdings klagte Kolumbien in den USA gegen das Urteil und gewann 2011 den Prozess. Denn laut internationalem Seerecht gehören alle Schätze bis zu 12 Seemeilen vor der Küste dem jeweiligen Land. Aber war dieses US-Gericht überhaupt zuständig?

Laut UNESCO-Konvention zum Schutz von Gütern auf dem Meeresgrund gehört ein solcher Fund eigentlich dem Herkunftsland, in diesem Fall also dem Schiffbesitzer Spanien. Eigentlich. Aber Kolumbien hat diese UNESCO-Konvention nicht unterzeichnet.

2015 beauftragte Kolumbien seinerseits eine US-amerikanische Bergungsfirma, die Ende November das Wrack nahe der Halbinsel Barú orten und anhand der markanten Kanonen auch zweifelsfrei identifizieren konnte. Auf den Video-Aufnahmen sind zwischen den Wrackteilen sehr deutlich die mit Delfinen und Pferden geschmückten Kanonen, Gold- und Silbermünzen und andere Kostbarkeiten wie chinesisches Porzellan zu sehen.

Viele erheben Anspruch auf den Schatz

Kolumbiens Staatspräsident Santos reklamierte den Fund für sein Land, nach der Bergung solle der Schatz in einem Museum in Cartagena ausgestellt werden. Aber auch Spanien und die Bergungsfirma SSA beanspruchen die Kostbarkeiten weiterhin für sich. Zudem fordert auch Bolivien einen Teil des Schatzes für das indigene Volk der Qhara Qhara, denen das Gold und Silber sowie die Smaragde einst geraubt worden seien.

Sehr viel Geld, sehr viele Interessen. Aber was steht wem zu? Hat Spanien nur Anspruch auf die Wrackteile, also auf das Holz und die Kanonen, oder auch auf die zusammengeraffte Ladung? Spielt es eine Rolle, dass das geraubte Gold und Silber zu Münzen verarbeitet wurde? Ändert dies etwas an dem Anspruch, den Kolumbien oder die Indigenen auf das geraubte Gold oder Silber erheben?

Was ist außerdem mit dem chinesischen Porzellan, das ursprünglich sicherlich nicht aus den spanischen Besitzungen stammt? Und was ist mit dem Vertrag zwischen der Bergungsfirma SSA und Kolumbien?

Komplizierte Rechtslage

Das Sprichwort "Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand" soll verdeutlichen, dass Verlauf und Ausgang eines Gerichtsverfahrens oftmals unkalkulierbar sind. Denn selbst wenn man Recht hat, bedeutet dies nicht, auch Recht zu bekommen.

Aus heutiger moralischer Sicht scheint es unverständlich, warum Spanien für seine einstigen Plündereien in Südamerika auch noch belohnt werden sollte. Oder warum Kolumbien möglicherweise einen Vertrag gebrochen hat oder internationale Abkommen einfach nicht anerkennt, gleichzeitig aber andere internationale Gesetze für sich in Anspruch nimmt.

Aber vor Gericht geht es eben nicht um Moral, sondern um Recht. Gerichte entscheiden in jedem einzelnen Fall auf der Grundlage der vorgelegten Beweise, Zeugenaussagen, Argumente und des geltenden Rechts. Und da der vorliegende Fall kompliziert ist und es um sehr viel Geld geht, wird der Rechtsstreit vermutlich noch Jahre weitergehen. Zumal nicht wirklich klar ist, welches Recht denn nun gilt und welche Instanz den Fall letztendlich entscheiden kann. Der Internationale Seegerichtshof (International Tribunal for the Law of the Sea, ITLOS) offenbar nicht.

Entscheidet Den Haag über den Schatz der San José?

Die US-Bergungsfirma SSA hat deshalb den Ständigen Schiedshof in Den Haag, den Permanent Court of Arbitration angerufen. Diese Schiedsinstanz ist aber kein internationales Gericht, sondern bietet nur die Strukturen, um eine Streitigkeit durch ein Schiedsgericht beizulegen.

Ebenfalls in Den Haag ist der Internationale Gerichtshof (International Court of Justice, ICJ), das wichtigste Rechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen. Allerdings ist der ICJ für Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten zuständig. Und beim San José-Schatz handelt es sich nicht um einen Rechtsstreit zwischen Staaten. Deshalb kann der Internationale Gerichtshof möglicherweise auch keinen Fall verhandeln, der auch zwischen privaten Unternehmen oder nichtstaatlichen Akteuren wie Bergungsfirmen und indigenen Völkern stattfindet.

Es liegt noch viel Gold auf dem Meeresgrund

Während alle Beteiligten gespannt auf ein Urteil warten, schafft Kolumbien mit der Bergung neue Fakten. Es könnten noch Jahre vergehen, bis es ein verbindliches Urteil gibt, das dann auch für viele andere Wracks und Schiffe gelten könnte.

Nötig wäre es, denn mittels neuer Ortungsmethoden ist die Schatzsuche heutzutage deutlich sicherer, effizienter und lukrativer geworden. Und alleine vor der kolumbianischen Küste sollen noch mehr als zweihundert Wracks liegen.

Dieser Artikel wurde erstmals am 22.03.2024 veröffentlicht und am 28.03. aktualisiert.

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Image caption Gold, Silber und Smaragde stammen aus den amerikanischen Kolonien der Spanier - aber wem gehören sie heute?
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Item 72
Id 68641290
Date 2024-03-22
Title Die Zahl neurologischer Erkrankungen ist in Afrika sehr hoch
Short title Die Zahl neurologischer Erkrankungen ist in Afrika sehr hoch
Teaser Weltweit leben etwa 43 Prozent der Bevölkerung mit einer neurologischen Erkrankung. Das entspricht 3,4 Milliarden. Warum sind die Raten in Afrika am höchsten, und wie gehen Länder mit dem Problem um?
Short teaser Weltweit leben 43 Prozent der Bevölkerung mit neurologischen Erkrankungen. Warum sind die Raten in Afrika am höchsten?
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Die Prävalenz neurologischer Erkrankungen ist in Afrika sehr hoch und hat verheerende Auswirkungen auf die örtlichen Gemeinschaften.

"Psychische Gesundheit und neurologische Erkrankungen werden in Kenia oft missverstanden", sagt Penny Wangari-Jones, Gründungsmitglied von Hidden Voices , einer in Kenia ansässigen Wohltätigkeitsorganisation für psychische Gesundheit. "Die Menschen werden oft in Kirchen gebracht, um dort für sie zu beten oder man sagt ihnen, sie seien besessen. Viele Patienten werden vernachlässigt, in Häuser eingesperrt oder in Anstalten zurückgelassen, um zu Sterben. Es ist erschütternd."

Neurologische Erkrankungen sind heute weltweit die häufigste Krankheitsursache - etwa 3,4 Milliarden Menschen leben mit neurologischen Problemen. Im Vergleich zu anderen Regionen sind neurologische Erkrankungen in Afrika südlich der Sahara unverhältnismäßig häufig.

50 Prozent der Menschen, die in Afrika eine Notaufnahme aufsuchen, haben irgendeine Art von neurologischer Beeinträchtigung. Die Zahl neurologischer Erkrankungen ist oft doppelt so hoch wie in Regionen mit höherem Einkommen. Die Prävalenz von Epilepsie zum Beispiel ist in Afrika südlich der Sahara zwei- bis dreimal so hoch wie in Europa.

"Da es oft keine Gesundheitsdienste oder Anlaufstellen für die Menschen gibt, haben die örtlichen Gemeinschaften keine Möglichkeit, sich um Menschen mit neurologischen oder psychischen Erkrankungen zu kümmern", so Wangari-Jones gegenüber DW.

Warum gibt es in Afrika so viele neurologische Erkrankungen?

Die wichtigsten Faktoren, die zu neurologischen Erkrankungen beitragen, sind Schlaganfall, neonatale Enzephalopathie (Hirnverletzungen), neuropathische Schmerzen oder Nervenschmerzen, Alzheimer und andere Formen von Demenz.

Ein Grund für die höhere Prävalenz in Afrika sind Infektionskrankheiten wie HIV, Meningitis und Malaria. Sie können neurologische Komplikationen wie Enzephalitis - eine Entzündung des Gehirns - verursachen.

Laut Jo Wilmshurst, Leiter der pädiatrischen Neurologie am Red Cross War Memorial Children's Hospital im südafrikanischen Kapstadt, sind die Probleme jedoch auch auf verschiedene sozioökonomische und gesundheitspolitische Faktoren zurückzuführen.

"Es kann sein, dass ein Kind [mit neurologischen Erkrankungen] eher in einem Umfeld geboren wird, das sozioökonomisch benachteiligt ist und die Mutter möglicherweise mit HIV infiziert ist. Sie könnten auch Tuberkulose haben. Und dann gibt es noch all die Probleme mit dem Zugang zu Therapien", so Wilmshurst.

Neurologische Probleme begännen oft schon vor der Geburt, fügt sie hinzu. Komplikationen oder Infektionen während der Geburt können zu bleibenden neurologischen Schäden führen. Der Mangel an Neonatologen, die sich um Neugeborene kümmern, bedeutet, dass die Schäden oft nicht rechtzeitig diagnostiziert oder behandelt werden, um dauerhafte neurologische Schäden zu verhindern.

"Dann ist da noch die Gesundheit von Müttern. In Westkap haben wir pandemische Ausmaße von Toxinbelastung durch das fetale Alkoholsyndrom [FASD]. Dieses verursacht bei Kindern neurologische Störungen", erklärt Wilmshurst.

Abwanderung medizinischer Fachkräfte stoppen

Derzeit gibt es in Afrika nicht genügend Fachärzte und anderes medizinisches Personal, um das Ausmaß an neurologischen Erkrankungen zu bewältigen. Das gilt auch für die Belastung, die dadurch entsteht.

"Das Hauptproblem ist, dass die Ausbildung von Fachärzten in Afrika nicht richtig Fuß gefasst hat. Man kann die höchste Prävalenz neurologischer Erkrankungen in Regionen feststellen, in denen es keine Neurologen gibt", so Wilmshurst.

Die Zahl der Neurologen in den afrikanischen Ländern unterscheidet sich auffallend von der in Europa: In Afrika kommen auf 100.000 Einwohner 0,03 Neurologen, in Europa sind es 8,45 Neurologen pro 100.000.

Wilmshurst konstatiert, dass sich die Dinge verbessern. Der Ausbau neurologischer Dienst habe auch in Afrika begonnen. Dazu gehört auch die Ausbildung von Fachärzten.

"Wir nehmen für die Dauer von zwei Jahren einen Kliniker [aus Afrika] auf und machen mit ihm [in Südafrika] eine intensive Ausbildung. Der erste von ihnen, der nach Tansania zurückgekehrt ist, war der erste Kinderneurologe im ganzen Land", erzählt Wilmshurst.

Obwohl das Programm in den letzten 16 Jahren nur etwa 200 Fachärzte ausgebildet hat, ist die Wirkung enorm.

"Einer unserer Auszubildenden ist zurück nach Kenia gegangen, wo er sich für die Einführung der Rotavirus-Impfung eingesetzt hat. Wir wissen, dass die Sterblichkeitsrate auf Grund von Komplikationen mit dem Rotavirus dann drastisch gesunken ist. Er hat dort ein paar Millionen Leben gerettet", sagt Wilmshurst.

Zusammenarbeit im Kampf gegen neurologische Erkrankungen

Wangari-Jones ist der Auffassung, dass es bei der Bekämpfung belastender neurologischer Erkrankungen wichtig ist, die verschiedenen Hilfsprogramme in die örtliche Gemeinschaft zu integrieren.

"Es gibt viele Ängste und Befürchtungen bezüglich der Medikamente oder der modernen Medizin. Sie sind oft auf ein Trauma aus der Kolonialzeit zurückzuführen. Eine der Herausforderungen besteht darin, bei neurologischen Erkrankungen nicht zu sehr auf Medikamente zu setzen. Die Menschen könnten sich sonst von der ursprünglichen Art entfernen, wie in den Kommunen Menschen gepflegt werden."

Wangari-Jones arbeitet mit Hidden Voices daran, Stigmatisierung und Ängste im Zusammenhang mit neurologischen und psychischen Erkrankungen abzubauen. Deshalb spricht sie oft vor Kirchengruppen in Kenia und in Schulen.

"In diesen Gesprächen erzählen die Menschen oft von ihren Problemen und von Vorfällen, die Familienmitglieder betreffen. Auf diese Weise erreichen wir die Menschen in der Gemeinde und helfen ihnen, Zugang zu Gesundheits- und Sozialdiensten zu erhalten", sagt sie.

Das Gesundheitswesen ist für Wilmshurst ebenfalls ein wichtiges Thema, zu dem sie spezielle Trainingsprogramme organisiert. Die Gesundheit der Bevölkerung ist dabei ein wichtiges Ziel. Gesundheits- und Pflegepersonal der Gemeinden werden darin geschult, neurologische Krankheiten zu erkennen und zu behandeln. Das geschieht oft im Rahmen bestehender Programme für HIV- oder Tuberkulosebehandlung.

"Die Menschen in Afrika sind vielbeschäftigt", sagt Wilmshurst. "Die Arbeitsbelastung ist enorm und es gibt viele Verpflichtungen. Der einzige Weg, die Situation zu ändern, besteht darin, Lösungen zu finden, die in der betreffenden Arbeitsumgebung machbar und anpassungsfähig sind."

Quellen:

Nervous System Disorders Collaborators (2024). Global, regional, and national burden of disorders affecting the nervous system, 1990-2021: a systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2021. Lancet Neurology. DOI: 10.1016/S1474-4422(24)00038-3

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Image caption Häufigkeit und Schweregrad neurologischer Erkrankungen sind in Afrika sehr hoch
Image source Marco Simoncelli
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Item 73
Id 61828475
Date 2024-03-22
Title Wieviel Wasser braucht unser Körper und wofür?
Short title Wieviel Wasser braucht unser Körper?
Teaser Ein Mensch kann drei Minuten ohne Sauerstoff auskommen, dreißig Tage ohne Nahrung, aber nur drei Tage ohne die Zufuhr von Flüssigkeit, so die goldene Regel. Ohne Wasser klappt in unserem Körper gar nichts.
Short teaser Wir können dreißig Tage ohne Nahrung auskommen, aber nur drei Tage ohne Flüssigkeit. Wasser ist unser Lebenselixier.
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Der Körper eines Neugeborenen besteht zu etwa 80 Prozent aus Wasser. Wenn wir älter werden, nimmt der Wassergehalt im Körper ab und liegt dann bei etwa 60 Prozent.

Dabei haben Fettzellen einen niedrigeren Wassergehalt als andere Körperzellen. Entsprechend haben Übergewichtige einen geringeren Anteil an Wasser als dünne Menschen, und der Wasseranteil bei Frauen ist geringer als der bei Männern. Für uns alle aber ist es überlebenswichtig, unserem Körper durch Trinken regelmäßig Flüssigkeit zuzuführen.

Einige Organe enthalten extrem viel Wasser. Dazu gehört etwa unser Auge. Sein Glaskörper besteht aus bis zu 99 Prozent Wasser. Muskeln haben mit etwa 80 Prozent ebenfalls einen hohen Flüssigkeitsanteil. Um unseren Körper ausreichend zu versorgen, können wir vor allem eines tun: Trinken, trinken und nochmals trinken.

Wasser trinken ist ein absolutes Muss

Etwa zwei Liter Flüssigkeit verliert unser Körper jeden Tag, zum einen über die Haut, die so die Temperatur im Körper regelt. Das gilt vor allem bei Hitze. Aber auch trockene Heizungsluft kann uns zusetzen. Die Nieren, die unseren Körper von Giftstoffen befreien, scheiden Flüssigkeit in Form von Urin aus. Wenn wir nicht genug getrunken haben, hat unser Urin eine intensiv gelbe Farbe. Ist er bräunlich verfärbt, gilt das als ernstes Warnzeichen, dass etwas nicht stimmt. Über den Darm wird Flüssigkeit mit dem Stuhl ausgeschieden, und auch beim Atmen verlieren wir Wasser in Form von kleinsten Tröpfchen.

Diese Verluste müssen wir ausgleichen und deswegen täglich etwa 1,5 bis zwei Liter Flüssigkeit zu uns nehmen. Bei körperlicher Anstrengung, beim Sport, bei hohen Temperaturen, bei Fieber, Erbrechen und Durchfall steigt der Bedarf. Es muss allerdings nicht immer Wasser sein. Suppen, Obst oder verschiedene Gemüsesorten tun dem Körper ebenfalls gut und helfen, die Speicher aufzufüllen.

Das ist unbedingt nötig, denn unser Körper zeigt bereits bei einem Flüssigkeitsverlust von einem bis zwei Prozent erste Symptome. Ab einem Verlust von etwa sieben Prozent sind wir auf der Gefahrenseite: Beschleunigter Puls oder Verwirrtheit deuten darauf hin, denn alle chemischen Reaktionen und Abläufe im Körper benötigen Flüssigkeit. Bei einem Mangel von zwölf Prozent kann es im schlimmsten Fall zu einem Schockzustand oder sogar zum Koma kommen.

Unser Gehirn braucht Flüssigkeit, um sich zu schützen

Auch unser Gehirn und unser Rückenmark können ohne Flüssigkeit nicht arbeiten. Wir haben etwa 140 Milliliter Nerven- oder Hirnwasser, medizinisch: Liquor cerebrospinalis. Es ist eine durchsichtige Flüssigkeit, in der unser Gehirn im Schädel quasi schwimmt und die es vor Erschütterungen schützt. Jeden Tag bilden wir etwa einen halben Liter dieser Flüssigkeit, die auch wieder abgebaut wird und natürlich entsprechend ersetzt werden muss.

Erste Anzeichen dafür, dass unser Körper dringend Wasser braucht, sind Kopfschmerzen und Schwindel, trockene Schleimhäute in Mund und Rachen, und möglicherweise Schluckbeschwerden. Wir sind müde, fühlen uns schlapp, aber bringen das erst einmal nicht mit einem Zuwenig an Flüssigkeit in Verbindung.

Bei Hitze und zusätzlichem Flüssigkeitsverlust durch Schwitzen kann es sein, dass unser Kreislauf versagt und wir schlichtweg umkippen. Ob es dringend an der Zeit ist, etwas zu trinken, teilt uns der Körper unmissverständlich mit, denn auch unser Blutdruck steigt an. Ohne ausreichende Flüssigkeit wird unser Blut dicker und kann den Blutkreislauf nicht mehr problemlos aufrechterhalten.

Je älter, desto weniger Durstempfinden

Je älter wir werden, umso geringer ist unser Durstempfinden. Es ist auch nicht selten, dass ältere Menschen einfach vergessen, ausreichend zu trinken. Das kann dann u.a. zu Schwindel, Verwirrtheit, Bewusstseinsstörungen oder Bewusstlosigkeit führen. Bei extremem Flüssigkeitsmangel müssen Ärzte dem Körper per Infusion entsprechende Mengen zuführen.

Manch älterer Mensch aber verzichtet bewusst darauf, ausreichend zu trinken, denn im Alter können viele ihren Harndrang nicht mehr so gut kontrollieren wie jüngere Menschen. Aus Angst davor, ungewollt Urin zu verlieren oder nachts zu häufig zur Toilette zu müssen, trinken viele zu wenig oder gar nichts.

Wann wir besonders viel Flüssigkeit benötigen

Haben wir Durchfall oder Erbrechen, braucht unser Körper mehr als das Minimum von 1,5 Litern am Tag. Wird der Wasserhaushalt nicht möglichst schnell wiederhergestellt, trocknet der Körper aus. Auch bei der Einnahme bestimmter Medikamente ist viel Flüssigkeit angesagt, beispielsweise bei sogenannten Diuretika. Sie wirken harntreibend und entwässern den Körper, um so beispielsweise Ödeme, also Wasseransammlungen, zu verhindern.

Alkohol entzieht dem Körper Flüssigkeit

Auch Alkohol entzieht unserem Körper Flüssigkeit, denn er wirkt harntreibend. Die Nieren versuchen, die giftigen Substanzen aus dem Körper zu spülen, entsprechend oft müssen wir zur Toilette, um den Urin loszuwerden.

Alkohol sorgt dafür, dass es zu einer gehemmten Ausschüttung von sogenanntem Vasopressin im Hypothalamus kommt. Vasopressin ist ein Hormon, das den Wasserhaushalt in der Niere reguliert. Hat der Körper aber keine ausreichende Menge dieses wichtigen Hormons zur Verfügung, scheiden unsere Nieren zu viel Wasser aus. Der Wasserhaushalt ist gestört, alles kommt durcheinander.

Auch zu viel des Guten kann schädlich sein

Trinken wir fünf Liter oder mehr innerhalb weniger Stunden, kann auch das lebensgefährlich sein und sogenannte Hyperhydratation zur Folge haben, also eine Überwässerung des Körpers. Die Nieren schaffen es dann nicht mehr, die große Flüssigkeitsmenge zu regulieren und auszuscheiden. Eine der schlimmsten Folgen kann ein Hirnödem sein.

Unmengen von Flüssigkeit werden beim Wasser-Wett-Trinken geschluckt. Das kann den Körper überfordern. Nicht nur die Nieren kommen mit ihrer Arbeit nicht mehr hinterher, auch der Salzhaushalt wird zerstört. Wie und ob ein Körper so viel überhaupt verkraftet, ist abhängig vom Alter, vom Gewicht und vom Allgemeinzustand. Auch hier gilt: die Menge macht's.

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Image caption Wir müssen regelmäßig trinken, denn unser Körper verliert etwa zwei Liter Flüssigkeit pro Tag.
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Item 74
Id 66915671
Date 2024-03-21
Title WHO warnt vor Mangel an Cholera-Impfstoff
Short title WHO warnt vor Mangel an Cholera-Impfstoff
Teaser Vor allem in Konfliktregionen steigt die Zahl der Cholera-Fälle, meldet die WHO. Gleichzeitig wird viel zu wenig Impfstoff produziert. Dabei ist es eigentlich leicht, Cholera vorzubeugen und zu behandeln. Eigentlich.
Short teaser Vor allem in Konfliktregionen steigt die Zahl der Cholera-Fälle. Gleichzeitig wird viel zu wenig Impfstoff produziert.
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Durch den extremem Cholera-Impfstoffmangel steigen die Fälle rasant an. Laut WHO wurden im vergangenen Jahr 72 Millionen Dosen von Ländern nachgefragt, aber nur 36 Millionen Dosen wurden produziert.

In den Jahren 2021 bis 2023, so die Weltgesundheitsorganisation, seien damit mehr Impfdosen von den Ländern nachgefragt worden wie im ganzen Jahrzehnt davor. Laut WHO ist die Firma EuBiologics in Südkorea die einzige, die überhaupt noch Cholera-Impfstoff herstellt.

Im Jahr 2022 gab es 473.000 Cholerafälle. Das sind doppelt wo viele wie noch 2021, und die Lage spitzt sich weiter zu. Vorläufigen Daten von 2023 zufolge könnte die Zahl für das vergangene Jahr auf 700.000 Fälle steigen.

Um die Lage etwas zu beruhigen, hatte es bereits im Oktober 2022 seitens der Koordinierungsgruppe die Empfehlung gegeben, nicht mehr wie üblich jeweils zwei Impfdosen zu verabreichen, sondern nur noch eine. So sollte die benötigte Menge an Impfstoff reduziert werden, allerdings hält dann auch der Impfschutz nicht so lange vor.

Am schwersten betroffen sind meist Konfliktregionen, in denen schlechte Hygieneverhältnisse herrschen, denn dort kann sich das Bakterium Vibrio cholerae schnell verbreiten. Zu den von Cholera betroffenen Ländern gehören die Demokratische Republik Kongo, Äthiopien, Haiti, Somalia, der Sudan, Syrien, Sambia und Simbabwe.

Auf lange Sicht sei es nötig, den Hygienestandard zu verbessern und für mehr und bessere Abwassersysteme zu sorgen sowie in sauberes Trinkwasser zu investieren.

Bakterium Vibrio cholerae verseucht Wasser

"Eigentlich ist die Krankheit Cholera sehr gut in den Griff zu kriegen", sagt Daniel Unterweger, Mikrobiologe an der Universität Kiel und am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön. Denn das Cholera-Bakterium Vibrio cholerae schwirrt nicht durch die Luft und infiziert Menschen über die Atemwege, wie es Viren wie Influenza oder SARS können. Vibrio Cholerae wird oral - also über den Mund - aufgenommen. Das passiert meistens über mit den Bakterien verunreinigtes Trinkwasser.

So gelangen die Bakterien in den menschlichen Körper, wo sie oft unbemerkt bleiben und der infizierten Person keine Symptome bescheren. Diese scheidet die Bakterien dennoch aus und infiziert damit potenziell weitere Menschen. Cholera kann allerdings auch zu schweren Durchfällen bis hin zum Tod führen.

Doch dazu müsste es in vielen Fällen erst gar nicht kommen, denn "die Cholera-Erkrankung ist sehr gut zu behandeln", sagt Unterweger. Infizierte können mit einer Flüssigkeit, die Salze und Zucker enthält, und intravenös oder oral verabreicht wird in den meisten Fällen erfolgreich behandelt werden.

Es gibt auch Impfungen, die oral verabreicht werden und zumindest ein paar Jahre lang einen guten Schutz bieten. Dennoch sterben nach Schätzungen der WHO jedes Jahr zwischen 21.000 und 143.000 Menschen an der bakteriellen Infektion. Denn Cholera mag leicht zu verhindern und zu behandeln sein, allerdings nur dann, wenn die Umstände es zulassen.

Cholera durch Krieg, Katastrophen und Flucht

"An Cholera erkrankt man dadurch, dass man die Cholera-Bakterien oral aufnimmt. Das heißt, es müssen zwei Faktoren gegeben sein: Zum einen muss das Bakterium in der Umwelt vorhanden sein, beispielsweise in einem Fluss. Und zum anderen muss der Mensch mit dem Fluss in Kontakt kommen, indem er beispielsweise Wasser aus dem Fluss trinkt", erklärt Unterweger.

Sauberes Trinkwasser ist die wichtigste Voraussetzung, um Cholera-Erkrankungen vorzubeugen. Naturkatastrophen wie die Fluten in Libyen oder wie das Erdbeben in Marokko zerstören jedoch die Wasserinfrastruktur und erhöhen das Risiko, das mit Fäkalien verunreinigtes Abwasser ins Trinkwasser gerät - und damit auch das Cholera-Bakterium.

Kriege können einen ähnlich zerstörerischen Effekt haben und den Menschen nicht nur den Zugang zu sauberem Trinkwasser verwehren, sondern auch eine rechtzeitige Behandlung der Cholera-Erkrankung unmöglich machen.

Klimakrise hat Effekt auf Cholera

Die Klimakrise ist gleich ein zweifacher Treiber für die Verbreitung des Bakteriums, erklärt der Mikrobiologe Unterweger. "Je wärmer Gewässer werden, desto stärker vermehren sich die Cholera-Bakterien." Das erhöhe auch das Risiko für Infektionen.

Außerdem trägt das sich aufheizende Klima dazu bei, dass immer mehr Menschen ihre Lebensräume verlassen, weil Dürren oder andere Extremwetterlagen sie zur Migration zwingen. "Diese Menschen gelangen dann leicht an Orte ohne ausreichende lokale Hygieneinfrastruktur und infizieren sich dort", sagt Unterweger. Laut WHO sind Flüchtlingscamps besonders anfällig für Cholera-Ausbrüche.

Wie sich die globale Cholera-Situation in den kommenden Jahren entwickeln wird, darüber kann Unterweger nur spekulieren. Die WHO möchte der Infektion bis 2030 den Garaus gemacht haben. Die Klimakrise und dadurch häufiger auftretende Extremwetterereignisse, die wiederum Infrastruktur zerstören und Menschen zur Flucht zwingen, lassen Unterweger jedoch vermuten, dass wir Cholera nicht so schnell loswerden und noch viele Menschen an der Infektionskrankheit sterben werden.

Quelle:

Millions at risk from cholera due to lack of clean water, soap and toilets, and shortage of cholera vaccine, https://www.who.int/news/item/20-03-2024-millions-at-risk-from-cholera-due-to-lack-of-clean-water-soap-and-toilets-and-shortage-of-cholera-vaccine

Item URL https://www.dw.com/de/who-warnt-vor-mangel-an-cholera-impfstoff/a-66915671?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Cholera trifft vor allem Menschen in Krisengebieten schwer. Dabei ist die Krankheit leicht zu behandeln und es gibt sogar eine Impfung.
Image source Anas Alkharboutli/dpa/picture alliance
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Item 75
Id 56912423
Date 2024-03-21
Title Pränataler Down-Syndrom-Test hoch umstritten
Short title Pränataler Down-Syndrom-Test hoch umstritten
Teaser Der nicht-invasive Test, mit dem werdende Eltern herausfinden können, ob ihr Kind Trisomie 21 hat, ist umstritten. Probleme haben viele aber nicht mit der Untersuchung selbst, sondern damit, wie es danach weitergeht.
Short teaser Probleme haben viele Kritiker nicht mit der Untersuchung selbst, sondern damit, wie es danach weitergeht.
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Bei ihrer dritten Schwangerschaft war Susanne (Nachname ist der Redaktion bekannt) 36 Jahre alt. Zwei kleine Söhne hatten sie und ihr Mann bereits. Wie bei Schwangeren über 35 in Deutschland üblich, wurde bei Susanne ein Erst-Trimester-Screening gemacht. Ihr wurde Blut abgenommen, über Ultraschall wurde die Nackenfalte des Babys untersucht. Das Ergebnis: Eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass ihr Kind eine Chromosom-Störung wie zum Beispiel Trisomie 21, Down-Syndrom, haben könnte.

Es folgte die Überweisung an einen Humangenetiker und weitere Tests. Hier bekam die Familie aus der Nähe von Heidelberg bestätigt: Die Wahrscheinlichkeit, dass Susanne ein Kind mit Down-Syndrom zur Welt bringen würde, war deutlich erhöht. Um noch mehr Gewissheit zu erlangen, gab es damals, 2008, nur die Möglichkeit invasiver Tests, beispielsweise der Fruchtwasseruntersuchung. Der Eingriff liefert zwar mehr Informationen, birgt aber auch ein 0,5 prozentiges Risiko einer Fehlgeburt. Susanne und ihr Mann verzichteten noch aus einem anderen Grund auf die Maßnahme.

"Man muss sich vorher natürlich überlegen, was man mit dem Ergebnis macht," erzählt Susanne. "Und uns war klar, wegen Down-Syndrom würden wir die Schwangerschaft nicht abbrechen."

Als Tochter Luise geboren wurde, war sich der entbindende Arzt, selbst kein Trisomie-Experte, nicht sicher, ob das Baby nun Down-Syndrom hatte oder nicht - für Susanne in dem Moment egal.

"Es ist halt ein Baby und es ist unser Baby," beschreibt sie ihre Gedanken nach der Entbindung.

Erst am nächsten Tag diagnostizierte der hinzugezogene Experte: Luise hat Trisomie 21.

Mittlerweile besucht die bald 14-Jährige eine Förderschule, ein schwerer Herzfehler, der kurz vor ihrem zweiten Geburtstag operiert wurde, ist verheilt. Luise führe ein "ganz normales Schülerinnen-Leben", erzählt ihre Mutter.

Trisomie ist nicht gleich Trisomie

Seit 2012 haben Schwangere in Deutschland die Möglichkeit, eine mögliche Chromosom-Störung ihres Babys auch über einen nicht-invasiven pränatalen Test (NIPT) diagnostizieren zu lassen. Für einen NIPT wird eine Blutprobe der schwangeren Frau untersucht. Die Erkennungsrate für Trisomie 21 liegt bei rund 99%. Die Erkennungsrate für eine Trisomie 18 liegt bei 98% und die für eine Trisomie 13 bei nahezu 100%. Die beiden letzteren sind schwere Chromosom-Störungen, bei denen die Kinder teilweise schon im Mutterleib sterben, oder so schwere körperliche Fehlbildungen haben, dass sie nach der Geburt nicht lange überleben können.

Bei Menschen, die mit Trisomie 21 geboren werden, ist das Chromosom 21 dreifach statt doppelt vorhanden. Sie haben meistens eine leichte geistige Behinderung ― in wenigen Fällen ist diese auch schwer ― und motorische Störungen. 40 bis 60 Prozent haben einen angeborenen Herzfehler, auch Fehlbildungen des Magen-Darm-Trakts sind nicht ungewöhnlich. Viele der körperlichen Anomalien sind operabel, die Lebenserwartung von Menschen mit Down-Syndrom liegt im Durchschnitt bei etwa 60 Jahren.

Pränataldiagnose als Kassenleistung

Seit 2019 wird der NIPT in Deutschland in begründeten Einzelfällen, bei Schwangerschaften mit einem erhöhten Risiko, nach einer ärztlichen Empfehlung von der Krankenkasse bezahlt.

Der Schritt war, wie auch schon die Einführung des Tests, umstritten. Kritiker sorgen sich, dass der NIPT als einfache Methode genutzt werden könnte, Menschen mit Behinderung noch vor ihrer Geburt auszusortieren, wenn Frauen ein Baby beispielsweise aufgrund einer hohen Wahrscheinlichkeit von Trisomie 21 abtreiben.

"Weiter fürs Down-Syndrom kämpfen"

Natalie Dedreux startete vor zwei Jahren eine Petition dagegen, dass die Krankenkassen in bestimmten Fällen die Kosten des NIPT übernehmen.

"Ein Leben mit Down-Syndrom ist was Besonderes", sagt sie. Und die 23-jährige Bloggerin muss es wissen ― sie hat Down-Syndrom, lebt allein in einer Wohnung in Köln und gehört zum Team des Forschungsinstituts Touchdown 21, wo Menschen mit und ohne Down-Syndrom zusammenarbeiten. Außerdem schreibt sie für 'Ohrenkuss', das Magazin des Instituts. "Wichtig ist, dass wir gesehen werden, damit die Welt auch mal sieht, dass Menschen mit Down-Syndrom da sind."

Die Petition ist trotz der Entscheidung zur Kostenübernahme der Krankenkassen weiterhin offen und hat bereits fast 30.000 Unterschriften. "Ich möchte fürs Down-Syndrom weiter kämpfen", sagt Dedreux.

Dänemark: Kaum noch Babys mit Down-Syndrom

"Es ist ein Problem, wenn wir in einer Gesellschaft ein Leben wegen eines extra-Chromosoms als nicht lebenswert benennen", sagt Grete Fält-Hansen. Sie ist die Vorsitzende der Nationalen Down-Syndrom Gesellschaft in Dänemark und Mutter von Karl-Emil, einem 20-Jährigen mit Down-Syndrom.

In Dänemark gehört seit 2004 ein nicht-invasiver Test, mit dem mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden kann, ob ein Kind Trisomie 13, 18 oder 21 haben wird, zum normalen Voruntersuchungspaket, das jeder Schwangeren angeboten wird. Den Frauen entstehen keine zusätzlichen Kosten, fast alle entscheiden sich dafür. Von denen, die eine Down-Syndrom-Diagnose bekommen, entscheiden sich mehr als 95 Prozent für eine Abtreibung, berichtet das US-Magazin The Atlantic.

Das hat radikale Folgen. 2019 wurden in ganz Dänemark 18 Kinder mit Down-Syndrom geboren. In den USA sind es jedes Jahr etwa 6000 Kinder, für Deutschland gibt es eine vergleichbare Statistik nicht. Aktuell leben in der Bundesrepublik schätzungsweise rund 50.000 Menschen mit Down-Syndrom.

Fält-Hansen sagt, die Regelung habe dazu geführt, dass Eltern, die den Pränataltest ablehnen und dann ein Kind mit Down-Syndrom bekommen, schon mal gefragt werden "Warum hast du denn den Test nicht gemacht?"

Sie bemängelt, dass Frauen, bei denen der Test auf Trisomie 21 hindeutet, nicht genügend betreut werden. "Sie müssen eine der härtesten Entscheidungen treffen, die es gibt", sagt Fält-Hansen. "Ich finde es gut, dass die Frauen das selbst entscheiden können. Niemand hätte mir vorschreiben dürfen, ob ich abtreibe oder nicht. Aber es sollte eine gut informierte Entscheidung sein. Und daran mangelt es häufig."

"Keine Frau treibt leichtfertig ab"

Das kritisiert auch Katja de Bragança, Leiterin des Touchdown 21 Instituts und Ohrenkuss-Chefredakteurin. Wenn die Ärzte der Schwangeren mitteilen, dass ihr Baby höchstwahrscheinlich Down-Syndrom habe, "lässt der Informationsstandard sehr zu wünschen übrig", sagt sie.

"Manchmal kommt die Erstmitteilung und dann 70 Sekunden danach soll der Abbruch-Termin gemacht werden. Die Mitteilung sollte respektvoller und mit mehr Wissen passieren. Wenn es mehr Informationen gibt, steht die Entscheidung der Frau auf sichereren Füßen."

Und es ist eine schwere Entscheidung, das erlebt Dr. Heike Makoschey-Weiß immer wieder. Die Frauenärztin und Psychotherapeutin arbeitet in der Pränatalmedizin- und Genetik-Praxis Meckenheim.

"Es ist für niemanden leicht, einen Schwangerschaftsabbruch in Anspruch zu nehmen", sagt sie.

Ein Punkt, der auch Hilde Mattheis wichtig ist. "Keine Frau treibt leichtfertig ab", sagt die SPD-Politikerin. Sie unterstützt den NIPT als Kassenleistung, weil "ich Frauen zutraue, dass sie bedacht und verantwortungsvoll damit umgehen." Makoschey-Weiß sagt dagegen, der Test werde von Ärzten zu häufig und vor allem zu unreflektiert eingesetzt.

Mehr Offenheit gegenüber Menschen mit Behinderung

Für Susanne, die Mutter der bald 14-jährigen Luise aus der Nähe von Heidelberg, ist der NIPT an sich nicht das Problem. "Der ist nun mal in der Welt und der wird auch nicht wieder verschwinden. Das ist ein Instrument. Aber die Frage 'Wie gehe ich mit dem Ergebnis um?', die hängt absolut damit zusammen, was die Eltern wahrnehmen, wie Behinderung in der Gesellschaft bewertet wird."

Es müsse gute Unterstützungsangebote für Eltern geben und Offenheit und Akzeptanz gegenüber Menschen mit Behinderung. Nur so, sagt Susanne, sei es tatsächlich möglich, "den Eltern ein Umfeld zu bieten, wo sie sich frei entscheiden können ― frei von Ängsten und Zwängen."

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