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Item 1
Id 73399025
Date 2025-07-24
Title Thailand und Kambodscha: Eskalierender Grenzkonflikt
Short title Thailand und Kambodscha: Eskalierender Grenzkonflikt
Teaser Der Konflikt zwischen den südostasiatischen Ländern verschärft sich drastisch. Beide Seiten berichten von heftigen Gefechten, es soll Tote und Verletzte geben. Im Kern geht es um einen jahrzehntealten Grenzstreit.
Short teaser Der Konflikt zwischen den südostasiatischen Ländern verschärft sich weiter. Der Kern: ein jahrzehntealter Grenzstreit.
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An der Grenze zwischen Thailand und Kambodscha haben sich die Truppen beider Länder am Donnerstagmorgen heftige Gefechte geliefert. Die thailändische Armee berichtet, dass mindestens acht Zivilisten durch kambodschanischen Artilleriebeschuss getötet worden seien. Kambodscha wiederum beschuldigt Thailand, mit Kampfjets eine Straße bombardiert zu haben.

Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben nicht. Auf im Internet verbreiteten Videos sind Explosionen zu sehen und Schusswechsel zu hören. Viele Anwohner der Region haben versucht, sich in Bunkern oder Unterständen in Sicherheit zu bringen.

Warum eskaliert der Konflikt gerade jetzt?

Wer für die jüngste Eskalation verantwortlich ist, ist unklar. In den vergangenen Monaten hatten die Spannungen zwischen beiden Ländern jedoch deutlich zugenommen. Ende Mai wollten kambodschanische Soldaten in einem umstrittenen Grenzabschnitt Schützengräben anlegen. Daraufhin kam es zu einem Schusswechsel mit der thailändischen Armee, ein kambodschanischer Soldat wurde getötet.

Seitdem haben beide Länder zusätzliche Soldaten in die Grenzregion entsandt. Thailand bestellte zudem den kambodschanischen Botschafter ein und zog seinen eigenen Vertreter in Phnom Penh zurück. Außerdem ordnete Bangkok die Schließung mehrerer Grenzübergänge an.

Nur einen Tag vor der jüngsten Eskalation wurden mehrere thailändische Soldaten durch die Explosion von Landminen teils schwer verletzt. Thailand wirft Kambodscha vor, die Minen erst kürzlich verlegt zu haben.

Worum streiten die Thailand und Kambodscha?

Seit Jahrzehnten sind sich Thailand und Kambodscha uneins über den genauen Grenzverlauf zwischen beiden Ländern. Insgesamt ist die Grenze über 800 Kilometer lang, die Region nur dünn besiedelt, in weiten Teilen schwer zugänglich und nur unzureichend kartiert.

Viele Grenzmarkierungen stammen noch aus der französischen Kolonialzeit – zwischen 1863 und 1953 war Kambodscha französisches Protektorat, während Thailand als Königreich Siam formell stets unabhängig blieb. Doch bereits in diesen 90 Jahren kam es zu mehreren gegenseitigen Gebietsabtretungen, so dass der tatsächliche Grenzverlauf sich mehrfach änderte. Zudem wurde der 1907 von Frankreich festgelegte Grenzverlauf, zu dessen Einverständnis Siam gezwungen worden war, später von Thailand angefochten.

Gleichzeitig befinden sich im Grenzgebiet gleich mehrere Tempelanlagen, auf die beide Länder Anspruch erheben. Die bekannteste ist der Prasat Preah Vihear, ein hinduistischer Tempel der Khmer aus dem 10. bis 12. Jahrhundert. Der Tempel und das umliegende Gebiet werden von beiden Staaten beansprucht, aber von Kambodscha kontrolliert.

Der Streit landete 1959 vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag, der Kambodscha drei Jahre später Recht gab. Als die UNESCO im Jahr 2008 den Tempel zum Weltkulturerbe erklären wollte, flammte der Konflikt erneut auf, bei Schusswechseln an der Grenze gab es viele Tote. Wieder rief Kambodscha den IGH an, der erneut zugunsten Phnom Penhs entschied.

Wer könnte schlichten?

Eigentlich hatten beide Länder im Jahr 2000 eine gemeinsame Grenzkommission eingerichtet, um den Grenzzwist friedlich beizulegen - dabei aber bis heute keine nennenswerten Fortschritte erzielt.

Und so hat sich Kambodscha im Juni 2025 mit einem Brief zum dritten Mal an den Internationalen Gerichtshof gewandt – mit der Bitte, nicht nur den Territorialstreit am Khmer-Tempel, sondern auch andere Grenzverläufe mit Thailand endgültig zu klären. Das zweimal in Den Haag unterlegene Thailand hingegen bevorzugt weiterhin grundsätzlich eine bilaterale Verhandlungslösung. Diese aber ist durch die jüngste Eskalation in weite Ferne gerückt.

"Kambodscha möchte den aktuellen Konflikt vor den IGH bringen, weil es dort in der Vergangenheit Erfolg hatte", sagte Zachary Abuza, Südostasien-Experte der unabhängigen Denkfabrik Lowy Institute in Sydney, bereits im Juni im DW-Interview. "Thailand möchte seine wirtschaftliche Stärke einsetzen und glaubt, einen erheblichen wirtschaftlichen Vorteil zu haben."

Wie abhängig sind Thailand und Kambodscha voneinander?

Tatsächlich ist Thailand deutlich industrialisierter als sein Nachbarland, sein Bruttoinlandsprodukt ist zwölfmal höher als das Kambodschas. Während Thailand elektronische Artikel, Automobile und Lebensmittel exportiert, ist Kambodscha vor allem auf Landwirtschaft und Textilindustrie angewiesen. In Thailand leben offiziellen Statistiken zufolge rund eine halbe Million kambodschanische Gastarbeiter.

"Beide haben viel zu verlieren", erklärt die Politologin Tita Sanglee am ISEAS-Yusof Ishak Institute in Singapur der DW. "Thailand ist in hohem Maße auf kambodschanische Arbeitskräfte angewiesen und exportiert erhebliche Mengen nach Kambodscha. Neben Kraftstoffen, Maschinen und Getränken sind viele thailändische Exporte wichtige Güter des täglichen Bedarfs."

Beide Länder sind zudem auf Einnahmen aus dem Tourismus angewiesen, der bei einem längeren Anhalten des Konfliktes ebenfalls rückläufig werden dürfte.

Welche Rolle spielt die Regierungskrise in Thailand?

Eigentlich unterhielten die aktuellen Regierungen in Bangkok und Phnom Penh enge Beziehungen zueinander, was auch an dem guten Verhältnis zwischen dem thailändischen Ex-Premier Thaksin Shinawatra und dem langjährigen kambodschanischen Staatschef Hun Sen zurückzuführen ist. In beiden Ländern regierten Kinder der zwei ehemaligen Staatsführer.

In Kambodscha sitzt Hun Sens Sohn Hun Manet fest im Sattel. Doch in Thailand stürzte Thaksins erst 38-jährige Tochter Paetongtarn Shinawatra Anfang Juli über einen politischen Skandal. In einem im Juni geleakten Telefonmitschnitt zwischen ihr und Hun Sen nannte sie den 72-jährigen Politiker "Onkel" und kritisierte ihre eigenen Militärkommandanten im Zusammenhang mit dem Grenzkonflikt.

Schon zuvor hatten konservative, militärnahe Kräfte Paetongtarns Pläne scharf kritisiert, gemeinsam mit Kambodscha darüber zu verhandeln, Energieressourcen in einem ebenfalls zwischen beiden Ländern umstrittenen Seegebiet zu erschließen. Innenpolitisch hat Thailand ohnehin mit einer schwächelnden Wirtschaft und hohen US-Strafzöllen zu kämpfen.

Am 1. Juli wurde Shinawatra vom Verfassungsgericht des Landes vom Amt suspendiert. Bis zu einer endgültigen Entscheidung über ihr künftiges politisches Schicksal könnten Monate vergehen. Die politischen Verhältnisse in Thailand sind also wieder einmal äußerst instabil.

Das Militär des Landes könnte nun die Gunst der Stunde nutzen wollen. Es hatte seine Rhetorik gegenüber Kambodscha bereits in den letzten Wochen deutlich verschärft. Gleichzeitig berichtete die Bangkok Post, dass sich in Thailands Tourismusbranche bereits die Angst vor einem neuen Militärputsch breitmache.

Item URL https://www.dw.com/de/thailand-und-kambodscha-eskalierender-grenzkonflikt/a-73399025?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Kambodschanische Soldaten laden einen Raketenwerfer im Grenzgebiet zu Thailand
Image source STR/AFP
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Item 2
Id 73395428
Date 2025-07-24
Title Atomverhandlungen mit dem Iran: Was ist zu erwarten?
Short title Atomverhandlungen mit dem Iran: Was ist zu erwarten?
Teaser Am Freitag dieser Woche verhandeln Deutschland, Frankreich und Großbritannien in Istanbul mit dem Iran über die Zukunft von dessen Atomprogramm. Für den Iran steht einiges auf dem Spiel.
Short teaser Bei den Atomgesprächen mit Deutschland, Frankreich und Großbritannien in Istanbul steht für den Iran viel auf dem Spiel.
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Der Einsatz ist hoch, wenn sich am Freitag Vertreter Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens auf der einen und des Iran auf der anderen Seite in Istanbul treffen, um über die Zukunft des iranischen Atomprogramms zu verhandeln. Scheitern die Gespräche, droht dem Iran eine erneute Welle von Sanktionen.

Dabei ist derzeit offen, wie es nach den Angriffen Israels und der USA auf iranische Atomanlagen im Juni um den technischen Stand des Atomprogramms steht. Unsicher ist, ob das Land derzeit überhaupt in der Lage ist, das Programm fortzuführen.

Die wenigen verfügbaren Daten scheinen die Behauptung von US-Präsident Donald Trump, die iranischen Atomanlagen und das iranische Atomprogramm seien "ausgelöscht", nicht zu stützen, sagt der Iran-Experte Hamidreza Azizi von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Aus seiner Sicht dürfte der Iran weiterhin fähig sein, sein Anreicherungsprogramm kurz- bis mittelfristig in gewissem Umfang wiederaufzunehmen. Auch verfüge das Land offenbar noch über einen Großteil des in den letzten Jahren gewonnenen hochangereicherten Urans.

Wie weit ist Irans Anreicherungstechnik?

"Insgesamt wurde dem Iran die Fähigkeit zur Urananreicherung nicht genommen", so Azizi zur DW. "Allerdings gibt es bisher keine Anzeichen dafür, dass der Iran aktiv Schritte zur Wiederaufnahme seines Programms unternommen hat. Ein solcher Schritt wäre jedoch eher eine Frage politischer und militärischer Erwägungen als die der technischen Möglichkeiten."

Zu einer etwas anderen Einschätzung kommt Michael Brzoska, Politologe am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg. Aus seiner Sicht dürfte es für den Iran technisch sehr viel schwieriger geworden sein, das weiterhin vorhandene angereicherte Uran auf eine atomwaffenfähige Stufe anzureichern.

So dürften bereits die für die Anreicherung nötigen Zentrifugen einen so großen Schaden genommen haben, dass sie sich nicht mehr nutzen ließen", so Brzoska zur DW. "Zwar ist nicht auszuschließen, dass es an weiteren Orten versteckte Zentrifugen geben könne, doch derzeit gibt es dazu keine Informationen."

Ambivalente Signale aus Teheran

Um dennoch einen gewissen Druck auf den Iran auszuüben, hatten sich Deutschland, Frankreich und Großbritannien Mitte Juli dieses Jahres mit den USA darauf verständigt, dem Iran eine Frist für das Erreichen eines Atomabkommens zu setzen. Diese läuft Ende August aus. Sollte bis Ende August keine Einigung erreicht werden, planen die europäischen Partner, frühere UN-Sanktionen gegen Teheran automatisch wiedereinzusetzen.

Es sei durchaus denkbar, dass die iranische Führung derzeit über ihre bisherige Strategie nachdenke, sagt Michael Brzoska. Der Iran habe immer abgestritten, dass er das Atomprogramm militärisch nutzen wolle. "Aber sein Verhalten, insbesondere die hochgradige Anreicherung von Uran, hat ihn faktisch dieser Möglichkeit immer näher gebracht. Und damit entsprechende Befürchtungen bei anderen Staaten genährt."

Nun habe sich herausgestellt, dass dieses Programm seine Schwächen habe, so Brzoska weiter. "Denn Israel und die USA haben sich bei ihren Angriffen ja so verhalten, als verfüge der Iran tatsächlich absehbar über eine Atombombe. Insofern scheint mir, dass der Iran jetzt doch wieder bereit ist, über eine begrenzte Anreicherung seines nuklearen Materials zu verhandeln."

Derzeit sende Iran widersprüchliche Signale aus, sagt Hamidreza Azizi. Einerseits erklärten iranische Regierungsvertreter, darunter der Präsident und der Außenminister, der Iran sei weiterhin für diplomatische Kontakte offen. Andererseits gebe es keine Anzeichen dafür, dass das Land bereit wäre, seine Positionen in anderen umstrittenen Fragen, wie die der inländischen Urananreicherung oder seiner Unterstützung nichtstaatlicher Akteure in der Region, aufzuweichen.

"All diese Entwicklungen lassen darauf schließen, dass der Iran weiterhin improvisiert, anstatt eine kohärente neue Strategie umzusetzen. Die Strategie scheint für den Iran darin zu bestehen, Zeit zu gewinnen und eine erneute Eskalation zu vermeiden, bis er eine Lösung für die verschiedenen Probleme gefunden hat", so Azizi.

Druckmittel im Atomabkommen: der Snapback-Mechanismus

Viel Zeit dürfte der Iran wegen der von Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA gemeinsam gesetzten Frist bis Ende August aber nicht haben. Denn dann droht eine Rückkehr sämtlicher UN-Sanktionen, die im Jahr 2016 im Rahmen des sogenannten Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA), bekannt als Atomabkommen, aufgehoben wurden.

Denn das Abkommen enthält einen "Snapback" genannten Mechanismus, der jeden einzelnen der damaligen Vertragsstaaten - die USA, Großbritannien, Frankreich, China, Russland, Deutschland sowie die EU - dazu berechtigt, ein Verfahren einzuleiten, das nach 30 Tagen automatisch zur Wiedereinführung aller UN-Sanktionen gegen den Iran führt.

Diese umfassen unter anderem Reiseverbote, Vermögenssperren, Exportverbote für bestimmte Güter und Dienstleistungen, sowie Einschränkungen im Bankenverkehr. Entscheidend dabei ist: Gegen diesen Mechanismus kann keiner der Vertragspartner ein Veto einlegen.

Da die USA unter der ersten Trump-Regierung im Jahr 2018 aus dem Abkommen ausstiegen, können sie diesen Mechanismus zwar nicht beantragen. Die Gespräche von Mitte Juli zeigen aber, dass sich die drei europäischen Staaten eng mit Washington abgestimmt haben. Zudem haben die USA eigene Sanktionen gegen den Iran erlassen. Diese richten sich nicht nur gegen einzelne Wirtschaftszweige wie etwa Ölexporte und Bankgeschäfte, sondern sehen auch Sanktionen gegen Drittstaaten und Unternehmen vor, die mit dem Iran Geschäfte machen.

Gemeinsames Interesse an Einigung bei Atomgesprächen

Insofern sei das Verhandlungsergebnis der nun anstehenden Gespräche für den Iran von erheblicher Bedeutung, sagt Michael Brzoska. "Zwar dürften die von den USA verhängten Sanktionen letztlich aus iranischer Perspektive wohl wichtiger sein. Doch der Snapback-Mechanismus dürfte eine ganze Reihe Staaten dazu veranlassen, wirtschaftliche Beschränkungen gegenüber dem Iran zu verhängen."

Diese Beschränkungen betreffen etwa den Ölexport, aber auch den Transfer so genannter Dual-Use-Technologien, also Technik, die auch für militärische Zwecke nutzbar ist. "Darum dürfte der Iran darauf hinarbeiten, dass die Europäer diesen Mechanismus nicht wieder beantragen", so Brzoska. "Der Iran dürfte großes Interesse daran haben, mit den Europäern eine gemeinsame Basis zu finden."

Jenseits des möglichen Verzichts auf die Aktivierung des Snapback-Abkommens hätten die drei europäischen Staaten allerdings keine Anreize für den Iran im Gepäck, sagt Hamidreza Azizi. Das könnte eine Einigung erschweren, so der Politologe.

"Zu erwarten ist daher am ehesten, dass sich beide Seiten auf eine Verlängerung der Frist für die Auslösung des Snapback-Mechanismus einigen, um mehr Zeit für diplomatische Verhandlungen und eine mögliche diplomatische Lösung zu schaffen. Geschieht dies nicht, besteht insbesondere angesichts des sehr engen Zeitfensters bis Ende August, wenig Grund, eine umfassende oder robuste Einigung zu erwarten."

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Image caption Satellitenfoto der Nukleareinrichtungen von Isfahan nach dem israelischen Angriff am 21.6.2025
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Item 3
Id 73370908
Date 2025-07-24
Title Cum-Cum-Betrug: Der Steuerraub geht weiter
Short title Cum-Cum-Betrug: Der Steuerraub geht weiter
Teaser Cum-Cum-Geschäfte kosten die Gesellschaft Milliarden. Trotz Warnungen laufen die Steuertricks der Finanzbranche weiter - nicht nur in Deutschland. Warum tut der Staat so wenig dagegen?
Short teaser Cum-Cum-Geschäfte kosten den Staat Milliarden. Trotz Warnungen laufen die Steuertricks der Finanzbranche weiter.
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Genaue Zahlen gibt es nicht, aber es geht um enorme Summen. Viele Staaten verlieren durch Cum-Ex- und vor allem Cum-Cum-Geschäfte Milliarden. Allein zwischen 2000 und 2020 hat der deutsche Staat durch Cum-Cum-Betrug knapp 29 Milliarden Euro verloren, schätzen Experten der Universität Mannheim. Weltweit geht es um Schäden in Höhe von über 140 Milliarden Euro.

Das Erstaunliche dabei: Obwohl bekannt ist, dass solche Geschäfte gemacht werden, und sie unter bestimmten Voraussetzungen illegal sind, geht der Raub weiter. "Man hört öffentlich oft anderslautende Aussagen, meistens mit der Formulierung "Uns ist das nicht bekannt"", beklagt Anne Brorhilker.

Brorhilker ist eine, die es wissen kann. Sie war Deutschlands bekannteste Oberstaatsanwältin, die Cum-Ex-Fälle vor Gericht gebracht hat. "Die Staatsanwaltschaft Köln hat Erkenntnisse dazu, über die ich im Einzelnen nicht sprechen darf", sagt sie. Sie sei immer noch an das Dienstgeheimnis gebunden, auch wenn sie seit über einem Jahr nicht mehr für den Staat, sondern für den gemeinnützigen Verein "Finanzwende" arbeitet. Es habe Kronzeugen gegeben, die lange Jahre in der Branche tätig gewesen waren und die vor Gericht vernommen worden seien, erzählt Anne Brorhilker im DW-Podcast. Die hätten berichtet, dass die Geschäfte weiterlaufen würden - nicht nur in Deutschland.

Betroffen seien auch Belgien, Frankreich, Italien, Österreich, die Niederlande, Spanien und Luxemburg. Dies sei eine Gesetzeslücke, sagt dazu Christoph Spengel von der Universität Mannheim im Gespräch mit der DW. Wo die Gesetzeslücke liegt, wird klar, wenn man sich anschaut, wie die Cum-Cum-Geschäfte funktionieren.

Wie Cum-Cum-Geschäfte ablaufen

Wenn deutsche Finanzinstitute, etwa Banken oder Investmentfonds, Aktien halten, für die sie eine Dividende bekommen, müssen sie Kapitalertragssteuer entrichten. Die können sie sich aber wieder erstatten lassen, weil sie ja schon Körperschaftssteuern bezahlt haben. Ausländische Finanzinstitute mit deutschen Aktien dürfen das nicht.

Deshalb verleihen ausländische Finanzinstitute ihre deutschen Aktien rund um den Zeitpunkt der Dividendenauszahlung für kurze Zeit an ein deutsches Finanzinstitut. Für dieses Verleihen verlangen sie eine Wertpapierverleihgebühr. Das deutsche Finanzinstitut lässt sich die Kapitalertragssteuer, die auf die Dividende anfällt, erstatten und gibt dann die Aktie zurück an den ausländischen Besitzer. Der so gemachte Gewinn wird unter beiden aufgeteilt.

Gesetzeslücken noch immer nicht geschlossen

Die Gesetzeslücke, die es in Deutschland und einigen anderen Ländern gibt, bestehe darin, das diese Wertpapierleihgebühr nicht besteuert werde, sagt Spengel. In Ländern, die die Wertpapierleihgebühren versteuern, gebe es auch keine Cum-Cum-Geschäfte.

Schon 2016 hatte Spengel gemahnt, dass Cum-Cum-Geschäfte möglich seien. "Zwar wurden durch eine Gesetzesänderung die Transaktionskosten erhöht; die eigentliche Gesetzeslücke und damit die Möglichkeit zur Steuerarbitrage, besteht allerdings weiterhin", so der Steuerexperte.

Im Interview mit der DW plädiert er dafür, die Lücke durch eine einfache gesetzliche Änderung zu schließen. Außerdem könnte der Staat, bevor er Steuern erstattet, auch genauer die Sachlage prüfen, meint Spengel.

Cum-Cum - für Banken ein sicheres Geschäft

Cum-Cum-Geschäfte werden bis heute nicht verhindert. Und Geschäfte aus der Vergangenheit werden kaum verfolgt. "Für Banken ist das eine Super-Geschichte, weil Cum-Ex und Cum-Cum zur Gruppe der Tech Trades gehören", sagt Juristin Brorhilker zur DW. Die Gewinne entstünden nur aus steuerlichen Effekten und seien damit völlig konjunkturunabhängig.

"Das einzige Risiko ist das Risiko, durch die Behörden entdeckt zu werden. Dieses Risiko ist solange sehr gering, solange die Behörden so schlecht aufgestellt sind", sagt die Expertin. Und das gelte für ganz Europa.

Schlecht aufgestellte Behörden

Zum einen fehle es an Fachleuten, die Wirtschaftskriminalität oder Steuervergehen verfolgen, so Brorhilker: "Bei den Betriebsprüfungen herrscht chronische Unterbesetzungen". In den deutschen Behörden gibt es außerdem ein Rotationsprinzip. Das heißt, die Mitarbeitenden wechseln regelmäßig ihre Ämter oder Aufgaben. "In Bereichen, in denen sehr viel Fachexpertise gebraucht wird, die nicht so schnell erworben werden kann, ist das total kontraproduktiv", beklagt Brorhilker.

Außerdem sei die technische Ausstattung der Behörden sehr schlecht. "Das ist nicht zu unterschätzen, vor allem weil die Gegenseite technisch sehr gut ausgestattet ist". Außerdem würden sich die deutschen Behörden untereinander nicht gut abstimmen. Das fange schon beim Schreiben von E-Mails an. In der einen Behörden darf keine E-Mail verschlüsselt werden, in der anderen dürfen aber nur verschlüsselte E-Mails geschrieben werden. Auch Abstimmungen per Video-Konferenzen seien oft nicht möglich, weil in den Behörden verschiedene Konferenzsysteme zugelassen sind, erinnert sich Brorhilker.

Hinzu käme, dass die illegalen Geschäfte nicht an der deutschen Grenze aufhören. Die internationalen Zusammenarbeit von Behörden sei geprägt von sehr langwierigen, sehr bürokratischen Verfahren. "In den Finanzzentren in Europa gelten besonders hohe Schutzvorschriften für Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer", so Brorhilker. Das sei ein Ergebnis der intensiven Lobbyarbeit der Finanzbranche.

Lobbyarbeit zahlt sich aus

Die Einflussnahme auf die Politik lässt sich die Finanzbranche einiges kosten. Fast 40 Millionen Euro pro Jahr werden für Lobbyarbeit ausgegeben, das ist mehr als die Interessenvertretung der Auto- und Chemiebranche zusammen zur Verfügung hat, heißt es bei Finanzwende.

Mit 442 Lobbyisten kommen rein rechnerisch fast zehn Interessenvertreter der Finanzbranche auf jedes Mitglied im Finanzausschuss des Bundestags, der 42 Mitglieder hat. Das Gremien also, das sich um die Gesetzgebung im Steuerrecht sowie die Regulierung der Finanzmärkte und die Bankenaufsicht kümmert.

Leider würden die Lobbyisten viel zu oft Gehör finden, berichtet Monika Heinold, die sich ebenfalls bei "Finanzwende" engagiert. Sie war von 2012 bis 2024 Finanzministerin des Landes Schleswig-Holstein. Dort erlebte sie "eine intensive Zeit". Sie sah, wie "Lobbyisten versuchen, Steuergesetze zu ihren Gunsten zu beeinflussen und verschärfte Regelungen zu verhindern. Leider finden sie viel zu oft Gehör."

Drohende Interessenkonflikte können sich auch aus der Verquickung von Politik und Finanzbranche ergeben. "Finanzwende" kritisiert, das im derzeitigen Finanzausschuss eine Häufung von Abgeordneten auffalle, die Nebeneinkünfte von Sparkassen oder Volksbanken erhalten würden. "Mehrere Abgeordnete sind nebenbei Mitglieder in Gremien ihrer lokalen Sparkassen oder Volksbanken und erhalten hierfür vier- bis fünfstellige Beträge."

Während der Cum-Cum-Geschäfte weiterlaufen, läuft der Staat zumindest einigen Tätern hinterher und versucht, das Geld zurückzubekommen. Zurzeit befinden sich 253 Cum-Cum-Verdachtsfälle mit einem Volumen in Höhe von 7,3 Milliarden Euro bei den obersten Behörden der Länder und dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) in Bearbeitung.

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Image caption Abgehoben. Banken und Investoren holen sich vom Staat Milliarden, die ihnen nicht zustehen
Image source Thorsten Wagner/W2Art/picture alliance
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Item 4
Id 73214490
Date 2025-07-24
Title Der van Gogh aus Lagos: John Madu
Short title Der van Gogh aus Lagos: John Madu
Teaser Der nigerianische Maler John Madu präsentiert seine Bilder im Van Gogh Museum Amsterdam - als erster Künstler aus Afrika mit einer Einzelausstellung. Seine Kunst versprüht die Energie seiner Heimatstadt: Lagos.
Short teaser Der nigerianische Maler zeigt seine Werke im Van Gogh Museum in Amsterdam. Mit dem Niederländer verbindet ihn viel.
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Es gibt so etwas wie eine Lagos-Magie: Jeder, der den staubigen Boden der nigerianischen Metropole betritt, verfällt dem Zauber dieser boomenden Stadt.

Die Stimmung in Lagos ist eine besondere, eigenartige Mischung aus Lebensfreude und Melancholie, Krise und Aufbruch. Kein Wunder, dass unter dem meist wolkigen Lagos-Himmel die Künste gedeihen - ob Afrobeat, Mode oder Malerei.

Doch, selbstverständlich hätte er auch in einer anderen Großstadt leben und arbeiten können - zum Beispiel in New York oder Tokio, entgegnet John Madu auf die Frage, ob seine Kunst nur in Lagos denkbar sei. Aber die Quelle seiner Inspiration liegt genau hier, in seiner Heimatstadt: "Ich bin im Herzen von Lagos geboren und aufgewachsen, und die Art und Weise, wie man hier lebt, prägt meine Sicht auf die Welt", sagt Madu im DW-Interview. "Die Stadt ist eine unglaubliche Mischung von Kulturen, und sie hat eine hochkultivierte, weltoffene Mittelschicht. Dieser Trubel, diese menschlichen Energien, die vielen Subkulturen - das hat mich schon als Teenager geprägt."

Vincent und John

"Noch lange bevor ich wusste, wer van Gogh überhaupt ist, kannte ich seine Werke", sagt John Madu. Ein Kalender mit Reproduktionen des großen Niederländers hing in der Wohnung seiner Eltern an der Wand. Der junge John war fasziniert von der Farbigkeit, dem Kornblumenblau, dem Weizengelb, dem tiefen Grün, von der geordneten, zielstrebigen Expressivität der Pinselstriche, von Bäumen und Sternen, die wie kleine Wirbelstürme aussehen.

Irgendwie sei es Vincent gewesen, der ihm den Weg zur Malerei als Ausdrucksform der eigenen Innenwelt wies, so John Madu: "Die Welt von van Gogh entfaltet sich für die Menschen, damit sie sich mit ihm identifizieren können", sagte der heute gestandene Künstler. Aber auch sein Vater habe ihm zum Künstlertum verholfen. Obwohl selbst überhaupt kein Künstler, sondern Angestellter und später Geschäftsmann, der seinem Sohn "einen ordentlichen Job" wünschte, habe er den Kunstsinn des Jungen geweckt: "Mein Vater war ein Ästhet, er hatte Stil und Sinn für das Schöne", sagt John Madu liebevoll. "Er liebte Blumen und Versace."

John Madu sieht einige Gemeinsamkeiten zwischen sich und Vincent: So sind beide Autodidakten, die ihren Malstil selbst fanden. Und beide sind geprägt von der ostasiatischen Kunst: Für Vincent waren es japanische Holzschnitte (u.a. von Utagawa Hiroshige), die ihn faszinierten, John Madu ist "Generation Manga". Sogar sein Hund, eine französische Bulldogge, trägt den Namen Sasuke (Manga-Fans wissen, von wem die Rede ist).

Bestimmt hätte van Gogh gerne Lagos besucht - allein schon wegen der Yoruba-Kunst oder der Nok-Skulpturen, der ältesten bekannten Kunst Westafrikas, die europäische Künstler schon im 19. Jahrhundert faszinierte. "Wer behauptet, Afrikaner seien Wilde gewesen, sollte sich den Avantgardismus, die Verspieltheit dieser Kunst vor Augen führen", so John Madu.

"Paint your path"

Nun gipfelt die Beziehung der beiden Künstler in einer Schau im renommierten : "Paint Your Path". Von der Anfrage des Museums fasziniert, schuf John Madu in seinem Atelier in Lagos in nur drei Monaten zehn großformatige Bilder, die von den Werken der Sammlung des Museums in Amsterdam inspiriert sind. Van Goghs Motive aus dem späten 19. Jahrhundert treffen dabei auf den westafrikanischen Kontext von heute: So trägt auf einem Bild ein Schwarzer einen Plastikstuhl in ein Haus, das wie das "Restaurant de la Sirène" in Asnières aussieht, das van Gogh 1887 malte. Und auf einem Selbstporträt Madus sieht man van Goghs Gemälde "Blühender Pflaumenbaum" (nach Hiroshige) im Bild.

Der Katalog zur Ausstellung spricht von einer "Brücke zwischen lokaler Erzählung und globalem Publikum". John Madu formuliert es im DW-Gespräch so: "Ich wollte dem Meister, den ich wirklich liebe, unbedingt meine Ehrerbietung erweisen." Ansonsten liebe er auch Gustav Klimt und Edward Hopper, bewundert Michelangelo und Caravaggio - "seine Ästhetik des Dunklen berührt mich tief."

Ein Künstler aus Afrika

Ja, und eine Bitte hat der Maler John Madu an sein Publikum: Er mag nicht "afrikanischer Künstler" genannt werden. "Ein Künstler aus Afrika" wäre ihm viel lieber. In Lagos geboren, in der Welt zu Hause. Ein Großstadtjunge, der House-Musik und Anime-Serien liebt und zugibt, "einen Haufen Geld" für Nike-Sneaker und coole Sonnenbrillen auszugeben. Apropos: Auch van Gogh war durchaus modebewusst. Ein verlumpter Maler ist genauso ein Stereotyp wie ein afrikanischer Künstler mit unvermeidlichen Dreadlocks.

Hat seine Kunst eine gesellschaftliche Aussage? John Madu überlegt. Es gibt ein Phänomen in Nigeria: Japa. Es steht dafür, dass ausgerechnet die jungen und gebildeten Menschen das Land verlassen. "Es ist regelrechtes ein Syndrom", sagt Madu. Und ja, er hat eine Meinung dazu: "Ich werde Lagos nicht verlassen. Denn: Was ist, wenn alle gehen?" Die Hollywood-Stars und japanischen Börsenmillionäre, die seine Bilder kaufen, wissen, wo sie ihn finden.

Item URL https://www.dw.com/de/der-van-gogh-aus-lagos-john-madu/a-73214490?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Künstler mit Pfeife: John Madu
Image source John Madu
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Item 5
Id 73324802
Date 2025-07-24
Title Können wir den Erdüberlastungstag umkehren?
Short title Können wir den Erdüberlastungstag umkehren?
Teaser Ein bisschen mehr als die Hälfte des Jahres 2025 ist vorbei, ab jetzt leben wir auf Pump: Die Menschheit hat die Ressourcen des Planeten aufgebraucht und lebt so, als hätten wir 1,8 Erden. Wie kehren wir das um?
Short teaser Ein bisschen mehr als die Hälfte des Jahres 2025 ist vorbei, ab jetzt leben wir auf Pump. Wie kehren wir das um?
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Am 24. Juli hat die Menschheit die ökologischen Ressourcen der Erde fürs gesamte Jahr aufgebraucht. Das hat die internationale Nachhaltigkeitsorganisation Global Footprint Networkgemeinsam mit der York Universität im kanadischen Toronto berechnet. Dieser sogenannte Erdüberlastungstag ist dieses Jahr eine gute Woche früher als letztes Jahr. Das liegt hauptsächlich an neuen Daten, die zeigen, dass Ozeane weniger CO2 absorbieren können als bisher gedacht.

Wir konsumieren zu viel und verbrauchen so mehr von der Natur als sie in einem Jahr erneuern kann. Das zeigt sich beispielsweise im Kahlschlag der Wälder, dem Verlust der Artenvielfalt und der CO2-Konzentration in der Atmosphäre. Dies ist Teil eines Trends, der in den frühen 1970er Jahren begann.

Mathis Wackernagel, der das Global Footprint Network mitgegründet hat, sagt, der übermäßige Verbrauch von Ressourcen sei die Ursache für viele Umweltprobleme. Regelmäßig mehr an Ressourcen zu verbrauchen als der Planet auf natürliche Weise reproduzieren kann, habe einen kumulativen Effekt. "Selbst wenn wir auf dem gleichen Niveau bleiben, erhöhen wir die ökologische Schuldenlast der Welt," so Wackernagel im DW-Gespräch. "Diese Last ist messbar."

Überkonsum als globales Problem

Katar, Luxemburg und Singapur sind die ersten Länder, die ihre jeweiligen Erdüberlastungstage bereits im Februar erreichten. Die USA waren nicht weit davon entfernt. Wenn jeder auf dem Planeten so konsumieren würde wie eine US-amerikanische Person, wären die Ressourcen am 13. März erschöpft. Für Deutschland und Polen ist dies am 3. Mai der Fall, für China und Spanien am 23. Mai, Südafrika am 2. Juli.

Wackernagel sagt, dass ein hohes Einkommen "typischerweise zu einem höheren Ressourcenverbrauch führt". Aber das sei nicht der einzige Grund. Qatar beispielsweise ist mit einem Wüstenklima, wenig Regen im Jahr und sehr heißen, feuchten Sommern stark auf Klimaanlagen angewiesen, die durch Energie aus fossilen Brennstoffen betrieben werden. "Sie haben leichten Zugang zu fossilen Brennstoffen, daher ist die Nutzung günstig und hat einen großen ökologischen Fußabdruck", erklärt Wackernagel. Darüber hinaus benötige das Land auch viel Energie, um Salzwasser mittels Entsalzungsanlagen trinkbar zu machen.

Uruguay erreicht das Ressourcenlimit den Prognosen zufolge erst am 17. Dezember – das südamerikanische Land hat es erfolgreich geschafft, von fossilen Brennstoffen zu erneuerbaren Energien zu wechseln und setzt dabei vor allem auf Wasser- und Windkraft sowie Biomasse.

Nur das nehmen, was die Erde ersetzen kann

Und dann gibt es die Länder, die innerhalb des Budgets des Planeten bleiben, wie etwa Indien, Kenia und Nigeria. Um im Rahmen zu bleiben, müsste der globale ökologische Fußabdruckder verfügbaren Biokapazität pro Person auf unserem Planeten entsprechen, die derzeit bei etwa 1,5 globalen Hektar liegt.

Biokapazität ist dabei definiert als Land und Ozeanfläche, die Ressourcen wie Nahrung und Holz bereitstellen, urbane Infrastruktur beherbergen und überschüssiges CO2 absorbieren.

Alles darüber hinaus, also was über der global verfügbaren Biokapazität liegt, bedeutet, dass wir zu viele Ressourcen verbrauchen.

Deutschland hat in etwa die gleiche Menge an Biokapazität pro Person wie der globale Durchschnitt zur Verfügung, verbraucht aber dreimal so viel, so Wackernagel. Obwohl Indien, das bevölkerungsreichste Land der Welt, mehr Ressourcen im Jahr verbraucht als es selbst ersetzen kann, bleibt es global gesehen "mit seinem Level an Konsum unter einem Planeten", sagt Wackernagel. Allerdings sollte das Maß 'ein Planet' nicht das Ziel sein, warnt er. Der Konsum müsse niedriger sein, damit auch anderen Arten Raum gegeben werde.

Jahrzehnte an Überkonsum zeigen den Verschleiß

Obwohl wir Ressourcen weit über das hinaus verbrauchen, was die Erde regenerieren kann, haben wir ein kollektives Verständnis, dass dies schon okay so sei, sagt Wackernagel. "Aber wir machen uns etwas vor."

Der Co-Präsident des Thinktanks Club of Rome, Paul Shrivastava, sagt, es sei an der Zeit, unser Verständnis von Volkswirtschaften zu überdenken. "Wir müssen von einer ausbeuterischen Denkweise der Wirtschaft zu einer regenerativen Denkweise übergehen," so Shrivastava im DW-Gespräch. Bergbau und die Gewinnung von Öl seien ausbeuterische Formen, denn: "Sobald wir es aus der Erde geholt haben, geben wir nichts zurück."

Laut Wackernagel geht es nicht darum, was wir für eine regenerative Lebensweise aufgeben müssen, sondern wie wir uns auf die Zukunft vorbereiten können und was dann einen Wert für uns haben wird.

Doch anstatt unsere Volkswirtschaften anzupassen, um die Überlastung zu reduzieren, werde versucht, noch das letzte Bisschen aus der Zahnpastatube herauszudrücken. "In den USA, wo ich lebe, konnte ich sehen, dass viele der Wahlthemen letztes Jahr sich genau darum drehten, beispielsweise um die Angst, nicht genug Energie zu haben." Es sei versäumt worden, das eigentliche Problem der Überlastung anzugehen und stattdessen darauf gedrängt, mehr fossile Brennstoffe aus dem Boden zu holen.

Wie können wir den Erdüberlastungstag umkehren?

Das Global Footprint Network hat eine Vielzahl an Lösungen in fünf Schlüsselbereichen ausgearbeitet, die das Datum des Erdüberlastungstag wieder nach hinten schieben könnten. Dabei ist der Energiesektor bei weitem der größte Faktor: Wenn CO2-Emissionen mit einem Preis belegt werden, der die wahren Kosten der Verschmutzung des Planeten widerspiegelt, könnte das dazu beitragen, das Datum um 63 Tage zu verschieben.

Sogenannte Smart Cities mit integrierten Verkehrssystemen, fortschrittlichem Energiemanagement und vorausschauender Sensorik zur Regulierung des Energieverbrauchs in Gebäuden könnten das Datum um weitere 29 Tage schieben.

Wenn Kohle- und Gaskraftwerke mit erneuerbaren Energien wie Solar und Wind ersetzt und so 75 Prozent der Elektrizität aus kohlenstoffarmen Quellen generiert würde, könnte das weitere 26 Tage bringen.

Lebensmittelverschwendung um die Hälfte zu reduzieren, würde 13 Tage zum jetzigen Datum dazu addieren; die Hälfte des globalen Fleischkonsums mit pflanzlichen Alternativen zu ersetzen, würde sieben Tage allein durch die Einsparung von CO2 und Landnutzung bedeuten. Nur ein fleischloser Tag pro Woche würde das Datum um rund zwei Tage nach hinten verschieben.

Interessen an der Aufrechterhaltung der Erdausbeutung

"Es gibt Eigeninteressen an der Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Systems" etwa in Bezug auf fossile Brennstoffe, sagte Shrivastava. Und auch wenn individuelle Entscheidungen, zum Beispiel weniger Fleischkonsum, Fahrrad statt Autos zu fahren und weniger weit zu reisen auf der sogenannten Power of Possibility Liste relativ weit unten rangieren, haben wir beim Wählen die Macht, einen Systemwandel zu fordern.

"Auch wenn wir all das als Einzelperson nicht kontrollieren, können wir mitreden und mit Leuten sprechen, die mitreden können," so Shrivastava. Das bedeute zum Beispiel, bei friedlichen Protesten mitzumachen oder lokale Politiker zu unterstützen, die eine ökologische Vision haben. Solch ein Wandel werde durch die Macht des Volkes kommen, ergänzt Shrivastava.

"Das Problem der Überlastung ist das zweitgrößte Risiko für die Menschheit dieses Jahrzehnt", so Wackernagel. "Das größte Risiko ist, nicht zu reagieren."

Redaktion: Tamsin Walker

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Image caption Wie können wir die Ausbeutung unseres Planeten zurückdrehen?
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Item 6
Id 73383304
Date 2025-07-24
Title Was hält Kameruns Langzeitherrscher Paul Biya an der Macht?
Short title Was hält Kameruns Langzeitherrscher Paul Biya an der Macht?
Teaser Paul Biya ist mit 92 Jahren bereits das älteste Staatsoberhaupt der Welt. Im Oktober will er sich im Amt bestätigen lassen. Sein Machtapparat wird durch Härte, und Angst vor Verlust von Privilegien stabil gehalten.
Short teaser Kameruns Autokrat Paul Biya will mit 92 Jahren wiedergewählt werden. Härte und Angst hielten seine Macht bisher stabil.
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"Das Beste kommt erst noch." So lautet das Versprechen, mit dem Paul Biya sich um eine achte Amtszeit an der Staatsspitze Kameruns bewirbt. Der 92-Jährige hatte schon viele Gelegenheiten, die Geschicke seines Landes zu prägen: Seit 1982 ist er an der Macht; wenn er am 12. Oktober wiedergewählt wird, könnte der schon heute älteste Staatschef der Welt bis kurz vor seinem 100. Geburtstag im Amt bleiben.

Viele Einwohner des zentralafrikanischen Landes glauben nicht mehr an ein besseres Kamerun unter Biya. Insbesondere vielen jungen Menschen - das Durchschnittsalter von mehr als 36 Prozent der Bevölkerung ist 18 Jahre - fehlt es an Perspektiven: Arbeitslosigkeit, Bildung und Gesundheitsversorgung zählen zu ihren Sorgen.

Das "System Biya"

Sie wachsen auf in einem Land, in dem ein Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt. Trotz seines Reichtums an Öl, Erdgas, Aluminium, Gold, Edelhölzern, Kaffee, Kakao und Baumwolle ist Kamerun stark von der Wirtschaft Chinas, aber auch von Entwicklungshilfen abhängig. Korruption und Menschenrechtsverletzungen gehören zum Alltag.

Biyas erneuter Kandidatur begegnen viele Kameruner mit Schulterzucken. "Das ist keine Überraschung", sagt der Student Olivier Njoya zur DW. "Es ist einfach eine Schande, dass es Menschen gibt, die nicht an das Gemeinwohl denken, sondern nur an ihre eigenen Interessen."

Wie schafft es ein Politiker, über 43 Jahre lang das gespannte Netz seiner Macht bis zu seinem Lebensabend nicht reißen zu lassen? Zumal sich Biya häufig außer Landes in Kliniken und zur Erholung in Paris und in der Schweiz aufhält.

Christian Klatt, Büroleiter der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in Kamerun findet es "auffällig, wie gut er darin ist, sich an der Macht zu halten". Aus dem eigenen Lager sowie aus der Opposition seien immer wieder Stimmen zu hören, dass er ein sehr taktierender, machtpolitischer Mensch sei, der wisse, wie man Konkurrenten gegeneinander ausspielt.

"In den vergangenen Jahren konnte niemand Biya gefährlich werden", sagt Klatt. Es sei nie einer Person wirklich gelungen, sich als Nachfolger Biyas zu installieren, weder aus den eigenen Reihen, noch in den größten Oppositionsparteien. "Biya ist sehr gut darin, Personen wegzuloben, auf andere Posten zu versetzen."

Keine Gefahr eines Putschs in Kamerun

Insbesondere in Westafrika putschten sich in der Vergangenheit Generäle an die Macht. Ein solches Szenario hält Klatt in Kamerun für ausgeschlossen: "Das Militär, das in vielen anderen Staaten immer ein Risikofaktor ist, hat eine große Gewaltenteilung innerhalb der eigenen Strukturen. Keine einzelne Gruppierung wäre somit stark genug, einen Putsch zu starten", sagt er zur DW.

Biyas Partei, die Demokratische Vereinigung des Kamerunischen Volkes (Rassemblement Démocratique du Peuple Camerounais, RDPC), regiert seit der Unabhängigkeit Kameruns 1960 und wird von Präsident Biya seit 1982 geführt.

Es sei nicht unwahrscheinlich, dass Biya die Wahl im Herbst wieder gewinnt, so Klatt. "Seine Regierungspartei hat viele Anhänger und ist am besten im ganzen Land vertreten." In einem kurzen Wahlprozess könne die RDPC andere Oppositionsparteien ausstechen. Im kamerunischen Wahlsystem brauche ein Kandidat nur die einfache Mehrheit zum Wahlsieg, das komme Biya sehr zugute.

Einzelkämpfer statt geschlossener Opposition

Einer, der sich als Biyas Nachfolger bewirbt, ist der 37-jährige Hiram Samuel Iyodi. Er ist einer der jüngsten Kandidaten und wurde von der 2018 gegründeten Partei Mouvement Patriotique pour la Prospérité du Peuple (MP3) aufgestellt.

"Insbesondere junge Menschen haben den Eindruck, dass der kamerunische Wahlapparat auf die Regierungspartei zugeschnitten ist", sagt Iyodi zur DW. Sie seien nicht der Ansicht, dass ihre Stimme bei der Beteiligung in der Politik gehört werde. "Was wir den jungen Kamerunern also sagen, ist: Wenn wir alle zusammenhalten, können wir einen Schlussstrich unter dieses Regime ziehen, (...) das nicht mehr in der Lage ist, die aktuellen Sorgen der Bevölkerung zu beantworten."

Die Bemühungen der Oppositionsparteien, über die Jahre ein Gegengewicht zur Kandidatur Biyas zu schaffen, scheiterten an unterschiedlichen Ideologien und ihrer Zerstrittenheit: Eine politische Koalition, die Douala-Gruppe - zerbrach kurz vor Ende der Nominierungsfrist für die Präsidentschaftskandidatur am 22. Juli.

Strippenzieher im Schatten des Präsidenten

Manche Experten sehen Biya aber nicht als starken Mann, sondern als Marionette eines perfiden politischen Systems. Denn laut Philippe Nanga, Politikanalyst und Menschenrechtsaktivist, liegt die tatsächliche Macht nicht mehr in den Händen des Präsidenten, sondern in denen eines kleinen Kreises von Akteuren, allen voran des Generalsekretärs des Präsidenten, Ferdinand Ngoh Ngoh.

"Der Generalsekretär unterzeichnet mittlerweile fast alle Dokumente, die vom Präsidenten kommen sollen. Er ist vor Ort allgegenwärtig, leitet politische Missionen und löst interne Konflikte innerhalb der Partei. Dies sind Aufgaben, die normalerweise in die Verantwortung des Staatsoberhauptes fallen", sagt Nanga zur DW.

Angst vor Aufgabe der Privilegien

Sogar die First Lady, Chantal Biya, spiele dabei eine Rolle, wenn auch im Hintergrund: "Sie profitiert so von einer strategischen Position, ohne die politische und rechtliche Belastung einer offiziellen Rolle übernehmen zu müssen."

Laut Nanga bleibt Paul Biya trotz seines gebrechlichen Gesundheitszustands der Einzige, der die Einheit der Partei bewahren könne. "Sobald ein anderer offiziell an die Macht kommt, wird die Partei zerbrechen. Es gibt bereits tiefe interne Gräben", so Nanga. Einige Funktionäre seien gegen die Wiederwahl des Präsidenten, trauten sich aber aus Angst vor Repressalien nicht, dies offen zu äußern.

Die Nichtregierungsorganisation Freedom House spricht in ihrem jüngsten Jahresbericht von Angriffen auf "unabhängige Medien, Oppositionsparteien und zivilgesellschaftliche Organisationen, die mit Verboten und Schikanen konfrontiert waren". Viele einzelne Journalisten, Politiker und Aktivisten seien willkürlich festgenommen und tätlich angegriffen worden.

Der Angstfaktor halte die Fassade einer Stabilität des Systems Biya aufrecht, meint auch der Politologe Ernesto Yene: "Und jeder, der es wagt, die Tür zuzuschlagen, wird schnell an den Rand gedrängt", sagt Yene zur DW. "In Wirklichkeit verstecken sich alle hinter Paul Biyas Kandidatur, weil sie jedem die Wahrung seiner Privilegien innerhalb des Machtapparats garantiert. Sollte ein anderer Kandidat auftauchen, würde die Partei Gefahr laufen, zu implodieren."

Mitarbeit: Kossivi Tiassou, Etienne Gatanzi, Elisabeth Asen

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Image caption "Das Beste kommt erst noch": Auch mit 92 will Paul Biya noch keinen Generationenwechsel in Kamerun einleiten
Image source Jacovides Dominique/Pool/ABACA/picture alliance
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Item 7
Id 73382555
Date 2025-07-23
Title Syrien: Unklare Rolle von Drusenführer al-Hidschri
Short title Syrien: Unklare Rolle von Drusenführer al-Hidschri
Teaser Hikmat al-Hidschri gilt in Syrien als umstritten - auch wegen seines guten Verhältnisses zu Israel. Manche sehen in ihm einen Scharfmacher, andere ein Vorbild für notwendigen Widerstand und Selbstverteidigung der Drusen.
Short teaser Der Drusenführer gilt als umstritten. Manche sehen ihn als Scharfmacher, andere als Vorbild.
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Während der tödlichen Ausschreitungen in der südsyrischen Provinz Suwaida tauchte immer wieder ein Name auf: Hikmat al-Hidschri.

Der 60 Jahre alte al-Hidschri, ein prominenter spiritueller Führer der drusischen Gemeinschaft in Syrien, spielte eine wichtige Rolle bei den Ereignissen, in deren Verlauf viele Hunderte Menschen ums Leben kamen und die den fragilen politischen Übergang des Landes nach Jahrzehnten der Diktatur zu gefährden drohen.

Al-Hidschris Kritiker sehen in seiner harten, ablehnenden Haltung gegenüber der neuen syrischen Regierung einen wesentlichen Grund für die Eskalation der Gewalt. Sie beschimpfen ihn als machtgierigen Verräter und als angeblichen Drogenschmuggler mit Verbindungen zu ehemaligen Militärs des Assad-Regimes.

Seine Anhänger hingegen sehen in ihm ein Musterbeispiel für Würde und Mut. Aus ihrer Sicht hat er die von sunnitischem Dominanzstreben bedrohte Minderheit der Drusen erfolgreich gegen die Übermacht der syrischen Übergangsregierung und ihre potenziell gefährlichen Anhänger mit oftmals militant-islamistischem Hintergrund verteidigt.

Politische Positionswechsel

Al-Hidschri ist einer der drei wichtigsten religiösen Führer der drusischen Gemeinschaft in Syrien. Die anderen beiden sind Jusuf al-Dscharbu und Hamoud al-Hanawi.

Unter der Herrschaft des Assad-Regimes und während des syrischen Bürgerkriegs nahm al-Hidschri eine Position ein, die sich vielleicht am besten als politisch zweckmäßig und angepasst an äußere Umstände umschreiben ließe. Zeitweise unterstützte er offen das Assad-Regime. Doch ab 2023 sprach er sich gegen den Diktator aus. Auch die beiden anderen drusischen Geistlichen sollen zeitweise das Assad-Regime unterstützt haben - keine Seltenheit in einem System, in dem offener politischer Widerstand lebensgefährlich war.

Außerdem gab es Streitigkeiten zwischen den dreien darüber, wer der oberste Führer der drusischen Gemeinschaft in Syrien ist und wer für sie spricht. Berichten zufolge distanzierten sich al-Dscharbu und al-Hanawi aus diesem Grund von al-Hidschri.

Hikmat al-Hidschri: Vorbild oder Kompromiss-Verweigerer?

In Syrien leben die Drusen hauptsächlich in der südlichen Provinz Suwaida und verhandeln ähnlich wie die Kurden über ihre Position innerhalb des neuen Syriens.

Syrien ist ein mehrheitlich sunnitisches Land. Die verschiedenen religiösen und ethnischen Minderheiten des Landes sehen ihrer Zukunft mit Sorge entgegen.

An Verhandlungen über die Ordnung und Struktur des neuen Syriens und die Rolle der Minderheiten ist auch al-Hidschri beteiligt. Hinsichtlich einer Zusammenarbeit mit der neuen Regierung gilt er als wenig kompromissbreit. Darin unterscheidet er sich von den beiden anderen drusischen Führern, die deutlicher Arrangements mit der Übergangsregierung von Ahmed al-Scharaa anstreben. Dieser hat selbst eine militant-islamistische Vergangenheit, hat dieser aber öffentlich abgeschworen - doch nicht alle glauben ihm das.

Im März wurde eine gemeinsame handschriftliche Erklärung der Regierung und drusischer Behörden in Umlauf gebracht, in der es hieß, beide Seiten hätten eine Einigung über ihre gemeinsame Zukunft erzielt. Al-Hidschri war Berichten zufolge bei dem Treffen zwar anwesend, unterzeichnete das Papier jedoch nicht und erklärte später, er sei damit nicht einverstanden.

Die Übergangsregierung hat keine vollständige Kontrolle über die nationale Sicherheit. Die jüngste massive Eskalation, an der laut unterschiedlichen Berichten offenbar auch Regierungssoldaten auf Seiten beduinischer Kämpfer an Gewaltaktionen gegen Drusen beteiligt waren, haben nicht dazu beigetragen, den Minderheiten des Landes ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Deswegen hält ein Teil der Drusen die Haltung von al-Hidschri für richtig.

Unterstützung auch durch Kritiker

Seit dem 13. Juli, nachdem sich die Spannungen zwischen Drusen und Beduinen zu schweren Kämpfen ausgeweitet hatten, wurden mehrere Waffenstillstandsabkommen vereinbart. Daran waren auch drusische Führer beteiligt. Al-Hidschri soll diese laut Beobachtern mehrfach nach anfänglicher Zustimmung abgelehnt haben.

Einige externe Beobachter äußern freilich durchaus Verständnis für diese Position. Der britisch-irakische Forscher und Analyst Aymenn Jawad al-Tamimi etwa berichtet, er habe mit Führern drusischer Kämpfer in Suwaida gesprochen, die zuvor mit al-Hidschris Haltung nicht einverstanden waren. Diese hätten ihm berichtet, noch während der Verhandlungen hätten Regierungstruppen Verstöße gegen die Vereinbarungen begangen.

Während der jüngsten Welle der Gewalt wurden sämtliche Seiten - die drusischen und die sunnitisch-beduinischen Kämpfer wie teils auch Regierungstruppen - beschuldigt, Gräueltaten begangen zu haben. In digitalen Medien grassieren viele Unklarheiten und viele gezielte Desinformation, viele Drusen sehen die Regierung als Verbündete ihrer Gegner. Solange die Gewalt nicht unabhängig untersucht ist, wird es schwierig sein, genau zu wissen, wer für was verantwortlich war.

Schutzgesuch in Richtung Israel

Syrische sunnitische Kämpfer in anderen Teilen des Landes reagierten auf die Gewalt und kündigten an, nach Suwaida zu reisen, um an Seite der beduinischen Milizen gegen die Drusen zu kämpfen. Al-Hidschri forderte die internationale Gemeinschaft, darunter die USA und Israel, auf, die Drusen zu schützen.

Noch am selben Tag, dem 16. Juli, bombardierte Israelsyrische Regierungsgebäude im Zentrum von Damaskus, unter anderem mit dem Argument, die Drusen beschützen zu wollen. Al-Hidschri wurde deshalb von politischen Gegnern in Syrien als Landesverräter beschimpft - ein Vorwurf, der nicht selten auch pauschal gegen die Drusen erhoben wird. Anti-israelische Sentiments sind in Syrien weit verbreitet, nicht zuletzt wegen des Kriegs in Gazastreifen, formell befinden sich Syrien und Israel außerdem seit vielen Jahrzehnten im Kriegszustand.

Die unübersichtliche Lage macht es derzeit nahezu unmöglich, die Verantwortung einzelner Akteure genau zu benennen. Womöglich steht al-Hidschri vor allem für einen Mangel an Konsens innerhalb der drusischen Gemeinschaft.

Es besteht aber kein Zweifel, dass die jüngsten Ereignisse die konfessionellen Spannungen in einem von gesellschaftlicher Unsicherheit geprägten Syrien noch einmal zusätzlich verschärft haben. Zwar scheint der Waffenstillstand zwischen den Konfliktparteien und und auch mit mit Israel weitgehend zu halten, doch nach den jüngsten Gewalttaten wird immer deutlicher: Auch wenn andere drusische Führer, etwa im Libanon, weiter auf Diplomatie drängen, drohen sich die Gefühle der syrischen Drusen gegenüber der Zentralregierung in Damaskus weiter zu verhärten.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Item URL https://www.dw.com/de/syrien-unklare-rolle-von-drusenführer-al-hidschri/a-73382555?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Bei den Kämpfen in Suwaida kamen Berichten zufolge viele Hunderte Menschen ums Leben
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Item 8
Id 73385643
Date 2025-07-23
Title Ukraine: Neues Gesetz schwächt Antikorruptionsbehörden
Short title Ukraine: Neues Gesetz schwächt Antikorruptionsbehörden
Teaser Präsident Wolodymyr Selenskyj schwächt per Gesetz die Korruptionsbekämpfung. Kritiker warnen vor einem Rückfall in alte Zeiten und sehen die EU-Integration gefährdet. In Kyjiw und anderen Städten protestieren Tausende.
Short teaser Präsident Wolodymyr Selenskyj schwächt per Gesetz die Korruptionsbekämpfung. Es regt sich Protest im ganzen Land.
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Am 22. Juli hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Gesetz unterzeichnet, dass die Befugnisse des Nationalen Antikorruptionsbüros (NABU) und der Spezialisierten Antikorruptionsstaatsanwaltschaft (SAPO) einschränkt. Es war erst wenige Stunden zuvor vom ukrainischen Parlament verabschiedet worden.

In mehreren Städten der Ukraine kam es daraufhin zu spontanen Protesten. In Kyjiw, wo einige tausend Menschen auf die Straße gingen, sprachen die Demonstranten von einem "Rückfall" in die Ära des prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Janukowitsch war von 2010 bis 2014 im Amt , bis er während der als "Maidan-Revolution" bekannt gewordenen pro-europäischen Proteste nach Russland fliehen musste.

Was ändert sich mit dem neuen Antikorruptionsgesetz?

Das neue Gesetz sieht vor, dass der Generalstaatsanwalt, der in der Ukraine vom Präsidenten mit Zustimmung des Parlaments ernannt wird, Zugang zu allen NABU-Fällen erhält und diesen auch jedem anderen Staatsanwalt gewähren kann.

Darüber hinaus kann er den NABU-Ermittlern schriftliche Anweisungen erteilen, den Gegenstand von Verfahren ändern, Ermittlungen auf Antrag der Verteidigung einstellen und vieles mehr. Das Gesetz schränkt auch die Verfahrensautonomie der SAPO erheblich ein.

"Die Unabhängigkeit der beiden Institutionen - von jeglichem politischen Einfluss und Druck auf unsere künftigen und laufenden Ermittlungen - wird faktisch vernichtet", erklärte SAPO-Staatsanwalt Oleksandr Klymenko. "NABU und SAPO wurden als Organe mit exklusiven Ermittlungsbefugnissen geschaffen, um Korruption auf höchster Ebene unter voller Garantie ihrer Unabhängigkeit zu bekämpfen. Das ist eine Voraussetzung für unser Vorankommen Richtung Europa", betonte NABU-Direktor Semen Krywonos.

Selektive Korruptionsbekämpfung in der Ukraine?

Nur einen Tag vor der Annahme des umstrittenen Gesetzes waren Büros von NABU und SAPO durchsucht worden. Ermittler der Antikorruptionsbehörden stehen unter Verdacht, Verbindungen nach Russland zu unterhalten.

Einige Abgeordnete begrüßten die Verabschiedung des Gesetzes, darunter die ehemalige Ministerpräsidentin und Vorsitzende der Partei "Vaterland", Julia Tymoschenko, die den beiden Behörden vorwirft, im Kampf gegen die Korruption selektiv vorzugehen. "Man kann nicht von Antikorruptions-Strukturen sprechen, sondern von einer Schattenregierung, die alle Prozesse kontrolliert", so Tymoschenko.

Präsident Selenskyj erklärte, dass die ukrainischen Antikorruptionsbehörden weiterhin funktionieren würden, "nur frei von russischem Einfluss". "Die Verdachtsfälle müssen untersucht werden. Seit Jahren leben einige Beamte, die aus der Ukraine geflohen sind, unbehelligt im Ausland - ohne rechtliche Konsequenzen."

Es gebe keine rationale Erklärung dafür, warum einige der milliardenschweren Strafverfahren seit Jahren festhingen, zürnte der Präsident. Zudem beklagte er, dass Russland in der Vergangenheit Zugang zu sensiblen Informationen erhalten habe.

Kritik auch aus den Reihen der ukrainischen Regierungspartei

Die Verabschiedung des Gesetzes wurde jedoch parteiübergreifend kritisiert. Unverständnis kam selbst aus den Reihen der regierenden Partei "Diener des Volkes". So warnte deren Abgeordnete Anastasija Radina, die Vorsitzende des parlamentarischen Antikorruptions-Ausschusses, noch vor der Abstimmung vor den "katastrophalen" Folgen dieses Gesetzes für den ukrainischen Staat.

Die Parlamentsfraktion der oppositionellen Partei "Europäische Solidarität" teilte mit, der Aufbau eines Antikorruptions-Systems sei eine der größten Errungenschaften der Maidan-Revolution gewesen, und diejenigen, die für das Gesetz gestimmt hätten, würden den Staat in einem kritischen Moment seiner Geschichte zerstören.

"Faktisch wird das Land in einen Zustand zurückgeworfen, mit dem die Russen einst zufrieden waren, als es an Rechten und Demokratie mangelte. Solche Länder geraten früher oder später in die Einflusszone des Kreml", warnte die Oppositionsabgeordnete und Vorsitzende des EU-Integrationsausschusses der Ukraine, Iwanna Klympusch-Zinzadse.

Ihr zufolge bedroht das Gesetz europäische und andere internationale Finanzhilfen, die an die Korruptionsbekämpfung der Ukraine geknüpft sind.

Brüssel zeigt sich besorgt über ukrainisches Antikorruptionsgesetz

EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos sprach im Zusammenhang mit dem neuen Gesetz von einem "ernsthaften Rückschritt". "Unabhängige Organe wie NABU und SAPO sind für den Weg der Ukraine in die EU von entscheidender Bedeutung. Die Rechtsstaatlichkeit bleibt im Mittelpunkt der EU-Beitrittsverhandlungen", schrieb Kos im sozialen Netzwerk X.

Der Investmentbanker und Finanzexperte Serhij Fursa wies auf Facebook darauf hin, dass viele Menschen dem NABU und der SAPO Ineffizienz vorwerfen. Doch seien die Organe "weit effektiver als angenommen", so Fursa. Wenn man bereit sei, mit den rechtlichen Einschränkungen sogar die europäische Integration und die Unterstützung westlicher Partner aufs Spiel zu setzen, "dann ist die Angst sehr groß - was bedeutet, dass das NABU sehr gute Arbeit leistet", meint Fursa.

Als Reaktion auf die Proteste hielt Wolodymyr Selenskyj am 23. Juli ein Treffen mit allen Leitern der ukrainischen Strafverfolgungs- und Antikorruptionsbehörden sowie mit Generalstaatsanwalt Ruslan Krawtschenko ab. "Wir alle hören, was die Öffentlichkeit sagt. Wir sehen, was die Menschen von staatlichen Institutionen erwarten, damit Gerechtigkeit und die Effektivität jeder einzelnen Institution gewährleistet wird", erklärte der ukrainische Präsident. Er kündigte an, innerhalb von zwei Wochen einen gemeinsamen Aktionsplan zur Lösung des Streits zu entwickeln.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

Item URL https://www.dw.com/de/ukraine-neues-gesetz-schwächt-antikorruptionsbehörden/a-73385643?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption In Kyjiw gingen tausende Menschen gegen das neue Antikorruptionsgesetz auf die Straße
Image source DW
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Item 9
Id 73383590
Date 2025-07-23
Title UN-Gericht: Staaten haften für Klimaschäden
Short title UN-Gericht: Staaten haften für Klimaschäden
Teaser Der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag hat den Schutz vor Klimawandel zur völkerrechtlichen Pflicht erklärt. Staaten müssen handeln – für heutige und zukünftige Generationen.
Short teaser IGH-Gutachten: Klimaschutz ist völkerrechtliche Pflicht – Staaten müssen Umwelt und Menschenrechte schützen.
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In einem wegweisenden Gutachten hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag erklärt, dass eine "saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt" ein Menschenrecht sei und dass das Versäumnis, die Erde vor den Auswirkungen des Klimawandels zu schützen, eine Verletzung des Völkerrechts darstellen kann.

Der IGH, das höchste Gericht der Vereinten Nationen, unterstrich die Verpflichtung der Staaten, die Menschenrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger angesichts steigender globaler Temperaturen zu schützen. Zudem müsse das Klima für "gegenwärtige und zukünftige Generationen" geschützt werden.

Bei der Verlesung des Urteils sagte IGH-Präsident Yuji Iwasawa: "Treibhausgasemissionen werden eindeutig durch menschliche Aktivitäten verursacht". Sie hätten "grenzüberschreitende Auswirkungen" mit weitreichenden Konsequenzen. Der Klimawandel sei eine "dringende und existenzielle Bedrohung", so der Vorsitzende des Gerichts in Den Haag

Er betonte, Staaten seien verpflichtet, bei der Verhinderung von Klimaschäden zusammenzuarbeiten und müssten sicherstellen, dass ihre nationalen Klimaziele so ehrgeizig wie möglich sind.

Größter Fall in der Geschichte des IGH

Den Prozess vor dem Gerichtshof hatten Studierende aus pazifischen Inselstaaten ins Rollen gebracht. Sie drängten ihre Regierungen dazu, eine rechtliche Klärung zu fordern.

Der Staat Vanuatu beantragte daraufhin beim IGH, über die Verpflichtungen der Staaten zum Schutz des Klimas und der Umwelt vor Treibhausgasemissionen nach internationalem Recht zu entscheiden - und damit auch zum Schutz heutiger und künftiger Generationen.

Im Dezember hörte das Gericht Aussagen von fast 100 Ländern und von zwölf Internationalen Organisationen zum Thema Klimawandel. Gaston Browne, Premierminister von Antigua und Barbuda, erklärte damals dem Gericht, der durch "ungehinderte Emissionen" verursachte Anstieg des Meeresspiegels trage die Küsten der Inseln ab und "verschlingt Land, das für unser Nation lebenswichtig ist".

Der karibische Archipel erodiert durch den Anstieg des Meeresspiegels und ist im Zuge des Klimawandels mit immer stärkeren Stürmen konfrontiert. Im Rahmen der Anhörungen im Dezember erklärten auch Staaten mit hohen CO2-Emissionen, wie etwa die Vereinigten Staaten, dass bestehende UN-Verträge – vor allem das Pariser Abkommen von 2015 – bereits rechtliche Verpflichtungen zum Handeln gegen den Klimawandel vorsehen.

In dem wegweisende Abkommen hatten sich 195 Nationen darauf verständigt, die globalen CO2-Emissionen zu reduzieren und die globale Erwärmung auf möglichst unter 1,5 Grad Celsius (im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter) zu begrenzen. US-Präsident Donald Trump hat inzwischen den Austritt seines Landes aus dem Abkommen verkündet.

Fachleuten zufolge war das Pariser Abkommen jedoch nie dazu gedacht, alle Gesetze rund um den Klimawandel zu definieren. Es biete vielmehr Raum für viele verschiedene Gesetze, sagt Joie Chowdhury, leitende Anwältin beim Zentrum für Internationales Umweltrecht (CIEL). Denn die steigenden Temperaturen beträfen "fast jeden Bereich unseres Lebens".

Mögliche Instrumente zur Durchsetzung von Maßnahmen gegen den Klimawandel seien daher auch bestehende internationale Vorschriften zu Menschenrechten, internationales Recht und Gesetzgebung zur staatlichen Verantwortung. "Die Klimaabkommen sind nach wie vor sehr wichtig, aber sie sind nicht die einzige Option", betont Chowdhury im Gespräch mit der DW.

Rechenschaft für historische Klima-Verantwortung

Mit der Klage vor Gericht bat Vanuatu auch um Klärung der rechtlichen Konsequenzen für Länder, die ihren Verpflichtungen zur Senkung ihrer Emissionen nicht nachgekommen sind.

Einigen Fachleute zufolge tragen Länder, die im Verlauf der Geschichte am meisten CO2 ausgestoßen haben – darunter die USA, China, Russland und die Europäische Union – die größte Verantwortung für die globale Erwärmung tragen.

"Die Emissionen der Vergangenheit spielen eine Rolle", so Chowdhury zur DW - dieser Schaden sei bereits angerichtet. "Das muss anerkannt und behoben werden."

Ärmere Länder – von denen viele die Auswirkungen des Klimawandels am schlimmsten zu spüren bekommen, obwohl sie am wenigsten zu dieser Krise beigetragen haben – fordern seit langem, dass reichere Nationen für die Schäden aufkommen, die durch extreme Wetterereignisse im Zusammenhang mit dem Klimawandel verursacht werden.

Vor zwei Jahren wurde bei den UN-Klimaverhandlungen in Dubai ein Fonds für Verluste und Schäden eingerichtet. Bislang sind jedoch nur rund 700 Millionen Dollar an Zusagen eingegangen. Das ist weit weniger als die Hunderte von Milliarden Dollar Kosten, die Fachleute für die Schäden beziffern, die der Klimawandel bis 2030 verursachen dürfte.

„Im Kern geht es hier um Verantwortung. Um ein Signal, die Ära der leeren Versprechungen zu beenden", fügt Chowdhury hinzu.

Die Auswirkungen des Klimawandels auf die Menschenrechte

Das Gutachten des IGH ist eines von drei Gutachten, in denen internationale Gerichte in den vergangenen Monaten Verpflichtungen von Staaten im Bereich des Klimaschutzes darlegen.

Anfang dieses Monats veröffentlichte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte ein Gutachten. Darin bekräftigt er, dass Staaten, also Regierungen, verpflichtet sind, die Menschenrechte ihrer Staatsangehörigen dadurch zu schützen, dass sie für eine gesunde Umwelt und ein stabiles Klima sorgen.

In dem Gutachten wurde auch die staatliche Verantwortung in Bezug auf Desinformation hervorgehoben. Die Gutachter stellten fest, dass Behörden der Bevölkerung den Zugang zu "zuverlässigen, wahrheitsgemäßen und vollständigen Informationen" nicht behindern dürfen.

Im Mai letzten Jahres gab der Internationale Seegerichtshof eine beratende Stellungnahme ab, in der Treibhausgase als eine Form von Meeresverschmutzung gelten.

Obwohl beratende Stellungnahmen, wie das aktuelle Gutachten des IGH, nicht rechtsverbindlich sind, haben sie doch ein erhebliches rechtliches und moralisches Gewicht.

Laut Umweltrechtsexpertin Chowdhury kann das neue IGH-Gutachten weitreichende Folgen für die COP30-Klimaverhandlungen im November in Brasilien haben. Es könnte bedeuten, dass "nicht alles verhandelbar ist", da einige Dinge jetzt klar rechtlich definiert wurden.

"Wir hoffen sehr, dass diese Klarheit einen expliziten rechtlichen Rahmen schafft, der es den Staaten und den am stärksten betroffenen Menschen an vorderster Front ermöglicht, Umweltverschmutzer für klimaschädliches Verhalten zur Verantwortung zu ziehen und Abhilfe und Wiedergutmachung zu erwirken", so Chowdhury.

Adaption aus dem Englischen: Patrick Grosse.

Item URL https://www.dw.com/de/un-gericht-staaten-haften-für-klimaschäden/a-73383590?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Durch den steigenden Meeresspiegel verlieren immer mehr Menschen in den Küstenregionen ihre Heimat
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Item 10
Id 73330999
Date 2025-07-23
Title Angespannte Beziehungen vor dem EU-China-Gipfel in Peking
Short title Angespannte Beziehungen vor dem EU-China-Gipfel in Peking
Teaser Erst wurde der Gipfel von Brüssel nach Peking verlegt, dann von zwei Tagen auf einen verkürzt. Für die Beilegung der Handelsstreitigkeiten zwischen Europa und China sind das keine guten Vorzeichen.
Short teaser Gelingt es auf dem Gipfel in Peking, zumindest einige der Handelsstreitigkeiten zwischen Europa und China beizulegen?
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Die Chancen auf einen Durchbruch bei den Handelsstreitigkeiten zwischen der EU und China stehen nicht gut, nachdem China das für kommende Woche geplante zweitägige Gipfeltreffen in Peking auf einen Tag zusammengestrichen hat.

Nachdem Chinas Präsident Xi Jinping eine Einladung nach Brüssel abgelehnt hatte, wurde das Gipfeltreffen, das 50 Jahre diplomatischer Beziehungen zwischen der EU und China markiert, von Brüssel nach Peking verlegt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der Präsident des Europäischen Rates Antonio Costa sollen nun in der chinesischen Hauptstadt auf Xi oder auf Ministerpräsident Li Qiang treffen.

"Es ist ein weiteres Zeichen dafür, dass Pekings Bereitschaft, sich mit Europa auszutauschen, begrenzt ist", sagt Alicja Bachulska vom Asien-Programm des European Council on Foreign Relations (ECFR), im Gespräch mit der DW. Chinas Eliten betrachteten die EU häufig nur als mittelgroße Macht, deren Einflussmöglichkeiten in Handelsgesprächen beschränkt sei.

Chinas Wirtschaftspolitik als Streitpunkt

Das Handelsdefizit der Europäischen Union mit China beläuft sich auf 400 Milliarden Euro (467 Milliarden US-Dollar), europäische Produzenten haben nur eingeschränkten Zugang zu chinesischen Märkten. Chinas Wirtschaftspolitik bevorzugt Lieferanten im eigenen Land, die von hohen Subventionen, dem Zugang zu Regierungsaufträgen und sie begünstigenden Vorschriften profitieren.

EU-Beamten zufolge hat diese Wirtschaftspolitik zu einer erheblichen Überproduktion geführt, mit einem daraus folgenden "Dumping" preisgünstiger chinesischer Elektrofahrzeuge auf den EU-Markt, das dem heimischen Automobilsektor zu schaffen macht.

"Die Größe der chinesischen Volkswirtschaft - das Ausmaß der Subventionen, der Überkapazitäten und der staatlichen Eingriffe - ist enorm", erklärt Bachulska. Ohne "entschiedene Maßnahmen" zum Schutz der europäischen Autoindustrie riskiere die EU innerhalb weniger Jahre eine "partielle Deindustrialisierung", warnt sie.

Handelszölle und Einfuhrüberwachung

Die EU hat Handelszölle von 45 Prozent auf chinesische Elektrofahrzeuge verhängt und fordert ein Ende der Überproduktion sowie gleichberechtigten Zugang zu den jeweiligen Märkten. Damit will sie einheitliche Wettbewerbsbedingungen schaffen. China hingegen will die Zölle auf Elektrofahrzeuge durch Mindestpreiszusagen und andere Zugeständnisse ersetzen.

Im April führten die Bedenken der EU über die Handelspraktiken Chinas zur Einführung einer Taskforce zur Einfuhrüberwachung, um den EU-Binnenmarkt zu schützen. Sie kann die Erhebung von Antidumpingzöllen und andere Sicherheitsmaßnahmen auslösen.

Die Taskforce konnte prompt einen Anstieg chinesischer Exporte in die EU feststellen. Diesen Anstieg um 8,2 Prozent im Vergleich zum April des Vorjahres führte sie darauf zurück, dass chinesische Firmen eigentlich für die USA vorgesehene Exporte in die EU umleiten, um die von US-Präsident Donald Trump eingeführten höheren Zölle zu vermeiden.

Zankapfel Seltene Erden

Ein weiterer wichtiger Streitpunkt für die Europäer ist der Zugang zu Seltenen Erden, über den China verfügt. Die Elemente sind für saubere Technologien, die Chipherstellung und medizinische Geräte unerlässlich. Laut der Europäischen Kommission ist die EU zu 98 Prozent ihres Bedarfs an Seltenen Erden und Seltenerdmagneten von China abhängig.

Im vergangenen Jahr führte China jedoch Ausfuhrbeschränkungen ein. Bei EU-Unternehmen führte das zu Verzögerungen in der Lieferkette und zu Produktionsausfällen. Daten der chinesischen Zollbehörden zufolge brach die Lieferung von Seltenen Erden an die EU daraufhin in den ersten fünf Monaten des Jahres 2025 um 84 Prozent ein.

Auf dem G7-Gipfel im Juni in Kanada warf Ursula von der Leyen China deswegen "Nötigung" und "Erpressung" vor. Weiter sagte sie, "kein einzelnes Land sollte die Kontrolle über 80 bis 90 Prozent des Marktes für wichtige Rohstoffe und nachgelagerte Produkte wie Magnete haben".

Obwohl Handelskommissar Maros Sefcovic im Juni Lockerungen der Exportkontrollen für Seltene Erden verhandelt hatte, berichten viele Unternehmen über langsame Genehmigungsverfahren, die zu Verzögerungen in der Lieferkette führen.

Innerhalb der EU werden die Rufe lauter, gegenüber China eine härtere Linie zu fahren und Maßnahmen wie die Erhebung von Zöllen zu ergreifen. "Wir müssen die Botschaft aussenden, dass Europa selbstbewusst auftritt und im Ernstfall auch über die geeigneten Instrumente verfügt", betont Bachulska. "Es muss jedoch der politische Wille vorhanden sein, diese auch zu nutzen."

Chinas Regierung wies die Kritik von sich. Vergangene Woche merkte ein Sprecher des Außenministeriums an, die EU müsse ihre "geistige Haltung" neu ausrichten.

Chinas Handelsstreit mit Trump

Mit seinen Handelszöllen setzte US-Präsident Trump Jahrzehnten der engen transatlantischen Zusammenarbeit ein Ende. Verschiedene Beobachter innerhalb der EU sehen darin eine Gelegenheit für die Europäische Union, ihre Beziehungen mit China neu zu gestalten. Chinas Handel mit den Vereinigten Staaten sei nachhaltig gestört, es brauche Europa also mehr als je zuvor und könne auf dem Gipfel kommende Woche zu Zugeständnissen gezwungen werden.

"Diese Sichtweise ist sehr naiv", meint Bachulska. "China hat die erste Runde im Handelskrieg mit den USA gewonnen und in Peking herrscht das Gefühl vor, dass die Zeit für China läuft", was Verhandlungen mit der EU betrifft.

Schließlich plant Präsident Xi, Chinas Wirtschaft im Sinne einer "qualitativ hochwertigen Entwicklung" umzustellen, in der neue Technologien, die Binnennachfrage, die Sicherheit und die Umwelt Priorität haben.

China fordert bereits die technologische Dominanz des Westens heraus, auch in den Bereichen künstliche Intelligenz, Supercomputing und Produktion von Elektrofahrzeugen. In einigen Bereichen, wie der 6G-Kommunikation, hat es den Westen schon überholt.

Manche Analysten sind der Überzeugung, dass die EU noch immer die wirtschaftliche Bedrohung durch China unterschätze und es versäumt habe, sich energischer gegen einige der unfairen Handelspraktiken des Landes zu wehren.

"In Europa besteht die Tendenz, alle Themen, die mit China zu tun haben, beiseite zu schieben, weil wir mit so vielen anderen Dingen umgehen müssen", sagt Bachulska. Dazu gehörten etwa der Ukraine-Krieg und der Handelsdisput mit Trump. "China scheint eine Herausforderung zu sein, die geografisch weit entfernt liegt. Doch viele der Auswirkungen chinesischer Politik werden schon sehr bald in Europa zu spüren sein."

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Item URL https://www.dw.com/de/angespannte-beziehungen-vor-dem-eu-china-gipfel-in-peking/a-73330999?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Während sich die EU über unfaire chinesische Handelspraktiken beschwert, wirft China Europa Protektionismus vor
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Item 11
Id 73383794
Date 2025-07-23
Title Regierungsumbildung in Polen: Tusk kämpft gegen Machtverlust
Short title Regierungsumbildung in Polen: Tusk kämpft gegen Machtverlust
Teaser Polens Regierung steckt in der Krise. Die proeuropäische Koalition verliert an Zustimmung, die Opposition befindet sich im Aufwind. Mit einer Kabinettsumbildung versucht Premier Donald Tusk den Befreiungsschlag.
Short teaser Polens Regierung verliert an Zustimmung. Mit einer Kabinettsumbildung versucht Premier Donald Tusk den Befreiungsschlag.
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Polens Regierungschef Donald Tusk sparte bei der Vorstellung seines neuen Kabinetts am Mittwoch nicht mit pathetischen Formulierungen. "Unsere Devise lautet: Noch ist Polen nicht verloren, solange wir leben", zitierte der liberalkonservative Politiker aus der polnischen Nationalhymne und bezeichnete seine Regierung als "Eliteeinheit" für Sonderaufgaben in der "Vorkriegszeit". Tusk führt seit Dezember 2023 eine proeuropäische Mitte-Links-Koalition an - und steckt neuerdings in Schwierigkeiten.

Die Niederlage seines Kandidaten Rafal Trzaskowski bei der Präsidentenwahl vor knapp zwei Monaten hat die Koalitionsregierung in eine tiefe Krise gestürzt. Denn der Sieg des rechtskonservativen Historikers Karol Nawrocki, der von der rechtsnationalistischen Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) unterstützt wurde, bedeutet eine Fortsetzung der Blockadepolitik, die der ausscheidende Präsident Andrzej Duda in den vergangenen anderthalb Jahren konsequent gegen Tusks Regierung betrieben hat.

Seit Tusks Amtsantritt als Premier setzt das rechtskonservative Staatsoberhaupt regelmäßig sein Veto gegen die Gesetze der Regierung ein oder leitet sie an das weiter durch die PiS kontrollierte Verfassungstribunal weiter. Nach der Wahlniederlage, die er als "politisches Erdbeben" bezeichnete, solle die Koalition wieder "anpacken", sagte nun Tusk bei der Vorstellung der neuen Minister. "Schluss mit der Meckerei", rief der Premier und mahnte: "Es gibt Momente, wenn man sich zusammennehmen muss."

Aufstieg des Außenministers

Als wichtigste Änderung wird von politischen Beobachtern die Aufwertung von Außenminister Radoslaw Sikorski genannt. Er soll zum stellvertretenden Regierungschef aufsteigen und die EU-Angelegenheiten, für die bisher Tusks Kanzlei zuständig war, in sein Ressort eingliedern. Der 62-Jährige gehört zu den wenigen Ministern im Kabinett, die entschlossen für gute Beziehungen zu Deutschland eintreten und die Deutschland-Phobie der Rechtskonservativen offen anprangern.

"Mag sein, dass Tusk auf diese Weise seinen Nachfolger aufbaut", kommentierte beim Fernsehsender TVN Piotr Smialowicz von der Wochenzeitung Tygodnik Powszechny. Der bisherige Finanzminister Andrzej Domanski wird künftig ein Superressort aus Finanzen und Wirtschaft leiten. Gestärkt wurde auch das Energieministerium.

Justizminister muss gehen

Der angesehene ehemalige Ombudsmann Adam Bodnar, der das Justizministerium bisher leitete, muss gehen. Er wurde durch den Richter Waldemar Zurek ersetzt. Tusk nannte diese Personalie "symbolisch". Zurek gehörte zu den erbittertsten Kritikern des Justizumbaus, den die PiS seit der Machtübernahme 2015 umsetzte. Der rebellische Richter hatte zur Zeit der PiS-Regierung 20 Disziplinarverfahren und wurde Opfer von Hetzkampagnen im Internet seitens PiS-naher Richter.

Im Vorfeld der Regierungsumbildung war Tusk vorgeworfen worden, dass die Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit und die Abrechnung mit PiS-Politikern, die Recht gebrochen haben, zu langsam vonstatten gehen. Insgesamt wurde die Zahl der Minister von 26 auf 21 reduziert.

"Tusk geht aus der Kabinettsumbildung gestärkt hervor. Das ist ohne Zweifel sein momentaner Erfolg", urteilt Boguslaw Chrabota in der Zeitung Rzeczpospolita. Tusk habe nun 12 Monate Zeit, um das Image der Koalition aufzupolieren. "Wenn dieses Vorhaben scheitert, entsteht im Sommer kommenden Jahres eine neue Regierung mit einem neuen Premier", prophezeit der Journalist. Auch er sieht auf diesem Posten Sikorski oder Verteidigungsminister Wladyslaw Kosiniak-Kamysz.

Der rechtskonservative Präsident will Tusk stürzen

Chrabota schätzt Tusks Chancen auf 50 zu 50. Der liberalkonservative Politiker hatte im Dezember 2023 die Macht mit dem Versprechen übernommen, die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen, das Abtreibungsrecht zu reliberalisieren, die Rechte von Frauen und der LGBTQ-Gemeinschaft zu stärken und korrupte PiS-Politiker zu bestrafen. Die meisten Pläne wurden wegen der Blockadepolitik des rechtsnationalen Präsidenten Andrzej Duda nicht oder nur teilweise umgesetzt.

Mit Karol Nawrocki, der am 6. August sein Amt antritt, bekommt Tusk einen noch gefährlicheren Gegner. Der kommende Präsident macht kein Hehl aus seinem Ziel, Tusks Regierung, die er für die schlechteste seit der demokratischen Wende von 1989 hält, zusammen mit der Opposition zu Fall zu bringen. Bereits jetzt baut er das Präsidentenamt zum alternativen Machtzentrum aus. Das polnische Staatsoberhaupt ist Oberbefehlshaber der Armee und hat bestimmte Kompetenzen in der Außenpolitik. Der Präsident kann auch eigene Gesetzentwürfe einbringen.

Umfragetief und gebundene Hände in der Außenpolitik

In den Umfragen liegt die PiS-Partei von Jaroslaw Kaczynski derzeit vor Tusks Koalition. Mit der ultrarechten Partei Konfederacja kann PiS derzeit mit einer Mehrheit im Parlament rechnen.

In der aktuellen Umfrage des Forschungsinstituts CBOS bewerten 48 Prozent der Befragten Tusks Regierung negativ; nur 32 Prozent sind mit der Arbeit des Premiers und seiner Minister zufrieden. 54 Prozent der Polen sprechen Tusk die Wirksamkeit als Regierungschef ab, nur 37 Prozent halten ihn für wirksam.

"Falls diese Tendenz nicht gestoppt wird, wird Tusk die Parlamentswahl 2027 verlieren", sagt der Politologe Mateusz Zaremba von der Hochschule USPWS.

Die Krise in der Innenpolitik beeinträchtigt auch den außenpolitischen Spielraum des Premiers. Der einstige Hoffnungsträger, dessen Sieg vor anderthalb Jahren von den europäischen Medien und Politikern gefeiert wurde, agiert immer häufiger extrem vorsichtig aus Rücksicht auf die rechtskonservative und nationalistische Opposition. "Tusk fällt aus dem Direktorium Europas heraus", schrieb Jedrzej Bielecki Anfang dieser Woche in der Rzeczpospolita. Der Publizist verweist auf die immer engeren Kontakte zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien, bei denen Polen immer weniger eingebunden wird.

Am Donnerstag (24.07.2024) sollen Donald Tusks neue Minister ihre Ernennungsurkunden von Präsident Duda bekommen. Am Freitag ist dann die erste Sitzung des neuen Kabinetts geplant.

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Image caption Polens Premier Donald Tusk bei der Pressekonferenz anlässlich der Umbildung seiner Regierung in Warschau am 23. Juli 2025
Image source Kuba Stezycki/REUTERS
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Item 12
Id 73382331
Date 2025-07-23
Title Türkei: "Samstagsmütter"-Gründerin Emine Ocak ist tot
Short title Türkei: "Samstagsmütter"-Gründerin Emine Ocak ist tot
Teaser Emine Ocak, die unermüdlich um Gerechtigkeit für ihren verschwundenen Sohn und unzählige andere kämpfte, ist tot. Ihr Vermächtnis als Mitbegründerin der "Samstagsmütter" in der Türkei lebt weiter.
Short teaser Ein Leben im Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit: Emine Ocak, Mitbegründerin der "Samstagsmütter", ist tot.
Full text

Die renommierte Menschenrechtlerin Emine Ocak ist im Alter von 89 Jahren verstorben. Sie war eine der unerschütterlichen Gründerinnen der "Samstagsmütter" in der Türkei, einer Initiative, die seit Mai 1995 jeden Samstag mit Mahnwachen auf das Schicksal von Angehörigen aufmerksam macht, die im Polizeigewahrsam verschwunden sind.

Emine Ocak verbrachte ihren letzten Monat auf der Intensivstation eines Istanbuler Krankenhauses. Die Nachricht ihres Todes wurde von der "Samstagsmütter"-Initiative auf X bekannt gegeben. In ihrer Erklärung schrieben sie: "Wir haben Emine Ocak verloren, die mit ihrem Mut, ihrer Beharrlichkeit und ihrer Entschlossenheit die stärkste Stimme in unserem Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit war. Wir verabschieden uns von unserer Mutter Emine am Donnerstag vom Galatasaray-Platz, wo sie 30 Jahre lang gekämpft hat."

Der Beginn von Emine Ocaks unermüdlichem Kampf lag in einer persönlichen Tragödie. Ihr Sohn Hasan wurde am 12. März 1995 nach gewaltsamen Protesten im Istanbuler Stadtteil Gazi festgenommen und verschwand anschließend spurlos. 58 lange Tage suchte die Familie verzweifelt nach ihm, bis seine Überreste schließlich auf einem Friedhof für Namenlose gefunden wurden.

Von diesem Zeitpunkt an widmete Emine Ocak ihr Leben dem Kampf für Gerechtigkeit, nicht nur für ihren eigenen Sohn, sondern auch für all die anderen Familien, die das gleiche Schicksal erlitten. Sie und andere Betroffene vernetzten sich und versammelten sich erstmals am 27. Mai 1995 auf dem berühmten Galatasaray-Platz in Istanbul. Seitdem kommen sie jeden Samstag dort zusammen - Mütter, Tanten, Schwestern, Töchter und Ehefrauen der Verschwundenen. Sie tragen Fotos ihrer Liebsten, legen rote Nelken nieder, erzählen ihre herzzerreißenden Geschichten und fordern unermüdlich Gerechtigkeit. Ihr wöchentliches Treffen gab ihnen ihren Namen: die "Samstagsmütter".

Emine Ocaks Tochter Aysel hob in einem Interview mit der DW vor einem Jahr die symbolische Bedeutung dieser Treffen für die Familien hervor: "Hier kommen wir zusammen und legen Blumen nieder. Insbesondere für Familien, die noch nicht einmal einen Grabstein zum Trauern haben, ist dieser Platz unglaublich wichtig."

In den 1990er Jahren war das so genannte Verschwindenlassen in der Türkei ein weit verbreitetes Phänomen. Regierungskritiker, Menschenrechtler, Politiker, Geschäftsleute und linke Aktivisten, besonders in kurdisch geprägten Städten, wurden häufig von Sicherheitsbeamten festgenommen und verschwanden anschließend. Von einigen wurden später Überreste entdeckt, die in Brunnen, Massengräbern oder Ölfeldern versteckt worden waren. Obduktionen zeigten, dass die Opfer brutal gefoltert und einige sogar aus Hubschraubern geworfen worden waren.

Die Verbindung zu den Müttern der Plaza de Mayo in Argentinien

Zum 1000. Protesttag der "Samstagsmütter" brachte Emine Ocak der DW gegenüber eindringlich zum Ausdruck, welche Qual die Ungewissheit für die Familien bedeutet: "Ich bin verletzt. Alle "Samstagsmütter" sind verletzt. Jeder neue Tag ist schlimmer als der vorherige, wenn man keine Gewissheit hat, keinen Grabstein, den man besuchen kann."

Nach Angaben der "Samstagsmütter", die sich inzwischen Samstagsmenschen nennen, wurden seit dem blutigen Militärputsch von 1980 mindestens 1350 Fälle von Menschen registriert, die von Polizisten, Soldaten oder Paramilitärs festgenommen wurden und anschließend spurlos verschwanden. Dies geschah hauptsächlich in den 1980er und 1990er Jahren.

Die "Samstagsmütter" erhielten wichtige Unterstützung und Inspiration von den Müttern des Platzes der Mairevolution ("Madres de Plaza de Mayo") in Argentinien. Diese Menschenrechtsorganisation sucht seit über 40 Jahren nach ihren Angehörigen, die während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 verschwanden. Jeden Donnerstag versammeln sich dort Mütter und Großmütter mit weißen Kopftüchern auf dem Platz vor dem Präsidentenpalast in Buenos Aires, der Hauptstadt Argentiniens.

Die Mitbegründerin dieser argentinischen Menschenrechtsgruppe, Nora Cortiñas, die einen engen Kontakt zu Emine Ocak pflegte, verstarb im vergangenen Jahr im Alter von 94 Jahren. Auch Cortiñas' Sohn Gustavo wurde 1977 im Alter von 24 Jahren von Soldaten entführt und verschwand. Daraufhin gründete sie mit anderen Frauen die Organisation Mütter der Plaza de Mayo.

Die türkischen "Samstagsmütter" und Menschenrechtler haben angekündigt, sich diese Woche Donnerstag auf dem berühmten Galatasaray-Platz von Emine Ocak zu verabschieden, jenem Ort, an dem sie Woche für Woche jeden Samstag zusammenkamen, rote Nelken niederlegten und ihre Mahnwachen abhielten.

Item URL https://www.dw.com/de/türkei-samstagsmütter-gründerin-emine-ocak-ist-tot/a-73382331?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption 30 Jahre lang kämpfte Emine Ocak gegen staatliche Willkür in der Türkei
Image source Bulent Kilic/AFP/Getty Images
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Item 13
Id 73367427
Date 2025-07-23
Title EU-Migrationspolitik: Entwicklungshilfe als Druckmittel?
Short title EU-Migrationspolitik: Entwicklungshilfe als Druckmittel?
Teaser Die EU erwägt offenbar einen Strategiewechsel: Länder, die bei der Rücknahme von Migranten nicht kooperieren, könnten weniger Entwicklungsgelder erhalten. Hilfsorganisationen und Experten üben heftige Kritik.
Short teaser Die EU erwägt die Kürzung von Entwicklungshilfe für Länder, die Migranten nicht zurücknehmen. Experten üben Kritik.
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Ein neuer Vorschlag der Europäischen Kommission hat es in sich: Demnach kann die Mittelvergabe nun davon abhängen, wie gut ein Land bei Rückführungen, Rückübernahmen und Grenzkontrollen kooperiert. Halten sich Länder nicht an Abschiebevereinbarungen, könnten Hilfen gekürzt werden.

Das geht aus Berichten der "Financial Times" und der Nachrichtenagentur Reuters hervor, die sich auf interne EU-Dokumente berufen.

Humanitäre Organisationen kritisieren derlei Pläne. Oxfam bezeichnete den Vorschlag als "Verzerrung der EU-Entwicklungsziele" und als "kurzfristige politische Lösung" für tiefere strukturelle Probleme.

Die Überlegungen hängen zusammen mit dem wachsenden Druck innerhalb Europas, die irreguläre Migration über die Mittelmeer- und Sahara-Route einzudämmen. Besonders groß ist der Druck in Ländern wie Deutschland, Italien und Griechenland, wo die Regierungen mit wachsendem Widerstand gegen Asylsuchende konfrontiert sind.

Eine schädliche Botschaft

Politikexperten und Wissenschaftler in ganz Afrika kritisieren den angedachten politischen Kurswechsel als neokolonialistisch. Der Ansatz der EU, so argumentieren sie, dürfte sowohl Souveränität als auch Vertrauen untergraben.

"Halten Sie Ihr Volk von der Migration ab, sonst verlieren Sie die Hilfe - das klingt für mich eher nach einer Botschaft des Zwangs als nach einer Botschaft der Zusammenarbeit", sagte Maria Ayuk zur DW. Sie ist Postdoktorandin für Frieden und Sicherheit an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.

Dadurch würden die afrikanischen Länder zu Grenzwächtern degradiert, statt als gleichberechtigten Entwicklungspartner behandelt. Die EU betreibe eine "Versicherheitlichung" und habe die Migration im Laufe der Jahre politisiert. "Die EU zwingt die Afrikaner, ihre Leute in Afrika zu behalten, weil sie Angst vor einer 'Afrikanisierung' Europas haben", glaubt Ayuk.

Die Ursachen der Migration ignorieren

Während europäische Politiker oft "Pull-Faktoren" wie Arbeitsplätze und Sicherheit betonen, meinen afrikanische Analysten, den Bedingungen, die Menschen überhaupt zur Migration bewegen, müsse größere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

"Die Menschen werden definitiv den Drang verspüren, wegzuziehen", sagte Fidel Amakye Owusu, ein in Ghana ansässiger Berater für Geopolitik und Sicherheit. Zu den Hauptursachen gehören "sozioökonomische Probleme, Entwicklungsunterschiede zwischen Land und Stadt, bittere Armut, Konflikte und Arbeitslosigkeit", sagte er der DW.

Paul Ejime, nigerianischer Medien- und Politikanalyst, stimmt zu: "Sie gehen, weil das Umfeld nicht förderlich ist." Ejime merkte auch an, dass "Armut, Not und Instabilität" die Afrikaner dazu zwingen, ihr Leben auf der Suche nach einem Lebensunterhalt zu riskieren. "Die Tür zu schließen oder Mauern zu bauen, ist keine Lösung."

Laut Ayuk sind Regierungsversagen ein Teil des Problems. "Wir haben mehrere autokratische Führer, die für immer an der Macht bleiben wollen. Das sind Kernprobleme, die wir angehen müssen", sagte sie der DW.

Die Experten sind sich einig, dass Europas Handelspraktiken und ausländische Interventionen direkt zur Instabilität und wirtschaftlichen Unterentwicklung in Afrika beigetragen haben. Diese Bedingungen, so argumentieren sie, würden die Migration zusätzlich vorantreiben.

Ejime gibt ein konkretes Beispiel: "Der Großteil des Gesundheitspersonals dieser Länder befindet sich in Europa und Amerika. Der Gesundheitssektor ist schlecht finanziert, unterbesetzt, und das vorhandene Personal verlässt das Land."

Das Problem werde durch die Doppelmoral Europas verschärft. "Sie können ihre Türen für Menschen aus der Ukraine öffnen. Aber wenn es um Afrikaner geht, verschärfen sie die Regeln", sagt Ejime.

Besonders scharfe Kritik entzündet sich an den Erwägungen der EU, Entwicklungshilfe an die Kooperation bei ihren Migrationszielen zu knüpfen. Die Magdeburger Postdoktorandin Maria Ayuk sagte im DW-Gespräch: "Ja, ich glaube, die EU verknüpft Entwicklungshilfe mit der Migrationskontrolle", sagte Ayuk. "Sie macht sie zu einer Waffe und verlagert die Hilfe von der Solidarität ins Eigeninteresse." Das untergrabe Vertrauen und gegenseitigen Respekt zwischen Europa und Afrika.

Afrikanische Führung auf dem Prüfstand

Zugleich sind die von der DW angefragten Experten weitgehend einig darüber, dass die afrikanischen Regierungen eine erhebliche Verantwortung für die Krise und die harte Einwanderungspolitik gegenüber ihren Bürgern tragen. "Afrika ist das Problem, weil ihm die internationale Handlungsfähigkeit fehlt", sagte Ayuk. "Diejenigen, die Afrika vertreten sollen, vertreten nicht die kollektiven Interessen Afrikas, sondern die individuellen Interessen der Eliten."

Trotz ihrer Kritik sind die Analysten überzeugt, dass Afrika nicht machtlos ist. Sie sind überzeugt, dass der Kontinent nur dann stark werden kann, wenn er den nötigen politischen Willen mobilisiert.

"Afrika hat das Potenzial und die nötigen Einflussmöglichkeiten", sagte Ayuk und verwies auf die Ressourcen und regionalen Blöcke des Kontinents. "Aber Afrika braucht eine einheitliche Führung und den Wandel von der Abhängigkeit hin zu einer selbst bestimmten Entwicklung."

Der Ghanaer Owusu sieht die Notwendigkeit, Technologien zu nutzen. "Vielen afrikanischen Ländern fehlt die Technologie, um alle Grenzen zu überwachen. Es ist sehr schwierig, solche Grenzen zu verwalten und die Personenströme zu kontrollieren."

Er warnte jedoch, dass der Ansatz der EU für Länder, die ernsthafte Anstrengungen unternehmen, kontraproduktiv sein könnte. Da Europa in seiner Migrationspolitik immer isolierter werde, könnten einige afrikanische Länder das zum Anlass nehmen, alternative globale Partnerschaften zu vertiefen, beispielsweise mit den BRICS-Staaten oder anderen Initiativen des Globalen Südens, betont Owusu.

Afrika könnte seine Beziehungen zu aufstrebenden Mächten wie China, Indien, Brasilien und Russland vertiefen, wenn Europa weiterhin Entwicklungshilfe als Druckmittel einsetze. "Je stärker der Westen nach innen schaut, desto konfrontativer wird seine Politik und desto stärker bewegt sich Afrika nach Osten", sagte er.

Ejime schlug jedoch einen anderen Ansatz vor: „Afrika muss strategisch vorgehen, seine eigenen Interessen wahren und aus einer Position der Stärke heraus verhandeln." Er fügte hinzu: "Wenn Fachkräfte ins Ausland gehen, sollte es vielleicht eine Art Abkommen oder Vertrag geben, der Geld in den Ausbau des Gesundheits- und Bildungssystems zurückleitet."

Risiko langfristiger Schäden

Das anvisierte EU-Modell, das Entwicklungshilfe an Migrationskontrolle knüpft, könnte die langfristigen Beziehungen zu Afrika gefährden und die eigentlichen Ursachen nicht angehen, sagen die Experten übereinstimmend. Maria Ayuk findet: "Migration sollte zwar gesteuert, aber nicht politisiert werden. Wir brauchen gegenseitige Beziehungen, die auf Respekt, Gleichheit und Gerechtigkeit basieren."

Fidel Amakye Owusu betont: "Europa muss aufhören, Afrika als Problem zu sehen, und anfangen, es als Partner zu behandeln."

Paul Ejime richtet das Augenmerk auf die innenpolitischen Herausforderungen in vielen afrikanischen Staaten. "In Afrika gibt es keine Armut. Es wird schlecht geführt. Und es ist durch schlechte Führung verarmt", meint Ejime.

Aus dem Englischen adaptiert von Martina Schwikowski.

Item URL https://www.dw.com/de/eu-migrationspolitik-entwicklungshilfe-als-druckmittel/a-73367427?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/67180278_302.jpg
Image caption Die EU ist Ziel vieler afrikanischer Migranten - unser Archivbild von Oktober 2023 zeigt die Ankunft von Bootsflüchtlingen auf der Kanareninsel El Hierro
Image source Europa Press/ABACA/picture alliance
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Item 14
Id 73379854
Date 2025-07-23
Title Griechenland: Harter Kurs gegen Migration trifft Tourismus
Short title Griechenland: Harter Kurs gegen Migration trifft Tourismus
Teaser Die Tourismusbranche in Griechenland leidet unter akutem Personalmangel. Sie ist auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen. Doch Athen schreckt Zuwanderer mit harten Maßnahmen ab und beschränkt die Migration.
Short teaser Die Tourismusbranche in Griechenland sucht händeringend nach Arbeitskräften. Doch Migranten sind unerwünscht.
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"Ich würde schon heute auf Knien bis zur Kirche von Megalochari gehen, um rechtzeitig einen Mitarbeiter für das nächste Jahr zu finden", sagt Matina, die Besitzerin der schicken Boutique "Armonia" auf Tinos. Sie spricht die bekannteste Wallfahrt der Griechen an, die jedes Jahr am 15. August auf der Kykladeninsel stattfindet. Die Pilger bewegen sich auf Knien den langen Weg hinauf zur Kirche und beten, dass die Heilige Maria ihre Wünsche nach Gesundheit, Hilfe und Unterstützung erfüllt.

Auch Matina hofft auf Hilfe: Sie sucht verzweifelt nach Personal - mit wenig Erfolg, obwohl auf Tinos die Gehälter ein bisschen höher sind als in Athen und obwohl sie eine Unterkunft anbieten kann. Aber es wird immer schwieriger, Arbeitskräfte für die Sommersaison zu finden. Fast überall auf der beliebten Urlaubsinsel sieht man Schilder mit der Aufschrift: "Personal gesucht".

Im Juweliergeschäft neben der Boutique versteht die freundliche Verkäuferin Tamar kaum Griechisch. Sie kann nur die üblichen Begrüßungsworte sprechen und wechselt dann sofort ins Englische. Um zu verstehen, was die älteren griechischen Kunden wollen, muss sie ihren Chef holen. Der Juwelier ist trotzdem zufrieden, eine Mitarbeiterin für den ganzen Sommer gefunden zu haben. Tamar kommt aus Georgien, ist legal als Saisonkraft nach Griechenland gekommen und arbeitet seit einem Monat auf Tinos.

Griechische Hoteliers suchen händeringend Unterstützung

Theoretisch könnten mehr Menschen wie Tamar legal nach Griechenland zum Arbeiten kommen. Im vergangenen Frühling hat das Land entsprechende Vereinbarungen mit Armenien, Georgien und der Republik Moldau sowie mit Indien, den Philippinen und Vietnam geschlossen und sich darin verpflichtet, 40.000 ausländische Arbeitskräfte anzuwerben. Doch in Wirklichkeit werden diese Vereinbarungen kaum oder nur sehr langsam umgesetzt.

Die Bürokratie ist kompliziert, die griechischen Konsulate im Ausland sind unterbesetzt und die Angebote nicht besonders attraktiv. Also suchen Hoteliers im ganzen Land immer noch händeringend nach Rezeptionisten, Reinigungskräften, Bademeistern, Türstehern, Kellnern und Köchen. Nach Angaben des griechischen Hotelverbandes fehlen mindestens 60.000 Arbeitskräfte in ihrer Branche.

Ein noch nie dagewesener Mangel an Arbeitskräften

Dies sei zum Teil ein Erbe der Corona-Pandemie der Jahre 2020-2023, das in ganz Europa zu spüren sei, meint Jorgos Hosoglu, Präsident der Panhellenischen Föderation der Beschäftigten im Lebensmittel- und Tourismussektor. In Griechenland sei das Problem besonders akut: "Wir erleben einen noch nie dagewesenen Mangel an qualifizierten und erfahrenen Arbeitskräften, insbesondere im Hotel- und Gaststättengewerbe, nachdem die Arbeitnehmer während des Lockdowns abgewandert sind. Viele sind nie in die Branche zurückgekehrt."

Nach Ansicht von Hosoglu ist die Saisonabhängigkeit der Branche dafür verantwortlich. Wenn die Touristen weg und die Hotels und Strandbars geschlossen sind, haben die Arbeitnehmer nur drei Monate lang Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung. "Wie sollen sie den Rest des Jahres überleben, besonders jetzt, wo doch seit langem die Lebenshaltungskosten ansteigen?"

Außerdem suchen immer mehr jüngere Griechinnen und Griechen ihr Saisonglück in Nordeuropa, sogar im fernen Island. Und viele Albanerinnen und Albaner, die jahrzehntelang in Griechenland als billige Arbeitskräfte geschuftet haben, stehen entweder kurz vor der Rente oder wandern ab.

Die vergessenen Albaner

Tatsächlich stützt sich die griechische Wirtschaft schon seit den 1990er Jahren auf Einwanderung, sowohl im Tourismus-Sektor als auch in der Landwirtschaft und im Baugewerbe. Bis zur Wirtschaftskrise war Griechenland stark auf Arbeitskräfte aus Albanien angewiesen. Während der Laufzeit der "Rettungsprogramme" (2010-2018) ging der Bedarf stark zurück. Nach der Pandemie vervielfachte er sich jedoch, da sich die Wirtschaft erholte und der Tourismus stark anstieg.

Die gleiche Entwicklung gab es gleichzeitig in anderen Ländern, die wettbewerbsfähigere Löhne und einfachere Legalisierungsverfahren für Zuwanderer anbieten. Daher kehrten viele ausgewanderte Landarbeiter nie nach Griechenland zurück. Es scheint daher klar, dass Griechenland eine attraktive Einwanderungspolitik braucht. Zu den 60.000 Arbeitskräften, die im Tourismus zusätzlich benötigt werden, kommen noch 50-60.000 im Baugewerbe und 60.000 im Agrarsektor hinzu.

Athen: Rechtsruck statt vernünftiger Einwanderungspolitik

Doch die konservative Regierung von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis hat sich entschieden, die Antimigrationskarte zu spielen. Sie setzt darauf, dass der beste Weg, um Krisen, Skandale und das Umfragetief zu überwinden, darin besteht, hart gegen Einwanderer vorzugehen. Ziel ist es, rechte Wähler zu gewinnen.

Bereits der frühere Migrationsminister Makis Voridis, der wegen eines Skandals um illegale EU-Agrarsubventionen Ende Juni zurückgetreten ist, hat das Leben vieler legaler Einwanderinnen und Einwanderer schwer gemacht. Sein erster Schritt bestand darin, die Möglichkeit einer Fristverlängerung für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis "einzufrieren". Dies stellt für Zugewanderte, die - manche schon seit Jahren - im Land leben und arbeiten, ein großes Problem dar.

Der neue Minister, der rechtsextreme Thanos Plevris, hat sich seit seinem Amtsantritt kaum mit der dringend notwendigen legalen Einwanderung beschäftigt. Stattdessen hat er sofort eine weitere Verschärfung des Asylrechts - bis hin zu seiner Aushöhlung - vorangetrieben. Nach seiner Überzeugung ist die Rückführung illegaler Einwanderer die oberste Priorität. Laut Plevris haben Migranten, die illegal nach Europa einreisen oder deren Asylantrag abgelehnt wird, kein Recht, sich in Europa aufzuhalten. Sie müssen sofort in ihre Länder zurückkehren.

"Gefängnis oder Rückkehr"

Beim informellen EU-Rat der Innen- und Einwanderungsminister in Kopenhagen (22.07.2025) machte Plevris deutlich, dass Griechenland den zunehmenden Zustrom von Migranten aus Libyen nicht bewältigen könne. Laut dem griechischen Außenministerium handelt es sich seit Beginn des Jahres um 9000 Menschen, die meist über die Insel Kreta ins Land gekommen sind. Stolz präsentierte Plevris sein neues Gesetz. Es sieht eine Gefängnisstrafe von zwei bis fünf Jahren für abgelehnte Asylbewerber vor, die nicht in ihre Heimat zurückkehren. "Wer sich illegal in unserem Land aufhält, hat zwei Möglichkeiten: Gefängnis oder Rückkehr", sagte der Minister und ließ ein Plakat mit dieser Aussage erstellen und über die sozialen Medien verbreiten.

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Image caption Eine Strandbar auf der Insel Tinos - die Touristen sind da, die Arbeitskräfte fehlen
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Item 15
Id 73314211
Date 2025-07-23
Title Würde die Wehrpflicht die Wirtschaft abwürgen?
Short title Würde die Wehrpflicht die Wirtschaft abwürgen?
Teaser Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht ist umstritten, aber derzeit durchaus mehrheitsfähig. Nun aber melden sich Wirtschaftsvertreter zu Wort, die Schaden für die Volkswirtschaft befürchten
Short teaser Wirtschaftsvertreter warnen: Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht könnte der Volkswirtschaft schaden.
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Die deutsche Volkswirtschaft könne es nicht verkraften, wenn durch die Einführung einer allgemeinen Wehrpflicht junge Menschen erst zum Militär gingen, bevor sie dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden. Das sagte in der vergangenen Woche sinngemäß Steffen Kampeter von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände der Financial Times.

Seit 14 Jahren gibt es in Deutschland keine allgemeine Wehrpflicht mehr. Genau genommen wurde sie nicht abgeschafft, sondern nur ausgesetzt. Und zwar bis zu einem Verteidigungs- oder Spannungsfall, der bislang nicht eingetreten ist.

Seither müssen junge Männer sich nicht mehr "mustern" lassen (Musterung ist die medizinische Untersuchung zur Feststellung der körperlichen Eignung zum Wehrdienst). Das fand in den sogenannten Kreiswehrersatzämtern statt, die es heute ebenfalls nicht mehr gibt.

Europa muss sich verteidigen können

Verteidigungsminister Boris Pistorius sieht aber inzwischen eine veränderte Sicherheitslage in Europa: "Nach Einschätzung aller internationalen Militärexperten muss man davon ausgehen, dass Russland ab 2029 in der Lage sein wird, militärisch einen NATO-Staat oder einen Nachbarstaat anzugreifen," sagte er im vergangenen Sommer laut der Frankfurter Rundschau.

Er stellt dazu ein Maßnahmenpaket vor, zu dem auch die Rückkehr zu einer Wehrpflicht gehört. Diese Maßnahmen sollen ein Kompromiss zwischen dem im Moment geltenden freiwilligen Dienst bei der Bundeswehr und einer Dienstverpflichtung durch den Staat sein.

Dünne Personaldecke in der Armee

Zurzeit dienen etwa 180.000 Menschen bei der Bundeswehr. Kurzfristig soll der Personalbestand um mehr als zehn Prozent erhöht werden - auf 203.000 im übernächsten Jahr. Die Financial Times berichtet, dass die Bundeswehr in den nächsten zehn Jahren etwa 80.000 Soldaten zusätzlich brauchen werde, um ihre NATO-Verpflichtungen erfüllen zu können.

Zunächst jedoch plant Boris Pistorius die Einführung eines Modells der "freiwilligen Wehrpflicht", in dessen Rahmen jährlich etwa 5000 18-Jährige eingezogen werden sollen. Wenn es aber mehr Kapazitäten als freiwillige Meldungen gebe, dann könnte gegebenenfalls auch eine Rückkehr zur Wehrpflicht beschlossen werden, wie der Minister im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) einräumt.

Der Maßnahmenkatalog wurde dem Parlament vorlegt. Das Verteidigungsministerium (BMVg) erwartet, dass es eine "Regelung durch den Bundestag noch vor der Sommerpause 2025 geben" wird.

"Im Ernstfall muss die Truppe schnell wachsen"

Doch bereits jetzt müsse dafür gesorgt werden, dass die Bundeswehr im Ernstfall schnell wachsen kann. Vom BMVg heißt es dazu: "Die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte soll dadurch deutlich verbessert werden."

Der vom Minister vorgestellte neue Wehrdienst solle mindestens sechs Monate dauern, könne aber auf 23 Monate ausgedehnt werden: "Wie lange er oder sie Wehrdienst leisten möchte, kann jeder und jede für sich selbst entscheiden. Unabhängig davon haben alle anderen möglichen Arten der Verpflichtung als Soldatin oder Soldat auf Zeit und als Berufssoldatin oder Berufssoldat weiter Bestand", so das BMVg.

Allen jungen Menschen würden nach ihrem 18. Geburtstag einen Brief mit einem QR-Code erhalten, der sie zu einem Onlinefragebogen führt. Wer diesen ausfüllt und sich zum Wehrdienst bereit erklärt, wird zur Musterung eingeladen. Junge Männer wären verpflichtet, den Fragebogen auszufüllen. Doch, so das Ministerium: "Für Frauen und Personen anderen Geschlechts ist die Beantwortung der Fragen freiwillig."

Unterstützung und Zweifel für die Wehrpflicht

Für seine Pläne zur Stärkung der Bundeswehr erfährt Pistorius Unterstützung von höchster Stelle: "Ich bin ein Vertreter der Wehrpflicht", so Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im ZDF-Sommerinterview. Zur Begründung verwies er auf die angespannte Sicherheitslage in Europa, den Krieg Russlands in der Ukraine und die Haltung der US-Regierung unter Donald Trump zu den transatlantischen Beziehungen.

Auch BDA-Lobbyist Steffen Kampeter erkennt die aktuelle Lage in Europa: "Die Sicherheitslage ist dramatisch", zitiert ihn die Financial Times. Und das bedeute eben: "Ja, wir brauchen mehr aktive Soldaten und wir müssen das Reservistensystem ausbauen." Einschränkend fügte er aber hinzu: "Nur eine starke Wirtschaft kann das ermöglichen."

Zahl und Ausmaß entscheidend

Um sagen zu können, wie berechtigt die - noch leisen - Zweifel Kampeters in diesem Fall sind, haben wir beim Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln nachgefragt. IW-Ökonom Holger Schäfer bringt die Zweifel von Kampeter auf den Punkt: "Die Wirkung einer Wehrpflicht auf den Arbeitsmarkt hängt davon ab, wie viele Rekruten eingezogen werden und wie lange sie ihren Dienst ableisten müssen. Die Einziehung von 20.000 Rekruten dürfte sich kaum bemerkbar machen, die Einziehung eines kompletten Jahrgangs hingegen schon."

An der grundlegenden Entscheidung, ob eine Wehrpflicht sinnvoll oder sogar nötig ist, will Schäfer aber keinen Anteil haben. "Natürlich spielen bei der Frage vor allem sicherheitspolitische Aspekte eine Rolle, die ich nicht beurteilen mag."

Wehrdienst gegen den Fachkräftemangel

Jungen Menschen bietet die Bundeswehr auch eine berufliche Ausbildung an: in handwerklichen Berufen wie auch in akademischen Laufbahnen, zum Beispiel als Mechatroniker oder in medizinischen Berufen.

Aktuell hält IW-Ökonom Schäfer das für eine weltfremde Idee. Der Grundwehrdienst sei zu kurz. "Das reicht in der Regel nicht, um eine Berufsausbildung zu absolvieren."

Das zur Debatte stehende Modell sieht aber die Möglichkeit der Dienstverlängerung vor, in der auch eine Berufsausbildung erfolgen könnte. Das war bereits bei der allgemeinen Wehrpflicht in der Zeit des Kalten Krieges so. So stünden dann junge Menschen zwar verspätet, aber dafür fertig ausgebildet dem Arbeitsmarkt zur Verfügung und könnten dem Fachkräftemangel entgegenwirken.

Zur Bundeswehr: verpflichtet oder freiwillig?

Eine Studie des Münchner Ifo-Instituts aus dem letzten Jahr kam zu dem Schluss, es sei besser, in einen freiwilligen Wehrdienst zu investieren als eine allgemeine Wehrpflicht einzuführen. Die vom Finanzministerium in Auftrag gegebene Studie warnte, dass ein Pflichtmodell teuer wäre und sich auch negativ auf die einzelnen Personen auswirken. Es verschlechtere die finanziellen Aussichten der jungen Menschen, weil sich ihr Studien- oder Arbeitsbeginn verzögern würde, wie die Financial Times berichtete.

Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr München, rät zur Zurückhaltung. Die Sorgen über die wirtschaftlichen Folgen einer Rückkehr zu irgendeiner Form der Wehrpflicht seien "übertrieben". Selbst bei einem verpflichtenden Modell erwartet er, dass nicht mehr als 25.000 junge Menschen jährlich eingezogen würden. Das wären deutlich weniger als die über 200.000 westdeutschen Wehrpflichtigen auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges.

Masala denkt, die deutsche Wirtschaft habe erkannt, "dass sie sich in irgendeiner positiven Weise in der Verteidigungsfrage engagieren muss. Letztendlich müssen sie es akzeptieren."

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Image caption Dienstwillig: Junge Männer auf ihrem ersten Marsch in die Unterkunft
Image source Thomas Trutschel/photothek/dpa/picture alliance
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Item 16
Id 73374887
Date 2025-07-22
Title Ozzy Osbourne: Der Fürst der Finsternis ist tot
Short title Ozzy Osbourne: Der Fürst der Finsternis ist tot
Teaser Der britische Musiker Ozzy Osbourne erlangte in den 1970ern mit der Heavy Metal-Band Black Sabbath Weltruhm. Später wurde er mit "The Osbournes" zum Reality TV-Star. Nun ist der "Godfather of Metal" mit 76 gestorben.
Short teaser Mit seiner Band Black Sabbath wurde Ozzy Osbourne zum Urahn des Heavy Metal. Nun ist der Brite mit 76 Jahren gestorben.
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John Michael "Ozzy" Osbourne wurde am 3. Dezember 1948 in Birmingham in den britischen West Midlands geboren. So wuchs der spätere "Pate des Heavy Metal" in einem einzigartigen musikalischen Biotop auf: zu den unzähligen sogenannten "Birmingham-Bands" zählten auch Titanen des Hard Rock wie Led Zeppelin.

Als Osbourne mit 15 Jahren die Schule verließ, startete er verschiedene Ausbildungen, die er allerdings nie zu Ende brachte. Er versuchte sich als Klempner oder Werkzeugmacher. Er jobbte auf einem Schlachthof und in einer Leichenhalle. Irgendwann landete Ozzy dann - seinen Spitznamen erhielt er von Schulkameraden - wegen Diebstahls für sechs Wochen im Gefängnis.

1968 gründete Osbourne, der als Sänger in mehreren lokalen Blues-Bands bekannt geworden war, mit dem Bassisten Geezer Butler, dem Gitarristen Tony Iommi und dem Schlagzeuger Bill Ward eine Gruppe namens 'Polka Tulk Blues'. Kurze Zeit später änderten sie ihren Namen in 'Earth' und schließlich wurden sie 'Black Sabbath'.

Durchbruch mit "Sabbath Bloody Sabbath"

Wie die Beatles, die schon früh einen großen Einfluss auf Osbourne hatten, spielten auch die Bandmitglieder von Black Sabbath eine Reihe von dreistündigen Gigs im Hamburger Star-Club. Dabei feilten sie immer mehr an ihrem neuen Heavy-Rock-Sound.

Nachdem sie sich einen Plattenvertrag gesichert hatten, präsentierten Black Sabbath 1970 ihre frühen Heavy Metal-Rock-Riffs und die dunklen, okkulten Texte, die von ihrem exzentrischen, langhaarigen Frontmann gesungen wurden, auf zwei Tonträgern: dem Debütalbum "Black Sabbath" und der legendären Platte "Paranoid".

Beide Alben verkauften sich jeweils über eine Million Mal. 1973, mit der Veröffentlichung von "Sabbath Bloody Sabbath", wurde die Band weltberühmt und insbesondere Osbourne zu einem Superstar.

Notorischer Drogenkonsum

Die Band war quasi ständig auf Tournee, und Osbourne verfiel den Drogen und dem Alkohol. Einmal erinnerte er sich später selbst daran, wie er seine Auftritte mit einer Flasche hochprozentiger Spirituosen und einer Handvoll Schlaftabletten ausklingen ließ.

Der Rest der Band nahm ebenfalls Drogen. Ende der 1970er-Jahre, als Osbourne oft zu betrunken war, um zu proben, geschweige denn um neue Songs zu schreiben, schwand der Output der Band zusehends.

1979 feuerten die Bandkollegen von Black Sabbath Osbourne wegen seiner Unzuverlässigkeit und seines exzessiven Drogenmissbrauchs. Doch im Gegensatz zu anderen englischen Rocklegenden wie John Bonham - dem Schlagzeuger von Led Zeppelin, der 1980 mit 32 Jahren an Alkoholmissbrauch starb - war Osbourne entschlossen, seine Sucht zu kurieren.

"Der Tag, an dem ich aus Sabbath gefeuert wurde, war der schlimmste Tag meines Lebens", sagte er in einem Interview in den 1980er Jahren. "Aber wenn ich jetzt zurückblicke, war es wohl das Beste, was mir je passiert ist."

Der legendäre Fledermaus-Biss

Tatsächlich gelang es Osbourne, seine Drogensucht hinter sich zu lassen. Er kam zurück auf die Beine - und auf die Bühne. In seiner nun folgenden höchst erfolgreichen Solokarriere produzierte er zwölf Alben. Bis zu seinem Tod verkaufte er über 40 Millionen Platten.

Osbournes erstes Soloalbum, "Blizzard Of Ozz" mit der US-Top-Ten-Single "Crazy Train" von 1981 wurde fünfmal mit Platin ausgezeichnet.

Ein Jahr später gelangte der stark tätowierte, augenzwinkernde Sänger, dessen Stil zwischen Glam und Gothic oszillierte, noch zu weiterer Berühmtheit: Auf einer US-Tournee biss er auf der Bühne einer lebenden Fledermaus den Kopf ab.

Osbourne behauptete, er habe sie für ein Spielzeugtierchen gehalten. Doch wie glaubwürdig ist jemand, der angeblich im Jahr zuvor im Beisein eines PR-Managers von CBS-Records zwei Tauben die Köpfchen abgetrennt hat?

Zurück in Schwarz

1997 trat Osbourne wieder der Band bei, der er sein dämonisches Image verdankte. Im selben Jahr spielten Black Sabbath auf dem Ozzfest - einem Metal-Festival, das Osbourne im Jahr zuvor mit seiner Frau und Managerin Sharon selbst gegründet hatte. Er blieb Black Sabbath treu, bis sie 2013 ihr letztes Studioalbum, "13", aufnahmen. Vier Jahre später trat die Band dann zum letzten Mal gemeinsam in ihrer Heimatstadt Birmingham auf.

Ozzy Osbourne geriet Anfang der 2000er-Jahre zu einer Art alternder Rockkarikatur, als er sich bereit erklärte, mit seiner damals in Los Angeles lebenden Familie an einer Reality-TV-Show mitzumachen. Bei "The Osbournes" spielten auch Kelly und Jack, zwei der drei Kinder der Osbournes, mit.

Als Ozzy Osbourne 2005 auf dem Höhepunkt seines Reality-TV-Ruhmes mit seiner Frau Sharon in der Jay Leno Show auftrat, erklärte er: "Ich rauche nicht mehr, ich trinke keinen Alkohol mehr, ich nehme keine Drogen mehr. Ich bin heutzutage ziemlich langweilig."

"Straight to Hell": Musikalische Rückmeldung 2020

Anfang 2019 stürzte Osbourne in seinem Haus in Los Angeles, als er sich gerade von einer schweren Lungenentzündung erholte. "Jetzt habe ich mehr Schrauben und Muttern in mir als mein Auto", sagte er nach der Wirbelsäulenoperation. Mehrere Monate musste er im Liegen verbringen.

Es hielt ihn trotzdem nicht davon ab, unter anderem mit Elton John Musik zu machen. Im Januar 2020 veröffentlichten sie gemeinsam eine Single: "Straight to Hell".

Der Song stammt von Osbournes zwölftem Solo-Album "Ordinary Man", dem ersten nach zehn Jahren. Der Titel klingt nach purer Ironie, denn ein gewöhnlicher Mann ist Ozzy Osbourne zeit seines Lebens nie gewesen.

Mehrfach betonte Osbourne, dass ihn all die Drogen und der Alkohol schon vor Jahrzehnten hätten umbringen müssen. Nun ist der "Godfather of Metal" im Alter von 76 Jahren gestorben - nur wenige Wochen, nachdem er, bereits schwer an Parkinson erkrankt, in Birmingham sein vielumjubeltes Abschiedskonzert gegeben hatte.

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Image caption Er galt als "Godfather of Heavy Metal": Black Sabbath-Sänger Ozzy Osbourne
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Item 17
Id 73367438
Date 2025-07-22
Title Gewalt in Syrien: Präsident Ahmed al-Scharaa unter Druck
Short title Gewalt in Syrien: Präsident Ahmed al-Scharaa unter Druck
Teaser Die jüngste Eskalation in Syrien zeigt, wie weit das Land noch von einem stabilen Neuanfang entfernt ist. Der politische Anführer des Landes, Ahmed al-Scharaa, muss gleich an mehreren Fronten um seine Autorität kämpfen.
Short teaser Angesichts der jüngsten Eskalation in Suweida muss Syriens politischer Anführer um Autorität und Ansehen kämpfen.
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Die Waffenruhe in Suwaida hält, doch der Konflikt zwischen den Akteuren ist noch lange nicht beigelegt. Vorsorglich begannen die syrischen Behörden der staatlichen syrischen Nachrichtenagentur SANA zufolge am Sonntag mit der Evakuierung zahlreicher Beduinenfamilien. Insgesamt handelt es sich demnach um 1500 Menschen, die mit Bussen und anderen Fahrzeugen aus der im Süden Syriens gelegenen Stadt hinausgebracht wurden.

Seit der blutige Konflikt zwischen Drusen und Beduinen in der Region vor knapp zehn Tagen ausgebrochen war, sind laut Syrischer Beobachtungsstelle für Menschenrechte (Syrian Observatory for Human Rights, SOHR) bereits über 1.250 Menschen getötet worden. Die Angaben lassen sich zwar nicht verifizieren, doch gelten die Zahlen des zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs in London gegründeten SOHR allgemein als verlässlich.

Unter den Todesopfern befinden sich demnach mehr als 600 Bewohner der Provinz Al-Suwaida. 194 Menschen seien von Kräften des Verteidigungs- und Innenministeriums in Schnellverfahren hingerichtet worden, so das SOHR.

Zudem seien mehr als 400 Mitglieder der Regierungskräfte und 23 Beduinen getötet worden. Drei beduinische Zivilisten sollen von drusischen Kämpfern hingerichtet worden sein, berichtet das SOHR weiter.

Die tödliche Gewalt setzt den politischen Führer des Landes, Ahmed al-Scharaa, unter Druck. Seine dringlichste Aufgabe: die Gewalt in Suwaida dauerhaft zu beenden - und darüber hinaus das Land insgesamt zu einen.

Alawiten und Assad

Dazu gehört auch die Versöhnung unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen. Dies gilt umso mehr, als es im März dieses Jahres zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Alawiten und Dschihadisten gekommen war, in deren Reihen offenbar auch Mitglieder der Regierungstruppen standen. Dabei waren über 1300 Menschen getötet worden.

Aus den Reihen der Alawiten stammt auch die Assad-Familie. Vielen Syrern gelten die Alawiten als Anhänger und Unterstützer des gestürzten Regimes. Ein von der Regierung angekündigter Untersuchungsbericht zu den Vorfällen vom März steht bis heute aus.

Al-Scharaa stehe vor erheblichen Herausforderungen, sagt der Nahost-Experte und Politik-Berater Carsten Wieland im DW-Gespräch. Die Ereignisse der vergangenen Wochen und Monate hätten seinen Anspruch untergraben, Präsident ausnahmslos aller Syrer zu sein und ein einheitliches, alle Bevölkerungsgruppen umfassendes Syrien zu schaffen.

Sicherheitskräfte nicht unter Kontrolle?

"Bei vielen Syrern wächst die Skepsis gegenüber einem Staat, der seine eigenen Sicherheitskräfte offenbar nicht unter Kontrolle hat. Umso mehr komme es darauf an, dass der Untersuchungsbericht zu der gegen die Alawiten gerichteten Gewalt zeitnah erscheine.

"Es ist von enormer Bedeutung, dass öffentlich erklärt wird, wer wofür verantwortlich ist und auch entsprechend zur Rechenschaft gezogen wird."

Dies müsse rasch geschehen, sagt auch Ronja Herrschner, Politologin an der Universität Tübingen. Zwar habe Syrien noch einen weiten Weg vor sich, so Herrschner zur DW.

"Dennoch höre ich, dass Al-Scharaa trotz aller Mängel zumindest unter den Sunniten weiterhin ein recht hohes Ansehen genießt. Denn er wird immer noch als Befreier Syriens vom Assad-Regime wahrgenommen. Darum hat er unter den Sunniten weiterhin einen gewissen Vertrauensvorschuss. Für die Angehörigen der Minderheiten gilt dies allerdings nicht unbedingt."

Druck aus zweierlei Richtung

Allerdings übten zwei Seiten gleichzeitig Druck auf die Regierung aus, heißt es in einem Kommentar der arabischsprachigen Zeitung Sharq al-Awsat. Die erste Gruppe bestehe aus ehemaligen Anhängern des gestürzten Assad-Regimes, dem Iran verbundenen Kräften sowie kriminellen Vereinigungen, vor allem aus dem Gebiet des Drogenhandels.

Die zweite Gruppe entstamme aus dem Inneren des Regimes und heize die Krisen aktiv an. Dies seien vor allem dschihadistisch motivierte Kräfte, die die Regierung in eine Konfrontation mit lokalen Gruppen ziehen könnten, so die Zeitung. Das wiederum könnten ausländische Akteure dazu einladen, in Syrien einen neuen Bürgerkrieg zu entfachen.

Tatsächlich sei die Machtbasis al-Scharaas dünn, sagt Carsten Wieland. Es gebe nur wenige ihm unterstehende professionelle Kräfte. Stattdessen gebe es einen enorm hohen Anteil radikalisierter junger Kämpfer, die sektiererisch oder salafistisch dächten und durch den Bürgerkrieg hochgradig radikalisiert seien.

"Dabei handelt es sich um den gefährlichen Teil dieser jungen Generation. Er bildet eine politische Realität. Und die Frage ist, wie al-Scharaa sich dieser Leute entledigt, ohne ihnen selbst zum Opfer zu fallen."

Hinzu kämen ausländische Dschihadisten, so Wieland weiter. Auch sie habe al-Scharaa nicht unter Kontrolle. "Zuletzt kommen auch Teile der sunnitischen Beduinen hinzu, also Kämpfer, die sich jetzt an Minderheiten rächen wollen. Auch ihrer muss al-Scharaa zügig Herr werden."

Unterstützung aus dem Ausland

Dennoch unterstützen die USA wie auch einige Golfstaaten - allen voran Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate - al-Scharaa weiter, sagt Ronja Herrschner.

"Die USA wollen ihr Militär aus Syrien mittelfristig möglichst abziehen. Voraussetzung ist natürlich, dass das Land politisch stabil bleibt.". Dies zu garantieren, trauten die USA derzeit am ehesten noch al-Scharaa zu. Deswegen unterstützten sie ihn weiterhin.

"Das gleiche gilt auch mit Blick auf die Golfstaaten", so Herrschner weiter. "Auch sie sind natürlich an Stabilität in Syrien interessiert. Und auch sie setzen darum auf al-Scharaa."

Ähnlich sieht es Carsten Wieland. Den Golfstaaten gehe es genauso wie den USA darum, Syrien als stabilen, einheitlichen Staat zu erhalten und Proxy-Kriege möglichst zu verhindern.

"Israel verfolgt derzeit ganz offenbar aber das entgegengesetzte Ziel, nämlich Teile der Bevölkerung aus der Gesellschaft herauszubrechen, um das Land zu schwächen", sagt Carsten Wieland.

"Das muss Alarmglocken schrillen lassen in einer Region, in der Staatszerfall und Bürgerkriege ein weit verbreitetes Phänomen sind." Eben darum hätten sich die USA auch gegen das Vorgehen Israels in Syrien gewendet.

Zuletzt hatte Israel auf Seiten der Drusen in die Gewalt rund um Suwaida eingegriffen, sich dann aber mit der syrischen Regierung auf eine Waffenruhe verständigt. Ein Zerfall des Landes sei nicht im Interesse der USA - ebenso wenig auch in dem Europas, sagt Wieland. "Denn keines dieser Länder sieht derzeit eine Alternative zu al-Scharaa."

Item URL https://www.dw.com/de/gewalt-in-syrien-präsident-ahmed-al-scharaa-unter-druck/a-73367438?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Von vielen Seiten unter Druck: Syriens Interimspräsident Ahmed al-Scharaa
Image source Moawia Atrash/dpa/picture alliance
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Item 18
Id 73358783
Date 2025-07-22
Title Türkei: War prähistorisches Çatalhöyük ein Matriarchat?
Short title Türkei: War prähistorisches Çatalhöyük ein Matriarchat?
Teaser Archäologen entdecken in der Türkei Hinweise auf eine matrilineare Gesellschaft vor 9000 Jahren. Frauen hatten mehr Grabbeigaben und lebten mit ihrer Familie – nicht mit der des Mannes. Dies legen DNA-Analysen nahe.
Short teaser DNA-Analysen belegen: Vor 9000 Jahren lebte in der Türkei eine matrilineare Gesellschaft in Çatalhöyük.
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Schon in den 1960ern hegten Archäologen den Verdacht, dass Çatalhöyük etwas Besonderes war. Nicht nur, weil es zu den ältesten, dauerhaft bewohnten Orten der Welt gehört.

Die Forschenden vermuteten auch, dass Frauen in der neolithischen Siedlung auf dem Gebiet der heutigen Türkei eine besondere gesellschaftliche Stellung innehatten hatten. Das beruhte allerdings nur auf Figuren, die anatolischen Muttergottheiten ähnelten und die bei Ausgrabungen gefunden wurden.

Erst mit den modernen Methoden, die heutigen Archäologinnen und Archäologen zur Verfügung stehen, wurde aus dem Bauchgefühl Gewissheit: Die Gesellschaft im Çatalhöyük vor 9000 Jahren drehte sich um Frauen. Das internationale Forschungsteam, angeführt von Genetikern der Middle East Technical University in Ankara, spricht von einer "female-centered society".

Zu diesem Schluss kamen die Forschenden, nachdem sie 131 Skelette untersucht hatten, die unter den Wohnhäusern in der jungsteinzeitlichen Siedlung begraben lagen. Durch DNA-Analysen fanden sie heraus, dass die Menschen, die unter demselben Haus begraben wurden, zumeist miteinander verwandt waren – und zwar auf Seiten der Mutter.

Mit anderen Worten: Wenn Mann und Frau in Çatalhöyük eine Partnerschaft eingingen, lebte das neue Paar unter einem Dach mit den Eltern der Frau, nicht mit denen des Mannes. Die Haushalte bildeten sich also matrilinear.

Ein weiteres Zeichen für die wichtige Rolle der Frau: Bei verstorbenen Frauen und Mädchen fanden die Forschenden bis zu fünfmal so viele Grabbeigaben wie bei männlichen Leichnamen.

War Çatalhöyük ein Matriarchat?

Aus der jüngeren Vergangenheit kennen wir eher patrilineare Haushalte, in denen nach der Heirat die Frau zur Familie des Mannes zieht. Heißt die Umkehrung dieses Prinzips, dass die Menschen, die Çatalhöyük von circa 7100 bis 6000 v. Chr. bevölkerten, in einem Matriarchat lebten?

Nicht unbedingt, erklärt die prähistorische Archäologin Eva Rosenstock, die an den Ausgrabungen in Çatalhöyük beteiligt war.

"Die Lokalitätsregel, also, ob eine Gesellschaft matrilokal oder patrilokal ist, gibt erstmal keine Auskunft darüber, wer das Sagen hat", sagt Rosenstock, deren Fachgebiet an der Schnittstelle zwischen naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Archäologie liegt, im DW-Interview. "Aber beides geht häufig zusammen."

Kindertausch mit den Nachbarn

Brauchbare DNA für die nötigen Analysen zu bekommen war nicht einfach. Çatalhöyük liegt in einer Region mit kontinentalem Klima, in der starke Wetterschwankungen zwischen Sommer und Winter herrschen – widrige Bedingungen, unter denen selbst Zähne, die bis vor kurzem als eine der besten DNA-Quelle galten, nicht ewig halten.

Doch ein besonders harter Knochen ist eine noch bessere DNA-Quelle: Das sogenannte Felsenbein im Innenohr. "Das ist wie ein DNA-Tresor!", erklärt Rosenstock.

Bei der Analyse dieses Materials kamen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dann auf die matrilineare Verwandtschaft unter den Verstorbenen, die unter demselben Haus begraben waren.

Aber: nicht alle der begrabenen Verstorbenen unter einem Haus waren überhaupt miteinander verwandt. Die Forschenden gehen davon aus, dass es in der Gesellschaft in Çatalhöyük nicht unüblich war, auch Kinder zu tauschen, also das eigene Kind beispielsweise dem Nachbarn zu geben. So sollte vermutlich für sozialen Ausgleich oder Gleichberechtigung gesorgt werden, erklärt Rosenstock.

"Denn wenn das eigene Kind drei Häuser weiter aufwächst, dann setzt man sich eben dafür ein, dass nicht nur der eigene Haushalt das Beste bekommt", sagt die Archäologin. So könnten die Menschen damals versucht haben, eine gerechtere Verteilung von Ressourcen zu garantieren.

Und wie vollzog sich die Entwicklung von einer auf Gleichberechtigung bedachten Gesellschaft, in der Frauen im Mittelpunkt standen, zum Patriarchat? Darauf hat Rosenstock auch keine Antwort – noch nicht. "Das ist die nächste spannende Frage", sagt die Forscherin.

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Image caption Auf den Spuren des Matriarchat: Die Archäologin Eva Rosenstock war schon 2008 an Ausgrabungen in Çatalhöyük beteiligt
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Item 19
Id 73335360
Date 2025-07-22
Title Warum boomt die Schwarzarbeit in Deutschland?
Short title Warum boomt die Schwarzarbeit in Deutschland?
Teaser Während die Wirtschaft in Deutschland schwächelt, gibt es einen regelrechten Boom bei der Schwarzarbeit. Was hat das mit der Konjunktur zu tun und welche Rolle spielt das viel diskutierte Bürgergeld?
Short teaser Was hat der Anstieg der Schwarzarbeit mit dem viel diskutierten Bürgergeld zu tun?
Full text

Die deutsche Volkswirtschaft ist seit Jahren auf Schrumpfkurs und auch 2025 ist nur ein Mini-Plus in Sicht. Die Schwarzarbeit aber boomt und mit ihr alle Wirtschaftstätigkeiten, die im Schatten stattfinden.

Was aber steckt dahinter, wenn der Anteil dieser Schattenwirtschaft an der Wirtschaftsleistung in Deutschland in nur einem Jahr um mehr als elf Prozent ansteigt?

2024 war der Umfang der Schattenwirtschaft mit rund 482 Milliarden Euro sogar höher als der Bundeshaushalt. Der im Februar 2024 im Bundestag verabschiedete Bundeshaushalt 2024 betrug 476,8 Milliarden Euro.

Für 2025 liegt die Prognose des emeritierten Wirtschaftsprofessors Friedrich Schneider mit 511 Milliarden Euro noch höher, das wäre ein erneutes Plus von 6,1 Prozent. Schneider lehrte bis 2007 an der Johannes-Kepler-Universität in Linz in Österreich und war bis 2010 Präsident des Verbands Österreichischer Wirtschaftsakademiker.

Schneider beschäftigt sich seit mehr als 40 Jahren mit dem Phänomen. Statt von Schwarzarbeit spricht er lieber von Schattenwirtschaft.

"Das sind Wirtschaftstätigkeiten, die zwar legal sind, wie ein Auto reparieren oder putzen. Sie werden aber am Staat vorbei erwirtschaftet, und es werden keinerlei Steuern und Sozialabgaben bezahlt", erklärt Schneider im Interview mit der DW. Gesetzliche Regelungen wie Mindestlohn oder Höchstarbeitszeit fielen dabei unter den Tisch.

Im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt Deutschland bei der Schattenwirtschaft mit Werten zwischen elf und zwölf Prozent im Vergleich zu anderen Industrieländern im Mittelfeld. Rumänien kommt auf einen Wert von 30 Prozent, Griechenland rangiert bei rund 22 Prozent des BIP.

Um die Zahlen hochzurechnen, vergleicht der Wissenschaftler vor allem die Geldmenge, die im Umlauf ist, mit der offiziellen Wirtschaftsleistung.

Sinkende Steuermoral

Aber welche Faktoren sind entscheidend für den Anstieg von Schwarzarbeit und Schattenwirtschaft? Da käme das Gefühl ins Spiel, als Bürger zu hohe Steuern und Abgaben zu zahlen, unterstreicht Schneider.

"In Deutschland spüren wir sehr stark, dass die Bahn schlecht funktioniert, viele Autobahnbrücken marode sind und repariert werden müssen, es kommt zu langen Staus und Wartezeiten. Und wenn der Bürger das Gefühl hat, für das, was ich zahle, bekomme ich vom Staat einen schlechten Service geboten, dann sinkt seine Steuermoral."

Ihn wundert es nicht, dass viele Menschen schwarz arbeiten, sagt der deutsch-österreichische Ökonom. Für Schneider ist Schwarzarbeit "die Steuerrebellion des kleinen Mannes". Dabei gehe es nicht um Steuerhinterziehung im großen Stil. "Beim Lehrer sind das die Nachhilfestunden, beim Fliesenleger ist es das 'schwarz' geflieste Bad."

Wenn die Steuerlast hoch ist, aber die Leistungen des Staates dafür ausgezeichnet sind, werde das noch akzeptiert, sagt Schneider. "Aber in Deutschland haben wir die Situation, dass die Steuerlast sehr hoch ist, also die Abgabenlast auf den Faktor Arbeit, aber das Angebot, was mir der Staat zurückgibt, ist in vielem völlig unbefriedigend."

"Wenn die Wirtschaft schlecht läuft, läuft die Schwarzarbeit gut"

"Wenn die Arbeitslosigkeit steigt, es weniger Aufträge gibt, keine Überstunden mehr gemacht werden, und wenn die Schichten der Arbeiter reduziert werden", dann schlage die Stunde der Schwarzarbeit, so Schneider.

Die Betroffenen sagten sich: "Jetzt habe ich weniger Geld aus meinem offiziellen Job, möchte mir aber Urlaub oder anderes gönnen." Der einfachste Weg sei dann, mehr schwarz zu arbeiten, um den Verlust auszugleichen, berichtet Schneider.

"Und genau das beobachte ich schon seit über 40 Jahren. Wenn die Wirtschaft schlecht läuft, läuft die Schwarzarbeit gut."

Lukrativer Mix aus Bürgergeld und Schwarzarbeit

In der deutschen Öffentlichkeit wird heftig über das Bürgergeld diskutiert. Kritiker unterstellen, dass die hohen Sozialleistungen in Deutschland Schwarzarbeit begünstigten.

Mehr als ein Drittel des Bundeshaushalts fließen schon jetzt in den Arbeits- und Sozialetat. Für das Jahr 2025 rechnet Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas laut der Website des Deutschen Bundestages mit Ausgaben für das Bürgergeld von knapp 52 Milliarden Euro, etwa fünf Milliarden Euro mehr als im Vorjahr.

Rund 29,6 Milliarden Euro sind dabei für die monatlichen Zahlungen an die etwa 5,64 Millionen Bürgergeldempfänger vorgesehen. Für Miet- und Heizkosten sind rund 13 Milliarden Euro eingeplant, der Rest fließt in Eingliederungsmaßnahmen und Verwaltungskosten.

Die Kostendiskussion ist voll im Gange: Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat vorgeschlagen, die Wohn-Zuschüsse bei Bürgergeldempfängern zu begrenzen, was sofort Teile der SPD und Opposition heftig kritisierten.

Mittlerweile hat die sozialdemokratische Ministerin Bas eingeräumt, dass die staatliche Unterstützung auch Kriminelle auf den Plan ruft. In einem Interview mit der Zeitschrift "Stern" sprach sie von "mafiösen Strukturen"beim Sozialbetrug. Sie sprach ausbeuterische Strukturen an, in denen Menschen aus dem EU-Ausland nach Deutschland gelockt, von Kriminellen schwarz beschäftigt und gleichzeitig Bürgergeld beantragen würden.

"Privates Kombilohn-Modell"

Diese Mischung aus Schwarzarbeit und Sozialbetrug hat Markus Karbaum

häufig mitbekommen. Der Coach und Berufsberater, der viele Bewerbungstrainings für Bürgergeldempfänger im Großraum Berlin gemacht hat, nennt den Mix aus legaler Arbeit, Schwarzarbeit und Bürgergeld "privates Kombilohn-Modell".

Es gebe Arbeitgeber, die ihren Mitarbeitern zu wenig Arbeit anbieten, um damit über die Runden zu kommen, so Karbaum im Gespräch mit der DW. Das "private Kombi-Lohnmodell" bestehe aus drei Komponenten: Ein reguläres Teilzeit- oder Minijob- Einkommen.

Dazu käme in Branchen wie die Gastronomie, die "anfällig für Schwarzgeld sind", also Geld, das nicht versteuert wird. Und dem Mitarbeiter, dem das nicht zum Leben reicht, sagt der Arbeitgeber: "Das kannst du dir ja vom Jobcenter holen. Das sind die drei Bestandteile, die ich in meiner beruflichen Praxis sehr häufig beobachtet habe", erklärt der Job-Coach.

"Struktureller Betrug"

Dazu käme ein gewisses Anspruchsdenken: "Ich habe ein Recht auf Bürgergeld, ich habe ein Recht auf Sozialleistungen. Nehmen Sie mir jetzt nicht dieses Recht, diese Gelder zu beziehen", berichtet Karbaum. "So könnte man diese Mentalität umschreiben."

Er habe Leute kennengelernt, die zum Bewerbungstraining mit dem Auto kamen, das neueste Smartphone dabei hätten und ihm erzählten, "dass sie einmal im Jahr, was das Jobcenter hier zulässt, für drei Wochen mit der ganzen Familie ins Ausland zum Urlaub fliegen".

Das sei durch das Bürgergeld nicht vorgesehen, "aber es findet in der Praxis statt. Es sind Einzelfälle, wir reden hier nicht über die Mehrheit", so Karbaum. "Aber es findet statt, und das ist definitiv ein Indikator dafür, dass hier ein struktureller Betrug vorliegt."

Um gegen solchen Betrug vorgehen zu können, müsse es mehr Datenabgleich geben, fordert Karbaum. Das ist auch von der schwarz-roten Regierungskoalition geplant, zum Beispiel zwischen Jobcentern und Zoll, der für die Verfolgung von Schwarzarbeit zuständigen Behörde. Dem schließt sich auch Friedrich Schneider an.

Doch nach rund 40 Jahren wissenschaftlicher Analyse weiß der Linzer Ökonom, dass vor allem eine florierende Wirtschaft entscheidend ist: "Wenn wir in einer absoluten Boomphase sind, geht auch die Schwarzarbeit zurück."

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Image caption Tatort Baustelle: Am 16.Juni dieses Jahres führten 2.800 Beamte eine bundesweite Razzia gegen Schwarzarbeit auf Baustellen durch
Image source Caro/picture alliance
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Item 20
Id 73358307
Date 2025-07-21
Title "Made for Germany" - Konzerne versprechen Milliarden
Short title "Made for Germany" - Konzerne versprechen Milliarden
Teaser Bundeskanzler Friedrich Merz trifft sich mit Top-Managern beim Investitionsgipfel. Gemeinsames Ziel: Deutschland aus der Rezession holen. Die Stimmung ist bestens - der angespannten Wirtschaftslage zum Trotz.
Short teaser Deutschland steckt in der Rezession. Bei einem Besuch von Top-Managern im Kanzleramt war die Stimmung trotzdem bestens.
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Wirtschaft, das ist immer auch ein Stück weit Psychologie. Wenn Unternehmen zuversichtlich sind, in der Zukunft gute Geschäfte machen zu können, dann investieren sie kräftig. Scheinen die Aussichten schlecht zu sein, dann halten sie das Geld zurück. Die Corona-Pandemie mit dem Zusammenbruch internationaler Lieferketten, der Krieg in der Ukraine, die daraus folgende Energiekrise und Inflation, die sich abschwächende Wirtschaft in China - alles das traf die exportorientierte deutsche Wirtschaft hart.

Die Konjunktur brach ein, Deutschland schlitterte in eine anhaltende Rezession. Optimismus wollte seitdem nicht wieder aufkommen. Eine Statistik der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung in Industrieländern, zeigt, dass Deutschland noch 2024 die niedrigste Investitionsquote im Vergleich aller 38 OECD-Staaten hatte.

631 Milliarden Euro Investitionen geplant

Das soll sich nun ändern, versprechen die Chefs führender Konzerne in Deutschland. 61 von ihnen - darunter bekannte Aktiengesellschaften wie Airbus, BASF, BMW, Deutsche Börse, Mercedes-Benz, Rheinmetall, SAP, Volkswagen, aber auch die US-Konzerne Nvidia, Blackrock und Blackstone - haben sich in der Initiative "Made for Germany" zusammengeschlossen. Der Name erinnert nicht ohne Grund an das deutsche Qualitätssiegel "Made in Germany".

Gemeinsam wollen die Unternehmen in den kommenden drei Jahren 631 Milliarden Euro in Deutschland investieren. In Produktionsstätten, Maschinen und Anlagen sowie in Forschung und Entwicklung. "Wir wollen wirtschaftliches Wachstum, wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands stärken, wir wollen unsere technologische Führerschaft verteidigen oder weiter ausbauen", sagte einer der beiden Initiatoren, der Vorstandschef des Siemens-Konzerns, Roland Busch, nach einem Treffen der Initiative mit Regierungspolitikern im Kanzleramt.

"Deutschland ist zurück", freut sich der Kanzler

Gemessen an ihrem wirtschaftlichen Gewicht, repräsentieren die 61 Unternehmen rund ein Drittel der deutschen Wirtschaft. Christian Sewing, Vorstandschef der Deutschen Bank und zusammen mit Busch Initiator der Initiative, geht aber davon aus, dass sich noch mehr Firmen anschließen werden. Gemeinsam wolle man Deutschland wieder "zum Wachstumsmotor für ein starkes Europa" machen. "Die Chancen waren selten größer, Investoren und internationale Unternehmen stehen bereit, um in unsere Wirtschaft zu investieren. Sie schätzen Deutschland als stabilen und verlässlichen Partner gerade in diesen volatilen Zeiten."

Die Politik ist begeistert. "Deutschland ist zurück, es lohnt sich, wieder in Deutschland zu investieren", freute sich CDU-Bundeskanzler Friedrich Merz nach dem Treffen. "Wir stehen hier vor einer der größten Investitionsinitiativen, die wir in Deutschland in den letzten Jahrzehnten gesehen haben. Wir sind kein Standort der Vergangenheit, sondern ein Standort der Gegenwart und vor allem der Zukunft."

Woher kommt der Stimmungswandel?

Die Stimmung im Kanzleramt war offensichtlich bestens. "Wir hatten einen ausgezeichneten Austausch", resümierte Sewing. Doch woher rührt der Sinneswandel? Deutschland ist wirtschaftlich nach wie vor angeschlagen, dem Land droht ein drittes Jahr in Folge ohne Wachstum. Angesichts der Zollpolitik von US-Präsident Donald Trump sind die Aussichten alles andere als gut.

Doch die Gangart der Politik ist eine deutlich andere. Die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen ist Top-Priorität der neuen Bundesregierung. Seit Anfang Mai ist eine Koalition aus den konservativen Parteien CDU/CSU und den Sozialdemokraten im Amt. Erste Maßnahmen sind bereits beschlossen. Bundestag und Bundesrat haben ein schuldenfinanziertes Sondervermögen von 500 Milliarden Euro für zusätzliche staatliche Investitionen in Infrastruktur und Klimaschutz beschlossen. Dabei geht es darum, teils marode Verkehrswege auf Vordermann zu bringen, aber auch um Investitionen in Energienetze, in die Digitalisierung und Forschung.

Unternehmen sollen weniger Steuern zahlen

Der Strompreis für die Industrie sinkt und die Wirtschaft wird steuerlich massiv entlastet. Zunächst, indem Investitionen in Produktionsstätten, Maschinen, Anlagen, Forschung und Entwicklung in großem Stil bei der Steuerfestsetzung berücksichtigt werden. Mittelfristig sollen die Unternehmenssteuern grundsätzlich sinken. Das ist etwas, was die Wirtschaft von der Vorgänger-Regierung aus SPD, Grünen und der liberalen FDP ständig erfolglos gefordert hatte.

Mit Friedrich Merz regiert nun ein Kanzler, der viele Jahre selbst in der Wirtschaft gearbeitet hat. Der Jurist war unter anderem Aufsichtsratsvorsitzender des US-Finanzinvestors Blackrock.

Eine neue Nähe zwischen Politik und Wirtschaft

"Wir haben heute mit einer neuen Form der Zusammenarbeit begonnen", sagte Siemens-Chef Busch. "Das Gespräch hat gezeigt, Politik und Wirtschaft ziehen am gleichen Strang." Deutsche-Bank-Vorstand Sewing ergänzte: "Wir erleben hier meines Erachtens eine Regierung, die Tempo macht. Das Wichtigste, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit, stehen ganz oben auf der Agenda." Um die angekündigten Milliarden freizusetzen, solle die Politik nun aber auch weniger regulieren und Unternehmen mehr Freiheit geben.

Reformen verlangt die Wirtschaft insbesondere bei den Thema Bürokratie und bei den Sozialabgaben, die die Arbeitskosten treiben. Arbeitgeber und Arbeitnehmer zahlen in Deutschland jeweils die Hälfte der Beiträge zur Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung. Wegen höherer Kosten im Gesundheitswesen sind die Krankenkassenbeiträge erst zu Jahresbeginn auf breiter Front gestiegen. Akut drohen für 2026 neue Erhöhungen auch in der Pflegeversicherung.

Ist die Rente noch sicher?

42 Prozent des Bruttosozialprodukts, also der gesamten Wirtschaftsleistung, fließen inzwischen in den Sozialhaushalt. Größter Treiber sind die Rentenkassen. Deutschland ist ein alterndes Land. In den nächsten Jahren werden sich die geburtenstärksten Jahrgänge aus dem Erwerbsleben verabschieden. Dazu kommt, dass die Menschen immer älter werden. Um die Altersbezüge noch finanzieren zu können, muss der Staat jedes Jahr mehr Geld in die Rentenkassen zuschießen.

Die OECD sieht in der Reform der Sozialversicherungen die größte Herausforderung für den Standort Deutschland. Wenn nichts geändert werde, müsse sich der Staat immer weiter verschulden, um die Sozialsysteme aufrecht erhalten zu können.

Bundeskanzler Friedrich Merz hat angekündigt, dass die Reform der Sozialsysteme als nächstes auf der politischen Agenda der Koalition steht. Im Herbst werde es erste Ergebnisse geben.

Item URL https://www.dw.com/de/made-for-germany-konzerne-versprechen-milliarden/a-73358307?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Gruppenbild mit Bundeskanzler Friedrich Merz (3.v.li.), Vizekanzler und Finanzminister Lars Klingbeil (2.v.re.) und Wirtschaftsministerin Katharina Reiche (links) im Kanzleramt
Image source Katharina Kausche/dpa/picture alliance
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Item 21
Id 73355815
Date 2025-07-21
Title USA: Warum Trump auf Zölle statt auf Sanktionen setzt
Short title USA: Warum Trump auf Zölle statt auf Sanktionen setzt
Teaser Seit der Rückkehr von Donald Trump ins Amt setzt die US-Handelspolitik verstärkt auf Zölle statt Sanktionen. Die aggressive Zollstrategie sorgt international für Unsicherheit und belastet Unternehmen wie Märkte.
Short teaser Zölle bergen das Risiko steigender Inflation und Vergeltungsmaßnahmen. Wären Sanktionen da nicht sicherer?
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Die Vorliebe von US-Präsident Donald Trump, seine politischen und wirtschaftlichen Ziele mit Zöllen zu erreichen, ist sehr umstritten. Für die einen sind Zölle die "weltweit schlechteste Wette", für andere gelten sie als "erprobtes und mächtiges Druckmittel" zum Schutz von nationalen Interessen der Vereinigten Staaten.

Fest steht: Seit seiner Rückkehr ins Weiße Haus 2025 haben Trumps wiederholte Zolldrohungen gegen Dutzende von Ländern große Unsicherheit bei US-Unternehmen und globalen Handelspartnern ausgelöst.

Trumps "Zolltango" - kühne Ankündigungen hoher Zölle auf ausländische Waren, gefolgt von abrupten Rückziehern - passt zu dessen wechselnden politischen und wirtschaftlichen Zielen. Die Finanzmärkte bleiben nervös, da sie nicht wissen, wie oder wann oder gegen wen der Präsident das nächste Mal Zölle verhängen will.

Beispiel Peking

Die Zölle auf Importe aus China, dem größten wirtschaftlichen und militärischen Rivalen der USA, erreichten im April einen historischen Höchststand und stiegen auf 145 Prozent, bevor sie im darauffolgenden Monat nach den Handelsgesprächen in London deutlich gesenkt wurden.

Trumps plötzliche Erhöhung und spätere Rücknahme der Zölle zeigt, wie er sie als Mittel nutzt, um das zu korrigieren, was er aufgrund früherer Handelsstreitigkeiten als unfairen Handel ansieht.

"Was die Ansichten des Präsidenten prägt, ist der rasante Aufstieg Japans in den 1980er Jahren und das Gefühl, dass die Japaner die legendäre amerikanische Autoindustrie aus dem Wettbewerb drängen, weil die USA bei ihren Handelsbedingungen zu großzügig waren", sagte Jennifer Burns, Juniorprofessorin für Geschichte an der Stanford University, gegenüber DW.

Zölle für "America First"

Zölle sind Trumps bevorzugte Waffe, um das massive US-Handelsdefizit, insbesondere gegenüber China, zu bekämpfen, das sich laut der US-Statistikbehörde "United States Census Bureau" im Jahr 2024 auf 295 Milliarden US-Dollar (253 Milliarden Euro) belief.

Die Zölle stehen auch im Einklang mit Trumps "America First"-Agenda, die heimische Industrie zu schützen und die Schaffung von Arbeitsplätzen in den USA zu fördern.

Das Weiße Haus verteidigt den Ansatz des Präsidenten und betont, dass Zölle schnell eingesetzt werden könnten und im Gegensatz zu Sanktionen ausländische Märkte für US-Unternehmen nicht vollständig verschlössen.

"[Trump] kann diesen Druck erhöhen, wann immer er will, und ihn dann wieder zurücknehmen, wenn die Märkte ausflippen, oder er seinen Zweck nicht mehr erfüllt", sagte Sophia Busch, stellvertretende Direktorin des Geo-Ökonomischen Zentrums der Denkfabrik Atlantic Council, zur DW. "Mit Zöllen ist das viel einfacher als mit Sanktionen."

Der Zoll soll Geld einnehmen

Obwohl Zölle wegen ihres Inflationspotenzials vielfach kritisiert werden, generieren sie im Gegensatz zu Sanktionen Einnahmen für das US-Finanzministerium. So stiegen die US-Zolleinnahmen im ersten Halbjahr im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 110 Prozent auf 97,3 Milliarden US-Dollar.

Laut dem Urban-Brookings Tax Policy Center werden die Zölle im nächsten Jahr voraussichtlich rund 360 Milliarden US-Dollar einbringen.

Trump betrachtet Zölle als flexibler und leichter umsetzbar. Zölle geben Trump direkte, einseitige Kontrolle durch Präsidialerlasse, ohne dass er die Zustimmung des US-Kongresses benötigt. Sanktionen hingegen erfordern oft komplexe rechtliche Rahmenbedingungen und die Zusammenarbeit mit internationalen Partnern wie der Europäischen Union.

Zölle bevorzugt

Dies erklärt, warum Trump lieber Zölle einsetzt, um Ziele zu erreichen, die typischerweise mit Sanktionen in Verbindung gebracht werden. So kann er Druck auf Länder wie Kanada, Mexiko und China in nicht-handelsbezogenen Fragen aus wie Einwanderung und Drogenhandel ausüben.

Mit der Bestrafung von Zöllen wurde auch Kolumbien gedroht, nachdem es US-Abschiebeflüge abgelehnt hatte. Die angedrohten Abgaben gegen die Europäische Union wiederum wurden teilweise als Reaktion auf die EU-Datenschutz- und Klimavorschriften angekündigt.

Anfang dieses Monats verhängte Trump einen 50-prozentigen Zoll auf Importe aus Brasilien, der als Vergeltung für die Strafverfolgung des ehemaligen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, eines engen Verbündeten, ausgelegt wurde. Der rechtsextreme Politiker muss sich wegen angeblicher Putschpläne zur Aufhebung seiner Wahlniederlage von 2022 vor Gericht verantworten. Er soll auch die Ermordung politischer Rivalen mitgeplant haben.

Früher waren Sanktionen das Mittel der Wahl

Frühere US-Regierungen haben Sanktionen gegenüber Zöllen als Strafmittel bevorzugt, um "Schurkenstaaten" auf Linie zu bringen. Seit Moskau im Februar 2022 seine Invasion der Ukraine begann, haben die USA mehr als 2500 Sanktionen gegen Russland verhängt, die sich gegen Einzelpersonen, Unternehmen, Schiffe und Flugzeuge richten.

Die USA haben auch Sanktionen gegen Venezuela, den Iran und Nordkorea verhängt. "Diese Volkswirtschaften sind keine entscheidenden Handelspartner für die USA", sagte Busch vom Atlantic Council und fügte hinzu, dass Trumps Zölle auf die "wichtigsten Handelspartner der USA (…) eher eine wirtschaftliche Bedrohung im Inland" darstellten.

Denkt Trump jetzt doch über Sanktionen nach?

Mit Bezug auf einen von Senator Lindsey Graham vorgeschlagenen Gesetzentwurf, der zusätzliche Strafen für Moskau vorsieht, falls es nicht gelingt, ein Friedensabkommen mit Kiew auszuhandeln, sagte Trump, er ziehe neue Sanktionen "sehr ernsthaft" in Erwägung.

Sollte der "Sanctioning Russia Act 2025" verabschiedet werden, würden wichtige russische Beamte und Oligarchen, Finanzinstitute und der Energiesektor ins Visier genommen. Das Ziel: Russlands Fähigkeit zum Export von Öl und Gas einschränken.

Der Gesetzentwurf, der von beiden Parteien unterstützt wird, sieht auch Sekundärsanktionen gegen Drittländer und ausländische Unternehmen vor, die russische Energie importieren. Trump hat diese Sanktionen als "Sekundärzölle" von bis zu 500 Prozent bezeichnet.

Schädliche "Zollunsicherheit"

Trumps ähnliche "Sekundärzölle" von 25 Prozent gegenüber Käufern von venezolanischem Öl, die im März in Kraft traten, sollten ebenfalls Druck auf Energieimporteure ausüben, sich der US-Außenpolitik anzupassen - eine Rolle, die normalerweise Sanktionen vorbehalten ist.

Sekundärsanktionen umfassen in der Regel die Aufnahme von Personen und Unternehmen in schwarze Listen, das Einfrieren von Vermögenswerten und Beschränkungen im Geldverkehr. Auch mit US-Strafanzeigen und Reiseverboten wird oft gedroht.

"Bei Sanktionen geht es eher darum, Länder für Verstöße gegen internationale Normen zu bestrafen", sagte Burns gegenüber der DW. "Sie sind eine Reaktion auf konkrete Maßnahmen, und wenn diese Maßnahmen eingestellt werden, können die Sanktionen aufgehoben werden."

Burns wies darauf hin, dass die Unsicherheit über Trumps Zollpolitik US-Unternehmen und globale Handelspartner in Bedrängnis gebracht habe, und warnte, dass "Jahre der Zollunsicherheit" zu einer "ernsthaften Konjunkturabschwächung führen könnten, da Unternehmen und Investoren auf eine vorhersehbare Lage warten".

Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen adaptiert.

Item URL https://www.dw.com/de/usa-warum-trump-auf-zölle-statt-auf-sanktionen-setzt/a-73355815?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Lieber Zölle als Sanktionen: US-Präsident Trump bei der Ankündigung von neuen Zöllen gegenüber US-Handelspartnern wie China und EU im April
Image source Mark Schiefelbein/AP/dpa/picture alliance
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Item 22
Id 73350374
Date 2025-07-21
Title Fico kopiert Orbán: EU-Blockade mit Showeffekt
Short title Fico kopiert Orbán: EU-Blockade mit Showeffekt
Teaser Robert Fico inszeniert sich wie Viktor Orbán: Erst blockiert er EU-Sanktionen gegen Russland, dann stimmt er doch zu – und verkauft den Rückzieher als Sieg für die Slowakei. Innenpolitisch steht Fico weiter unter Druck.
Short teaser Erst blockiert Premier Robert Fico EU-Sanktionen gegen Russland, dann stimmt er doch zu. Was heißt das für die Slowakei?
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Von Ungarns Premier Viktor Orbán sind solche Manöver bekannt: Er blockiert EU-Beschlüsse, die einstimmig verabschiedet werden müssen, und verspricht seinen Anhängern, sie "niemals" mitzutragen. Doch im letzten Moment knickt er ein und stimmt zu. Oft ist unklar, was er dafür bekommt. Zuhause verkauft Orban seinen "Kampf gegen die Brüsseler Bürokraten" als "Sieg".

Dasselbe Spiel hat nun erstmals auch Orbáns Duzfreund Robert Fico gespielt, slowakischer Ministerpräsident, formal Sozialdemokrat, praktisch rechtsnationaler Populist. Wochenlang verkündete er, dass er dem 18. Sanktionspaket der EU gegen Russland nicht zustimmen werde, selbst wenn das zu einer "großen Krise in der EU" führen würde - und hielt die Union so in Atem.

Die Sanktionen würden die Wirtschaft der Slowakei und vor allem ihre Energieversorgung empfindlich treffen, so Fico. Außerdem würden sie der EU selbst schaden, nicht aber Russland. Seine Blockadehaltung stilisierte der slowakische Premier zu einer Frage der nationalen Souveränität und des nationalen Stolzes.

Der Rückzieher kam am späten Abend des vergangenen Donnerstags (17.07.2025) in den Sozialen Medien, Stunden vor der geplanten Entscheidung über das Paket. Fico kündigte in einem Video an, dass der Sanktionsplan der EU-Kommission gegen Russland zwar "schwachsinnig" sei, es aber "kontraproduktiv" wäre, gegen ihn zu stimmen. Er erläuterte, welche Zugeständnisse die Slowakei dafür bekäme und sagte schließlich: "Wer mit den Wölfen lebt, muss mit ihnen heulen."

"Theater für die einheimischen Wähler"

In der EU wurde Ficos überraschender Schwenk mit großer Erleichterung aufgenommen. Manche, wie der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz, äußerten sogar Verständnis für die wirtschaftlichen Probleme der Slowakei. Doch im Land selbst kritisieren sowohl Oppositionspolitiker als auch viele politische Kommentatoren Ficos Manöver mit vernichtenden Worten. Er habe europäische Partner vor den Kopf gestoßen, Wladimir Putin einen Gefallen getan, für die Slowakei nichts erreicht und das Land isoliert, lautet der gemeinsame Tenor.

Michal Simecka, Chef der größten slowakischen Oppositionspartei Progressive Slowakei (PS) bezeichnet Fico in einem Facebook-Post als "dilletantisch, orientierungslos, frustriert und ungeeignet, sein Amt auszuüben und die Interessen der Slowakei zu verteidigen". Ein Kommentator der Tageszeitung Sme nennt Ficos Manöver ein "Theater für die einheimischen Wähler und um Menschen von anderen Problemen abzulenken".

Ausnahmeregelung für RePowerEU

Worum ging es nun bei diesem Manöver und was hat Fico erreicht? Das 18. Sanktionspaket der EU gegen Russland soll vor allem den Verkauf russischen Öls in der EU stoppen, die russische Rüstungsindustrie von wichtigen Importen abschneiden und Transaktionen mit bisher nicht gelisteten russischen Banken verbieten. Fico und seine Koalitionsregierung hätten dem wohl prinzipiell zugestimmt. Stein des Anstoßes waren jedoch Maßnahmen des bereits vor längerem von Brüssel vorgelegten Plans namens RePowerEU, der unter anderem vorsieht, die Mitgliedsstaaten ab 2028 von russischem Gas abzukoppeln.

Die Slowakei forderte eine Ausnahmeregelung für sich, da sie einen Gasliefervertrag mit dem russischen Konzern Gazprom hat, der bis 2034 läuft. Bislang ist das EU-Mitgliedsland völlig abhängig von russischem Gas. Doch schon bevor Fico schließlich dem 18. Sanktionspaket zustimmte, hatte die EU der Slowakei Hilfe in der Gasfrage zugesichert. So darf das Land zum Beispiel einen Teil der EU-Finanzhilfen für Energiepreissubventionen verwenden. Außerdem wird Brüssel der Slowakei bei möglichen Rechtsstreitigkeiten mit Gazprom helfen. Warum also dann das "Theater für die einheimischen Wähler"?

Haushaltsdefizit und Strukturkrise

Zum einen steckt die Slowakei in erheblichen finanziellen Schwierigkeiten und in einer tiefen strukturellen Wirtschaftskrise. Beide Probleme hat Ficos seit Ende 2023 amtierende sozialdemokratisch-rechtsnationale Koalitionsregierung bisher nicht lösen können. Vor allem zögert sie, die öffentlichen Finanzen zu sanieren.

Das Haushaltsdefizit betrug im vergangenen Jahr 5,3 Prozent (des BiP) - in der Eurozone sind drei Prozent erlaubt. Zwar führte Ficos Regierung bereits finanzielle Konsolidierungsmaßnahmen ein. So etwa erhöhte sie einige Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, strich Feiertage. Andererseits machte sie ihren Wählern kostspielige Geschenke, etwa Energiepreishilfen und eine 13. Monatsrente für Ruheständler. Aktuell steht die Regierung unter anderem wegen einer umstrittenen Steuer für Finanztransaktionen unter Druck.

Wirtschaftlich steckt die exportorientierte Slowakei wegen der Krise auf dem Automarkt in großen Schwierigkeiten. Volkswagen, Kia, Jaguar und Peugeot lassen im Land produzieren, die PKW-Fertigung ist der mit Abstand wichtigste Wirtschaftszweig. Doch wegen der Umbrüche auf dem Automarkt, der chinesischen Konkurrenz, Absatzeinbrüchen in den USA und Donald Trumps Zollpolitik gerät das slowakische Modell der Autofertigung immer mehr in die Krise. Einen längerfristigen Plan für grundlegende wirtschaftliche Reformen hat Ficos Regierung bisher nicht vorgelegt.

Korruptionsvorwürfe

Auch wegen alter und neuer Korruptionsaffären stehen Fico und seine Regierung unter Druck. Nach dem Mord an dem Investigativjournalisten Jan Kuciak und seiner Verlobten Martina Kusnirova im Februar 2018 musste Fico zurücktreten. In der Folgezeit kam heraus, wie tief Politik und organisierte Kriminalität in der Slowakei verflochten sind.

Seit Fico Ende 2023 an die Macht zurückkehrte, wird ihm von seinen Kritikern vorgeworfen, dass er vor allem darum bemüht sei, den Kampf gegen die Korruption zu beenden und seine Gegner kaltzustellen. "Besessen von Rache" sei Fico, sagt Peter Bardy, Chefredakteur des Portals Aktuality - so lautet auch der Titel seines aktuellen Bestsellers über Robert Fico. Jüngst deckte Aktuality eine Affäre um eine Luxusvilla an der kroatischen Adriaküste auf, die über eine verschachtelte Eigentumskonstruktion mutmaßlich Ficos Besitztümern zuzuordnen ist.

"Damm gegen den Progressivismus"

Der Premier selbst sieht sich umgeben von Feinden und als Opfer. Vor allem seit er im Mai 2024 ein Attentat nur knapp überlebte, hat das tatsächlich Züge von Besessenheit an sich. Die Opposition, unabhängige Medien, der Liberalismus, "LGBTQ-Ideologen", die EU - alle sieht der 60-Jährige in einer Verschwörung gegen ihn.

Immer wieder nimmt er den russischen Despoten Wladimir Putin in Schutz, am 8. Mai 2025 reiste er als einziger EU-Regierungschef zur Weltkriegssiegesfeier nach Moskau. Nach einem Besuch in Usbekistan im Juni 2025 empfahl er das dortige Staatsmodell als politisches Vorbild und sinnierte darüber, die "europäische Demokratie" umzugestalten, etwa die Zahl der Parlamentsparteien zu begrenzen. Im Herbst will Fico mit Verfassungsänderungen einen "Damm gegen den Progressivismus" errichten. Geplant ist unter anderem, alle Geschlechter außer dem männlichen und weiblichen zu verbieten.

Auch das aktuelle Manöver Ficos, antirussische EU-Sanktionen erst zu boykottieren, ihnen dann aber zuzustimmen, ordnet der slowakisch-ungarische Schriftsteller und Publizist Laszlo Barak in diese Politik ein. "So wird die Fico-Realität konstruiert: mit Slogans, Halbwahrheiten und billigen Lügen", schreibt er in einem Kommentar für das Portal Parameter. "Das ist seine Politik: Manipulationen, Russophilie und Zynismus."

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Image caption Der slowakische Ministerpräsident Robert Fico besucht am 15.05.2025, ein Jahr nach dem Attentat auf ihn, den Tatort
Image source Robert Nemeti/Anadolu/picture alliance
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Item 23
Id 73211498
Date 2025-07-21
Title Bayreuther Festspiele: Darum war Hitler Fan von Wagners "Meistersingern von Nürnberg"
Short title Darum war Hitler Fan der "Meistersinger von Nürnberg"
Teaser Sie gilt als deutscheste Oper aus der Feder von Richard Wagner. Adolf Hitler nutzte das Werk für seine Propaganda. Die Neuinszenierung der "Meistersinger" in Bayreuth soll auch die komischen Seiten der Oper zeigen.
Short teaser In der Wagner-Oper wird die "heilige deutsche Kunst" besungen. Eine Steilvorlage für die Propaganda der NS-Diktatur.
Full text

An Inszenierungen von Wagners Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" scheiden sich die Geister. Soll man die komische Seite der Oper betonen, oder ist es ein ernstes Stück über deutsche Tugenden mit antisemitischem Bezug? In der diesjährigen Neuinszenierung bei den Bayreuther Festspielen will Regisseur Matthias Davids komische Elemente der Oper betonen. Es bleibt der Beigeschmack, dass die Nationalsozialisten das Stück in ihre Reichsparteitage eingebunden haben.

Richard Wagnerwar Adolf Hitlers Lieblingskomponist, und das schon lange bevor er 1933 an die Macht kam. Der Diktator sah in Wagner einen Seelenverwandten, der mit den gewaltigen Klängen seiner Opern im 19. Jahrhundert die Massen begeisterte. Das machte sich Adolf Hitler später für seine Propaganda zunutze.

Kunst und Musik waren bei Wagner und Hitler Chefsache

Hitler, der gerne Kunst studiert hätte, machte große Musikinszenierungen genauso zur Chefsache wie staatstragende Architekturprojekte. "Hitler hat tatsächlich der Kunst einen sehr hohen Stellenwert eingeräumt," sagt der Kunstwissenschaftler Wolfgang Brauneis, der sich mit Künstlern der Nazizeit beschäftigt hat. "Man kann das bis tief in die Kriegswirren beobachten, dass er selbst noch die Farbe von Mosaiksteinchen abgenommen hat bei großen Baustellen."

Nicht anders war es in Nürnberg, wo Hitlers Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) ihre Parteitage abhielt. Für die Inszenierung von Richard Wagners Oper "Die Meistersinger von Nürnberg", die am Vorabend der Reichsparteitage gespielt wurde, wählte er selbst die Sänger und Dirigenten aus.

Das große Gesamtkunstwerk bei Wagner und Hitler

Als Hitler 1933 an die Macht kam, war Richard Wagner bereits 50 Jahre tot. Der Komponist hatte mit seiner Vorstellung eines Gesamtkunstwerks die Opernwelt revolutioniert. Ihm schwebte die Symbiose von Text, Musik, Regie, Bühnenbild und Architektur vor, alles aus einer Hand. Für seine Opern entwarf Richard Wagner ein Opernhaus auf dem grünen Hügel in Bayreuth nach eigenen Vorstellungen. Erstmals ließ er das Orchester in einem Graben vor der Bühne spielen, das Publikum saß in völliger Dunkelheit, nur die Bühne erstrahlte. Das inspirierte Hitler.

Seine Reichsparteitage in Nürnberg inszenierte der Diktator ab wie eine große Bühnenshow mit Lichteffekten und Massenaufläufen. Die ganze Stadt wurde zur Kulisse, mit gehissten Fahnen am Straßenrand für die Aufmärsche der Nationalsozialisten. In der letzten Szene der "Meistersinger von Nürnberg", in der es inhaltlich um die Bewahrung der deutschen Kunst geht, hatte der Bühnenbildner Benno von Arent 1935 die langen Fahnenreihen vor den mittelalterlichen Fachwerkhäusern der Stadt auf der Bühne aufgegriffen.

Eine deutsche Vorzeigeoper mit Antisemitismus?

Die Oper handelt von einem Sängerstreit um die Liebe einer Frau. Bäcker, Schneider, Goldschmiede und andere Handwerksmeister treten gegeneinander an. Der Stadtschreiber Beckmesser achtet strengstens darauf, dass die Regeln eingehalten werden. Altmeister Hans Sachs, ein angesehener Sänger und Schuster, appelliert die alten Meister zu ehren und die deutsche Kunst zu bewahren.

Ein Grund, warum die "Meistersinger von Nürnberg" oft als Wagners deutscheste Oper bezeichnet werden. Das sieht auch der jüdische Regisseur Barrie Kosky so. Für den Australier spielt dabei aber auch der Antisemitismus eine Rolle. 2017 hat er die Meistersinger in Bayreuth als "Hetzjagd auf einen jüdischen Sänger" inszeniert, den er in der Figur von Beckmesser sieht. "Ich setze mich nicht mit der jüdischen Kultur auseinander, sondern mit der Parodie von Antisemitismus", erzählt Kosky im DW-Film "Warum Hitler Wagner vergötterte". Beckmesser verkörpere den Sündenbock, der alle Verantwortung trägt, das ganze Trauma eines Volkes. "Genau darum geht es. Sie machen ihn in meiner Inszenierung zum Juden."

Ob und in welcher Weise jüdische Figuren in Wagners Opern vorkommen und karikiert werden, ist in der Wagner-Forschung bis heute umstritten. Wagner selbst soll sich dazu nicht geäußert haben. Allerdings war der Komponist bekennender Antisemit. Er hat ein Pamphlet mit dem Titel "Das Judenthum in der Musik" verfasst, in dem er Musik von jüdischen Komponisten verunglimpft und behauptet, sie könnten nur andere kopieren.

Der Musikwissenschaftler Jens Malte Fischer sieht bei Wagners "Meistersingern" konkrete antisemitische Anspielungen. Im Sängerwettstreit singe der Stadtschreiber Beckmesser besonders scheußlich, außerdem stehle er die Lieder anderer. "Dieses 'Rumgeschmiere', das beschreibt Wagner in 'Das Judentum in der Musik‘ wirklich als Kennzeichen von Synagogenmusik. Und er sagt: Wie kann jemand überhaupt so singen, das ist ja alles ganz schrecklich. Das scheint mir hier auf sehr eindrückliche Art parodiert von Wagner", sagt er im DW Film.

Bayreuth 2025: Die "Meistersinger" als Lustspiel

Intrige, Liebe, Macht, Sieg und Heldentum, das sind Zutaten, die Richard Wagner immer wieder in seinen Opern verwendet. Die "Meistersinger" wurden daher als deutsche Vorzeigeoper von den Nationalsozialisten mit viel Pathos und Ernst hochgehalten, aber es gibt auch komödiantische Seiten beim Sängerwettstreit. Diese spielen eine große Rolle in der Neuinszenierung des Opern- und Musicalregisseurs Matthias Davids bei den diesjährigen Bayreuther Festspielen.

Im Libretto der "Meistersinger" gebe es viele komische Situationen und Dinge, sagte Davids vor der Presse in Bayreuth. "Da gibt es die Sprachkomik und die Situationskomik", und manche Figuren gehörten eindeutig ins komische Fach. "Ich entdecke immer mehr Humorelemente, die vielleicht auch überraschend sind."

In der Programmbeschreibung der Festspiele wirft er die Frage auf, ob man die im Finale gepriesene "deutscher Meister Ehr‘" wirklich nur als Verdammung von allem was nicht "deutsch und echt" sei verstehen soll. "Könnten wir nicht alle Meister (und Meisterinnen) werden, wenn wir endlich lernten, mit uns selbst und anderen liebevoller umzugehen?"

Die Meistersinger-Premiere bei den Bayreuther Festspielen findet am 25. Juli statt. Die Festspiele enden am 26. August.

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Image caption Für Regisseur Barrie Kosky ist die Figur des "Beckmesser" in Wagners Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" als jüdische Karikatur angelegt. Er hat das Aussehen stereotyp überzeichnet.
Image source Bayreuther Festspiele/E. Nawrath
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Item 24
Id 73345972
Date 2025-07-21
Title Wahl in Japan: Rechter Tiefschlag für Regierungskoalition
Short title Wahl in Japan: Rechter Tiefschlag für Regierungskoalition
Teaser Trotz des Verlusts der Parlamentsmehrheit will Premierminister Shigeru Ishiba im Amt bleiben. Seine Minderheitsregierung könnte zunächst funktionieren.
Short teaser Trotz des Verlusts der Parlamentsmehrheit will Premier Shigeru Ishiba im Amt bleiben. Das könnte zunächst funktionieren.
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Aufgrund der hohen Zugewinne von rechtspopulistischen Parteien hat die japanische Minderheitsregierung von Premier Shigeru Ishiba bei der Wahl am Sonntag (20.7.) ihre Mehrheit im Oberhaus verloren. Damit untergraben nun auch in Japan Rechtspopulismus und Polarisierung die politische Stabilität.

Ungeachtet seines zweiten Wahldebakels in neun Monaten will Premierminister Shigeru Ishiba aber weiterregieren. Er werde das Ergebnis "demütig hinnehmen" und "weiterhin Verantwortung für nationale Angelegenheiten übernehmen", erklärte Ishiba unter Verweis auf die laufenden Verhandlungen mit den USA über ein Zollabkommen. Ohne Vertrag tritt zum 1. August ein US-Einfuhrzoll von 25 Prozent auf alle japanischen Waren in Kraft.

Ishibas Verbleib im Amt hängt jedoch nicht mehr allein von ihm ab. Die erstarkte Opposition könnte ihn jederzeit über ein Misstrauensvotum stürzen. Allerdings sind sich diese Parteien nicht einig genug, um selbst eine Regierungskoalition zu schmieden. Auch droht Ishiba ein Aufstand innerhalb der eigenen Liberaldemokratischen Partei (LDP), die seit 70 Jahren fast ununterbrochen regiert und bisher immer mindestens eine Parlamentskammer kontrollierte. Das konservative LDP-Schwergewicht Taro Aso sagte, er könne Ishiba als Premier "nicht akzeptieren".

Doch scheinen mögliche Nachfolger erst einmal in Deckung zu bleiben. "Niemand will Ishiba in dieser für die LDP so schwierigen Zeit ersetzen", sagte der Politologe Masahiro Iwasaki von der Nihon-Universität.

Unerwartet knapper Ausgang

Bei der Neuwahl von 125 der 248 Sitze des Oberhauses verpasste die Regierungskoalition aus LDP und buddhistischer Komei-Partei das selbstgesetzte Ziel, ihre bisherige Mehrheit in der zweiten Parlamentskammer zu behalten. Allerdings fehlten der Koalition am Ende nur drei Sitze, ein unerwartet knapper Ausgang verglichen mit den Prognosen. Die LDP dürfte nun versuchen, einige unabhängige Abgeordnete auf ihre Seite zu ziehen. Selbst wenn dies gelingt, steht die Regierung weiter auf wackeligem Grund.

Eine Option von Ishiba wäre, sein Regierungsbündnis zu erweitern. Aber die großen Oppositionsparteien erklärten bereits, sie würden in keine Große Koalition eintreten. Offenbar bezweifeln sie, dass Ishiba mittelfristig Premier und LDP-Chef bleibt.

Damit bleibt dem 68-jährigen Politiker nur die Option einer punktuellen Zusammenarbeit mit einzelnen Oppositionsparteien, wie er es bereits seit dem Verlust der Mehrheit im wichtigeren Unterhaus Ende Oktober praktiziert. Ohne schmerzhafte Zugeständnisse wird dies nicht gelingen, etwa in Steuerfragen.

So lehnte Ishiba vor der Wahl Oppositionsforderungen nach einer Senkung der Mehrwertsteuer auf Nahrungsmittel ab. Statt desssen versprach er jedem Bürger eine Barzahlung von 20.000 Yen (116 Euro) bis zum Jahresende, um den Verlust der Kaufkraft durch die ungewohnt hohe Inflation auszugleichen.

Aufstieg der Rechtspopulisten

Laut japanischen Medien ist das Wahldebakel der LDP auf die Unzufriedenheit vieler Wähler mit den seit drei Jahren sinkenden Reallöhnen durch die hohe Inflation und die starke Zunahme an ausländischen Arbeitskräften und Touristen zurückzuführen. Davon profitierten zwei junge, rechtspopulistische Parteien am meisten, aber die größte Oppositionsgruppe, die Konstitutionelle Demokratische Partei von Ex-Premier Yoshihiko Noda, dagegen kaum.

Die erst fünf Jahre alte Sansei-Partei erhöhte die Zahl ihrer Sitze im Oberhaus von zwei auf 14 und die Demokratische Partei für das Volk von neun auf 17. In der Summe erhielten sie einer Schätzung zufolge mehr Stimmen als die LDP.

Die Sansei-Partei zog mit dem offen fremdenfeindlichen Slogan "Japan zuerst" in den Wahlkampf und warf der Regierung eine "Politik der verdeckten Einwanderung" vor. Die Zahl der Ausländer mit Wohnsitz wuchs im Vorjahr um zehn Prozent auf knapp vier Millionen. Die Ausländer, die wegen der alternden und schrumpfenden Bevölkerung als Arbeitskräfte angeworben werden, würden die soziale Harmonie im Land stören, meint die Sansei-Partei. Ihr Gründer Sohei Kamiya nannte die Partei "Alternative für Deutschland" (AfD) und andere rechte Parteien in Europa als seine Vorbilder.

Die Demokratische Partei für das Volk mit ihrem charismatischen Vorsitzenden Yuichiro Tamaki ist nun die drittstärkste Kraft im Parteiensystem, was ihrer wichtigsten politischen Forderung nach Steuersenkungen Nachdruck verleiht. "Beide rechte Parteien konnten die Wut der jüngeren Generationen auf das politische System der 'Silberdemokratie' (Anm. d. Red.: Silber steht in Japan für die grauen Haaren der Senioren) und eine Wirtschaft mit steigenden Lebenshaltungskosten und stagnierenden Löhnen für sich nutzen", meinte der Analyst Tobias Harris.

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Image caption Japans Premierminister Ishiba will im Amt bleiben
Image source Franck Robichon/AFP
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Item 25
Id 73342224
Date 2025-07-21
Title Iran: Wie groß ist das Strahlenrisiko nach den US-Angriffen?
Short title Iran: Wie groß ist das Strahlenrisiko nach den US-Angriffen?
Teaser Auch einen Monat nach den US-Luftangriffen auf drei große Atomanlagen im Iran sind die Auswirkungen der Angriffe weiterhin unklar - die Schadensbewertungen widersprechen sich.
Short teaser Nach den US-Luftangriffen auf drei große Atomanlagen im Iran sind die Auswirkungen der Angriffe weiterhin unklar.
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US-Präsident Donald Trump nannte die Angriffe vom 22. Juni auf den Iran martialisch "Operation Midnight Hammer". Ziel waren die nuklearen Einrichtungen in den Städten Fordo, Natans und Isfahan. Dabei warf die US-Luftwaffe 13.600 Kilogramm schwere Bomben, sogenannte "Bunkerbrecher" ab.

Fordo stark befestigt

Der Angriff auf Fordo war der bedeutendste. Diese nukleare Anlage ist die am stärksten befestigte des Landes, unterirdisch tief unter in einem Berg angelegt. Seit dem Ausstieg der USA aus dem Wiener Atomabkommen mit dem Iran von 2015 reicherte die islamische Republik dort Uran auf 60 Prozent an - das heißt weit über das für zivile Zwecke erforderliche Niveau. Teheran hatte zudem angekündigt, die Kapazitäten weiter auszubauen.

Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) berichtete, dass sie in Fordo Uranpartikel gefunden habe, mit einer Reinheit nahe 90 Prozent, die für waffenfähiges Uran erforderlich sind.

Ziel: Urananreicherungsanlagen

Ein weiteres Ziel der US-Operation war die Anlage in Natans, Irans größtes Zentrum für Urananreicherung. Sie befindet sich etwa 225 Kilometer südlich von Teheran. Wie Fordo ist auch Natans eine unterirdische Anlage.

Die dritte Anlage, die die USA attackierten, liegt in Isfahan. Dort soll nahezu waffenfähiges Uran verarbeitet worden sein. Diese Anlage wandelte natürliches Uran in Uranhexafluorid-Gas um, das in den Zentrifugen in Natans und Fordo zur Anreicherung verwendet wird.

Russlands Beitrag zum iranischen Atomprogramm

Experten schätzen, dass der Iran bereits über mehr als 400 Kilogramm hochangereichertes Uran verfügt. Was bei den US-Angriffen mit diesem angereicherten Uran geschehen ist, bleibt unklar. Iranische Regierungsquellen erklärten, das Uran sei an "sichere" Orte gebracht worden. Israelische Quellen behaupten jedoch, dass das Uran auf die drei Anlagen verteilt war und "nicht verlagert" wurde. US-Präsident Trump bleibt dabei, die Anlagen seien vollständig zerstört.

Fordo, Natans und Isfahan verfügen offenbar nicht über aktive Reaktoren. Der Iran betreibt jedoch ein Atomkraftwerk in Buschehr, etwa 750 Kilometer südlich von Teheran. Diese Anlage wird von der IAEA überwacht und mit Uran aus Russland betrieben. Abgebrannter Brennstoff wird nach Russland zurückgebracht. Die Anlage in Buschehr wurde bei den US-Angriffen nicht bombardiert.

Überwachung der Strahlungswerte

Nach den US-Angriffen erklärte die IAEA, sie habe keine erhöhten Strahlungswerte in den betroffenen Regionen festgestellt.

Ein Strahlungsrisiko besteht jedoch durch mögliche Lecks von Uranhexafluorid-Gas aus Lagertanks, Zentrifugen oder Rohrleitungen. Bei Freisetzung reagiert das Gas mit Feuchtigkeit in der Luft zu Uranylfluorid und Flusssäure. Kontakt mit dieser gefährlichen Säure oder das Einatmen ihrer Dämpfe kann Lungengewebe zerstören und schwere, tödliche Atemprobleme verursachen.

"Es gibt Hinweise darauf, dass Uranhexafluorid am Standort freigesetzt wurde", sagt Clemens Walther, Professor und Nuklearexperte am Institut für Radioökologie und Strahlenschutz der Universität Hannover der DW. Es seien sowohl radiologische Gefahren als auch erhöhte Strahlungswerte sowie chemische Gefahren genannt worden. Das könne nur auf die Freisetzung von Flusssäure hindeuten. "Es wurde jedoch klar gesagt, dass der Vorfall auf das Gelände beschränkt war. Eine Ausbreitung in Wohngebiete wurde nicht gemeldet", erläuterte Walther.

Da Uran als Schwermetall chemisch toxisch ist und Nierenschäden verursachen kann sowie das Krebsrisiko erhöht, bleibt die Sorge, welche Auswirkungen die Angriffe auf die Nuklearanlagen haben.

Gefahr eines Tschernobyl-ähnlichen Desasters?

Die Reaktorkatastrophen in Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 verdeutlichten die Strahlungsrisiken bei Reaktorunfällen. Bei der Katastrophe im japanischen Fukushima wurde radioaktives Material freigesetzt, Zehntausende Menschen mussten evakuiert werden.

Der deutsche Strahlenschutzexperte und Gutachter Roland Wolff ist sich sicher, dass anders als im Fall des havarierten Atomreaktors Tschernobyl, von den angegriffenen Anlagen im Iran keine Gefahr ausgeht.

"Der radioaktive Bestand in den Anreicherungsanlagen enthält im Gegensatz zu Reaktoren keine Spaltprodukte", so Wolff. "Außerdem wurde der radioaktive Bestand nicht durch eine Explosion in große Höhen freigesetzt, wie in Tschernobyl." Wolff geht daher nur von einer möglichen lokal begrenzten Kontamination aus.

Adaptiert aus dem Englischen von Sabine Faber

Item URL https://www.dw.com/de/iran-wie-groß-ist-das-strahlenrisiko-nach-den-us-angriffen/a-73342224?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Nach US-Bombardierung zeigen Satellitenbilder die Krater um die Nuklearanlage Fordo
Image source Maxar Technologies/AFP
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Item 26
Id 73295715
Date 2025-07-20
Title Nach US-Kürzungen: Wie weiter mit der Entwicklungshilfe in Nahost?
Short title Nach Kürzungen: Wer zahlt nun Entwicklungshilfen für Nahost?
Teaser Zum ersten Mal seit 30 Jahren kürzen einige der weltweit größten Geldgeber für Entwicklungszusammenarbeit ihre Mittel, allen voran die USA. Hilfsorganisationen sehen sich gezwungen, nach neuen Finanziers zu suchen.
Short teaser Bedeutende Geldgeber weltweit kürzen Entwicklungshilfen, allen voran die USA. Nun wird nach neuen Finanziers gesucht.
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Wie soll die Entwicklungshilfe im Nahen Osten künftig finanziert werden? Fragt man bei verschiedenen zivilgesellschaftlichen Organisationen im Nahen Osten nach, erhält man immer die gleiche Antwort: Es lässt sich nicht sagen. "Niemand weiß wirklich, was los ist", kommentiert der Projektmanager eines syrischen Projekts im Gespräch mit der DW die Kürzungen der US-Hilfsgelder durch die Regierung von Donald Trump. "Sie haben es noch nicht vollständig gestoppt. Also geben wir das Geld einfach monatlich aus und hoffen auf das Beste."

"Wir wissen immer noch nicht, ob wir die versprochenen Mittel für dieses Jahr erhalten", sagt der Gründer eines irakischen Journalistennetzwerks in Bagdad. "Wir werden wahrscheinlich einige unserer Journalisten nicht bezahlen können. Um das Geld zu ersetzen, wenden wir uns derzeit an andere Organisationen."

Um ihre Finanziers nicht zu verärgern, will keiner der beiden Interviewpartner seinen Namen veröffentlicht sehen.

Seit seinem Amtsantritt hat US-Präsident Donald Trump die US-Finanzierung der so genannten "Offiziellen Entwicklungshilfe" ("Official Development Assistance", ODA) drastisch gekürzt.

Doch die USA sind nicht das einzige Land, das seine Hilfen zurückführt. Weltweit sank die ODA 2024 um mehr als sieben Prozent. Denn im vergangenen Jahr kürzten auch europäische Länder wie Frankreich, Deutschland, Großbritannien ihre Mittel - erstmals seit fast 30 Jahren.

Auswirkungen deutlich spürbar

Im Jahr 2023 erhielten die Länder des Nahen Ostens rund 7,8 Milliarden US-Dollar (umgerechnet rund 6,7 Milliarden Euro) der insgesamt 42,4 Milliarden US-Dollar (36,3 Milliarden Euro), die die USA in jenem Jahr für ODA ausgaben.

Die Auswirkungen der US-Hilfskürzungen dürften in der Region deutlich spürbar werden, schrieb Laith Alajlouni vom International Institute for Strategic Studies in Bahrain, bereits im März dieses Jahres. "Denn um ihre militärischen und wirtschaftlichen Bedürfnisse zu decken, sind wichtige Partner der USA weiterhin stark auf deren Hilfe angewiesen."

Zwischen 2014 und 2024 stellten die USA den Ländern der Region rund 106,8 Milliarden US-Dollar zur Verfügung. Israel erhielt knapp ein Drittel davon, wobei ein Großteil des Geldes für militärische Zwecke vorgesehen war. Bei anderen Länder machten die US-Mittel einen erheblichen Teil ihres Nationaleinkommens aus, so Alajlouni.

Gefährdet seien nun dringend nötige Finanzmittel, etwa für Nahrungsmittel und Wasser im Sudan, Medikamente im Jemen, Kindernahrung im Libanon und Lager für Vertriebene, schrieb Alajlouni. Unter den Vertriebenen seien auch Familien, die mutmaßlich mit der extremistischen Terrorgruppe "Islamischer Staat" in Syrien in Verbindung stünden.

Andere Länder wie Jordanien und Ägypten seien für ihre wirtschaftliche Entwicklung in hohem Maß auf ausländische Gelder angewiesen, um ihre angeschlagenen Volkswirtschaften über Wasser zu halten, so Alajlouni.

Es ist noch unklar, wie viel die Länder des Nahen Ostens durch die ODA-Kürzungen genau verlieren werden. Im Juni 2025 versuchten Forscher des Washingtoner Thinktanks "Center for Global Development", die Folgen zu berechnen. "Einige Länder dürften, je nachdem, wer ihre Geber sind, voraussichtlich große Mengen an ODA verlieren", stellen sie fest. "Andere hingegen dürften voraussichtlich nur sehr geringe Verluste erleiden."

So dürfte beispielsweise die öffentliche Entwicklungshilfe (ODA) für den Jemen von 2023 bis 2026 um 19 Prozent zurückgehen. Im Jahr 2025 waren Saudi-Arabien, die EU und Großbritannien die drei größten Geber des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (UNOCHA), über das diese Mittel fließen. Somalia hingegen könnte bis zu 39 Prozent einbüßen. Die wichtigsten Geber über UNOCHA waren hier Großbritannien, die EU und die USA.

"Lücke lässt sich kurzfristig nicht schließen"

"Es ist klar, dass sich die Finanzierungslücke kurzfristig nicht schließen lässt", sagt Vincenzo Bollettino, Direktor eines Programms für "Resilient Communities" an der Harvard Universität in Boston, der DW. "Mittel- bis langfristig wird es wahrscheinlich ein breites Spektrum unterschiedlicher Hilfsformen geben." Dazu dürfte auch eine größere Zahl von Staaten gehören, die Hilfe und Entwicklungshilfe da leisteten, wo dies mit ihren eigenen politischen Zielen übereinstimme, so Bollettino weiter.

Russlands wichtigste Agentur für internationale Zusammenarbeit, "Rossotrudnitschestwo", kündigte kürzlich eine Umstrukturierung nach dem Vorbild von USAID an. Die Agentur plant die Eröffnung von Außenstellen in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien. Mit nur 70 Millionen Dollar jährlich ist das Budget von "Rossotrudnitschestwo" jedoch vergleichsweise gering.

Chinesisches Geld könnte eine weitere Alternative zu US- und europäischen Fördermitteln sein. "China hat sich als größter Konkurrent der USA in der globalen Entwicklung positioniert", schrieben Experten des US-Thinktanks "Center for Strategic and International Studies" im Juli. Allerdings sei China weniger am Nahen Osten interessiert. Vielmehr engagiere es sich eher in Südostasien und Afrika.

"Weder Russland noch China spielen traditionell eine bedeutende Rolle im internationalen humanitären Hilfssystem", sagt Bollettino. "Daran wird sich wohl auch in naher Zukunft nichts ändern", meint er.

Hilfe mit politischen Motiven

"Eher dürften die wohlhabenden Golfstaaten im Nahen Osten als Geber auftreten", glaubt Markus Loewe, Professor und Experte für Nahost und Nordafrika am Deutschen Institut für Entwicklung und Nachhaltigkeit (IDOS).

Seit den vergangenen zwei Jahrzehnten zählten bereits vier Golfstaaten - Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Katar und Kuwait - zu den international bedeutenden Gebern, so Loewe. "Saudi-Arabien etwa unterstützt Syrien bereits erheblich. Ebenso unterstützt das Königreich den Libanon, und es wäre definitiv bereit, einen Großteil der Kosten für den Wiederaufbau in Gaza zu übernehmen - vorausgesetzt, es kommt zu einer akzeptablen Vereinbarung über einen Waffenstillstand."

"Hilfeempfänger, die für die Geberländer der Golfstaaten als politisch wichtig gelten, erhalten tendenziell mehr Hilfe", stellt Khaled AlMezaini von der Zayed-Universität der VAE fest. So waren Saudi-Arabien und die VAE trotz ihres seit 2015 geführten Krieges gegen Teile des Jemen auch die größten Geber des Landes.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Item URL https://www.dw.com/de/nach-us-kürzungen-wie-weiter-mit-der-entwicklungshilfe-in-nahost/a-73295715?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72960560_302.jpg
Image caption Dringend auf Hilfe angewiesen: die Menschen im Gazastreifen
Image source Saeed M. M. T. Jaras/Andalou/picture alliance
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Item 27
Id 73302896
Date 2025-07-20
Title Vibrio-Bakterien in Europa: Sicher baden trotz Risiko
Short title Vibrio-Bakterien in Europa: Sicher baden trotz Risiko
Teaser Durch den Anstieg der Meereswassertemperaturen kommen Vibrio-Bakterien immer häufiger in der Ostsee, dem Schwarzen Meer und anderen Gewässern in Europa vor. So schützen Sie sich vor einer nicht ungefährlichen Vibriose.
Short teaser Vibrio-Bakterien gedeihen vor allem in der Ostsee und dem Schwarzen Meer. So schützen Sie sich vor einer Vibriose.
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Was Sie wissen müssen

  • Vibriose wird durch Vibrio-Bakterien verursacht, die in brackigem, warmem, salzarmem Küstenwasser leben.

  • Typische europäische Risikogebiete sind die Ostsee, die Nordsee und vor allem das Schwarze Meer.

  • Der Klimawandel begünstigt die Bedingungen für Vibrio-Bakterien.

  • Symptome: Durchfall, Bauchkrämpfe, Übelkeit, Fieber.

  • Schützen Sie sich, indem Sie rohe oder unzureichend gegarte Schalentiere vermeiden und nicht mit offenen Wunden in diesen Gewässern schwimmen.

Wissenschaftler führen viele Entwicklungen auf den Klimawandel zurück – manche lassen sich leichter belegen als andere.

Bei Infektionen mit Vibrio-Bakterien scheint der Zusammenhang jedoch eindeutig: Diese Bakterien gedeihen in warmem Wasser, insbesondere bei niedrigem Salzgehalt.

Auch in der Ostsee steigen die Meerestemperaturen an, während der Salzgehalt sinkt – beides Entwicklungen, die Forscher mit dem Klimawandel in Verbindung bringen.

Mit steigenden Temperaturen nehmen auch die Fälle von Vibrio-Infektionen in den nordischen Ländern rund um die Ostsee zu.

Vibrio-Infektionen sind in Europa relativ selten, aber Gesundheitsbehörden wie das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) warnen vor einem steigenden Risiko während heißer Sommermonate mit längeren Hitzewellen.

Was ist Vibriose?

Vibrio-Bakterien verursachen eine Vibriose und Cholera. In diesem Artikel konzentrieren wir uns auf Vibriose (auch als „nicht-cholera Vibriose“ bezeichnet).

Vibriose ist eine Infektion, die ernst und lebensbedrohlich werden kann – insbesondere bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem.

Die wichtigsten Vibrio-Arten, die beim Menschen Infektionen auslösen, sind:

  • Vibrio vulnificus

  • Vibrio parahaemolyticus

  • Vibrio alginolyticus

Es gibt jedoch mindestens ein Dutzend weitere Arten.

Einige Infektionen können zu Gewebsnekrosen führen, das bedeutet das Absterben von Gewebe rund um eine offene Wunde (bekannt als nekrotisierende Fasziitis).

Seltenere Infektionen mit Vibrio vulnificus können zu schweren Erkrankungen führen, die intensivmedizinisch betreut werden müssen oder sogar Amputationen erforderlich machen.

In den USA stirbt laut den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) etwa eine von fünf Personen innerhalb von zwei Tagen nach einer Vibrio vulnificus-Infektion.

Die CDC schätzt jährlich etwa 80.000 Erkrankungen und 100 Todesfälle durch Vibrio-Infektionen in den USA.

Wie steckt man sich mit Vibriose an?

Die meisten Menschen infizieren sich über den Verdauungstrakt, indem sie rohe oder unzureichend gegarte Schalentiere wie Austern, Miesmuscheln oder Venusmuscheln essen.

Eine Infektion kann auch entstehen durch:

  • Verschlucken von Wasser beim Schwimmen in infizierten Küstengewässern

  • Eindringen der Bakterien durch Hautverletzungen, z. B. beim Schwimmen oder wenn Flüssigkeit von Schalentieren in eine offene Wunde gelangt

Wer ist besonders gefährdet?

Menschen mit Vorerkrankungen haben möglicherweise ein höheres Risiko für eine Infektion. Dazu zählen Personen mit Leberschäden durch Hepatitis, Lebererkrankungen sowie übermäßigem Alkohol- oder Drogenkonsum. Aber auch Menschen mit Krebs, Diabetes, HIV oder Personen, die eine immunsuppressive Therapie machen oder die Medikamente zur Hemmung der Magensäure einnehmen, gehören zur Risikogruppe.

Vibriose ist nicht von Mensch zu Mensch übertragbar.

Wie kann man sich schützen?

Um eine Vibriose zu vermeiden, sollten Sie keine rohen oder unzureichend gegarten Schalentiere essen.

Gesundheitsbehörden empfehlen außerdem, nicht in brackigem oder salzhaltigem Wasser zu schwimmen, wenn Sie offene Wunden haben. Wenn Sie sich beim Schwimmen verletzen, verlassen Sie das Wasser, reinigen und desinfizieren Sie die Wunde und verbinden Sie die Wunde fachgerecht.

Wenn Sie eine Vorerkrankung haben, ein geschwächtes Immunsystem oder kürzlich operiert wurden, sprechen Sie mit Ihrem Arzt, bevor Sie in einem betroffenen Küstengebiet schwimmen gehen.

Was sind die Symptome einer Vibriose?

Die Symptome hängen von der Art der Infektion ab, ähneln aber häufig denen anderer Infektionen wie Grippe oder Magen-Darm-Erkrankungen:

  • Durchfall

  • Krämpfe

  • Übelkeit

  • Erbrechen

  • Fieber

  • Schüttelfrost

Anzeichen einer Sepsis durch Vibriose sind extrem niedriger Blutdruck und Blasenbildung um Hautläsionen.
Vibriose-Wundinfektionen können Symptome wie Rötung, Schmerzen, Schwellung und nässende Wunden verursachen.

Wo kommen Vibrio-Bakterien am häufigsten vor?

In Europa ist die Ostsee ein Risikogebiet für Vibrio-Bakterien. Betroffen sind Küstenregionen in Dänemark, Nordostdeutschland, Finnland, Estland, Lettland, Schweden, Litauen, Polen und Russland.

In der Nordsee leben die Bakterien entlang der niederländischen und belgischen Küsten. Im südlichen Europa ist aber vor allem das Schwarze Meer und damit die Menschen in Rumänien, Bulgarien, der Türkei und der Ukraine betroffen.

Die Gesamtzahl der Vibriose-Fälle in Europa liegt jährlich im mittleren dreistelligen Bereich. Ein signifikanter Anstieg wurde 2018 verzeichnet, als 445 Fälle gemeldet wurden.

Auch Nordamerika, Kanada und Südostasien sind betroffen.

Brackige Küstenregionen sind ideale Brutstätten für Vibrio-Bakterien – zum einen, weil dort Salz- und Süßwasser aufeinandertreffen, zum anderen, weil sie oft geschlossene Gewässer sind, in denen sich die Bakterien nahezu ungestört vermehren können.

Ist der Klimawandel schuld am Anstieg der Vibriose-Fälle?

Der Klimawandel hat keine Vibrio-Ausbrüche verursacht.

Das Europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) warnte jedoch am 11. Juli 2025, dass günstige Bedingungen für Vibrio-Bakterien durch den Klimawandel in Teilen Europas zunehmend häufiger auftreten.

Im Juni 2025 erklärte die Europäische Umweltagentur (EEA): "Die jüngsten marinen Hitzewellen haben zu beispiellosen Vibriose-Fällen entlang der Küsten der Ostsee und Nordsee geführt.“

Weitere Studien der letzten zehn Jahre legen nahe, dass durch den Klimawandel mehr Flusswasser in die Ostsee gelangt, was den Salzgehalt senkt.

Der Klimawandel ist also nicht die Ursache für Vibriose – aber er verstärkt die Bedrohung.

Der Artikel ist ursprünglich auf Englisch erschienen.

Item URL https://www.dw.com/de/vibrio-bakterien-in-europa-sicher-baden-trotz-risiko/a-73302896?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Neben der Ostsee ist vor allem das beliebte Schwarze Meer von den Vibrio-Bakterien betroffen
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Item 28
Id 73335359
Date 2025-07-20
Title Estland ist Europameister bei der Digitalisierung
Short title Estland ist Europameister bei der Digitalisierung
Teaser Deutschland ist ein analoges Land in einer digitalen Welt. Um hier aufzuholen, könnten die Deutschen sich an Estland orientieren. Der baltische Staat hat Europas digitale Führung übernommen.
Short teaser Deutschland ist ein analoges Land in einer digitalen Welt. Um aufzuholen, könnte es sich an Estland orientieren.
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Wie lange dauert es, in Ihrem Land eine Scheidung einzuleiten? In Estland kann der erste Schritt in weniger als einer Minute erfolgen - und das, ohne dass der nun nicht mehr erwünschte Ehepartner dabei ist. "Es dauert nur 45 Sekunden, bis man im Online-Antrag an den Punkt kommt, an dem man den Scheidungsantrag absenden kann", sagte Luukas Ilves der DW.

Bis vergangenes Jahr war Ilves Chief Information Officer der estnischen Regierung. Der Scheidungsantrag sei der letzte Bereich der öffentlichen Verwaltung, der digitalisiert wurde. Estland sei damit wahrscheinlich das erste vollständig digitalisierte Land der Welt, so Ilves.

Auch in Estland müssen natürlich beide Partner dem Verfahren zustimmen und persönlich zu einem Termin mit einem Standesbeamten erscheinen, der die Ehe formell beendet. Doch schon jetzt wird der Online-Dienst stark genutzt: Etwa 60 Prozent aller Scheidungen in Estland wurden seit dem Start der sogenannten E-Scheidungsplattform im vergangenen Dezember online eingeleitet.

"Wir erwarten von digitalen Diensten im privaten Sektor Bequemlichkeit, Einfachheit und Sicherheit. Warum sollten staatliche Dienste da anders sein", fragt Ilves.

Benutzerfreundlichkeit ist der Schlüssel zur Akzeptanz

Ilves ist auch Autor der aktuellen Studie "Das Ende der Bürokratie", die er zusammen mit der deutschen Friedrich-Naumann-Stiftung erstellt hat. Der Bericht zeigt, was Deutschland von Estland lernen kann. Derzeit nutzen etwa 62 Prozent der Deutschen digitale Verwaltungsdienste, während es in Estland mehr als 90 Prozent sind, so der Bericht.

Ein zentrales Thema ist die elektronische Verifizierung der Identität: 90 Prozent der Esten nutzen nationale E-IDs, um auf staatliche Dienste zuzugreifen - in Deutschland sind es weniger als zehn Prozent. Der Grund dafür sei einfach, sagt Ilves: Die estnische Software sei benutzerfreundlicher und ermögliche den Zugang zu öffentlichen und privaten Diensten, einschließlich Online-Banking.

Welchen Unterschied die Benutzerfreundlichkeit ausmacht, zeigt das Beispiel Belgien. Das Beneluxland hatte laut Ilves bis vor einigen Jahren eine ähnliche E-ID-Technologie wie Deutschland. Doch nur 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung verwendeten sie. Nachdem jedoch Banken und Telekommunikationsanbieter in Belgien eine benutzerfreundliche mobile Version eingeführt haben, die Zugang zu privaten und staatlichen Diensten ermöglicht, ist die Nutzung auf 80 Prozent gestiegen.

Die größere Akzeptanz digitaler Verwaltungsdienste helfe zudem, Steuergelder zu sparen, meint Ilves. Die Verwaltungskosten für die Steuererhebung in Estland betrügen pro Kopf nur ein Sechstel der Kosten in Deutschland.

Bürokratiedschungel durch Einmaleingaben lichten

Nach der Bundestagswahl im Februar 2025 hat die neue deutsche Regierung unter Kanzler Friedrich Merz ein Digitalministerium gegründet. Ziel ist es, ein "umfassendes Dienstleistungsangebot zu schaffen".

Vertreter der Digitalwirtschaft wie Magdalena Zadara begrüßen diesen Schritt. Zadara ist Stabschefin und Strategin beim DigitalService des Bundes, einer staatlichen Agentur zur Digitalisierung von Verwaltungsprozessen.

Sie ist "optimistisch", dass das neue Ministerium die scheinbar endlosen Wege durch die deutsche Bürokratie verkürzen könne. Ein aktuelles Beispiel: "Wenn ich aus einem Nicht-EU-Land nach Deutschland komme und arbeiten will, habe ich mit fünf bis sieben verschiedenen Behörden zu tun, um mein Diplom anerkennen zu lassen - und sie würden vielleicht sogar dieselben Daten mehrfach abfragen."

Eine Lösung sieht sie im estnischen Once-Only-Prinzip (OOP): Bürger und Unternehmen müssen Informationen nur einmal angeben, die dann intern von allen Behörden weiterverwendet werden dürfen.

OOP ist ein Grundpfeiler der digitalen Verwaltung in Estland und sogar gesetzlich verankert. Ein weiteres Merkmal der modernen estnischen Verwaltung ist die digitale Signatur, die für alles genutzt wird - vom Arbeitsvertrag bis zur Stimmabgabe bei nationalen Wahlen.

Mit einem "Tiger-Sprung" an die Spitze

Die baltischen Staaten - Estland, Lettland und Litauen - erlangten 1991 ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion zurück. Estland brachte damals im Rahmen des Bildungsprogramms "Tiger Leap" das Internet und Computer in alle Klassenzimmer und Bibliotheken.

Im Jahr 2000 machte das Land mit 1,4 Millionen Einwohnern einen weiteren großen Schritt in der Digitalisierung: Online-Steuererklärungen wurden eingeführt und elektronische Signaturen rechtlich anerkannt. Bis 2015 waren alle wichtigen öffentlichen Dienste - einschließlich Gesundheits- und Sozialdienste - vollständig digitalisiert.

Europas digitale Abhängigkeit verringern

In anderen europäischen Ländern und bei der EU-Kommission in Brüssel ist die Online-Sicherheit ein großes Thema. Deshalb fordert die europäische Tech-Industrie, die Abhängigkeit von US-Technologiegiganten wie Google, Microsoft oder Amazon zu verringern. Sie warnt die EU-Kommission davor, das Gesetz über digitale Märkte (DMA) zu verwässern, das als Schutz gegen deren Dominanz dient.

Zudem wird der Aufbau eines sogenannten EuroStack gefordert - eine europäische Alternative für technologische Souveränität. Der EuroStack soll unter anderem souveräne KI, Open-Source-Ökosysteme, grüne Supercomputer, Datenräume und eine souveräne Cloud umfassen.

Luukas Ilves sieht diese Initiative skeptisch und warnt vor hohen Kosten, wenn man das Rad in der Digitalisierung neu erfindet - insbesondere bei End-to-End-Anwendungen.

"Kein Land kann im digitalen Raum autark und vollständig souverän sein. In Estland haben wir nie einen vollständigen Estonia-Stack gebaut, sondern sehr spezifische Anwendungen und Protokolle auf dem globalen Technologie-Stack aufgebaut", erklärt er.

Gleichzeitig räumt er ein, dass Europa sich viel stärker auf die "sehr spezifischen Risiken" konzentrieren müsse, die mit der Digitalisierung aller Lebensbereiche einhergehen.

Adaptiert aus dem Englischen von Sabine Faber

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Item 29
Id 69664279
Date 2025-07-20
Title Frauen gegen Hitler: Widerstand in der Nazi-Zeit
Short title Frauen gegen Hitler: Widerstand in der Nazi-Zeit
Teaser Wer sich den Nazis widersetzte, lebte gefährlich. Doch einige mutige Frauen ließen sich nicht abschrecken. Aus ihren Geschichten kann man Lehren ziehen, wie man sich der Tyrannei entgegenstellt.
Short teaser Wer sich den Nazis widersetzte, lebte gefährlich. Doch einige mutige Frauen ließen sich nicht abschrecken.
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Im Dritten Reich wurden mehrere Attentate auf den Nazi-Führer Adolf Hitler verübt, sie alle schlugen fehl. Der bekannteste Versuch, das nationalsozialistische Regime zu stürzen, war die "Operation Walküre" am 20. Juli 1944.

Mehr als 200 Personen waren daran beteiligt, allen voran der deutsche Heeresoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Außer ihm und seinen Offizierskollegen waren aber auch einige Frauen involviert - darunter Erika von Tresckow, die Ehefrau des beteiligten Majors Henning von Tresckow. Sie überbrachte Botschaften, um militärische und zivile Widerstandsgruppen zu koordinieren, und tippte saubere Kopien der Befehlsentwürfe für die Operation Walküre ab.

Als das Attentat scheiterte, beging Henning von Tresckow Selbstmord. Erika wurde von der Gestapo verhaftet, konnte aber erfolgreich vortäuschen, nichts von den Plänen gewusst zu haben. Sie wurde später freigelassen.

Gründe für den Widerstand

Erika von Tresckow ist eine von 260 Frauen, deren Geschichten im Jahr 2024 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin in einer Sonderausstellung "Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus" erzählt wurden. Sie war das Ergebnis jahrelanger, vom Deutschen Bundestag geförderter Sonderforschungen zur Rolle von Frauen, die gegen die Nazi-Herrschaft im Dritten Reich aufbegehrten.

Die Geschichten illustrieren verschiedene Formen des Widerstands, sagt Johannes Tuchel, der Leiter der Gedenkstätte der DW. "Das reicht von Frauen, die ins Exil gegangen sind, über Christinnen, Sozialdemokratinnen, Sozialistinnen, aber auch bis hin zu Angehörigen der Swing-Jugend", erklärt er - und meint damit junge Menschen, die sich für den jazzigen Swing begeisterten, der von den Nazis unter anderem wegen seiner schwarzen und jüdisch-amerikanischen Wurzeln abgelehnt wurde.

Bloß kein Gleichschritt

Die Swing-Jugend stehe "für einen alternativen Lebensstil, und von dort ist es dann nur ein kleiner Schritt zu 'abweichendem' Verhalten und etwas, das im Gegensatz zum nationalsozialistischen Vorhaben steht", sagt Tuchel und zitiert dann den verstorbenen deutschen Jazzmusiker und Holocaust-Überlebenden Coco Schumann: "Jemand, der Swing gehört hat, kann nicht im Gleichschritt marschieren."

Zu den Frauen, die sich weigerten, im Gleichschritt zu marschieren, gehörten auch Kommunistinnen, Anarchistinnen, Jüdinnen, Zeuginnen Jehovas und Lesbierinnen. Sie alle sahen sich gezwungen, den Faschismus zu bekämpfen - nicht zuletzt, weil ihre bloße Existenz im Gegensatz zur Nazi-Ideologie stand.

Flugblätter, Postkarten und Propaganda

Einige der Frauen, die in der Gedenkstätte gewürdigt wurden, dürften bekannt sein. "Eine Ausstellung über Frauen im Widerstand wird nicht auf den Namen Sophie Scholl verzichten können", sagte Johannes Tuchel - und meint damit das einzige weibliche Mitglied des inneren Kreises der studentischen Widerstandsbewegung "Weiße Rose". Sie wurde im Alter von 21 Jahren hingerichtet, weil sie Flugblätter gegen die Nazis verteilt hatte.

Auch Marlene Dietrichs Geschichte wurde erzählt: Der berühmte deutsche Filmstar verließ seine Heimat schon vor der Machtergreifung der Nazis in Richtung Hollywood. Als die USA in den Krieg gegen Nazideutschland eintraten, trat sie für US-Truppen und deutsche Kriegsgefangene in Nordafrika, Italien, Frankreich und Belgien auf. Sie beteiligte sich auch an Propagandamaßnahmen, die darauf abzielten, die Moral der deutschen Zivil- und Militärbevölkerung zu untergraben.

Andere Frauen, die in der Ausstellung genannt wurden, sind weniger bekannt, aber ihre Geschichten haben Schriftsteller und Filmemacher inspiriert. Erich Maria Remarque, Autor des von den Nazis verbotenen Antikriegsromans "Im Westen nichts Neues", widmete seinen Roman "Der Funke Leben" (1952) seiner jüngsten Schwester Elfriede Scholz. Sie wurde verhaftet und hingerichtet, weil sie den deutschen "Endsieg" als Propaganda abtat. Soldaten an der Front seien nur "Schlachtvieh", sagte sie und wünschte sich den Tod Hitlers herbei.

Elise Hampel und ihr Mann Otto versuchten, mit fast 300 handgeschriebenen Postkarten Stimmung gegen die Nazis zu machen. Sie warfen sie in Berlin eigenhändig in Briefkästen ein oder deponierten sie in Treppenhäusern, nachdem Elises Bruder im Krieg gefallen war. Auch das Paar wurde hingerichtet. Ihre Geschichte inspirierte Hans Fallada 1947 zu seinem Roman "Jeder stirbt für sich allein ", der in den letzten Jahrzehnten an Popularität gewonnen hat und fünf Mal verfilmt wurde.

Zunehmende Kritik - und Verfolgung

Die Hampels, Scholz und Scholl wurden alle 1943 hingerichtet. In diesem Jahr sei die Verfolgung von Frauen, die sich dem Regime widersetzten, verschärft worden, so Tuchel. Vergehen, die zuvor zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe geführt hätten, zogen nun oft das Todesurteil nach sich. Genau zu dieser Zeit wuchsen die Widerstandsaktivitäten der Frauen, ergänzt der Leiter der Gedenkstätte.

"In den Kriegsjahren gab es in Deutschland fast keine Männer mehr", erklärte er, denn 1944 dienten rund acht Millionen Männer im Militär. "Das heißt, Frauen haben auch Positionen eingenommen, die bis dahin nur Männer im Alltag eingenommen hatten. Jetzt hatten sie die Doppelbelastung der Fabrikarbeit, die Versorgung der Kinder und der Familie. Damals gab es noch die noch die alten Rollenbilder, aber gleichzeitig gab es eine wachsende Bereitschaft, Dinge kritisch zu hinterfragen."

Das Regime fürchtete Unruhen an der Heimatfront, daher "war die Reaktion auf kritische Äußerungen von Frauen sehr hart (...) Sie galten nicht mehr als Scherz und damit als Heimtücke, sondern ab 1943 als sogenannte ‚Wehrkraftzersetzung‘. Und darauf stand als eine der Möglichkeiten auch die Todesstrafe."

Aus den Widerstandsbemühungen von damals könne man noch heute Lehren ziehen, findet Tuchel: "Es ist möglich, etwas gegen Diktaturen zu tun. Ja, es ist mit einem Risiko verbunden, aber es heißt nicht, dass wir vor politischen Zeitläufen - welcher Art auch immer, welcher totalitären Herausforderung auch immer - resignieren müssen, sondern wir können etwas tun."

Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords

Dieser Artikel wurde am 16.07.2024 erstmals veröffentlicht und zuletzt am 20.07.2025 aktualisiert.

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Image caption Die Frauen, die aktiv Widerstand gegen das Naziregime leisteten, kamen aus unterschiedlichen religiösen, politischen und sozialen Schichten
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Item 30
Id 69712195
Date 2025-07-20
Title Stauffenberg: In Deutschland ein Held, in Polen umstritten
Short title Stauffenberg: In Deutschland ein Held, in Polen umstritten
Teaser Vor 81 Jahren scheiterte das Attentat auf Adolf Hitler. In Deutschland gilt der Attentäter Graf Stauffenberg als Held. In Polen ist er umstritten - wegen antipolnischer Bemerkungen im Zweiten Weltkrieg.
Short teaser Vor 81 Jahren scheiterte das Attentat auf Adolf Hitler. In Polen stößt Attentäter Graf Stauffenberg auch auf Ablehnung.
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An der Außenwand des Gebäudes hängt ein Schild mit der Aufschrift: "Wolfsschanze 20. Juli 1944". Drinnen sieht man Adolf Hitler, er beugt sich über eine Militärkarte. Der Wehrmachtsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg hat gerade seine Aktentasche mit dem Sprengstoff unter den Tisch gestellt und ist dabei, die Besprechungsbaracke zu verlassen. Die Uhr zeigt 12.35. In sieben Minuten wird die Bombe hochgehen, die den Diktator verletzen, aber nicht töten wird. Die nachgestellte Szene mit den lebensgroßen Figuren Hitlers und Stauffenbergs ist das Kernstück der neuen Ausstellung in der "Wolfsschanze".

Das ehemalige Führerhauptquartier, in dem Hitler seit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 mehr als 900 Tage verbracht hatte, liegt im Nordosten Polens bei Ketrzyn, das bis Kriegsende Rastenburg in Ostpreußen hieß.

Das in den dichten Wäldern gut getarnte Gelände umfasste ursprünglich 250 Hektar mit 50 Bunkern, zwei Flugplätzen und einem Bahnhof. Der "Führerbunker", in dem auch das Oberkommando der Wehrmacht untergebracht war, hatte fast neun Meter dicke Betonwände.

Betonwüste als Magnet für Touristen

Seit dem Kriegsende ist die Wolfsschanze ein Trümmerfeld aus Beton und Stahl, sagt Touristenführer Jaroslaw Zarzecki. Kurz bevor am 27. Januar 1945 die sowjetischen Truppen den Ort einnahmen, wurden zirka 80 Prozent der Militärobjekte gesprengt.

Der geschichtsträchtige Ort ist nun ein Magnet für polnische und ausländische Touristen. Jährlich besuchen rund 300.000 Menschen die Wolfsschanze, darunter viele Deutsche.

Die Popularität des historischen Orts, der an den deutschen Widerstand gegen Hitler erinnert, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Stauffenberg in Polen auf Zurückhaltung, wenn nicht auf Ablehnung stößt. Auch nach der demokratischen Wende, die eine Annäherung zwischen Deutschen und Polen brachte, bleibt der national-konservative Offizier höchst umstritten.

Ein Brief beleidigt Polen und Juden

Zwar wurde der Hitler-Attentäter bereits 1992 in der Wolfsschanze in Anwesenheit seiner drei Söhne mit einer Gedenktafel gewürdigt, doch polnische Politiker, nicht nur aus dem national-konservativen Lager, machen keinen Hehl aus ihrer distanzierten Haltung.

Die Gründe dafür hatte der ehemalige polnische Botschafter in Deutschland, Janusz Reiter, im Jahr 2012 ausführlich dargelegt. In einer viel beachteten Rede im Bendlerblock, dem damaligen und heutigen Verteidigungsministerium in Berlin, sagte er über die Verschwörer des 20. Juli, viele von ihnen seien unfähig gewesen, "sich vom traditionellen Antisemitismus zu lösen. Die meisten Angehörigen des Widerstands standen auch in der preußisch-wilhelminischen Tradition der Verachtung für Polen und die anderen slawischen Völker."

Der Diplomat zitierte aus einem Brief Stauffenbergs an seine Frau, in dem dieser über Polen schrieb: "Die Bevölkerung ist ein unglaublicher Pöbel, sehr viele Juden und sehr viel Mischvolk. Ein Volk, welches sich nur unter der Knute wohlfühlt. Die Tausenden von Gefangenen werden unserer Landwirtschaft recht gut tun."

Kaczynski spottet über deutschen Widerstand

Diese Passage dient der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jaroslaw Kaczynski, die bis Dezember 2023 regierte, dazu, jeden Versuch, Verständnis für Stauffenberg zu zeigen, als antipolnische Tat zu diffamieren. Als der scheidende polnische Präsident Bronislaw Komorowski im Juli 2015 eine Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung zur Teilnahme an der Gedenkfeier für Stauffenberg annahm, geriet er sofort ins Kreuzfeuer der Kritik.

"Diese Worte zeugen davon, dass dieser deutsche Offizier ein Rassist war. Er hielt sich und die deutsche Nation für 'Herrenvolk', vertrat eine verrückte Rassenideologie und akzeptierte Sklavenarbeit unterjochter Völker für Deutschland", erklärte damals die mit der PiS verbundene "Organisation zur Verteidigung des guten Namens". Komorowski wurde zum Verzicht auf die Teilnahme an der Gedenkfeier aufgefordert, was er jedoch ignorierte.

Gab es Widerstand in Deutschland?

Kaczynski stellt die Existenz eines antifaschistischen Widerstands in Deutschland grundsätzlich in Frage. Über die Organisation "Weiße Rose" - eine Gruppe von jungen Studenten in München, die ihren Widerstand mit dem Leben bezahlten - sagte er, die Zahl ihrer Mitglieder sei so gering gewesen, dass sie alle "in seinem Arbeitszimmer Platz finden würden".

Trotz der antideutschen Propaganda der National-Konservativen wächst langsam das Interesse für Deutsche, die in einer verzweifelten Situation gewagt haben, Hitler die Stirn zu bieten.

Schloss Steinort als Brücke in die Zukunft

Seit Jahren versuchen engagierte Deutsche und Polen, die Tradition des deutschen Widerstands vom 20. Juli 1944 als eine Brücke in die Zukunft zu nutzen. Zum Ort ihrer Aktivität wählten sie das Schloss Steinort (Sztynort) im Nordosten Polens. Das Gut hatte sich 500 Jahre im Besitz der deutschen Familie Lehndorff befunden, bevor es 1945 nach der Grenzverschiebung an Polen fiel. Mit dem deutschen Widerstand verbindet das historische Objekt nicht nur die geografische Nähe zur Wolfsschanze, sondern auch die Person des letzten Besitzers: Heinrich Graf Lehndorff wurde als Teilnehmer der Anti-Hitler-Verschwörung am 4. September 1944 in Plötzensee hingerichtet.

Die Zivilgesellschaft in beiden Ländern kämpft seit langem um den Erhalt des verfallenen Schlosses. Dank der Privatspenden, aber auch eines Zuschusses aus dem Bundestag konnte der Verfall vorerst gestoppt werden. Eine Expertengruppe schlug 2023 vor, nach der Renovierung dort eine "Academia Masuria" unterzubringen.

"Mit seiner Lage, seiner jahrhundertealten Geschichte, seiner Authentizität und einzigartigen Ausstrahlung" biete Steinort beste Voraussetzungen, um hier, im Nordosten Europas ein "Forum für Europäischen Dialog" aufzubauen, sagt die Initiatorin des Projekts, Bettina Bouresh von der Lehndorff-Gesellschaft.

"Wir brauchen jetzt ein klares Bekenntnis beider Regierungen", unterstreicht auch die deutsche Generalkonsulin in Danzig, Cornelia Pieper, im Gespräch mit der DW ihre Position. Als Vorbild schwebt der Diplomatin das deutsch-italienische Projekt Villa Vigoni am Comer See vor, wo seit 1986 politischer und wissenschaftlicher Austausch zwischen beiden Ländern stattfindet. "Wir brauchen eine ähnliche Einrichtung hier und jetzt für Mittelosteuropa", so Pieper.

Dieser Artikel wurde am 19.07.2024 erstmals veröffentlicht und zuletzt am 20.07.2025 aktualisiert.

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Image caption Die neue Ausstellung in der "Wolfsschanze" zeigt den Augenblick kurz vor dem Attentat
Image source Jacek Lepiarz/DW
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Item 31
Id 73233090
Date 2025-07-17
Title 100 Jahre Hitlers "Mein Kampf" - Hetze mit Nachwirkungen
Short title 100 Jahre Hitlers "Mein Kampf" - Hetze mit Nachwirkungen
Teaser Am 18. Juli 1925 veröffentlichte Adolf Hitler seine Programmschrift "Mein Kampf" - ein krudes Machwerk, in dem er seine Gewaltphantasien offenlegte. Sein ideologisches Vermächtnis bleibt bis heute gefährlich.
Short teaser Adolf Hitlers Buch ist ein krudes Machwerk, in dem er seine Gewaltphantasien offenlegte - und bleibt gefährlich.
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Adolf Hitler lebt. Zumindest im Internet. Wer zu einem x-beliebigen Zeitpunkt auf der Plattform X des Techmilliardärs Elon Musk als Suchwort "Hitler" eingibt, wird auf Einträge stoßen, die erst wenige Sekunden alt sind. Das Netz ist voller Hitler: Hitler-Fotos, Hitler-Memes, Hakenkreuze. "Heil Hitler"-Parolen. Überall versprühen Antisemiten, Rassisten, Verschwörungsideologen, Antidemokraten und Hitler-Anhänger ihr ideologisches Gift. In Deutschland, in Europa, in den USA, in Lateinamerika, im Nahen Osten, in Indien.

Der deutsche Diktator ist seit achtzig Jahren tot, aber mit dem Massenmörder Adolf Hitler lassen sich bis heute gute Geschäfte machen. Antiquariate verdienen weltweit an alten Ausgaben des Hitler-Pamphlets "Mein Kampf". Eine deutsche Ausgabe kostet rund 250 Euro, die spanische Version "Mi Lucha" über 300 Euro, und für die englischsprachige Ausgabe "My Struggle" müssen bei einschlägigen Online-Portalen rund 600 Dollar bezahlt werden. Auf ägyptischen Märkten und indischen Online-Portalen gibt es die Schrift schon für kleines Geld.

Das Buch gilt heute als Programmschrift, in der Adolf Hitler sein fanatisches Weltbild ausgebreitet hat, seinen mörderischen Antisemitismus und seine Verachtung für Demokratie und gesellschaftliche Vielfalt - und das bereits acht Jahre bevor er 1933 an die Macht kam. Die Deutschen erhebt er in "Mein Kampf" zu Herrenmenschen. Und weit vor Beginn des Zweiten Weltkrieges träumt er von einer "Germanisation" Osteuropas und der gewaltsamen Vertreibung von Millionen von Menschen.

"Das Kampfmotiv liegt im Titel schon begründet - da ist eigentlich der gesamte Rassismus mit hineingepackt", erklärt der österreichische Historiker Othmar Plöckinger im Gespräch mit der DW. "Das heißt, der Stärkere setzt sich durch, die stärkere Rasse setzt sich durch. Aber auch ganz individuell im Kampf um Positionen um Ämter setzt sich der durch, der am Willensstärksten ist, der am Skrupellosesten ist, der im weitesten Sinne von besserer Rasse oder vom besseren Fähigkeiten ist."

Othmar Plöckinger ist einer der herausragenden Kenner der Materie. Und er hat eine der wenigen wirklich aufschlussreichen Ausgaben der Kampfschrift mit herausgegeben. Es ist die editierte Ausgabe von "Mein Kampf". Deutsche und österreichische Historikerinnen und Historiker haben in ihr auf 2000 Seiten die Gedanken und die Sprache Hitlers Wort für Wort durchgearbeitet und eingeordnet.

Als das Buch am 18. Juli 1925 veröffentlicht wurde, war es alles andere als ein Paukenschlag. Hitler war ein abgehalfterter Putschist, der gerade wegen Hochverrats über ein Jahr im Gefängnis verbracht hatte. Seine nationalsozialistische Bewegung war klein und ohne großen politischen Einfluss in Deutschland und Österreich. Hitler stand vor dem politischen Aus.

Und es gab damals viele völkische Kampfschriften und Gefängniserinnerungen auf dem Buchmarkt. Auch war Hitlers Buch wenig originell - inhaltlich war es selbst für viele Anhänger eine Enttäuschung, erklärt Othmar Plöckinger: "Es gibt diese berühmte Stelle aus der 'Deutschen Zeitung', die Hitler auch sehr verärgert hat. Wo dann geschrieben wird: Wir sind seit 40 Jahren im völkischen Abwehrkampf und jetzt kommt ein junger Putschist (Hitler) daher und will uns erklären, was politisches Denken ist!" Trotzdem wurde es zum Bestseller und war für Hitler ein finanzieller Erfolg.

Ankündigung einer Katastrophe

Das Besondere an Hitlers Werk ist, dass er, anders als andere Diktatoren, mit "Mein Kampf" seine Absichten offenlegt. Er verheimlicht seine Gewaltphantasien nicht. In der editierten Ausgabe analysieren die Herausgeber: "Er kündigt entschlossen Krieg an: ein künftiger Krieg werde ein Existenzkampf, bei dem alle Erwägungen von Humanität und Ästhetik in ein Nichts zusammen(fallen) müssten." Die Gewaltherrschaft unter Adolf Hitler war also eine Herrschaft mit Ankündigung.

Und die Herrschaft erlangte er nicht alleine: Bei den Reichstagswahlen im Jahr 1933 gaben 17.277.180 Deutsche Adolf Hitler und seiner Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, NSDAP, die Stimme und ebneten ihm den Weg an die Macht.

Was folgte war ein entfesselter Krieg in Europa und der Holocaust, der industrielle Massenmord an den europäischen Juden - er gilt als beispiellos in der Menschheitsgeschichte. Der NS-Staat und seine Anhänger bekämpften alle, die sie zu Feinden des vermeintlichen deutschen Volkes erklärten, mit grausamer Brutalität.

Mit Hitlers Selbsttötung am 30. April 1945 und dem Ende des Zweiten Weltkrieges acht Tage später ging sein Herrschaftssystem unter. Seitdem verpflichten sich die Deutschen: "Nie wieder!"

Gilt "Nie wieder" auch heute noch?

"Trotz der 'Nie wieder'-Bekundungen nach 1945, zeigt der Antisemitismus wieder sein hässliches Gesicht", bilanziert die britische Historikerin Lisa Pine im DW-Interview. Sie lehrt am Institute of Historical Research an der University of London. "Und die giftige Sprache erinnert bedauerlicherweise und beschämender Weise an Hitlers Schriften von vor einem Jahrhundert."

Pine beobachtet, dass nicht nur Hitlers Antisemitismus überlebt hat, sondern auch seine Demokratiefeindlichkeit. Deswegen sei es auch heute noch wichtig, sich mit Hitlers Schriften auseinanderzusetzen. "Meine Studenten waren immer sehr überrascht, ja schockiert, wenn wir Auszüge aus 'Mein Kampf' analysiert haben. Erst als sie die Worte schwarz auf weiß geschrieben sahen, begannen sie zu verstehen, womit sie es bei Hitler zu tun hatten. Es war aufschlussreich; und es ist lehrreich."

"Die Distanz bröckelt"

Auch Nikolas Lelle von der Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus beobachtet eine gefährliche Rückkehr rechtsextremer Ideologie. Die Distanz würde bröckeln, beschreibt er im DW-Interview. Zu beobachten sei das in den Gedenkstätten zur Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen. "Wir wissen aus Gedenkstätten, dass da Schulklassen, die aus dem ländlichen Raum kommen, jetzt mittlerweile fast immer Personen dabei haben, die rechtsextreme Kleidermarken tragen oder rechtsextreme Aufschriften auf ihren T Shirts haben." Auch Hakenkreuzschmierereien gehörten in Deutschland wieder zum Alltag.

Alarmierend sei auch, dass vor allem junge Rechtsextremisten in den vergangenen Jahren gewaltbereiter geworden seien. Die Gewalt sei mittlerweile soweit vorangeschritten, dass Organisationen wie die Amadeu Antonio Stiftung konkrete Schutzmaßnahmen ergreifen müssten, so Lelle. "Man braucht eine Kamera, man braucht eine schusssichere Tür, man braucht jemanden, der einen im Zweifel mit Gewalt schützen kann. Wir reden hier also auch von Personenschutz durch die Polizei, teilweise auch durch Security. Wir erleben als Amadeu Antonio Stiftung auf unseren Veranstaltungen ein verrohtes Klima. Wir machen mittlerweile kaum noch Veranstaltungen zu Antisemitismus ohne Security-System."

Brandherd Social Media

Rund 100 Jahre nachdem Adolf Hitler seine Hetzschrift "Mein Kampf" veröffentlicht hat, sind viele Tabus im Umgang mit seinem menschenverachtenden Hass wieder gefallen. Das beobachtet auch der Historiker Matthew Feldmann von der Tesside University in Großbritannien. In einem Aufsatz beschreibt er die soziale und kulturelle Enttabuisierung der extremen Rechten als "dramatische Veränderung". Mitverantwortlich dafür vor allem auch: die Sozialen Medien.

Die würden sich perfekt für die Doppelstrategie der extremen Rechten eignen, wie sie auch schon Adolf Hitler und seine faschistische Bewegung einsetzten: immer wieder würden mit radikalen Botschaften gesellschaftliche Tabus gebrochen, um sich dann an anderer Stelle als bürgerlich und konziliant zu präsentieren.

Nicolas Lelle von der Amadeu-Antonio-Stiftung fordert deswegen eine viel stärkere gesellschaftliche Beschäftigung mit Social-Media-Plattformen. Und das eine entscheidende Lehre aus der Geschichte gezogen wird: "Rechtsextremismus, Antisemitismus und Rassismus brauchen klare Kante, klare rote Linien. Man muss diese Inhalte sozial ächten - und das müssen die Leute, die diese Inhalte vertreten, auch spüren."

Item URL https://www.dw.com/de/100-jahre-hitlers-mein-kampf-hetze-mit-nachwirkungen/a-73233090?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Adolf Hitler bei seiner Haftentlassung in Landsberg am Lech, 1924. Während seiner Haft schrieb er seine Hetzschrift "Mein Kampf"
Image source dpa
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Item 32
Id 73271421
Date 2025-07-17
Title Salzburger Festspiele: Zwischen Machtspielen und Hoffnung
Short title Salzburger Festspiele: Zwischen Machtspielen und Hoffnung
Teaser In diesem Jahr spiegelt das Programm der Salzburger Festspiele die Weltlage wider: Blutige Konflikte und machthungrige Gestalten erobern die Bühnen, aber das Festival hofft auf Licht am Ende des Tunnels.
Short teaser In diesem Jahr spiegelt das Programm der Salzburger Festspiele die angespannte Weltlage wider.
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Das Theater ist ein Spiegel des menschlichen Lebens mit all seinen Erfahrungen, Emotionen und Konflikten. Dementsprechend stellte das Team der Salzburger Festspiele mit Intendant Markus Hinterhäuser an der Spitze ein Programm zusammen, das einen Kommentar zu den Krisen rund um den Globus liefert. Und so prägen blutige Konflikte und Machtspiele nicht nur das aktuelle Weltgeschehen, sondern auch die Festspiele (18. Juli bis 31. August). Sie spannen den Bogen von brutalen Rivalitäten in der Antike bis hin zum Ersten Weltkrieg. Die Trumps und Putins habe es schon immer gegeben, sagt Hinterhäuser. Machthunger gehört zum Lauf der Welt.

Macht im Fokus

Die Universaldroge Macht hat, wen wundert's, zahlreiche Opernsujets inspiriert. So kommt​​​​​​ Georg Friedrich Händels "Giulio Cesare in Egitto" über den römischen Feldherrn ebenso auf die Bühne wie Gaetano Donizettis "Maria Stuarda", das der schottischen Königin gewidmet ist. Mozart ist mit seiner Oper "Mitridate, re di Ponto" vertreten, in der es um den Herrscher des untergegangenen Reiches Pontus in Kleinasien geht, und Verdis "Macbeth" erzählt die Geschichte des königlichen Heerführers und späteren schottischen Königs. Und schließlich rechnet "Die Letzten Tage der Menschheit", ein Theaterstück nach Karl Kraus' verstörendem Buch, mit den Schrecken des Krieges zwischen 1914 und 1918 ab.

Eines haben die Herrscher der Vergangenheit gemeinsam: Ihre Macht bröckelt. Sie reagieren unterschiedlich auf das unvermeidliche Ende - ob mit Starre, Furcht, Verzweiflung oder dem cholerischen Versuch, dem Schicksal zu entkommen. Oper, Musiktheater und Bühnenspiel sind dabei ein Brennglas, das unterschiedliche Abgangsszenarien beleuchtet. "Daraus erwachsen uns als Publikum Möglichkeiten des Handelns", so Markus Hinterhäuser. Die Bühnenkunst eröffne "Räume der Verwandlung, der Transformation".

Ein Programm für "Jedermann" - und jede Frau

Unter diesem programmatischen Ansatz locken insgesamt 174 Opern-, Theater- und Konzertaufführungen mit rund 223.000 schon jetzt fast ausverkauften Tickets die Besucherinnen und Besucher an. Flaggschiff des Programms ist traditionell das Musiktheater, diesmal mit zwölf Inszenierungen zwischen Barock und zeitgenössischen Werken.

Mit großen Solistennamen, Ausgefallenem und Traditionellem - wie dem alljährlichen Schauspiel "Jedermann" auf den Stufen des Salzburger Domes - bleibt das Festival dem vor über 100 Jahren von den Theatermachern Max Reinhardt und Hugo von Hoffmannsthal erklärten Prinzip treu, für jeden Geschmack etwas zu bieten.

Hier eine subjektive Auswahl der DW-Redaktion: Das bewährte Tandem von Regisseur Peter Sellars und Dirigent Esa-Pekka Salonen am Pult der Wiener Philharmoniker präsentiert eine gewagte Neuinszenierung; unter dem Namen "One Morning Turns into an Eternity" wird ein Doppelpack zu hören sein: Die beiden kombinieren Arnold Schönbergs Monodram "Erwartung" mit dem "Abschied" aus der Symphonie "Lied von der Erde" Gustav Mahlers, dem großen Vorbild Schönbergs.

Signifikant für den Salzburg-Geist ist auch das Theaterstück "Schneesturm" nach einem Buch von Vladimir Sorokin - einem bekannten russischen Schriftsteller, der vor Putin und seinen Unterstützern floh. In einem todbringenden Sturm sucht sein Held, ein junger Arzt, nach Licht und Hoffnung.

Auch der griechische Stardirigent Teodor Currentzis, wegen seiner russischen Zweitbürgerschaft und nie erfolgten Distanzierung vom russischen Angriffskrieg auf die Ukraine umstritten, ist 2025 wieder dabei - mit seinem Utopia Orchester, einem Klangkörper, den Currentzis eigens für Auftritte im Westen gegründet hat.

Viele russische Künstler - aber keine Davydova

Im Dezember 2024 überschattete der Eklat um die Kündigung der russischen Festival-Chefin Marina Davydova die Präsentation des Salzburg-Programms. Man trennte sich von der Dramaturgin - die auch eine konsequente Kritikerin des Putin-Regimes ist - wegen der Nichteinhaltung der vertraglichen Modalitäten, weil sie ohne Ankündigung für ein weiteres Festival tätig gewesen war.

Ansonsten zeigt das Programm der Festspiele eher eine große Solidarität mit Kulturschaffenden, die dem Putin-Reich den Rücken gekehrt haben: So wirken in Salzburg die russischen Regisseure Kirill Serebrennikov (Sorokins "Schneesturm") und Dmitri Tcherniakov (Händels "Giulio Cesare in Egitto") oder Evgeny Titov (Tschechows "Drei Schwestern" in der Fassung des vor kurzem verstorbenen Peter Eötvös) mit.

"Ich verhehle auch nicht, dass ich als Pianist ein großer Bewunderer der russischen Klavierschule bin", sagte Salzburg-Intendant Hinterhäuser der DW. In Salzburg werden Grigori Sokolow, Arkadi Volodos, Evgeny Kissin, Daniil Trifonow und Alexander Malofeev auftreten. Mit einer Konzertreihe ehren sie insbesondere den Komponisten und Pianisten Dmitri Schostakowitsch anlässlich seines 50. Todestages am 9. August.

Geplant ist auch eine Lesung der Ukrainerin Marianna Kijanowska aus ihrem mehrfach preisgekrönten Werk "Babyn Jar. Stimmen". Die Dichterin erzählt von der Ermordung von mehr als 33.000 Juden, fast der gesamten jüdischen Bevölkerung Kyjiws, durch die Nazis im September 1941.

Item URL https://www.dw.com/de/salzburger-festspiele-zwischen-machtspielen-und-hoffnung/a-73271421?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Es geht los! Die Festspiele verwandeln Salzburg wieder in einen wichtigen europäischen Kulturtreff
Image source Salzburger Festspiele/Andreas Kolarik
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Item 33
Id 73199841
Date 2025-07-17
Title Rihanna vs. Klischee: Schlumpfine als feministische Projektionsfläche?
Short title Rihanna gegen das Schlumpfine-Klischee
Teaser Rihanna leiht der einzigen Frau im Schlumpf-Universum ihre Stimme, was nicht nur Begeisterung der Fans, sondern auch feministische Kritik nach sich zieht. Auch politisch sind die blauen Wesen nicht mehr unantastbar.
Short teaser Der Megastar leiht der einzigen Frau in "Die Schlümpfe" ihre Stimme. Aber die Schlumpf-Community hat Gender-Probleme.
Full text

Papa Schlumpf ist verschwunden - entführt von bösen Zauberern, den Brüdern Gargamel und Razamel. Eine muss ihn retten: Schlumpfine, die einzige Frau im sonst rein männlichen Dorf Schlumpfhausen, übernimmt die Führung im neuen Animationsfilm "Die Schlümpfe", der am 18. Juli in die Kinos kommt.

Gesprochen wird Schlumpfine in der Originalfassung von Popstar Rihanna. Neben der Synchronisation hat sie den Film mitproduziert und einen Song beigesteuert - "Friends Of Mine", ein tanzbarer Poptrack, der bereits im Mai veröffentlicht wurde. Für die Sängerin ist es der erste neue Track seit drei Jahren. Für Fans ist es ein Ereignis, auch weil zwischenzeitlich über Rihannas Rückzug aus dem Musikgeschäft spekuliert wurde. Doch nicht alle sind begeistert. Kritik kam vor allem daran auf, dass ausgerechnet ein Kinderfilm ihr musikalisches Comeback markieren soll.

Nur eine Frau unter 99 Männern

Dass Rihanna Schlumpfine ihre Stimme leiht, ist aus feministischer Sicht interessant - und auch problematisch. Die Grammy-gekrönte Künstlerin und Unternehmerin, die derzeit mit ihrem dritten Kind schwanger ist, gilt vielen als Symbol für die Selbstermächtigung schwarzer Frauen. Und obwohl der neue Schlumpf-Film Schlumpfine ebenfalls eine stärkere, aktivere Rolle zuschreibt, bleibt die Figur doch untrennbar mit einem sexistischen Popkulturprinzip verbunden, das die US-amerikanische Autorin Katha Pollitt 1991 als "Schlumpfine-Prinzip" bezeichnete: eine einzige weibliche Figur in einer Welt voller männlicher Helden, oft reduziert auf Äußerlichkeiten oder Emotionen.

Ein Muster, das sich nicht nur bei den Schlümpfen zeigt. Auch Prinzessin Leia in Star Wars, Miss Piggy bei den Muppets, Peach in der Super Mario-Welt oder Kanga bei Winnie Puuh erfüllen ähnliche Funktionen: Sie sind da. Aber eben allein unter Männern.

Hollywood und das "Schlumpfine-Prinzip"

Der neue Schlümpfe-Film fügt sich ein in Hollywoods schier endlose Reihe aus Neuauflagen, Spin-offs und Fortsetzungen. Und alle basieren auf der ursprünglichen Comicserie, die der belgische Zeichner Peyo 1958 entwickelte.

Schon der erste Realfilm mit Animationsanteilen, "Die Schlümpfe" (2011), greift das problematische Geschlechterverhältnis im Schlumpf-Universum ironisch auf. In einer Szene spielt Bösewicht Gargamel mit Handpuppen seiner blauen Lieblingsfeinde und parodiert den Oberschlumpf: "Ich bin Papa Schlumpf. Ich habe 99 Söhne und eine Tochter - vollkommen normal!"

Auch die sexistische Hintergrundgeschichte von Schlumpfine wird in "Die Schlümpfe 2" (2013) erneut thematisiert: Sie gehörte ursprünglich gar nicht zum Schlumpf-Dorf, sondern wurde von Gargamel aus Lehm geschaffen - als böse Spionin, die die Schlümpfe unterwandern sollte. Doch als sie deren Offenheit und Freundlichkeit erlebt, wendet sie sich von ihrem Schöpfer ab. Papa Schlumpf verwandelt sie daraufhin mit einem Zauber in eine "echte" Schlumpfine.

Braucht die Schlumpfwelt mehr Schlumpfinen?

Diese Verwandlung betrifft nicht nur ihren Charakter, sondern auch ihr Aussehen: Aus struppigem schwarzen Haar werden glänzende blonde Locken, die einfachen Schlumpf-Schlappen und das schlichte Tanktop verwandeln sich in High Heels und ein Rüschenkleid - ein Schritt hin zur stereotypen Feminisierung.

Am deutlichsten wird das "Schlumpfine-Prinzip" dann in "Die Schlümpfe - Das verlorene Dorf" (2017) aufgegriffen. Schlumpfine beginnt darin, ihre eigene Identität zu hinterfragen, als sie erkennt, dass die anderen Schlümpfe Namen haben, die ihre Eigenschaften beschreiben - Brillenschlumpf, Tollpatsch, Fauli. Auf ihrer Reise der Selbstfindung stößt sie schließlich auf ein Dorf voller weiblicher Schlümpfe. Ein Versuch der Umdeutung, der nicht bei allen gut ankam.

Eher Merchandise als Feminismus

"Ich bin für die Stärkung von Mädchen - aber nicht auf Kosten der Jungen. Mir hat nicht gefallen, wie die männlichen Schlümpfe als tollpatschige Idioten dargestellt wurden", schrieb eine Mutter auf der Plattform Common Sense Media. Kritikerin Maryann Johanson meinte, der Film halte sich für feministisch, zementiere aber nur alte Geschlechterbilder, indem Frauen auf ein Podest gestellt würden.

Andere vermuteten hinter der Einführung neuer weiblicher Figuren vor allem wirtschaftliches Kalkül: mehr Charaktere, mehr Produkte, mehr Zielgruppenbindung. Der Medienkritiker Alex Abad-Santos urteilte damals im Magazin Vox, das Ziel sei weniger eine neue Botschaft, sondern "eine erweiterte Grundlage für ein neu aufgelegtes Schlumpf-Universum - diesmal mit mehr Mädchenfiguren und wohl auch mehr Mädchen im Publikum".

Blaue Figuren in braunem Kontext

Während die Gender-Debatte um die Schlümpfe andauert, gibt es noch ganz andere Schlagzeilen: In Deutschland wurde das Schlumpf-Universum von rechtspopulistischen Gruppen vereinnahmt. So kursieren auf Social Media-Plattformen KI-generierte Videos, die im Schlumpf-Universum spielen. Darin ist die manipulierte Stimme des originalen deutschen Erzählers zu hören, die behauptet, Deutschland stecke in einer "woken Diktatur".

Bei Veranstaltungen der rechtspopulistischen Partei AfD wurden Schlumpf-Figuren gesichtet - nicht ganz zufällig, denn die Parteifarbe ist ebenfalls "schlumpf"-blau.

Die Schlümpfe sind unpolitisch - oder doch nicht …?

Die belgische Firma IMPS, Inhaberin der Markenrechte, reagierte prompt: "Wir nehmen diesen Missbrauch der Marke sehr ernst und distanzieren uns ausdrücklich vom Inhalt der Beiträge und ihrem rechtspopulistischen Kontext." Die Schlümpfe stünden für Toleranz, Freundschaft und Respekt und dürften nicht für politische Zwecke missbraucht werden.

Adaption aus dem Englischen: Silke Wünsch

Item URL https://www.dw.com/de/rihanna-vs-klischee-schlumpfine-als-feministische-projektionsfläche/a-73199841?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Rihanna mit Schlumpfine im Juni 2025 bei der Weltpremiere des Films in Brüssel
Image source Omar Havana/AP/picture alliance
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Item 34
Id 73310243
Date 2025-07-17
Title Brasiliens Parlament schwächt Umweltstandards
Short title Brasiliens Parlament schwächt Umweltstandards
Teaser Wenige Monate bevor Brasilien Gastgeberin des nächsten UN-Klimagipfels ist, macht das Abgeordnetenhaus eine Kehrtwende in der Umweltpolitik. Wird Präsident Lula dem neuen Gesetz zustimmen?
Short teaser Wenige Monate vor dem nächsten UN-Umweltgipfel: Brasiliens Abgeordnetenhaus macht eine Kehrtwende in der Umweltpolitik.
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Brasiliens Abgeordnetenhaus hat mit großer Mehrheit einer Aufweichung des Umweltschutzes bei Großprojekten zugestimmt. Für das Gesetzesvorhaben votierten am Mittwoch (Ortszeit) in der von konservativen Kräften dominierten Parlamentskammer in Brasília 267 Abgeordnete, 116 stimmten dagegen. Das Projekt wird von dem mächtigen Block der Agrarunternehmen und Viehzüchter vorangetrieben.

Seit mehr als 20 Jahren debattiert Brasiliens Kongress über das Gesetz, mit dem Genehmigungsverfahren für Infrastrukturprojekte in Gebieten wie dem Regenwald am Amazonas vereinfacht werden sollen. Der Gesetzentwurf wurde im Mai bereits von der anderen Kongresskammer, dem Senat, angenommen. Um in Kraft zu treten, muss das Gesetz nun noch von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva unterzeichnet werden.

Umweltschutzorganisationen kritisieren das Vorhaben scharf. Gegner sprechen von einem "Gesetzentwurf der Verwüstung". Sie forderten Lula auf, sein Veto einzulegen. Doch obwohl Brasilien eine Führungsrolle im Kampf gegen die globale Erwärmung anstrebt, unterstützt der Präsident die Suche nach neuen Ölquellen als Schlüssel zum Wachstum der größten Volkswirtschaft Lateinamerikas.

Regierung gespalten

Die Maßnahme hat die linksgerichtete Regierung des Präsidenten gespalten. Das Umweltministerium bezeichnete sie als einen "fatalen Schlag" für den Umweltschutz, während das Landwirtschaftsministerium sie unterstützt.

Die Befürworter argumentieren, dass in Zukunft Infrastrukturprojekte schneller und mit weniger Bürokratie vorangetrieben werden. Das Gesetzesvorhaben sieht beispielsweise vor, dass nicht mehr die brasilianischen Bundesbehörden, sondern die Bundesländer für die vereinfachten Genehmigungen von Großprojekten zuständig sind. Das betrifft vor allem neue Bergbauprojekte im Amazonasgebiet.

Zugleich verlieren indigene Völker und afrobrasilianische Gemeinschaften in großem Umfang den Schutz des Landes, auf dem sie leben. Laut dem Institut Socio-Ambiental würde diese Regelung mindestens 259 Gebiete, in denen indigene Gemeinschaften leben, und rund 80 Prozent der Territorien von afrobrasilianischen Gemeinschaften treffen.

Das Klima-Observatorium kritisierte das Projekt als "größten gesetzlichen Rückschritt seit der Militärdiktatur". Der Zusammenschluss von 133 Wissenschaftlern sowie Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen verwies darauf, dass mit dem Gesetz der Weg frei sei für die Erdölförderung im Amazonas-Mündungsgebiet. Die stößt auch international auf Kritik.

Widerspruch zu den COP30-Zielen?

Brasilien richtet im November in der Stadt Belém im Amazonasgebiet die nächste UN-Klimakonferenz COP30 aus. Und da wollen das Land und sein Präsident als Vorreiter glänzen.

Brasilien will auf der COP30 einen internationalen Fonds zur Finanzierung des Tropenwaldschutzes auf den Weg bringen - was in einem gewissen Widerspruch zu der nun vom Parlament beschlossenen Ausbeutung der Ressourcen auch unter dem Amazonasgebiet steht. "Der Fonds 'Tropenwälder für immer', den wir auf der COP30 ins Leben rufen werden, wird die Ökosystemleistungen, die für den Planeten erbracht werden, entlohnen", sagte Präsident Lula zum Abschluss des Gipfels der BRICS-Staaten in Rio de Janeiro Anfang Juli.

Der Fonds mit einem geplanten Volumen von 125 Milliarden US-Dollar soll Länder mit großflächigen Regenwäldern finanziell für deren Erhalt belohnen. Lula positionierte das Projekt zudem als Beitrag zu einer sozial gerechten Klimapolitik. "Mit dem Schutz und der Wiederherstellung unserer Territorien schaffen wir zugleich Chancen für lokale Gemeinschaften und indigene Völker", sagte der brasilianische Präsident am 7. Juli.

Angesprochen auf das umstrittene Öl-Explorationsgesetz gibt sich der designierte Präsident der UN-Klimakonferenz, André Correa do Lago, im DW-Interview pragmatisch. Jedes Land müsse seinen eigenen Weg weg von Kohle, Öl und Gas selbst bestimmen.

"Brasilien ist fest davon überzeugt, dass wir einen Teil des Ölreichtums nutzen können, um den Übergang zu beschleunigen", sagt der brasilianische Diplomat. "Wir haben zwar keine perfekte Antwort, aber wir führen im Land eine sehr faire Debatte darüber, was wir mit dem Öl machen, das wir möglicherweise haben", so Correa do Lago.

AR/se (epd, efe, afp, dpa, DW)

Redaktionsschluss: 18:00 Uhr (MESZ) - dieser Artikel wird nicht weiter aktualisiert.

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Image caption Kongressgebäude in Brasília (Archivbild)
Image source Leandro Chemalle/TheNEWS2/ZUMA/picture alliance
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Item 35
Id 73287613
Date 2025-07-17
Title Berlin setzt Zeichen gegen rassistischen Straßennamen
Short title Berlin setzt Zeichen gegen rassistischen Straßennamen
Teaser Es war ein langer Kampf mit Anwohnern, bis ein Berliner Boulevard mit rassistischem Namen umbenannt werden konnte. Er heißt jetzt Anton-Wilhelm-Amo-Straße - nach dem ersten schwarzen Philosophen in Deutschland.
Short teaser Es war ein langer Kampf mit Anwohnern, bis ein Boulevard in Berlin umbenannt werden konnte.
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"Dekolonisierung passiert nicht durch ein paar neue Straßennamen", sagte der Politikwissenschaftler und Menschenrechtsaktivist Joshua Kwesi Aikins 2020 gegenüber der DW, nachdem bekannt wurde, dass eine zentrale Berliner Straße, deren Name von vielen als rassistisch empfunden wird, umbenannt werden sollte. Dies hatte die Bezirksverordnetenversammlung Berlin-Mitte damals beschlossen. Einen neuen Namen gab es auch schon: Anton Wilhelm Amo, ein deutscher schwarzer Philosoph der Aufklärung, der 1734 als erster in Afrika geborener Gelehrter einen Doktortitel an einer europäischen Universität erhielt.

Doch bevor die Umbenennung umgesetzt werden konnte, klagten Anwohnende dagegen.

Nun hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Berlin bestätigt: Die Klageberechtigung der Anwohnenden gegen die Umbenennung sei nicht gegeben.

Seit Jahrzehnten fordern zivilgesellschaftliche Gruppen, den Namen der Mohrenstraße (oft respektvoll als M-Straße abgekürzt) und des gleichnamigen U-Bahnhofs zu ändern.

Laut Joshua Kwesi Aikins gehe das Wort "Mohr" ursprünglich auf das Griechische zurück, wo es zwar "dunkel" oder "schwarz" bedeute, aber auch Konnotationen wie "dumm" oder "primitiv" trage.

Eine Straße im Schatten des Kolonialismus

Die heutige M-Straße verläuft durch das historische Zentrum des früheren Preußens - nur wenige Schritte vom rekonstruierten Berliner Schloss entfernt: Von dort aus wurden einst die Kolonialexpeditionen nach Afrika koordiniert. Auch der Ort, wo die Berliner "Kongo-Konferenz" von 1884/85 stattfand, liegt in der Nähe.
Dieses Treffen auf Einladung des deutschen Kanzlers Otto von Bismarcks zwischen europäischen Staaten und Vertretern der USA war ein zentraler Moment der imperialen Machtausdehnung Europas und markiert den offiziellen Beginn der systematischen Ausbeutung Afrikas durch den Westen.

Wie der britisch-ugandische Autor Musa Okwonga es formulierte: In Berlin wurde damals diskutiert, "wie man Afrika unter sich aufteilen könnte". Diese Konferenz markierte den Beginn der kolonialen Gewaltherrschaft Deutschlands in Namibia - inklusive des Völkermords an den Herero und Nama.

Der Name der M-Straße verweist auch auf eine verbreitete Praxis im 17. und 18. Jahrhundert: Afrikanische Versklavte wurden als sogenannte "Hofmohren" nach Deutschland verschleppt - als Dienerinnen und Diener oder zur Belustigung und Unterhaltung von Kurfürsten und preußischen Königen.

"Der Straßenname, vergeben Anfang des 18. Jahrhunderts, transportiert diese rassistische Gewalterfahrung bis in die Gegenwart", schrieb der Historiker Christian Kopp von der Initiative "Decolonize Berlin-Mitte "auf dem Bildungsportal "Lernen aus der Geschichte".

Anton Wilhelm Amo: vergessener Philosoph

Auch Anton Wilhelm Amo soll als Kind in Ghana versklavt und 1707 - im selben Jahr, in dem die M-Straße ihren Namen bekam - dem Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel "geschenkt" worden sein. Trotz dieser gewaltsamen Verschleppung sah Amo sich als Teil der deutschen Gelehrtenkultur - ohne dabei seine afrikanischen Wurzeln zu verleugnen.

Seine erste, inzwischen verlorengegangene juristische Dissertation trug den Titel "Die Rechte der Schwarzen in Europa". Amo beherrschte sechs Sprachen und promovierte später über Descartes' Körper-Geist-Dualismus - doch in der europäischen Geistesgeschichte wurde er lange übergangen.

Vom Namensstreit zur Anerkennung

Der U-Bahnhof M-Straße war selbst das Ergebnis einer Umbenennung nach der Wiedervereinigung 1991 - zuvor trug er den Namen Otto-Grotewohl-Straße, nach einem DDR-Politiker.

Schon damals kritisierte die schwarze deutsche Aktivistin und Dichterin May Ayim die Verwendung des rassistischen Begriffs. Ayim war Mitbegründerin der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) und Herausgeberin des bis heute prägenden Buchs "Farbe bekennen".

Für Ayim war die M-Straße ein Symbol dafür, dass schwarze Deutsche in der weißen Dominanzgesellschaft des wiedervereinigten Deutschlands nicht einbezogen wurden.

2010, vier Jahre nach Ayims Tod, wurde eine Uferpromenade im Berliner Stadtteil Kreuzberg nach ihr benannt - vorher trug sie den Namen Otto Friedrich von der Groebens, der einst die Brandenburger Kolonie in Ghana mitbegründete. Die Umbenennung galt als ein erster konkreter Schritt der Dekolonisierung im Stadtbild.

Aus dem Englischen adaptiert von Silke Wünsch. Es ist die aktualisierte Fassung eines Artikels, der ursprünglich am 28. August 2020 veröffentlicht wurde.

Item URL https://www.dw.com/de/berlin-setzt-zeichen-gegen-rassistischen-straßennamen/a-73287613?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Der neue Straßenname ist dem vergessenen schwarzen Philosophen Anton Wilhelm Amo gewidmet
Image source Initiative Schwarze Menschen in Deutschland
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Item 36
Id 73262388
Date 2025-07-16
Title Holocaust-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch wird 100
Short title Holocaust-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch wird 100
Teaser Sie hat Auschwitz überlebt und viele Jahre dafür gekämpft, dass der Holocaust nicht vergessen wird. Doch an ihrem 100. Geburtstag ist Anita Lasker-Wallfisch desillusioniert: Antisemitismus ist überall auf dem Vormarsch.
Short teaser Sie hat Auschwitz überlebt und als Zeitzeugin vom Holocaust erzählt. Jetzt ist Anita Lasker-Wallfisch desillusioniert.
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Ein ganzes Jahrhundert ist Anita Lasker-Wallfisch schon auf dieser Welt. Vor dem Tod hat sie keine Angst. Zu oft musste sie ihm ins Auge blicken, denn als Jüdin wurde sie von den Nazis nach Auschwitz deportiert. Es war das größte aller Konzentrations- und Vernichtungslager: Im Akkord wurden hier Menschen umgebracht, insgesamt etwa 1,1 Millionen. Anita Lasker-Wallfisch hat überlebt - weil sie Cello spielen konnte.

Jahrzehntelang hat sie als engagierte Zeitzeugin ihre Stimme gegen Antisemitismus, Rechtsextremismus und Rassismus erhoben. Vor Schulklassen berichtete sie schonungslos davon, wie die Nazis Juden systematisch ausgrenzten und schließlich ermordeten. Sie sieht es als Pflicht an, "dass die, die überlebt haben, die Stimmen der verstummten Millionen sein müssen". Deshalb hat sie sich auch an an dem Projekt "Dimensions in Testimony" beteiligt, in dem interaktive Hologramme von Holocaust-Überlebenden über deren Tod hinaus Fragen beantworten.

Es gab eine Zeit, da war sie optimistisch, dass ihr Engagement etwas bewirkt: "Ich habe mit Tausenden von Schülern gesprochen. Wenn nur zehn sich ordentlich verhalten, werde ich zufrieden sein."

Noch nie vom Holocaust gehört?

Doch mittlerweile macht sich bei Anita Lasker-Wallfisch Hoffnungslosigkeit breit. "Sie ist verzweifelt", sagte ihre Tochter Maya der Jüdischen Allgemeinen Zeitung. Wachsender Antisemitismus, der zunehmende Rechtsruck und die Lage im Nahen Osten: ihre Mutter habe den Eindruck, all ihr Engagement habe nicht viel bewirkt.

Schaut man sich in der Welt um, kann man sie verstehen. Nicht nur, dass laut einer aktuellen Umfrage der Jewish Claims Conference zwölf Prozent der 18- bis 29-jährigen Deutschen noch nie etwas vom Holocaust gehört haben. Nein, seit Israel massiv militärisch im Gazastreifen operiert, eskaliert der Antisemitismus weltweit.

"Ist es wichtig, ob man Jude ist? Man ist einfach ein Mensch", sagte sie kürzlich der Süddeutschen Zeitung.

"Ich wusste nicht, dass ich jüdisch bin"

Anita Lasker wurde am 17. Juli 1925 als jüngste von drei Schwestern in Breslau in eine gutbürgerliche deutsch-jüdische Familie geboren. Der Vater war Anwalt, die Mutter Violinistin. Die Eltern legten Wert auf eine gute Erziehung, Musik gehörte dazu. Religion spielte bei den Laskers keine Rolle.

"Ich wusste nicht, dass ich jüdisch bin, bis man mich angespuckt und dreckiger Jude genannt hat", sagt sie Jahrzehnte später. "Wir waren die typischen, total assimilierten deutschen Menschen". 1933 war das, dem Jahr der Machtergreifung der Nazis. Über das, was das Nazi-Regime mit den Juden vorhatte, machten sich die Eltern keine Illusionen: Ende 1939 brachten sie Anitas älteste Schwester Marianne nach England in Sicherheit. Sich selbst konnten sie nicht retten. 1942 wurden sie deportiert, Anita sah Mutter und Vater nie wieder.

Sie und ihre Schwester Renate mussten in einer Papierfabrik Zwangsarbeit leisten. Dort fälschten sie Papiere für französische Zwangsarbeiter und ermöglichten ihnen so die Rückreise in die Heimat. Als die beiden Schwestern 1943 selbst mit gefälschten Pässen fliehen wollten, steckte man sie ins Gefängnis. Fünf Monate später kamen sie getrennt voneinander nach Auschwitz.

Die "Cellistin von Auschwitz"

Anita Lasker konnte ein Instrument spielen und wurde dem Mädchenorchester von Auschwitz zugeteilt. "Das Cello rettete mein Leben", sagte sie später. Wenn die Zwangsarbeiter das Lager morgens im Gleichschritt verließen und abends wieder zurückkehrten, lieferte das Orchester die Marschmusik dazu. Sonntags spielten die Mädchen für die SS.

"Niemand von uns hätte je geglaubt, dass wir Auschwitz nicht durch den Schornstein verlassen würden", so ihre Worte. Im November 1944, als sich sowjetische Truppen Auschwitz näherten, mussten Anita und ihre Schwester ins extrem überfüllte Konzentrationslager Bergen-Belsen, wo die Menschen an Hunger, Durst und Krankheiten starben. "Auschwitz war ein Lager, in dem man Menschen systematisch ermordete", schrieb sie später in ihren Erinnerungen. "In Belsen krepierte man einfach."

"Wir sind voller Hoffnung, voll neuen Mutes"

Am 15. April 1945 befreiten britische Soldaten das Lager Bergen-Belsen. Einen Tag darauf strahlte das deutsche Programm der BBC einen der ersten Augenzeugenberichte aus deutschen Konzentrationslagern aus. Anita Lasker trat vors Mikrofon: "Die Auschwitzer Häftlinge, die wenigen, die geblieben sind, fürchten alle, dass die Welt nicht glauben wird, was dort geschehen ist." Ausführlich beschrieb sie das Grauen und ergänzte dann: "Endlich am 15. kam die Befreiung (des Lagers Bergen-Belsen, wo sie zuletzt war, Anm. d Red.). Die Befreiung, auf die wir drei Jahre lang gehofft haben. Noch glauben wir zu träumen. Wir sehen die Engländer durch das Lager fahren: Menschen, die uns nichts Böses wollen. … Aber wir blicken jetzt vorwärts, wir sind voller Hoffnung, voll neuen Mutes. Wir sind befreit."

Langes Schweigen über die Vergangenheit

Als Zeugin sagte sie im September 1945 im Gerichtsprozess gegen die Wachmannschaften von Bergen-Belsen vor einem britischen Militärgericht aus. Es sollte für lange Zeit das letzte Mal sein, dass sie über die Gräuel sprach, die sie erlebt hatte.

1946 wanderte sie nach Großbritannien aus. In London war sie Gründungsmitglied des English Chamber Orchestra und spielte in diesem Ensemble bis zur Jahrtausendwende. Lasker heiratete den Pianisten Peter Wallfisch, der wie sie aus Breslau stammte und mit einem Kindertransport nach Palästina emigriert war. Mit ihren beiden Kindern redeten das Paar nicht über die Vergangenheit. Fragte die Tochter die Mutter, warum auf ihrem Arm eine Telefonnummer eintätowiert sei, hieß es: "Das erzähle ich dir, wenn du älter bist."

Es dauerte viele Jahrzehnte, bis Anita Lasker-Wallfisch sich entschloss, ihre Geschichte aufzuschreiben. 1996 erschien ihr Buch "Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz". Es machte sie auch international als Zeitzeugin bekannt.

2018 hielt Anita Lasker-Wallfisch im Bundestag zum "Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus" eine flammende Rede gegen das Vergessen. Sie nehme wahr, dass es ein zunehmendes gesellschaftliches Bedürfnis gebe, einen Schlussstrich zu ziehen, aber "was geschehen ist, ist geschehen und kann nicht mit einem Strich ausgelöscht werden".

Jetzt wird sie 100. In London wird es ihr zu Ehren ein Konzert geben. Würdenträger aus aller Welt werden einer der letzten noch lebenden Zeitzeuginnen des Holocaust gratulieren. Und natürlich werden ihre Tochter Maya und ihr Sohn Raphael sowie Enkel und Urenkel auf sie anstoßen. Der Jubilarin selbst ist eine große Feier nicht wichtig. Anita Lasker-Wallfisch wünscht sich wohl vor allem, dass das Gift des Hasses und des Antisemitismus endlich ausgemerzt wird. Ein Wunsch, der nicht so leicht zu erfüllen ist.

Item URL https://www.dw.com/de/holocaust-überlebende-anita-lasker-wallfisch-wird-100/a-73262388?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Am 17. Juli wird es ein Konzert zu Ehren von Anita Lasker-Wallfisch geben.
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Item 37
Id 73217137
Date 2025-07-16
Title Grüner Stahl: Warum Milliarden-Subventionen nicht reichen
Short title Grüner Stahl: Warum Milliarden-Subventionen nicht reichen
Teaser Grüner Wasserstoff soll die Stahlindustrie nachhaltiger machen. Doch trotz Milliardensubventionen hat ArcelorMittal den Umbau zu Herstellung von grünem Stahl gestoppt. Einzelfall oder Warnsignal für die Branche?
Short teaser ArcelorMittal stoppt den Umbau zu grünem Stahl. Ein Einzelfall - oder ein Warnsignal für die Branche?
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Stahl ist das Rückgrat der deutschen Industrie - aber auch ein großer Verursacher von Treibhausgasen. Die Erzeugung von Roheisen und Stahl verursacht in Deutschland knapp sieben Prozent der CO2-Emissionen. Wäre die Stahlindustrie klimaneutral, ließen sich bis zu 55 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr einsparen, das entspricht etwa 30 Prozent aller Industrieemissionen in Deutschland. Und etwa sieben Prozent der gesamten CO2-Emissionen in Deutschland - so die Wirtschaftsvereinigung Stahl.

Das müsste nicht so sein. Die Produktion könnte nachhaltiger werden, wenn Stahl nicht mit Kokskohle, sondern mit grünem Wasserstoff hergestellt würde. Also mit Wasserstoff, der mit erneuerbaren Energien hergestellt wird.

Warum Arcelor Mittal Pläne in Deutschland aufgibt

Genau das war der Plan des Stahlherstellers ArcelorMittal. In Deutschland wollte der Konzern die Produktion auf grünen Wasserstoff umstellen, um so das Konzernziel zu erreichen, im Jahr 2050 Stahl mit Netto-Null-Emissionen herzustellen. Dafür hat die deutsche Regierung Subventionen in Höhe von 1,3 Milliarden Euro zugesagt. Im Juni kam dann die Rolle rückwärts. Arcelor Mittal stoppte seine Pläne für eine grüne Stahlproduktion in Bremen und Eisenhüttenstadt.

"Die europäische Stahlindustrie steht derzeit unter einem noch nie dagewesenem Druck, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten - und das bereits ohne die zusätzlichen Kosten, die für die Dekarbonisierung erforderlich sind", sagt dazu Geert Van Poelvoorde, CEO von ArcelorMittal Europe.

Milliarden Subventionen reichen nicht

Zusätzliche Kosten entstehen den Stahlkonzernen einmal, weil sie neue Anlagen bauen müssen, in denen grüner Stahl hergestellt werden kann. Dafür waren die Subventionen in Milliardenhöhe vorgesehen. Das ist jedoch nicht die einzige Zusatzbelastung. Grüner Wasserstoff ist teurer als die bisher eingesetzte Kohle. Am Ende muss aber grüner Stahl auf den Weltmärkten mit dem günstiger hergestellten konventionellen Stahl konkurrieren.

Hinzu komme, dass sich die Marktsituation für Kohle auf alle konventionellen Stahlhersteller gleichermaßen auswirkt, so Stefan Lechtenböhmer, Professor an der Universität Kassel. Kohle wird am Weltmarkt gehandelt. Wenn dort die Preise für Kohle steigen, trifft das alle Hersteller, die ihre Produkte dann im Zweifel alle teurer machen müssten.

"Wenn die Stahlproduzenten auf Wasserstoff umsteigen, bewegen sie sich in einem anderen Markt", erklärt Lechtenböhmer. "Wasserstoff wird eher lokal hergestellt und der Transport ist heutzutage eigentlich nur sehr schwer möglich". Da für die Erzeugung von grünem Wasserstoff viel Strom benötigt wird, sind die lokalen Strompreise ausschlaggebend dafür, wie teuer am Ende grüner Wasserstoff ist.

Deutschland will grünen Wasserstoff produzieren

Nicht nur die Kosten von grünem Wasserstoff bereiten den Stahlherstellern Kopfschmerzen, daneben müssen sie auch noch Wasserstoff in ausreichenden Mengen zur Verfügung haben. Ein Teil davon soll in Deutschland produziert werden. Laut der Nationalen Wasserstoffstrategie sollen bis 2030 rund zehn Gigawatt hier entstehen.

Die Realität ist davon aber noch weit entfernt. So betrug die installierte Leistung von Elektrolyseuren im Februar 2024 etwa 0,066 Gigawatt, heißt es im Monitorbericht der Expertenkommission zum Energiewende-Monitoring. Das Ziel bis 2030 sei kaum noch zu erreichen, sagt Martin Wietschel vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung in Karlsruhe gegenüber der Tagesschau.

Grüner Wasserstoff muss importiert werden

Die Mengen, die nicht in Deutschland hergestellt werden können, sollen importiert werden. In ihrer überarbeiteten Wasserstoffstrategie von 2023 geht die Bundesregierung davon aus, dass rund 50 bis 70 Prozent des für 2030 prognostizierten Wasserstoffbedarfs durch Importe aus dem Ausland gedeckt werden müssen. Dafür braucht es aber Produktionskapazitäten im Ausland und vor allem Infrastruktur für den Transport.

Auf EU-Ebene sind zahlreiche Infrastrukturmaßnahmen geplant, die bis 2030 realisiert werden sollen. Ein Teil davon werden Gaspipelines sein, die künftig Wasserstoff durchleiten. Daneben sind aber auch neue Pipelines in der Planung.

Hier gibt es auch Rückschläge. Im vergangenen Jahr wurden laut Medienberichten einige Pipeline-Projekte zurückgezogen. Beispielsweise habe das norwegischen Unternehmens Equinor beschlossen, doch keine Pipeline durch die Nordsee nach Deutschland zu verlegen. Auch der Bau einer Pipeline aus Dänemark sei um mehrere Jahre verschoben worden.

Der Transport aus Übersee ist bislang ebenfalls noch nicht ausgereift. Um Wasserstoff per Schiff zu transportieren, muss er verflüssigt und dafür auf minus 253 Grad abgekühlt werden. Alternativ lässt sich Wasserstoff in Ammoniak umwandeln, um ihn dann zu verschiffen. Dabei müssten aber Energieverluste von rund 50 Prozent in Kauf genommen werden, so Lechtenböhmer. Er verweist auf diverse Studien zum Wasserstofftransport aus Ländern wie Namibia, Chile oder Australien, die häufig zeigten, dass die hohen Transportkosten die Kostenvorteile, die diese Länder haben, zunichte machen würden.

Andere Stahlproduzenten bleiben bei grünen Plänen

Ob die EU-Ziele 2030 erreicht werden können, bezweifelt das Energiewirtschaftliche Institut (EWI) an der Universität Köln angesichts der hohen Kosten und den zurückhaltenden Investitionen auf der Angebots- und Nachfrageseite.

Trotz solcher Probleme verabschiedet sich Arcelor Mittal nicht ganz von seinen Plänen zum grünen Stahl, sondern verlagert sie vielmehr in Länder, die eine wettbewerbsfähige und planbare Stromversorgung bieten, wie es in einer Pressemitteilung heißt. Das erste Projekt entsteht nun nicht in Deutschland, sondern in Dünkirchen, in Frankreich. "Die aktuellen Strompreise in Deutschland sind sowohl im internationalen Vergleich als auch im Vergleich zu den europäischen Nachbarländern hoch", beklagt der Konzern.

Thyssenkrupp und die Salzgitter AG teilten nach dem Rückzug von ArcelorMittal mit, dass sie ihre Ökostahl-Pläne weiter vorantreiben wollen. Sie forderten aber dafür mehr Tempo beim Ausbau der Infrastruktur und bei der Sicherung wettbewerbsfähiger Energiepreise. Beide Konzerne haben aber auch nicht die Möglichkeit, auf andere Produktionsstätten auszuweichen.

Der Staat könnte außerdem über seine Ausgaben die Produktion von grünem Stahl unterstützen. Brücken, Gebäude, Straßen - jährlich werden Aufträge mit einem Gesamtvolumen im unteren dreistelligen Milliardenbereich von öffentlichen Stellen vergeben. Da müsste die öffentliche Hand bereit sein, für grünen Stahl auch höhere Preise zu bezahlen, so Lechtenböhmer.

Emissionshandel hilft grünem Stahl

Langfristig werden in Europa die Preise für Stahl steigen, ob es sich nun um konventionellen oder grünen Stahl handelt. Das ist die Folge des Emissionshandels. Bisher bekäme die Industrie die Rechte, CO2 zu emittieren, weitgehend umsonst, erklärt Lechtenböhmer. Das werde sich aber ändern und damit würden auch die Kosten für Stahl aus Kohle steigen. So geht eine Studie der Boston Consulting Group davon aus, dass konventioneller Stahl ab 2030 in Europa nicht mehr wirtschaftlich sein wird.

Korrektur: In einer Grafik war der ursprüngliche Titel: Scope 1-Emissionen* der deutschen Stahlindustrie (2021), es handelt sich aber um die Scope 1-Emissionen* des verarbeitenden Gewerbes in Deutschland (2021). Der Titel wurde entsprechend geändert.

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Image caption Die Stahlhersteller sind die größten Klimasünder innerhalb der Industrie. Könnten sie ihre Produktion nicht auf grünen Stahl umstellen?
Image source Rupert Oberhäuser/picture alliance
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Item 38
Id 73240158
Date 2025-07-16
Title Deutschlands Stromautobahnen wachsen - schnell genug?
Short title Deutschlands Stromautobahnen wachsen - schnell genug?
Teaser Ein entscheidender Faktor der Energiewende in Deutschland ist der Stromtransfer vom Norden des Landes in den Süden. Dazu braucht es gewaltige Investitionen in Stromtrassen. Wie weit ist das Land dabei bereits?
Short teaser In Deutschland entsteht ein neues Stromnetz. Wie weit ist der milliardenschwere Ausbau?
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Deutschlands Stromautobahnen wachsen - aber in welchem Tempo? Die Frage lässt sich so einfach nicht beantworten. Doch ein Blick auf die Details zeigt, wo es vorangeht und woran es noch hapert.

Für den Bau neuer Stromtrassen sind vier Übertragungsnetzbetreiber verantwortlich: 50Hertz Transmission für den Osten Deutschlands, Amprion für den Westen, TransnetBW für Baden-Württemberg im Südwesten und Tennet TSO für einen zentralen Korridor von Schleswig Holstein im Norden nach Bayern im Süden.

Für diese Unternehmen hat die Bundesnetzagentur fünf Schritte festgeschrieben, die bis zum Baubeginn abzuarbeiten sind.

Das beginnt mit dem Erstellen eines "Szenariorahmens", in dem die vier Netzbetreiber die wahrscheinliche Entwicklung von Energieangebot und -nachfrage darstellen sollen. Danach müssen sie einen "Netzentwicklungsplan" erstellen und einen "Umweltbericht" vorlegen. Im dritten Schritt wird ein "Bundesbedarfsplan" erstellt bevor, vierter Schritt, ein "Raumordnungsverfahren" durchgeführt wird. Der letzte Schritt ist dann die behördliche "Planfeststellung".

Nun könnte mit dem Bau begonnen werde, doch an dieser Stelle führt die Bundesnetzagentur oder auch eine zuständige Landesbehörde noch eine abschließende "Umweltverträglichkeitsprüfung" durch.

Der aktuelle Stand

Die Vorgaben des Bundes, die in den Gesetzen zum Ausbau von Energie­leitungen (EnLAG) und zum Bundesbedarfsplan (BBPIG) festgeschrieben sind, umfassen laut Bundesnetzagentur etwa 128 Bauvorhaben mit einer Gesamtlänge von 16.832 km Stromleitungen Ende 2024. Davon seien bereits 34 Vorhaben "vollständig fertiggestellt", so die Behörde.

Das klingt nach viel und nach hohem Tempo. Allerdings rechnet auch die Bundesnetzagentur, dass die Bauarbeiten sich noch weitere acht bis 20 Jahre hinziehen werden. Wenn nicht weitere Vorhaben hinzukommen.

Ablenkungen

Hinzu kommen aber immer auch Irritationen. So sagte der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, im Mai 2025 dem Handelsblatt: "Wir müssen das System reformieren, nach dem Netzentgelte erhoben werden."

Bei vielen Stromkunden machen die Netzentgelte (eine Gebühr, die für die Nutzung des Stromnetzes fällig wird) mittlerweile ein Viertel der Stromkosten aus. Diese Entgelte sind regional unterschiedlich. Bislang zahlen nur die Stromverbraucher für die Netznutzung. Künftig könnten auch die Einspeiser von Strom zur Kasse gebeten werden, also etwa Betreiber von Kraftwerken oder Photovoltaik-Anlagen.

Beim Netzausbau ist die Akzeptanz der Bürger und Steuerzahler extrem wichtig. Und bislang regt sich kaum genereller Widerspruch. Das könnte sich aber ändern, wenn es für den Stromkunden noch teurer wird. Denn ein zorniger Bürger kann für gewaltige Verzögerungen sorgen.

Es könnte auch schneller gehen

Das Ende der Ausbauprojekte zu terminieren, ist generell nicht möglich. "Der Netzausbau ist keine Aufgabe, die zu einem bestimmten Zeitpunkt abgeschlossen sein wird", so Tennet-Sprecherin Maria Köhler. Es handele sich "um einen fortlaufenden Prozess" hin zu einem "Klimaneutralitätsnetz". Der umfasse eben den "Zielhorizont 2037 und einen erweiterten Blick bis 2045."

Im Einzelfall kann (oder besser gesagt: soll) es schneller gehen. 50Hertz hat, so Sprecherin Katrin Dietl, ehrgeizige Ziele: "In unserem Netzgebiet (Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sowie Berlin und Hamburg) wollen wir bis zum Jahr 2032 übers Jahr gerechnet 100 Prozent Erneuerbare Energien sicher in Netz und System integrieren."

Was den Ausbau hemmt

Dass es aber nicht immer so schnell geht, weiß auch sie. "Hemmnisse beim Stromnetzausbau" seien unter anderem "Fachkräftemangel, Lieferengpässe oder langwierige Genehmigungsprozesse."

Tennet sieht die gleichen Probleme: Bei diesem "technisch und organisatorisch komplexen Vorhaben" spielten viele Faktoren wie "Genehmigungen und Abstimmungen mit Behörden über den Zugang zu Grundstücken bis hin zu Materialverfügbarkeit, Transportlogistik und Fachkräftekapazitäten" eine Rolle.

Netzbetreiber TransnetBW hebt einen Punkt besonders hervor: "Die größten Hemmnisse der Vergangenheit waren die langen und aufwändigen Genehmigungsverfahren", so Sprecherin Claudia Halici. Beim Projekt SuedLink habe "allein die Planung und Genehmigung ca. sieben Jahre in Anspruch genommen."

Auch die Bundesnetzagentur sieht dieses Problem. Marta Mituta nennt aber noch andere Stolpersteine, etwa "die kurzfristige Umplanung von Provisorien, artenschutzrechtliche Maßnahmen oder aktualisierte Ergebnisse von Alternativenprüfungen."

Gründe für den Ausbau

Die Produktion "grünen" Stroms in Form von Windenergie findet hauptsächlich in den nördlichen Bundesländern statt. Dazu kommt Strom, der aus Skandinavien (Dänemark und Norwegen) bis an die Küsten von Nord- und Ostsee geleitet wird. Dieser muss in den Süden transportiert werden - und dafür muss das deutsche Fernstromnetz ausgebaut werden.

Beim Ausbau spielen zwei Aspekte eine Rolle. Zum einen geht es um die angestrebte Klimaneutralität. So soll bis 2045 der gesamte Strombedarf der Bundesrepublik aus erneuerbaren Quellen gedeckt werden. Zum anderen sind sicherheitspolitische Erwägungen in den vergangenen Jahren hinzugekommen. Nach der vom damaligen Bundeskanzler Olaf Scholz so genannten Zeitenwende, dem Überfall Russlands auf die Ukraine, ist die Energieversorgung Deutschlands schwieriger geworden.

Zwar ist es in erstaunlich kurzer Zeit gelungen, weitgehend von russischen Gas- und Öllieferungen unabhängig zu werden, doch energiepolitische Autarkie wird für Deutschland immer wichtiger.

Gleichstrom oder Wechselstrom

Beim Bau von Stromleitungen muss erst die Grundsatzfrage geklärt werden, in welcher Form die Energie transportiert werden soll: Als Gleichstrom oder als Wechselstrom? Hierbei erweist sich Gleichstrom, wenn es um längere Distanzen geht, als eindeutig wirtschaftlicher. Dabei treten die geringsten Spannungsverluste auf.

Aber um den Gleichstrom in Wechselstrom, wie er hierzulande aus den Steckdosen kommt, umzuwandeln, braucht es Konverterstationen. Die sind im Bau sehr teuer - rechnen sich aber, je länger die Strecke ist, über die der Strom transportiert wird.

Freileitung oder Erdkabel?

Eine andere Grundsatzfrage lautet: oberirdisch oder unterirdisch? Sturm und Schneefall ausgesetzte sowie militärisch besonders gefährdete Hochspannungsleitungen - oder Erdkabel? Die stören das Landschaftsbild nicht und sind besser geschützt gegen terroristische oder militärische Angriffe, sind aber viel teurer.

Die Netzbetreiber haben eine eindeutige Präferenz: "TransnetBW spricht sich schon lange dafür aus, den generellen Erdkabelvorrang bei neuen Höchstspannungsgleichstromübertragung (HGÜ) abzuschaffen. Bei den Projekten OstWestLink, NordWestLink und SuedWestLink rechnen wir mit Einsparungen von 20 bis 23 Milliarden Euro im Vergleich zur Erdverkabelung", so Claudia Halici. Das entspräche etwa einer Halbierung der Kosten.

Katrin Dietl rechnet dabei auch mit Einsparungen von 20 Milliarden Euro: "Deshalb setzt sich 50Hertz bei den neuen Projekten für einen Wechsel auf Freileitungen ein." Aber unterwegs die Pferde zu wechseln sei keine gute Idee, sagt sie: "Ein Wechsel bei bereits gesetzlich bestätigten Maßnahmen würde potentiell zu erheblichen Verzögerungen führen."

Angst vor der Dunkelflaute

Der große Schwachpunkt erneuerbarer Energien ist ihre eingeschränkte Verfügbarkeit - nachts scheint die Sonne nicht und am und auf dem Meer gibt es nicht immer genug Wind. Das ist das Schreckgespenst für jeden Erzeuger Erneuerbarer Energien: die Dunkelflaute.

Dagegen kann man aber etwas tun. Mit Hilfe großer Speicher kann man Strom sozusagen "aufbewahren" und bei Bedarf wieder ins Netz geben. Das können Wasserspeicherwerke leisten, die es in Gebirgen oft gibt. Doch sie brauchen viel Platz und sind keine Schmuckstücke in der Landschaft. Und in der norddeutschen Tiefebene kann man sie mangels Bergen und Tälern überhaupt nicht installieren.

Stattdessen arbeiten Wissenschaftler daran, große unterirdische Batterien zu installieren. Die versprechen einen übersichtlich geringen Stromverlust bei gleichzeitig ständiger Verfügbarkeit der Energie. Die meisten Modelle sind jedoch noch nicht marktreif. Wenn sie es werden, könnten sie zu einer sinnvollen Ergänzung eines smarten Stromnetzes für das ganze Land werden.

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Image caption Grüner Strom - schön und gut. Doch wie soll er transportiert werden?
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Item 39
Id 73285353
Date 2025-07-15
Title Praemium Imperiale für Marina Abramović
Short title Praemium Imperiale für Marina Abramović
Teaser "Nobelpreis der Künste": Seit 1989 würdigt der Praemium Imperiale herausragende Leistungen in Kunst, Musik und Architektur. Zu den Preisträgern 2025 zählt Marina Abramović - bekannt für ihre radikale Performancekunst.
Short teaser Seit 1989 würdigt der "Nobelpreis der Künste" herausragende Leistungen in Kunst, Musik und Architektur.
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Dieser Preis kommt ohne großes Getöse daher - aber wer ihn bekommt, hat etwas bewegt: Der Praemium Imperiale, verliehen von der Japan Art Association, zählt zu den wichtigsten Kunstpreisen der Welt. Seit 1989 zeichnet er Persönlichkeiten aus, die ihre jeweilige Disziplin künstlerisch und gesellschaftlich geprägt haben.

Vergeben wird er in fünf Kategorien. Jede ist mit rund 90.000 Euro dotiert, doch das eigentliche Gewicht des Preises liegt im Symbolwert. Hier wird nicht ein einzelnes Werk belohnt, sondern meist das gesamte Schaffen.

2025 dürfen sich diese Künstlerinnen und Künstler freuen: der Schotte Peter Doig (Malerei), die serbische Künstlerin Marina Abramović (Skulptur), der Portugiese Eduardo Souto de Moura (Architektur), der ungarische Pianist András Schiff (Musik) und die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker (Theater/Film).

Internationale Bühne mit viel Protokoll

Die Preisverleihung findet im Oktober in Tokio statt. Dabei sind Vertreterinnen aus Kunst, Politik und Diplomatie - und Mitglieder der kaiserlichen Familie, denn Prinz Hitachi, der Bruder des emeritierten Kaisers Akihito, ist Schirmherr des Preises.

Die Preisträgerinnen und Preisträger werden von internationalen Gremien vorgeschlagen - darunter Persönlichkeiten aus Frankreich, Großbritannien, Italien, den USA und Japan. Für Deutschland war unter anderem Altbundespräsident Richard von Weizsäcker beratend tätig.

Was zählt, ist nicht die Stilrichtung oder Nationalität - wichtiger ist der nachhaltige kulturelle Einfluss. Und genau das sorgt immer wieder für spannende - und manchmal überraschende - Namen.

Große Namen, große Wirkung

In der Vergangenheit ging der Preis unter anderem an Cindy Sherman (Malerei), Steve Reich (Musik), Norman Foster (Architektur) und Yoko Ono (Theater/Film). Viele der Ausgezeichneten haben mit ihren Werken Debatten angestoßen oder gesellschaftliche Missstände aufgegriffen - Kunst mit Haltung.

Auch deutsche Künstlerinnen und Künstler wurden schon mit dem Praemium Imperiale ausgezeichnet, unter ihnen Gerhard Richter, Anselm Kiefer und Rebecca Horn für ihre Malerei, Pina Bausch mit ihrem Tanztheater, der Architekt Frei Otto, die Violinistin Anne-Sophie Mutter - und zuletzt Filmemacher Wim Wenders, der 2022 für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde.

Globaler Anspruch verfehlt?

Ganz ohne Kritik kommt der Preis nicht aus. Vor allem wird bemängelt, dass afrikanische und lateinamerikanische Positionen bislang deutlich unterrepräsentiert sind - obwohl der Praemium Imperiale sich als international offen versteht. Aus Afrika etwa gibt es bisher noch nicht so viele Preisträger; 2017 waren es dann aber gleich zwei: Youssou N’Dour aus dem Senegal in der Kategorie Musik und der Bildhauer El Anatsui aus Ghana.

Architekt Francis Kéré aus Burkina Faso wurde 2023 ausgezeichnet.

Besser sieht es mit der asiatischen Präsenz aus. Der koreanische Maler Lee Ufan wurde bereits 1993 ausgezeichnet, Zao Wou‑ki folgte 1994. Auch Tadao Ando, Yayoi Kusama, Cai Guo‑Qiang oder Shigeru Ban stehen auf der Liste - allesamt Kunstschaffende, die auch außerhalb Asiens großen Einfluss haben.

Ein Blick nach Indien zeigt: Auch hier ist der Preis angekommen. Charles Correa, ein Architekt, der moderne Entwürfe mit indischer Tradition verband, erhielt 1994 den Preis. Anish Kapoor, geboren in Mumbai und international bekannt für seine monumentalen Skulpturen, wurde 2011 geehrt. Namen wie diese zeigen: Asien ist längst nicht mehr Randzone im internationalen Kunstgeschäft.

Dieser Text wurde aktualisiert.

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Image caption Auch Marina Abramović bekommt den "Nobelpreis der Künste" zugesprochen
Image source Justin NG/Photoshot/picture alliance
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Item 40
Id 73285140
Date 2025-07-15
Title Ursula Krechel wird mit Büchner-Preis 2025 geehrt
Short title Ursula Krechel wird mit Büchner-Preis 2025 geehrt
Teaser Flucht, Exil, Gewalt und Feminismus: Um diese Themen kreist das Werk der 77-jährigen Autorin, die auch als Regisseurin eigener Hörspiele hervortrat. Nun erhält sie die wichtigste literarische Auszeichnung in Deutschland.
Short teaser Flucht, Exil, Gewalt und Feminismus: Um diese Themen kreist das Werk der 77-jährigen Autorin.
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Die Schriftstellerin Ursula Krechel erhält den Georg-Büchner-Preis 2025. Das gab die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt bekannt. Die mit 50.000 Euro verbundene Auszeichnung soll am 1. November in der südhessischen Stadt überreicht werden; der Preis gilt als eine der wichtigsten Würdigungen für Literatur im deutschsprachigen Raum.

Krechel setze in ihren Gedichten, Theaterstücken, Hörspielen, Romanen und Essays "den Verheerungen der deutschen Geschichte und Verhärtungen der Gegenwart die Kraft ihrer Literatur" entgegen, begründete die Akademie die Auszeichnung. Das Werk der 77-Jährigen rege dazu an, "die Spuren der Vergangenheit im Alltag der Gegenwart aufzufinden und das Hier und Jetzt der deutschen Gesellschaft nicht hinzunehmen, wie es ist". Zudem ziehe sich das Thema der Selbstbehauptung, Wiederentdeckung und Fortentwicklung weiblicher Autorschaft als roter Faden durch ihr gesamtes Schaffen.

Ehrenamtliche Arbeit mit Untersuchungshäftlingen

Krechel wurde unter anderem mit ihren Romanen "Shanghai fern von wo" und "Landgericht" bekannt. Die 1947 geborene Autorin wuchs im rheinland-pfälzischen Trier auf. Nach einem Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte mit anschließender Promotion arbeitete sie als Dramaturgin und Publizistin. Ehrenamtlich engagierte sie sich in der Theaterarbeit mit jugendlichen Untersuchungshäftlingen.

Krechel gab ihr Debüt 1974 mit dem Theaterstück "Erika". 1977 folgte mit "Nach Mainz!" der erste Gedichtband und 1981 ihr erster Roman "Zweite Natur". Ab 1985 trat sie als Regisseurin eigener Hörspiele hervor. Zu ihren jüngeren Veröffentlichungen zählen "Beileibe und zumute. Gedichte" (2021), der Essayband "Gehen, Träumen, Sehen. Unter Bäumen" (2022) sowie in diesem Jahr der Band "Vom Herzasthma des Exils" und der Roman "Sehr geehrte Frau Ministerin" über vier Frauen in Antike und Gegenwart, deren Leben von erlittener und ausgeübter Gewalt geprägt ist.

Mitgründerin des PEN Berlin

Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit lehrte Krechel als Gastprofessorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und an der Universität der Künste in Berlin. Die frühere Ehrenpräsidentin des PEN-Zentrums Deutschland hatte den Schriftstellerverband 2022 im Zuge einer Kontroverse um den damaligen Präsidenten Deniz Yücel verlassen. Sie war daraufhin Mitgründerin des PEN Berlin. Überdies gehört sie der Akademie der Künste Berlin, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz an.

Krechel ist mit dem Kulturmanager und Gründungsleiter des Literaturhauses Berlin, Herbert Wiesner, verheiratet und lebt in der deutschen Hauptstadt. Sie erhielt bereits mehrere bedeutende Auszeichnungen: 2012 den Deutschen Buchpreis, 2019 den Jean-Paul-Preis für ihr Lebenswerk sowie 2020 das Bundesverdienstkreuz.

Die Akademie für Sprache und Dichtung verleiht seit 1951 den Büchner-Preis an herausragende Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ihre Werke in deutscher Sprache verfassen. Namensgeber ist der in Darmstadt aufgewachsene Dramatiker und Revolutionär Georg Büchner (1813-1837). Im vergangenen Jahr wurde Oswald Egger geehrt.

Weitere Träger der Auszeichnung waren unter anderen Gottfried Benn, Max Frisch, Hans Magnus Enzenzberger, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Thomas Bernhard, Christa Wolf, Erich Fried, Wilhelm Genazino, Felicitas Hoppe und Terézia Mora. Der Preis wird vom Bund, dem Land Hessen und der Stadt Darmstadt finanziert.

jj/se (dpa, afp, epd, kna)

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Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/73284484_302.jpg
Image caption Frankfurt am Main, 2012
Image source Wolfgang Minich/picture alliance
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Item 41
Id 73093324
Date 2025-07-14
Title Blackpink: Neue Single "Jump" erinnert an Loveparade-Klassiker
Short title Blackpink-Single "Jump" erinnert an Loveparade-Klassiker
Teaser Blackpink aus Südkorea: Die vier Frauen beeinflussen Mode, Medien und Jugendkultur weltweit. Sie brechen Rekorde, prägen Trends - und sind zurzeit auf Welttournee. Jetzt ist ihr erster neuer Song seit drei Jahren da.
Short teaser Blackpink brechen Rekorde, prägen Trends und sind zurzeit auf Welttournee. Mit dabei: die neue Single "Jump".
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"Blackpink in your area" - so der Slogan der südkoreanischen Girlgroup, der bei vielen K-Pop -Fans Euphorie auslöst: Blackpink ist eine Bewegung, ein Lebensstil, ein kulturelles Phänomen.

Seit ihrem Debüt im Jahr 2016 haben sich die vier Südkoreanerinnen zu einem der erfolgreichsten Pop-Exporte der Welt entwickelt - und das nicht nur musikalisch. Jisoo, Jennie, Rosé und Lisa sind Stilikonen, Werbegesichter und Influencerinnen in einem. Seit dem 5. Juli 2025 sind sie auf ihrer "Deadline World Tour", die sie erneut auf große Bühnen rund um den Globus führt.

Jetzt ist passend dazu ihre neue Single "Jump" erschienen, die erste seit drei Jahren. Und die erinnert an einen Song, der 1997 Soundtrack der Loveparade in Berlin war: "Meet Her At The Loveparade" von Da Hool, auch bekannt als DJ Hooligan, einem deutschen Techno-DJ und -Produzenten. Mit diesem Song, der überwiegend auf Englisch gesungen wird, sind die vier jungen Frauen endgültig aus der K-Pop-Blase in die internationale Musikwelt eingestiegen. Innerhalb weniger Tage haben sie die Spitze der iTunes-Charts erreicht und führen auch die globalen Spotify-Charts an.

Produkt der südkoreanischen Unterhaltungsindustrie

Blackpink wurde von YG Entertainment gegründet - einem der größten Unternehmen der sogenannten K-Pop-Industrie. Wie in Südkorea üblich, durchliefen die jungen Frauen ein jahrelanges Training in Gesang, Tanz, Sprachen und Bühnenpräsenz. 2016 erschien ihre Debütveröffentlichung, eine Doppelsingle mit den Songs "Boombayah" und "Whistle". Die Kombination aus elektronischen Beats, Sprechgesang, eingängigen Refrains und koreanisch-englischen Texten sorgte für Furore - auch außerhalb Asiens.

Symbol der "Koreanischen Welle"

Mit ihrer Musik, den aufwendigen Musikvideos und einem klar erkennbaren Stilkonzept wurde Blackpink schnell zu einer der erfolgreichsten K-Pop-Gruppen aller Zeiten. Ihr Durchbruch gilt als Paradebeispiel für die "Koreanische Welle" - den internationalen Aufstieg südkoreanischer Kultur seit den 2000er-Jahren (auf koreanisch: Hallyu).

In den letzten Jahren boome diese Musikrichtung zwar nicht mehr so stark wie zuvor - trotz des Blackpink-Erfolges und trotz des anstehenden Comebacks der Boygroup BTS, sagt Dr. Adam Zulawnik, Wissenschaftler im Bereich Koreanistik an der Universität Melbourne im Gespräch mit der DW. Doch die südkoreanische Unterhaltungsindustrie sei äußerst widerstandsfähig und innovativ, nicht zuletzt, weil sie von der südkoreanischen Regierung unterstützt werde - nicht nur als Wirtschaftsfaktor, sondern vor allem als zentraler Bestandteil der nationalen Strategie für sogenannte "Soft Power": Sie soll das positive Image Südkoreas durch Kulturexporte wie K-Pop oder Netflix-Serien weltweit stärken.

Vier Persönlichkeiten – ein gemeinsamer Stil

Anders als viele andere Gruppen besteht Blackpink nur aus vier Protagonistinnen - und jede einzelne bringt ihre eigene Ausstrahlung mit: Jennie, die in Neuseeland aufwuchs, ist bekannt für ihren modischen Stil und ihre Rolle als Markenbotschafterin für Chanel. Jisoo gilt als visuelle Identifikationsfigur der Gruppe und ist auch als Schauspielerin erfolgreich.

Rosé, geboren in Neuseeland und aufgewachsen in Australien, besticht durch ihre gefühlvolle Stimme und melancholische Art. Lisa, ursprünglich aus Thailand, begeistert mit ihrer Präzision im Tanz und ihrer internationalen Social-Media-Präsenz.

Diese Vielfalt hat es der Gruppe ermöglicht, weltweit verschiedenste Zielgruppen anzusprechen – musikalisch wie visuell. Das hebt auch Adam Zulawnik hervor: "Tatsächlich haben viele südkoreanische Künstlerinnen und Künstler entweder die traditionellen Erwartungen an 'typisch koreanisches' Auftreten überwunden - oder sie bewusst hinter sich gelassen. Ein gutes Beispiel dafür, wie sich südkoreanische Musikstile ändern, hat Blackpinks Rosé gemeinsam mit dem US-Sänger Bruno Mars geliefert. Viele Internetnutzerinnen und -nutzer empfanden den allgemeineren Pop-/Rock-Stil des Songs "Apt." als erfrischend und zeitgemäß."

Markenzeichen: Mode und Schönheit

Blackpink ist nicht nur für ihre Musik bekannt, sondern auch für ihren Einfluss auf Modetrends und Schönheitsideale. Alle vier Mitglieder arbeiten mit internationalen Luxusmarken zusammen: Dior, Chanel, Saint Laurent oder Celine zählen ebenso dazu wie Kosmetikmarken wie MAC oder Hera. Ihre Looks werden weltweit kopiert: Haarfarben, Frisuren, Accessoires und Schminktechniken - vieles davon wird nach Blackpink-Auftritten in sozialen Netzwerken zum Trend.

Diese Schnittstelle zwischen Popkultur und Modeindustrie ist ein Ergebnis der umfassenden Marketingstrategie der südkoreanischen Unterhaltungsindustrie. Zulawnik nennt Beispiele: "Das reicht von BTS-Menüs bei McDonald's in Australien bis hin zu Snacks der Gruppe SEVENTEEN in der Volksrepublik China. Besonders stark sichtbar ist diese Strategie in Südostasien, einem der wichtigsten Märkte für K-Pop. Dort kooperieren viele Gruppen mit lokalen Marken und Unternehmen und schaffen damit eine direkte Verbindung zu den Lebenswelten ihrer Fans."

Soziale Netzwerke als Erfolgsfaktor

Ein wichtiger Bestandteil des Erfolgs von Blackpink ist ihre starke Präsenz im Internet. Die Girlgroup betreibt einen der größten YouTube-Kanäle der Welt: Über 90 Millionen Menschen folgen dort ihren Musikvideos, Probenmitschnitten und persönlichen Einblicken.

Auf Plattformen wie Instagram, TikTok oder der koreanischen Fan-Plattform Weverse pflegt die Gruppe engen Kontakt mit ihrer Fangemeinde - den "Blinks". Diese digitale Nähe zur Community verstärkt ihre Wirkung: Sie erscheinen nahbar, ohne ihren Glamourfaktor zu verlieren.

Was Blackpink in der K-Pop-Industrie verändert hat

Lange galten männliche Gruppen als dominierend im südkoreanischen Musikgeschäft. Blackpink hat dieses Bild nachhaltig verändert. Sie zeigen, dass weibliche Gruppen international erfolgreich sein können, ohne sich auf stereotype Rollen festzulegen. Ihr Auftreten ist selbstbewusst, professionell und kreativ - ein Vorbild für viele Nachwuchskünstlerinnen.

Ihr Modell - eine kleinere Gruppe mit klaren Einzelprofilen, wenigen, dafür wirkungsvollen Veröffentlichungen und global ausgerichteter Öffentlichkeitsarbeit - hat viele andere K-Pop-Gruppen beeinflusst. Der sogenannte "Blackpink-Effekt" ist längst ein Begriff in der Branche. So bleiben die vier jungen Frauen eine prägende Kraft der Popkultur - und das werden sie auch auf der "Deadline World Tour" den Fans weltweit zeigen.

Dies ist eine aktualisierte Fassung des Artikels vom 01.07.2025.

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Image caption Blackpink auf dem Coachella-Festival 2023
Image source Frazer Harrison/Getty Images
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Item 42
Id 73155368
Date 2025-07-14
Title Wie ein Berliner Bildungs-Startup die Welt erobern will
Short title Wie ein Berliner Bildungs-Startup die Welt erobern will
Teaser Benedict Kurz will mit seiner App einer Milliarde Schüler und Schülerinnen weltweit einen KI-gestützten Lern-Tutor an die Seite stellen. Warum gibt es nicht mehr Gründer wie ihn in Deutschland?
Short teaser Viele junge Leute in Deutschland wollen eine Firma gründen, aber nur wenige machen es. Benedict Kurz erklärt warum.
Full text

"Wir fanden das Lernen ziemlich unpersönlich und langweilig und verbrachten viel Zeit auf TikTok und Instagram." Benedict Kurz war erst 17, als er 2019 mit drei gleichaltrigen Abiturienten Knowunity gründete. Die Art, sich Wissen anzueignen, wollten sie mit einem Peer-to-Peer-Ansatz ändern: Sehr gute Schüler und Schülerinnen erklären anderen den Stoff. Diese "Knower" bekamen auf der Plattform eigene Influencer-Profile und Follower. Quizze, Karteikarten und Probeklausuren sollen so das Lernen spannender machen. Auf der Basis mehrerer KI-Sprachmodelle entwickelte Knowunity zudem einen "Lernbegleiter", der auf Millionen "Knower"-Inhalte zugreift und individuelle Lehrpläne sowie Übungen erstellt.

"Unsere App richtet sich direkt an die Schüler, nicht an Lehrer oder Schulen", sagt Kurz. Weiterempfehlen gehört zum Geschäftsmodell. In Deutschland lernt nach Firmenangaben bereits jedes dritte Schulkind ab der fünften Klasse mit Knowunity, inzwischen auch viele Studierende. Insgesamt sind es mehr als 20 Millionen Nutzer in 17 Ländern.

Das Berliner Startup will nun vor allem in die USA und nach Asien expandieren. Knowunity hat dafür über 45 Millionen Euro erhalten. Corona und ChatGPT wälzten in den letzten Jahren den Bildungsbereich um: Auch Investoren entdeckten die Chancen und ermöglichten der Berliner Lernplattform ein rasantes Wachstum.

Potenzial für Millionen Gründungen

Viele junge Menschen sind vom starren "one size fits all"-Prinzip des Bildungssystems frustriert. Doch die wenigsten gründen deshalb ein Unternehmen. Was bringt jemanden dazu, nicht nur ein Problem zu erkennen, sondern aktiv zu seiner Lösung beizutragen? Laut einer Untersuchung des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) Bonn und des Forschungsnetzwerks Entrepreneurship, Innovation und Mittelstand interessieren sich 40 Prozent der 14- bis 25-Jährigen grundsätzlich für eine Unternehmensgründung.

Nur elf Prozent setzen diesen Plan tatsächlich um. In den Niederlanden und in den USA sind es mehr als doppelt so viele. Die Forschenden sehen in dieser Altersgruppe Potenzial für 1,6 Millionen zusätzliche Gründungen. Ausgebremst werden die jungen Menschen durch finanzielle Unsicherheit, fehlende Netzwerke, mangelndes Wissen über das unternehmerische Handeln und den eingeschränkten Zugang zu Kapital.

Ein Experiment mit knapp 300 gründungsinteressierten jungen Erwachsenen zeigte: Eine Startup-Grundsicherung würde die Bereitschaft am stärksten fördern. Sozialleistungen und ein gesicherter Lebensunterhalt im ersten Jahr könnten den Unterschied machen. 24-Jährige ließen sich davon stärker motivieren als 18-Jährige, Frauen mehr als Männer.

Für Männer ist hingegen der Zugang zu Wagniskapital entscheidender. Migranten, denen Netzwerke besonders fehlen, wünschen sich vor allem Mentoring und Vernetzung. Förderprogramme und Weiterbildungen speziell für junge Gründungswillige folgen mit Abstand. Die Forscher fordern, junge Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen aktiv in die Entwicklung von Unterstützungsmaßnahmen einzubinden.

Aus dem Nichts etwas Großes aufbauen

Für Benedict Kurz stand früh fest: Er wird Unternehmer. Schon mit 13 handelte er online mit chinesischen E-Bikes, verschlang Podcasts über Unternehmertum und die Geschichten über Persönlichkeiten wie Mark Zuckerberg, die aus dem Nichts ein Riesending aufgebaut hatten. Vorbilder fand er auch zuhause: Seine Eltern und vorher der Großvater führen ein kleines Familienunternehmen.

"In der Schule war Unternehmertum nie ein Thema", sagt Kurz: "Meine Mitschüler fanden meinen Berufswunsch eher witzig". Nur sein bester Freund teilte die Begeisterung: Heute hat auch er eine eigene Firma. Seine Mitstreiter für Knowunity fand der Abiturient bei einem Event für Gründungsinteressierte. Alle vier arbeiten in verschiedenen Funktionen im Startup.

Die meisten Startups entstehen im Gegensatz zu Knowunity im akademischen Umfeld. Laut dem aktuellen Students Entrepreneurship Monitor des Deutschen Startup-Verbands kann sich jeder fünfte Studierende vorstellen, ein eigenes Unternehmen aufzubauen. Weiche Faktoren spielen die größte Rolle: Sie wollen Neues lernen, die Relevanz ihrer Arbeit sehen und würden dafür lange Arbeitszeiten in Kauf nehmen. Doch auch hier bleibt viel Potenzial, um die 18.000 Gründungen bleiben jährlich einfach liegen.

Die Mehrheit der Gründungswilligen und selbst derjenigen, die eine klassische Angestelltenkarriere anstreben, hätten gern mehr über Unternehmertum in Schule und Studium gelernt. Auch in der Knowunity-App sind solche Inhalte rar. "Wir orientieren uns an den Lehrplänen", gibt Kurz zu und regt an, das Thema im Bildungssystem positiv darzustellen. Es müsse nicht immer Zuckerberg sein, auch regional gebe es tolle Unternehmer. "Man sollte mehr von ihnen mit Gastvorträgen in die Schulen holen."

Das Thema in die Fläche tragen

Der 23-jährige Firmenchef sitzt im Vorstand des Startup-Verbands. Er plädiert ebenfalls für soziale Absicherung in der Anfangszeit. "Nicht jeder hat das Glück, Unterstützung von der Familie zu bekommen. Viele stehen unter Druck, sofort Geld verdienen zu müssen". Außerdem sieht er die Hochschulen in der Pflicht, den Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Wirtschaft zu erleichtern und in Ausgründungen zu investieren. Zu guter Letzt brauche es regionale Hubs, um die Startup-Kultur in die Fläche zu tragen. "Außerhalb der Bubbles in Berlin oder München ist es nicht wirklich ein Thema."

Kaum Freizeit seit fünf Jahren, eine aufgegebene Sportlerkarriere und viel Verantwortung für Mitarbeitende und Investorengelder: Auch das gehört zum Unternehmeralltag. Andererseits sei es "super cool", etwas Neues zu schaffen, selbst zu entscheiden und mit spannenden Menschen zusammenzuarbeiten. Für Benedict Kurz ist es auch immer wieder ein kleines Highlight, in der Bahn jemanden zu sehen, der gerade seine App nutzt.

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Image caption Die Gründer des Start-ups Knowunity: Yannik Prigl, Gregor Weber, Benedict Kurz und Lucas Hild (v.l.n.r.)
Image source Knowunity
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Item 43
Id 73229757
Date 2025-07-12
Title 40 Jahre "Live Aid": Hoffnung, Hype und kritische Fragen
Short title 40 Jahre "Live Aid": Hoffnung, Hype und kritische Fragen
Teaser Es war ein Konzert der Superlative, das Menschen rund um den Globus vereinte. Das Ziel: Spenden für Hungernde in Äthiopien zu sammeln. Doch aus heutiger Sicht gibt es auch Kritik an dem Megaevent.
Short teaser Es war ein Konzert der Superlative, das Menschen rund um den Globus vereinte. Aus heutiger Sicht gibt es auch Kritik.
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"Es ist zwölf Uhr mittags in London und sieben Uhr morgens in Philadelphia. Und rund um die Welt ist es Zeit für Live Aid!"

Diese legendäre Fernsehansage läutete am 13. Juli 1985 das größte Musikspektakel aller Zeiten ein und vereinte fast zwei Milliarden Menschen aus über 100 Ländern vor den Bildschirmen. Ein Konzert auf zwei Kontinenten stattfinden zu lassen - lange bevor es das Internet gab - und weltweit per Satellit im Fernsehen zu übertragen, war eine echte Herausforderung.

Live Aid war kein gewöhnliches Konzert: Ziel war es, Spenden für die Hungerhilfe im damals von einer verheerenden Dürre heimgesuchten Äthiopien zu sammeln. Auf der Bühne standen die größten Pop- und Rockstars der damaligen Zeit wie Freddie Mercury, David Bowie und Tina Turner, die alle kostenlos auftraten.

Die Veranstaltung fand zeitgleich im Wembley-Stadion in London und im JFK-Stadion in Philadelphia statt. Menschen auf der ganzen Welt verfolgten gebannt, wie Mercury die 72.000 Fans im Wembley-Stadion in London während des Refrains von Queens Hit "Radio Ga Ga" aus dem Jahr 1984 anfeuerte, wie Bono von U2 von der Bühne sprang und mit einem jugendlichen Fan tanzte und wie Bob Geldof die Zuschauer eindringlich aufforderte, Geld zu spenden. Und um die oft wiederholte Live Aid-Überlieferung richtig zu stellen: Sir Bob hat nie gesagt: "Gebt uns euer verdammtes Geld jetzt". Er wurde falsch zitiert.

Rock 'n' Roll als universeller Überbringer einer Botschaft

Der Frontman der irischen Rockgruppe "The Boomtown Rats" war die treibende Kraft hinter dem 16-stündigen Musik-Event. Geldof hatte 1984 im Fernsehen einen Bericht über das Leid verhungernder Menschen in Äthiopien gesehen und war zutiefst erschüttert. Gemeinsam mit dem Schotten Midge Ure von der Band Ultravox schrieb er noch im selben Jahr das Lied "Do They Know It's Christmas?"und brachte für die Aufnahme britische Musikerkollegen zusammen. Der Erfolg der - heutzutage wegen des falschen Afrika-Bildes umstrittenen - Benefiz-Single inspirierte das Duo dazu, sein karitatives Engagement auszuweiten.

"Wir haben ein Thema aufgegriffen, das nirgendwo auf der politischen Agenda stand, und durch die Lingua franca des Planeten - die nicht Englisch, sondern Rock'n‘'Roll ist - konnten wir die Not von 30 Millionen Menschen ansprechen, die an Mangel sterben in einer Welt des Überflusses - auf einem Kontinent, 12 Kilometer von unserem entfernt," sagte Geldof rückblickend.

In gerade mal zwölf Wochen stellten Geldof und sein Team das gigantische Event auf die Beine. Ure bemerkte später gegenüber der britischen Zeitung "The Guardian", dass ein Großteil der Live-Aid-Planung eher auf Instinkt und gutem Willen als auf Strategie oder Budget beruht habe. Das Live-Aid-Konzert schuf die Blaupause für spätere Veranstaltungen wie Farm Aid (1985), Live 8 (2005) und Live Earth (2007).

"Für Afrika", aber ohne Afrikaner

Viele Boomer und Angehörige der Generation X haben Live Aid als einen einzigartigen Moment globaler Einheit erlebt - in einer Zeit, als man noch nicht weltweit übers Internet vernetzt war. Doch rückblickend sorgt das Event auch für Kritik: Denn obwohl es sich um eine Benefizveranstaltung für Afrika handelte, trat bei dem Megakonzert kein einziger afrikanischer Künstler auf.

Auch Frauen waren in der Minderheit: Abgesehen von Sade, Tina Turner, Madonna und Patti LaBelle war das Programm überwiegend weiß und männlich dominiert. Geldof verteidigte die Auswahl der Künstlerinnen und Künstler mit der Begründung, sie seien aufgrund ihrer Popularität angefragt worden - schließlich wollte man möglichst viele Spenden generieren.

Im Jahr 2005 organisierte Geldof "Live 8" - ein Festival, das zeitgleich mit dem G8-Gipfel stattfand und die Staats- und Regierungschefs der acht wichtigsten Industrieländer dazu bringen sollte, "Armut zu Geschichte zu machen". Als einziger Afrikaner war nur der senegalesische Sänger Youssou N'Dour dabei, Geldof setzte erneut auf starke Zugpferde aus dem Westen.

Andy Kershaw, einer der Moderatoren bei Live Aid 1985, äußerte sich dazu kritisch mit den Worten: "Das ist empörend und zutiefst selbstgefällig. Sie sagen: 'Vernachlässigt Afrika nicht' - aber genau das tun sie hier."

Daraufhin wurde das Konzert "Africa Calling" organisiert, diesmal von Peter Gabriel. Unter Youssou N'Dours Ägide traten prominente afrikanische Künstler wie die somalische Sängerin Maryam Mursal und die beninische Sängerin Angélique Kidjo auf.

Moky Makura, Geschäftsführerin von "Africa No Filter" (eine NGO, die sich gegen Stereotype über Afrika einsetzt, Anm. d. Red.) war noch im Teenageralter, als sie das ursprüngliche Konzert sah. Sie schrieb 2023 in der Zeitung "Guardian": "Als Nigerianerin, die in Lagos geboren und im Vereinigten Königreich ausgebildet wurde, brauchte ich einen Moment, um zu begreifen, dass die Version von Afrika, die Live Aid der Welt verkaufte, eine ganz andere war als die, in der ich aufgewachsen bin."

Live Aid sei das "unglückselige und unbeabsichtigte Aushängeschild" für einen Entwicklungsansatz in Afrika, fügte sie hinzu, der auch heute noch einen Großteil des Sektors antreibe: der Wunsch, die Probleme der armen Länder zu erkennen und zu lösen.

Weißer-Retter-Komplex oder Wendepunkt?

Für sein Engagement erhielt Bob Geldof dann auch nicht nur Lob. Kritiker unterstellten ihm immer wieder einen "White Saviour Complex", er inszeniere sich als "weißer Retter". Seine verärgerte Reaktion: "Die Leute sterben dort, verdammt noch mal, weil sie nicht genug zu essen haben, obwohl es auf der Welt mehr als genug gibt. Darum geht es!"

Ein kritischer Kommentar im "Guardian" 2024 stellte Live Aid als Event dar, das "ein herablassendes Bild von Afrika als einem Kontinent, der verzweifelt nach westlicher Hilfe verlangt und von ihr abhängig ist", verstärke. Für Geldof war das "die größte Ladung Bullshit aller Zeiten".

Tatsächlich kamen dank Live Aid 127 Millionen Dollar Spenden für die Hungerhilfe zusammen - und das Konzert hatte auch politische Strahlkraft. Ein aktueller Dokumentarfilm mit dem Titel "Live Aid at 40: When Rock 'n Roll Took On The World" ("40 Jahre Live Aid: Als der Rock 'n' Roll die Welt eroberte") zeigt, wie Geldof und sein irischer Kollege Bono durch ihre unermüdliche Lobbyarbeit bei den Staats- und Regierungschefs der G8-Staaten schließlich erreichen, 18 der ärmsten Länder der Welt ihre Schulden in Höhe von 40 Milliarden Dollar zu erlassen und zu versprechen, die Hilfe für die Entwicklungsländer bis 2010 um 50 Milliarden Dollar pro Jahr zu erhöhen.

Geldof, mittlerweile 73 Jahre alt, bezweifelt anlässlich des 40 Jahrestages von Live Aid, dass sich der Spirit des Konzerts im Zeitalter der sozialen Medien wiederholen ließe. "Es ist eine isolierende Technologie, im Gegensatz zum Rock 'n' Roll, der die Menschen zusammenbringt", sagte er der britischen Musikzeitschrift "NME".

Die kürzlich getätigte Aussage Elon Musks, die große Schwäche der westlichen Zivilisation sei die Empathie, konterte er mit den Worten: "Nein, Elon, der Klebstoff der Zivilisation ist die Empathie. Wir befinden uns im Zeitalter, in dem die Freundlichkeit ausstirbt, und ich wehre mich dagegen."

Trotz allem bleibt der Rocker hoffnungsvoll: "Man kann Dinge ändern, man kann wirklich Dinge ändern ... der Einzelne ist nicht machtlos, und gemeinsam kann man wirklich Dinge ändern."

Adaption aus dem Englischen: Suzanne Cords

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Image caption Live Aid-Organisator Bob Geldof (r.) mit Paul McCartney (Mitte) and David Bowie (l.) beim Konzert 1985
Image source Joe Schaber/AP Photo/picture alliance
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Item 44
Id 73187390
Date 2025-07-12
Title Was passiert, wenn es keinen EU-Zolldeal mit Trump gibt?
Short title Was passiert, wenn es keinen EU-Zolldeal mit Trump gibt?
Teaser Ungeachtet der laufenden Verhandlungen zwischen EU und den USA über eine Einigung im Zollstreit, hat der US-Präsident neue hohe Zölle angekündigt. Experten halten ein "No-Deal"-Szenario für durchaus möglich.
Short teaser In der EU gab es Hoffnung auf eine Einigung im Zollstreit mit den USA. Ein neuer Brief des US-Präsident weckt Zweifel.
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30 Prozent soll nun der Zoll betragen, den Donald Trump droht auf EU-Waren zu erheben, die in die USA verkauft werden. Das kündigte der US-Präsident in einem am 12. Juli veröffentlichten Brief an und warnte die EU zugleich davor, Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Ursprünglich hatte Trump mit Zöllen in Höhe von 50 Prozent gedroht, die ab dem 9. Juli gelten sollten, wenn sich beide Seiten nicht vorher auf etwas anderes einigten. Zwei Tage vor diesem Termin gab das Weiße Haus dann bekannt, dass sich die Einführung der geplanten Zölle auf den 1. August verschieben werde.

Das gibt den Unterhändlern ein wenig mehr Zeit. Doch mit seiner neuerlichen Ankündigung hat Trump nun den Druck noch einmal deutlich erhöht. Dass er es ernst meint, hatte er bereits im April gezeigt. Da belegte der US-Präsident EU-Importe mit Zöllen von mindestens zehn Prozent. Bei Autos wurde der Satz auf 25 Prozent, bei Stahl und Aluminium sogar auf 50 Prozent festgesetzt. Trump hatte gedroht, den Steuersatz schon zum 9. April auf 50 Prozent zu erhöhen. Doch dazu kam es nicht, nachdem seine Zölle einen Börsencrash ausgelöst hatten.

Noch Anfang Juli hatte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen auf einer Pressekonferenz gesagt, dass es "unmöglich" sei, innerhalb von 90 Tagen ein umfassendes Handelsabkommen zu erzielen. Aber sie hoffe auf eine "grundsätzliche Einigung" und bezog sich dabei auf das Abkommen zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich als anzustrebendes Modell.

Unterschiedliche Meinung in den EU-Mitgliedsstaaten

Beobachter der Verhandlungen zufolge gibt es unter den Mitgliedstaaten der EU große Meinungsverschiedenheiten darüber, welche Zugeständnisse akzeptabel sind und was die US-Seite anbieten sollte. So hat beispielsweise Bundeskanzler Friedrich Merz von der Notwendigkeit gesprochen, schnell eine Einigung zu erzielen, und den "komplizierten" Ansatz der Europäischen Kommission kritisiert.

"Es geht hier um die schnelle Beilegung eines Zollstreits, insbesondere für die Schlüsselindustrien unseres Landes", sagte er.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat die Idee von Zöllen, die von mächtigen Ländern erhoben werden, als "Erpressung" bezeichnet, ohne sich dabei ausdrücklich auf Trump zu beziehen.

Jacob Funk Kirkegaard vom Peterson Institute for International Economics in der US-Hauptstadt Washington glaubt nicht, dass die Position des deutschen Kanzlers für alle EU-Mitglieder "akzeptabel" sein wird. "Merz hat mehrmals gesagt, dass wir mit einem allgemeinen Zoll von zehn Prozent leben können. Solange wir nicht 25 Prozent sektorale Zölle auf Autos und so weiter bekommen", sagte er der DW.

Während die Äußerungen von EU-Handelskommissar Maros Sefcovic und Ursula von der Leyen gegenüber Trump und den USA etwas versöhnlich klangen, sieht Kirkegaard darin einen Versuch, die Einheit unter den Mitgliedsstaaten zu wahren: "Das ist im Grunde genommen der Versuch der Kommission, sich vor Angriffen aus den Mitgliedsstaaten zu schützen, denn es ist offensichtlich, dass sie die Konsequenzen eines Handelskrieges zu tragen hätten."

Wenn das Abkommen mit dem Vereinigten Königreich als Vorbild dient, müsste die EU wahrscheinlich mit zehnprozentigen Zöllen auf viele Waren leben, so wie es das Vereinigte Königreich getan hat. Das Abkommen zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich senkt den Zollsatz auf britische Autos von 25 Prozent auf zehn Prozent, aber die Zahl der Autos, die mit diesem Zollsatz eingeführt werden können, ist auf 100.000 begrenzt. Das entspricht in etwa der Zahl der Autos, die das Vereinigte Königreich im Jahr 2024 in die USA verkauft hat.

Alle Autos, die über diese Menge hinaus exportiert werden, werden mit einer Steuer von 27,5 Prozent belegt. Zum Vergleich: Die EU hat im vergangenen Jahr mehr als 700.000 Autos in die USA verkauft.

Kirkegaard glaubt jedoch, dass es für viele auf der EU-Seite schwer zu akzeptieren sein wird, wenn die hohen Zölle auf Autos, Stahl und Aluminium auf demselben Niveau bleiben.

"Solange das der Fall ist, wird es meiner Meinung nach keine Einigung geben", sagte er. "Für die EU, deren Wirtschaft in etwa so groß ist wie die der USA, ist es letztlich nicht akzeptabel, dass die US-Zölle steigen und die der EU nicht."

Kirkegaard vertritt die Auffassung, dass in einer Handelskonfrontation zwischen Volkswirtschaften gleicher Größe die Zölle "gemeinsam steigen und gemeinsam sinken" sollten.

"Gebt Trump den Sieg"

Bill Reinsch, ein leitender Wirtschaftsberater des in Washington ansässigen Center for Strategic and International Studies (CSIS), hält ein Abkommen nach britischem Vorbild für das wahrscheinlichste Ergebnis. Er glaubt jedoch, dass das Wichtigste für Trump der Eindruck ist, dass er "gewonnen" hat, und nicht das, was tatsächlich vereinbart wurde.

"Was für ihn zählt, ist das Treffen im Oval Office, dass man sich auf dies und das geeinigt hat und nun alles gut wird. Es würde mich also nicht überraschen, wenn es am Ende ein Abkommen in Anführungszeichen mit der EU gäbe."

Reinsch hält es für klug, wenn sich die EU auf die politischen Ergebnisse konzentrieren würde und nicht auf die Wahrnehmung dessen, wer gewonnen hat: "Lassen Sie ihm den Sieg. Wenn man ihm den Sieg gönnt, spielt es keine Rolle, was er gewinnt. Man muss also nicht viel aufgeben, wenn man es richtig anpackt."

Digitale Umsatzsteuer

Ein Bereich, in dem viel über mögliche Zugeständnisse der EU abgesehen von Zöllen spekuliert wurde, ist die EU-Digitalpolitik, insbesondere ihr Gesetz über digitale Dienstleistungen und mögliche digitale Umsatzsteuern.

Deutschland hat eine zehnprozentige Steuer auf US-Digitalriesen wie Google und Metas Facebook in Europa in Erwägung gezogen. Trump hat sich gegen solche Pläne ausgesprochen und Kanada hat diese Woche einen Vorschlag für eine Steuer auf digitale Dienstleistungen fallen gelassen, um die Handelsgespräche mit den USA am Leben zu erhalten.

Reinsch ist der Meinung, dass die EU ihre Mitgliedsstaaten daran hindern sollte, diese Steuern einzuführen, denn "Trump hat Recht" mit seiner Position und das sei "nicht einmal Rhetorik": "Ich denke, sie diskriminieren eindeutig einige amerikanische Unternehmen", sagte er und fügte hinzu, dass es aus politischer Sicht "der völlig falsche Ansatz" sei. "Wenn man europäische Konkurrenten aufbauen will, dann tut man das nicht, indem man die Konkurrenz auf diese Weise runtermacht. Man tut es, indem man europäische Konkurrenten aufbaut und lebensfähige Optionen schafft", so Reinsch.

Kein Deal?

Auch wenn die Frist bis zum 1. August verlängert wurde, können die Verhandlungen scheitern - mit ernsthaften Folgen. Die EU hat die transatlantischen Handelsbeziehungen als "die wichtigsten Handelsbeziehungen der Welt" bezeichnet, da der bilaterale Handel mit Waren und Dienstleistungen nach Angaben der EU-Kommission im Jahr 2023 ein Volumen von 1,6 Billionen Euro (1,88 Billionen US-Dollar) erreicht.

Kirkegaard sagt, dass ein No-Deal-Szenario dazu führen könnte, dass in einigen EU-Ländern aufgrund "kurzfristiger Volatilität" fiskalische Anreize erforderlich werden. Dazu zählen vor allem Steuersenkungen und staatliche Investitionen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das könnte die EU durchaus verkraften, glaubt Kirkegaard. "Wir würden nicht wieder ins Jahr (der Finanzkrise, d. Red.) 2008 zurückfallen oder mit einer Situation konfrontiert werden, die sogar dem Energiepreisschock nach der russischen Invasion im Jahr 2022 ähnelt - absolut nicht", sagte er. Er rechnet damit, dass die EU in diesem und im nächsten Jahr "einen halben Prozentpunkt an Wachstum verliert", was "nicht trivial" sei, aber gleichzeitig "nichts, womit wir nicht leben könnten".

Reinsch sieht das anders: Ein Scheitern wäre eine "schlechte Nachricht" für alle. "Ich denke, im Hinblick auf den tatsächlichen Handel wäre es wahrscheinlich nicht so folgenreich wie eine Eskalation mit China, weil wir so viel mehr von China kaufen. Aber wenn es darum geht, dass die Beziehungen zur EU zerrüttet werden und es vor allem zu einer Störung der transatlantischen Investitionsströme angeht, dann wäre es ein großes Problem."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert und am 12. Juli aktualisiert.

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Image caption Die EU und die USA haben nun bis zum 1. August Zeit, die Verhandlungen über Zölle erfolgreich zu beenden
Image source Ohde/Bildagentur-online/picture alliance
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Item 45
Id 73052463
Date 2025-07-12
Title Macht Donald Trump Europas Wirtschaft groß?
Short title Macht Donald Trump Europas Wirtschaft groß?
Teaser Die rüde Handelspolitik des US-Präsidenten verschreckt Investoren. Für Europa und Deutschland ergeben sich dadurch neue Chancen. Aber werden sie auch genutzt?
Short teaser Die rüde US-Handelspolitik verschreckt Investoren. Für Europa und Deutschland ergeben sich dadurch neue Chancen.
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Die Uhr tickt: US-Präsident Donald Trump hat im Handelsstreit mir der Europäischen Union nun Zölle von 30 Prozent angekündigt. Sie sollen am 1. August in Kraft treten. Dann endet die Frist für eine Einigung im Zollstreit mit den Europäern. Ursprünglich hatte Trump der EU mit Aufschlägen von 50 Prozent ab dem 9. Juli gedroht. Doch zwei Tage vor diesem Termin, verlängerte das Weiße Haus die Frist auf Anfang August. Die Verhandlungen mit der Europäischen Union dauern noch an.

Daher ist noch offen, ob es zu einer Eskalation mit dauerhaft hohen US-Zöllen kommt. Genauso offen ist, mit welchen Maßnahmen die EU reagieren würde. Doch trotz des enormen Drucks, den die US-Regierung unter Trump in den vergangenen Monaten aufgebaut hat, blicken internationale Investoren mittlerweile skeptischer auf die US-Wirtschaft und gleichzeitig mit gesteigertem Interesse auf Europa - und dabei besonders auf die größte EU-Volkswirtschaft Deutschland.

Während der US-Börsenindex S&P 500 seit Jahresbeginn lediglich um rund sieben Prozent zulegte, kletterte das deutsche Börsenbarometer Dax um fast 20 Prozent und markierte dabei immer neue Rekorde. Seit dem Amtsantritt von Trump hat der US-Dollar gegenüber dem Euro mehr als zehn Prozent an Wert verloren. Ebenso ging es für den Greenback im Vergleich zum britischen Pfund und dem Schweizer Franken bergab.

IWF und Bundesbank kritisieren USA

Die USA wirken angeschlagen: Der Internationale Währungsfonds (IWF) kritisiert, dass die US-Schulden aus dem Ruder laufen könnten. Und Bundesbank-Präsident Joachim Nagel warnte beim Finanzgipfel der G7 in Kanada vor erneuten Turbulenzen an den Finanzmärkten, sollte der Handelsstreit mit den USA nicht gelöst werden.

Nagel hatte Ende Mai im Tagungsort Banff den toxischen Mix aus fallenden Aktienkursen, einem schwächeren US-Dollar und zugleich steigenden Anleiherenditen nach der Verkündung von hohen Sonderzöllen gegen fast alle US-Handelspartner mit drastischen Worten beschrieben: "Manchmal hatte ich an bestimmten Tagen das Gefühl, wir sind nicht weit weg von der Kernschmelze an den Finanzmärkten", so der deutsche Zentralbank-Chef.

Die stellvertretende geschäftsführende Direktorin des IWF, Gita Gopinath, hatte kurz davor in einem Interview mit der "Financial Times" angemahnt, dass die Haushaltsdefizite der USA zu groß seien und das Land seine "ständig wachsende" Schuldenlast in Angriff nehmen müsse.

Die USA leiden nach Angaben des US-Finanzministeriums unter einem riesigen Schuldenberg von mehr als 36 Billionen Dollar. Im vergangenen Jahr entsprach das mehr als 120 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) - das ist fast doppelt so hoch wie die Verschuldungsquote in Deutschland. Und jedes Jahr kommen neue Schulden hinzu: Für das Jahr 2025 wird das US-Haushaltsdefizit auf mehr als 6,5 Prozent der Wirtschaftsleistung geschätzt.

Blick auf USA immer kritischer

Auch für den Ökonomen Hans-Werner Sinn werden die Spielräume für das bisherige US-Schuldenmodell immer kleiner. "Die Amerikaner müssen den Gürtel enger schnallen. Dieser Lebensstandard, diese Welt, die aus lauter Malls und wenig Fabriken besteht, die lässt sich so auf die Dauer nicht aufrechterhalten", so der frühere Präsident des Münchner Ifo-Instituts im Interview mit der DW.

Dass die USA nach Wegen suchen, um ihr Handelsbilanzdefizit mit der EU abzubauen, kann auch Ralph Ossa verstehen. Aber der Chefökonom der Welthandelsorganisation (WTO) denkt wie die meisten seiner Fachkollegen. "Aus volkswirtschaftlicher Sicht sind sich eigentlich alle Ökonomen einig, dass Zölle nicht das geeignete Instrument sind, um Handelsbilanzdefizite anzugehen", so Ossa zur DW. Er vergleicht das Vorgehen der USA mit einer Privatperson, die mehr kauft, als sie durch ihre Arbeit verdient und sich deshalb verschuldet.

"Und wenn ich als Ralph ein Schuldenproblem habe - zum Beispiel, weil ich mir zu viele Autos kaufe - dann ist es natürlich eine Möglichkeit, die Autos zu besteuern, damit ich mir nicht mehr so viele kaufe. Aber es ist natürlich nicht der direkteste Weg, das Problem anzugehen", beschreibt Ossa das Vorgehen der USA.

Stimmung gegenüber Europa und Deutschland hat sich "völlig gedreht"

Dass die aggressive Handels- und Zollpolitik Trumps die Anleger abschreckt und nach Europa blicken lässt, unterstrich auch der Chef der staatlichen deutschen Förderbank KfW, Stefan Wintels, vor kurzem im Interview mit dem "Handelsblatt". "Ich beobachte auf meinen Roadshows in New York, London und Zürich, dass das Interesse internationaler Investoren am Standort Deutschland wächst. Viele institutionelle Investoren sind in den USA überinvestiert und würden gern stärker in Europa und innerhalb Europas, insbesondere in Deutschland, investieren", so Wintels.

In nur wenigen Monaten habe sich die Stimmung gegenüber Europa und Deutschland bei internationalen Investoren völlig gedreht. "In meinen mehr als 30 Berufsjahren habe ich noch nie einen so rasanten Stimmungswechsel miterlebt. Wir sollten alles dafür tun, dieses positive Momentum für Deutschland und Europa zu nutzen", so der KfW-Chef.

US-Investoren folgen dem Lockruf Europas

Auch internationale Schwergewichte wie der weltgrößte alternative Vermögensverwalter Blackstone lockt Europa. Blackstone-CEO Steve Schwarzman kündigte an, in den nächsten zehn Jahren bis zu 500 Milliarden Dollar (437 Milliarden Euro) in Europa zu investieren. In einer Zeit geopolitischer Umbrüche wird Europa zunehmend attraktiv für Investoren - nicht zuletzt durch die milliardenschweren Investitionspakete für Infrastruktur und Verteidigung in Deutschland.

"Wir sehen darin eine große Chance für uns", hatte Blackstone-Chef Schwarzman Anfang Juni gegenüber Bloomberg TV betont. "Sie beginnen hier, ihre Herangehensweise zu ändern, was unserer Meinung nach zu höheren Wachstumsraten führen wird."

Dass die EU ihren Binnenmarkt mit fast 450 Millionen Verbrauchern effektiver machen muss, hat man in Brüssel erkannt. So will die EU-Kommission im Zuge des globalen Handelskriegs gegen die "zehn größten Übel" im Binnenhandel vorgehen. In einem geleakten und von der Medien-Plattform "Table Briefings" verlinkten und als "sensibel" eingestuften EU-Strategieapier wird die folgende Rechnung aufgemacht: Um einen Rückgang der Exporte in die USA um 20 Prozent auszugleichen, reicht bereits der Anstieg des Warenhandels innerhalb der EU um 2,4 Prozent. Möglich werden soll das unter anderem durch Bürokratieabbau. Davon sollen vor allem kleine und mittelgroße Unternehmen profitieren, die dann künftig einfacher in der Europäischen Union über nationale Grenzen hinweg operieren können.

Investitionsmagnet Deutschland

Außerdem herrscht in Brüssel Einigkeit darüber, dass man das Tempo beim Abschluss von Freihandelsabkommen mit Partnern wie Indien oder Indonesien erhöhen muss und sich nicht mehr leisten kann, wie beim Mercosur-Abkommen mit südamerikanischen Ländern zwei Jahrzehnte lang zu verhandeln.

Doch Europa profitiert schon jetzt vom neuen Blick auf den alten Kontinent. Bei der Investoren-Konferenz "SuperReturn International" versammelten sich Anfang Juni Tausende Großinvestoren in Berlin, darunter Pensionsfonds, Versicherungen und Staatsfonds aus aller Welt - mit einem verwalteten Vermögen von rund 46 Billionen Euro. Laut Bloomberg sprachen sich die Manager von Großinvestoren wie BC Partners, Permira und Brookfield Asset Management wegen der zunehmenden globalen Wirtschaftsrisiken für Europa als Investitionsstandort aus. Und der New Yorker Finanzriese Apollo Global Management, der schon jetzt etwa 100 Milliarden Dollar seines rund 800 Milliarden Dollar schweren Vermögens in Europa angelegt hat, will sich in den kommenden zehn Jahren vor allem in Deutschland noch stärker engagieren.

"Wir sehen allein in diesem Land die Möglichkeit, in den nächsten zehn Jahren 100 Milliarden Dollar in die Erde zu bringen", sagte Apollo-Präsident Jim Zelter gegenüber der Financial Times und fügte hinzu, dass dies "eine Zahl ist, die weltweit nur schwer zu übertreffen ist".

Dieser Artikel wurde am 12. Juli aktualisiert.

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Image caption Donald Trumps Politik lässt Anleger vermehrt auf den Standort Deutschland blicken
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Item 46
Id 73254398
Date 2025-07-12
Title Trump: Zölle in Höhe von 30 Prozent auf EU-Waren
Short title Trump: Zölle in Höhe von 30 Prozent auf EU-Waren
Teaser Der US-Präsident schafft dem Anschein nach Fakten. Bisher ist der angekündigte Zollsatz aber nicht mehr als ein Druckmittel - vor einem immer noch möglichen Deal.
Short teaser Bisher ist der angekündigte Zollsatz nicht mehr als ein Druckmittel - vor einem immer noch möglichen Deal.
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US-Präsident Donald Trump hat angekündigt, die Vereinigten Staaten würden von August an Zölle in Höhe von 30 Prozent auf EU-Importe erheben. Der gleiche Satz gelte auch für Einfuhren aus Mexiko, schrieb Trump in seinem Online-Netzwerk Truth Social. Er drohte mit weiteren Zollerhöhungen, falls es Gegenmaßnahmen gebe. Die Europäische Union und die USA verhandeln seit längerem über ein mögliches Handelsabkommen. Für Deutschland sind die Vereinigten Staaten der wichtigste Wirtschaftspartner - vor China.

Mit seiner Zollpolitik will der Republikaner angebliche Handelsungleichgewichte korrigieren und bewirken, dass mehr in den USA produziert wird. Im weltweiten Zollkonflikt hatte Trump zunächst eine Frist bis 9. Juli für neue Zölle gesetzt, diese allerdings später bis 1. August verlängert. Bereits in den vergangenen Tagen machte der US-Präsident eine Reihe von Zollsätzen für Einfuhren aus bestimmten Ländern bekannt, zuletzt für Importe aus Kanada und Brasilien.

Kühle Gelassenheit in Brüssel

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sagte in einer ersten Reaktion, man sei bereit, bis zum 1. August weiter an einer Einigung zu arbeiten. Sollte dies nicht gelingen, werde die EU alle notwendigen Schritte zum Schutz ihrer Interessen ergreifen. Dies schließe auch Gegenmaßnahmen ein. Brüssel hat Zölle auf US-Produkte im Wert von rund 21 Milliarden Euro vorbereitet, diese aber bislang ausgesetzt.

Mitte der Woche hatte von der Leyen betont, es sei besser, keinen Deal zu haben als einen schlechten. Trump wiederum hatte am vergangenen Montag auf eine entsprechende Reporterfrage geantwortet, man sei wahrscheinlich zwei Tage von einer Einigung mit der Europäischen Union entfernt.

"Alarmsignal" für die Industrie

Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) bezeichnete die jüngste Erklärung des US-Präsidenten als "Alarmsignal für die Industrie auf beiden Seiten des Atlantiks". Wolfgang Niedermark, Mitglied der BDI-Hauptgeschäftsführung, forderte die EU-Kommission und die Regierungen in Berlin und Washington auf, "jetzt sehr zügig in einem sachlichen Dialog Lösungen zu finden und eine Eskalation zu vermeiden". Für die Wirtschaftsräume auf beiden Seiten des Atlantiks stehe viel auf dem Spiel.

Ob die nun angekündigten Zölle tatsächlich in Kraft treten, ist offen. Bereits mehrfach hatte Trump in laufenden Verhandlungen Druck aufgebaut; entsprechende Ankündigungen wurden jedoch später nicht umgesetzt.

jj/ww (dpa, afp, rtr)

Redaktionsschluss: 17.30 Uhr (MESZ) - dieser Artikel wird nicht weiter aktualisiert.

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Image caption Stichtag 1. August: US-Präsident Donald Trump (Archivbild)
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Item 47
Id 73230093
Date 2025-07-11
Title Warum gepökeltes Fleisch nicht auf den Grill gehört
Short title Warum gepökeltes Fleisch nicht auf den Grill gehört
Teaser Nitrit wird oft in gepökeltem Fleisch und Wurstwaren zur Konservierung, für den Geschmack und die Farberhaltung verwendet. Bei hohen Temperaturen kann Nitrit allerdings krebserregende Nitrosamine bilden.
Short teaser Nitrit macht Fleisch haltbar und lecker. Aber bei hohen Temperaturen kann Nitrit krebserregende Nitrosamine bilden.
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Sommerzeit ist Grillzeit. Grillkäse und Gemüse sind lecker, aber für viele gehören Fleisch und Würstchen definitiv auch auf den Grill. Zwar achten Verbraucher inzwischen mehr auf die Herkunft des Fleisches. Was viele aber nicht wissen ist, dass verarbeitete Fleischprodukte aus Supermärkten und Discountern oftmals viel Nitrit enthalten. Und das ist ein Problem.

Gepökelte Fleisch- und Wurstwaren wie Würstchen, Kasseler, Speck oder Salami enthalten üblicherweise den Konservierungsstoff Nitritpökelsalz (Natriumnitrit, E 250). Für die Industrie ist dieser Zusatzstoff sehr praktisch: Er dient als Konservierungsmittel, das antibakteriell wirkt, dem Fleisch eine ansprechende rosa Farbe gibt und ihm das markante Pökelaroma verleiht.

Das Pökeln von Fleisch zählt zu den ältesten bekannten Konservierungsmethoden. Das Salz entzieht dem Fleisch die Flüssigkeit und schafft ein Milieu, in dem Bakterien schlecht wachsen können.

Warum sind Nitrat und Nitrit in Lebensmitteln problematisch?

Nitrat ist eine Stickstoffverbindung, die von Natur aus im Boden vorkommt, aber auch in Düngemitteln, um das Wachstum von Pflanzen zu fördern. Bestimmte Salate und Gemüsesorten wie Rucola, Spinat, Kohlrabi, Rote Beete und Rettich können hohe Nitratmengen enthalten.

Nitrat selbst ist zwar erstmal unbedenklich für Mensch und Tier, kann aber im Körper oder durch Bakterien in Nitrit umgewandelt werden. In hohen Konzentrationen ist Nitrit giftig, weil es den Sauerstofftransport im Körper hemmt und so zu Atemnot, Muskelschwäche und Kopfschmerzen führen kann.

Gepökelte Fleisch- und Wurstwaren stark zu erhitzen, führt zu einem weiteren Problem. Die Hitze setzt eine chemische Reaktion von Nitrit mit den natürlich vorkommenden Aminen im Fleisch in Gang - es entstehen verstärkt gefährliche Nitrosamine.

Gefahr durch krebserregende Nitrosamine

Die allermeisten Nitrosamine zeigten in Tierversuchen schon in niedrigen Dosierungen eine krebserregende Wirkung. Zudem sollen diese Stoffe zu Schäden an den Erbinformationen im Körper (DNA) führen.

Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) veröffentlichte Ende März 2023 ein Gutachten, das zehn in Lebensmitteln gefundene Nitrosamine (NDMA, NMEA, NDEA, NDPA, NDBA, NMA, NSAR, NMOR, NPIP und NPYR) als krebserregend und erbgutschädigend einstuft. Laut EFSA sei die Aufnahme von Nitrosaminen in der Europäischen Union (EU) über alle Altersgruppen hinweg so hoch, dass von einer Gesundheitsgefährdung auszugehen sei.

Die EU empfiehlt derzeit eine maximale tägliche Aufnahmemenge (ADI) von 0,07 mg Nitrit-Ion pro Kilogramm Körpergewicht. Bei einem durchschnittlichen Körpergewicht von 70 kg entspricht das 4,9 mg Nitrit pro Tag. Das wiederum entspricht 200 g Kochschinken oder vier Grillwürstchen aus dem Supermarkt. Gerade beim Grillen wird die Tageshöchstdosis also schnell überschritten, zumal ja auch andere Lebensmittel Nitrit enthalten.

Strengere Regeln für Nitrite ab Herbst 2025

In der Europäischen Union legt die EU-Verordnung 2023/2108 ab Oktober 2025 um rund 20 Prozent reduzierten Grenzwerte für Nitrite (E 249-250) und Nitrate (E 251-252) in Lebensmitteln fest, insbesondere bei verarbeitetem Fleisch. Die diesjährige Grillsaison ist dann allerdings vorbei.

Nach Ansicht der Coalition Against Nitrites reichen aber auch diese strengeren Grenzwerte nicht aus. Die internationale Initiative um den Harvard-Professor Walter Willett will Nitrite generell aus verarbeiteten Fleischprodukten verbannen: "Die strengeren Nitrit-Grenzwerte sind zwar zu begrüßen, gehen aber nicht weit genug, da Nitrite selbst - unabhängig von der zugesetzten Menge - im menschlichen Körper krebserregende Nitrosamine bilden können, insbesondere wenn verarbeitetes Fleisch bei hohen Temperaturen gegart wird", so Chris Elliott, Professor für Lebensmittelsicherheit von der Coalition Against Nitrites gegenüber der DW.

"Eine Verringerung der Menge kann also das Risiko etwas verringern, aber nicht ausschließen. Die eigentliche Lösung besteht darin, die Ursache ganz zu beseitigen. Warum sollte man eine nachweislich gefährliche Chemikalie ohne triftigen Grund in beliebiger Menge in Lebensmittel einbringen?", so Elliott.

Auch das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) sieht die hohen Nitrit-Werte sehr kritisch. “Aus Sicht der Risikobewertung sollte der Verzehr von gepökeltem Fleisch nur gelegentlich und nicht in übermäßig großen Verzehrportionen erfolgen“, so das BfR gegenüber der DW. “Da die Verwendung von Nitrat und Nitrit als Lebensmittelzusatzstoff in der Zutatenliste von verpackten Lebensmitteln angegeben werden muss, haben Verbraucherinnen und Verbraucher die Möglichkeit, das Vorhandensein dieser Zusatzstoffe in Lebensmitteln bei ihrer Kaufentscheidung zu berücksichtigen.“

Alternativen zum Nitrit gibt es

Auch am Institut für Sicherheit und Qualität bei Fleisch des Max Rubner-Instituts (MRI) stellt Nitrit einen zentralen Forschungsschwerpunkt dar. Ziel ist es unter anderem, technologische Maßnahmen zu entwickeln, die die Entstehung von Nitrosaminen weiter verringern können.

Außerdem wird geprüft, inwieweit Nitrit durch Pflanzenextrakte ersetzt werden kann, die reich an Polyphenolen sind. Solche natürlichen Verbindungen sind bekannt für ihre antioxidativen und antimikrobiellen Eigenschaften. Ob diese Wirkung auch bei Fleischerzeugnissen erzielt werden kann, wird aktuell erforscht.

In mehreren europäischen Staaten wie Frankreich, dem Vereinigten Königreich oder Italien werden bereits vergleichbare Produkte ohne Nitrit hergestellt - mit gleichem Geschmack, Aussehen und Preis. Entsprechend werden die Forderungen lauter, dass die Grenzwerte weiter gesenkt und Nitrite langfristig ganz verboten werden sollten.

Auch die Coalition Against Nitrites hält den Einsatz von Nitrit für verzichtbar. "Glücklicherweise gibt es jetzt bewährte, sicherere Alternativen, die es ermöglichen, köstliche Wurstwaren wie Wiener Würstchen ohne Nitrite herzustellen - und zwar so, dass sie das gleiche Aussehen, den gleichen Geschmack und die gleichen Kosten haben", sagt Elliott.

Der Professor für Lebensmittelsicherheit meint außerdem: "Diese Clean-Label-Lösungen werden häufig aus natürlichen Fruchtextrakten gewonnen. Sie bieten dieselben Vorteile in Bezug auf Haltbarkeit und Lebensmittelsicherheit, ohne dass die Vorstufen schädlicher Verbindungen eingeführt werden. Die Wissenschaft und die Technologie sind vorhanden. Was wir jetzt brauchen, ist der Mut der Regulierungsbehörden und der Industrie, danach zu handeln."

Der Artikel wurde am 17.07.25 um eine weitere Stellungnahme vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) ergänzt.

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Image caption In der Europäischen Union gelten erst nach der diesjährigen Grillsaison reduzierte Grenzwerte für Nitrite - aber reicht das?
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Item 48
Id 73188086
Date 2025-07-10
Title Eine kleine Geschichte der Queerness
Short title Eine kleine Geschichte der Queerness
Teaser War die Mona Lisa keine Frau, sondern saß Leonardo da Vincis Liebhaber Modell für das Gemälde? Der Künstler war schwul - denn Queersein ist beileibe kein Phänomen der Neuzeit. Ein Streifzug durch die Jahrhunderte.
Short teaser War die Mona Lisa ein Mann und Leonardo da Vincis Liebhaber? Queersein ist beileibe kein Phänomen der Neuzeit.
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Man schrieb das Jahr 1476, als der junge Leonardo da Vinci (1452-1519) ins Visier der Florentiner Sittenbehörde geriet. Jemand hatte ihn anonym beschuldigt, Unzucht mit einem 17-jährigen Prostituierten getrieben zu haben. Aus Mangel an Beweisen ließ man die Anklage fallen.

Dass Leonardo Männer liebte, sei allerdings durch zeitgenössische Quellen belegt, sagt der Literaturhistoriker Dino Heicker, Autor des Buches "Weltgeschichte der Queerness". Besonders angetan hatte es ihm sein 28 Jahre jüngerer Lehrling Gian Giacomo Caprotti, bekannt als "Salaj" (auf Deutsch: Teufelchen), mit dem er viele Jahr lang unter einem Dach lebte.

Vor einigen Jahren meinten italienische Kunsthistoriker, den Beweis dafür gefunden zu haben, dass die weltberühmte Mona Lisa nicht Lisa del Giocondo, die Frau eines Florentiner Kaufmanns, darstellt, sondern eben jenen Caprotti. Er stand da Vinci mehrfach Modell und die Ähnlichkeit sei unverkennbar, so die Forscher. Außerdem könne man in den Augen der Mona Lisa die Buchstaben L und S (für Leonardo und Salaj) erkennen, und die Koseworte "mon salaj" (mein Salaj) ließen sich als Anagramm von "Mona Lisa" lesen.

Im Museum Louvre, wo das weltberühmte Gemälde hängt, hält man nicht viel von der Theorie. Ob sie stimmt? Dieses Geheimnis haben da Vinci und sein Gefährte mit ins Grab genommen.

Fakt ist jedoch, wie Leonardos erster Biograf Giorgio Vasari 1550 schrieb, dass der Maler an dem schönen Knaben ein "absonderliches Vergnügen fand". Absonderlich - eine Umschreibung dafür, dass da Vinci homosexuell war.

Die biblische Stadt Sodom als Sündenpfuhl

"Wenn eine Mehrheit definiert, was normal und anormal ist, und ein binäres Geschlechtermodell zur Norm erklärt, dann hat es die Minderheit, die anders empfindet, schwer", so Dino Heicker gegenüber der DW.

In seinem Buch berichtet er von zum Teil drakonischen Strafen, die homosexuelle, nichtbinäre oder Transgender-Menschen erwarteten, die sich "widernatürlichen" Praktiken hingaben. Sie wurden in Ketten gelegt, gesteinigt, kastriert oder endeten auf dem Scheiterhaufen. Legitimiert fühlte man sich durch die Bibel, der zufolge Gott die Städte Sodom und Gomorrha wegen ihrer Sündhaftigkeit auslöschte; der Begriff Sodomie wurde lange Zeit als Synonym für Homosexualität verwendet.

Diese Geschichte "lieferte die Blaupause für eine jahrhundertlange Stigmatisierung andersartiger Menschen", so Heicker. 1512 ließ der spanische Konquistador Vasco Núñez de Balboa in Amerika Indigene von seinen Hunden zerfleischen, weil sie "die entsetzliche Sünde der Sodomie" begangen hatten.

Spielarten der Liebe in der Antike

Andererseits gab es auch Gesellschaften, in denen jegliche Form der Queerness allgemein akzeptiert wurde. So war es in der Antike unter Männern üblich, (neben der Gattin) einen Lustknaben an seiner Seite zu haben. Der römische Kaiser Hadrian war über den Tod seines geliebten Antinoos so untröstlich, dass er ihn posthum zum Gott erklären und zahlreiche Statuen und Kultstätte zu Ehren des schönes Jünglings anfertigen ließ.

Auf der Insel Kreta ließ sich der Gesetzgeber zur Geburtenkotrolle etwas ganz Besonderes einfallen, berichtet der griechische Philosoph Aristoteles (384-322 v. Chr.): die "Knabenliebe". Ältere Männer nahmen einen Jüngling in ihr Haus, um ihn auszubilden. "Von dem jüngeren Mann wurden dann sexuelle Gefälligkeiten erwartet, was gesellschaftlich aber nicht abschätzig angesehen wurde", erklärt Dino Heicker.

Auch die Frauenliebe war damals schon bekannt. Auf der Insel Lesbos huldigte die Dichterin Sappho in ihren Versen der Schönheit des weiblichen Geschlechts. Vorbilder für die Spielarten der Liebe fand man in der Götterwelt. Allen voran in Göttervater Zeus, dem Inbegriff der Queerness schlechthin - auch wenn es diesen Begriff damals noch nicht gab. Er verwandelte sich in Frauen, Tiere und sogar eine Wolke, um sich mit dem Objekt seiner Begierde zu verlustieren.

Es sprach in der Antike also nichts dagegen, als Mann mit anderen Männern oder Knaben zu schlafen, "solange man die aktive Rolle innehatte", erklärt Dino Heicker. "Der Penetrierte, also der Unterlegene, galt als verweichlicht und war gesellschaftlich unten durch." Im Römischen Reich habe man dem politischen Gegner gerne unterstellt, sexuell passiv zu sein, denn "damit konnte man auch ganz konkret an seiner Ehre kratzen".

Die Kirche sah darin ein "Verbrechen gegen die Natur"

Mit der Ausbreitung des Christentums war Schluss mit der Nachsicht gegenüber gleichgeschlechtlicher Liebe. Der Bischof und Benediktinermönch, Petrus Damiani (1006-1072), einer der einflussreichsten Geistlichen des 11. Jahrhunderts, wetterte gegen die Unzucht - auch in den Klöstern; das "widernatürliche Laster verbreite sich wie ein Krebsgeschwür unter den Geistlichen und wüte wie ein blutrünstiges Tier in der Herde Christi". Sodomie, so war er überzeugt, entstehe durch teuflische Einflüsterungen.

Bei den Samurai-Kriegern in Japanund am chinesischen Kaiserhof, war man in puncto Homosexualität wesentlich entspannter, Männerliebe war verbreitet. 1549 notierte der Jesuitenpater Francisco de Xavier: "Die buddhistischen Priester begehen ständig Verbrechen gegen die Natur und streiten es nicht einmal ab, sondern geben es freimütig zu."

Das queere Who is Who

In späteren Jahrhunderten und in der Neuzeit gab es immer wieder berühmte queere Persönlichkeiten – auch unter gekrönten Häuptern.

Heickers Buch gleicht einer Liste des queeren Who is Who. Ob der russische Komponist Peter Iljitsch Tschaikowsky (1840-1893), der irische Schriftsteller Oscar Wilde (1854-1900), der US-amerikanische schwarze Dramatiker James Baldwin (1924-1987) oder Eleanor Butler und Sarah Ponsonby, die sich um 1780 in ein einsames Tal in Wales zurückzogen und als Ladies von Llangollen misstrauisch beäugt wurden: Sie alle versuchten, nach ihrer Façon glücklich zu werden.

Die Tagebücher der Anne Lister alias "Gentleman Jack"

Die englische Gutsherrin Anne Lister (1791-1840) hat ein Tagebuch hinterlassen, das 2011 in die Liste des UNESCO-Weltdokumentenerbes aufgenommen wurde. "Es sind 26 Bände, in denen sie ausführlich über lesbischen Sex und ihre Beziehung zu Frauen schreibt", erzählt Heicker. Lister hatte extra einen eigenen Geheimcode entwickelt, damit kein Unbefugter ihre Bekenntnisse lesen konnte. Erst 1930 wurde er entschlüsselt. In ihrem Dorf titulierte man sie oft als "Gentleman Jack", ließ sie aber weitgehend unbehelligt. Listers Niederschrift hat die Richtung britischer Genderstudien und Frauengeschichten maßgeblich geprägt.

Das dritte Geschlecht

Ob die Mahus auf Tahiti, die Muxes vom Volk der Zapoteken in Mexiko, die Hijras in Indien oder die nordamerikanischen Lhamanas bei den Zuñi: Sie alle fühlen sich seit Jahrtausenden weder als Mann noch als Frau, sondern dem dritten Geschlecht zugehörig. "Da gab es eine viel größere Vielfalt, als die Verengung auf das Zwei-Geschlechter-Modell heute noch möglich erscheinen lässt", sagt Heicker. "Die Zuñi zum Beispiel gehen nicht davon aus, ein Geschlecht sei angeboren, vielmehr sahen sie es als soziale Formung an."

In Deutschland nennt man dieses dritte Geschlecht heute "divers". "Ich denke, queere Menschen haben sich gerade in der Bundesrepublik eine unglaubliche Menge an Freiräumen erkämpft. Da konnten frühere Generationen nur von träumen", sagt Heicker. "1994 wurde der Paragraph 175 (er stellte sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe. Anm. d. Red.) endlich aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, es gibt die Ehe für alle und sexuelle Diskriminierung kann angezeigt werden. Andererseits und jetzt kommt das große Aber: Das Erreichte muss natürlich auch geschützt werden, denn es gibt ja durchaus Versuche, die Uhr zurückzudrehen."

In der Tat greift die Hasskriminalität gegen queere Menschen um sich. "Es kommt immer häufiger vor, dass man beschimpft oder sogar bespuckt wird," sagte Uwe Weiler, Geschäftsführer von Cologne Pride kürzlich dem Kölner Stadtanzeiger. "Die Hemmschwelle ist gesunken."

In Deutschland werden solche Übergriffe geahndet, anderswo sieht das anders aus. "Man braucht ja nur nach Russland schauen, wo Händchenhalten als Propaganda verboten wird. Und jetzt jüngst auch in die Vereinigten Staaten unter Präsident Trump (Er hat nach seinem Amtsantritt gesagt, es gebe nur zwei Geschlechter: Mann und Frau, Anm. d. Red.)", sagt Heicker. "Also weltweit ist das natürlich wieder ein Rückschritt. Man sollte sich nie zu sicher sein, dass die Errungenschaften, die man erkämpft hat, auf alle Zeiten bestehen bleiben."

Dino Heicker: Weltgeschichte der Queerness. BeBra Verlag, 2025

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Image caption Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen "Johannes dem Täufer" und der Mona Lisa ist nicht zu leugnen. Stand hier ein und dieselbe Person Modell ?
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Item 49
Id 73212699
Date 2025-07-10
Title Piratenschatz: Löst gefundenes Wrack das Rätsel von La Buse?
Short title Piratenschatz: Löst gefundenes Wrack das Rätsel von La Buse?
Teaser Seit 300 Jahren suchen Schatzjäger vergeblich nach dem Schatz des Piraten La Buse. Nun wurde immerhin das von ihm gekaperte Schiff "Nossa Senhor do Cabo" vor Madagaskar identifiziert. Doch der Schatz bleibt verschollen.
Short teaser Forscher haben das Wrack der "Nossa Senhora do Cabo" vor Madagaskar identifiziert. Doch der Schatz bleibt verschollen.
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Magst du Piratengeschichten, bist abenteuerlustig und kannst gut Rätsel lösen? Dann warten unfassbare Reichtümer im Indischen Ozean auf dich! Denn der sagenumwobene Schatz des berüchtigten Seeräubers La Buse ist noch immer verschollen. Vielleicht kannst du sein geheimes Kryptogramm entziffern?

Einfach wird das nicht: Forschende und Schatzjäger suchen bereits seit 300 Jahren vergeblich. Jetzt haben sie aber offenbar das Wrack der "Nossa Senhora do Cabo" (Unsere Liebe Frau vom Kap) identifiziert. La Buse (Der Bussard) hatte das vollbeladenen Schiff 1721 vor der Insel Réunion gekapert und ausgeraubt. Ein wichtiges Teil des großen Puzzles ist gefunden.

Ein Goldschatz auf dem Präsentierteller

Das portugiesische Schiff war 1721 auf dem Weg nach Lissabon - voll beladen mit Schätzen aus Goa und den portugiesischen Kolonien an der Westküste Indiens . Unterwegs geriet das mehr als 700 Tonnen schwere Kriegsschiff in einen Sturm und wurde schwer beschädigt. Um nicht zu kentern, warf die Crew einen Teil der Kanonen über Bord und wurde so zur leichten Beute für den Piraten Olivier Levasseur, wie La Buse mit bürgerlichem Namen hieß.

Riesige Mengen an Gold, Silber, Perlen, Diamanten und andere Kostbarkeiten wie edelste Stoffe und Gewürze sollen sich auf dem Schiff befunden haben. Dass so viele Schätze an Bord waren, lag wohl auch an den mitreisenden Würdenträgern, Portugals Vizekönig Luís Carlos Inácio Xavier de Meneses und dem Erzbischof von Goa, Sebastião de Andrade Pessanha. Sie wurden als Geiseln genommen und zumindest der Vizekönig kam später gegen Lösegeld wieder frei. Die ebenfalls an Bord befindlichen rund 200 Sklaven aus Mosambik und die Besatzung wurde mutmaßlich auf der Insel la Reunion freigelassen.

Unterschlupf im Piratennest Île Sainte-Marie

Die Piraten verschwanden mit der prachtvollen Beute Richtung Madagaskar. Wahrscheinlich versteckten sie sich vor der Ostküste auf der kleinen Insel Nosy Boraha, die damals noch Île Sainte-Marie hieß.

Die etwa 60 Kilometer lange und fünf Kilometer breite Insel mit ihrem natürlichen Hafen war ein ideales Versteck für Piraten - nah genug an der beliebten Handelsroute zwischen Europa und Asien und weit genug entfernt von den kolonialen Kontrollen. Und genau hier glauben die Forschenden das Wrack der "Nossa Senhora do Cabo" gefunden zu haben, verborgen unter Schlick und Sand.

Langjährige Identifizierung des Wracks

16 Jahre brauchten die Wissenschaftler Brandon Clifford und Mark Agostini vom Center for Historic Shipwreck Preservation in Massachusetts, um das Wrack zu identifizieren. Sie analysierten die Schiffskonstruktion und verglichen sie mit den gefundenen Wrackteilen. Und sie glichen die historischen Aufzeichnungen mit den gefundenen Artefakten ab.

Einen Eindruck von der mühsamen Arbeit geben Cliffords Social Media Kanäle, hier von der Erkundung des Sklavenschiffs "Whydah Gally", das 1717 von Piraten gekapert wurde.

Insgesamt haben die Forschenden rund 3300 Artefakte vom Grund des Meeres gehoben, darunter Goldmünzen und wertvolles Porzellan, aber auch sakrale Objekte aus Elfenbein und Holz wie eine Marien-Figur und ein Kruzifix.

Für Archäologen und Forschende soll die Pirateninsel Île Sainte-Marie eine wahre Fundgrube sein. Laut dem Team um Brandon Clifford sollen nahe der Insel sieben bis zehn Wracks zu finden sein, die Schatzsuche wird also sicherlich weitergehen.

Suche nach dem verschollenen Schatz

Der eigentliche Schatz von La Buse aber bleibt das größte Geheimnis. Bekannt ist, dass der Pirat von der Île Sainte-Marie Richtung Seychellen segelte, wo er sich rund acht Jahre lang versteckte. Ein Amnestieangebot schlug er aus, weil er den Schatz nicht zurückgeben wollte. Schließlich wurde er erkannt, an die Franzosen ausgeliefert und in Ketten auf die Insel Bourbon, dem heutigen La Réunion gebracht.

Kurz vor seiner Hinrichtung soll La Buse seinen Bewachern gesagt haben: "Mit dem, was ich hier versteckt habe, könnte ich diese ganze Insel kaufen." Der Legende nach soll der Pirat auf dem Schafott einen Zettel mit einem Kryptogramm in die Menge geworfen haben mit dem Satz: "Mein Schatz demjenigen, der dies versteht!"

Wie so oft bei Piratengeschichten ranken sich viele Legenden um die tatsächlichen Ereignisse. Fest steht nur, dass Schatzsucher und Abenteurer seit 300 Jahren vergeblich nach dem sagenumwobenen Millionenschatz suchen.

Ein Wegweiser, den keiner versteht

Ob das Kryptogramm tatsächlich von La Buse stammt, ist ebenfalls ungewiss. Zwar wurde es inzwischen mehr oder weniger entschlüsselt, aber den rätselhaften Inhalt konnte trotzdem bislang niemand richtig deuten. Beschreibt der Text eine Art Sternenkompass? Werden markante Landmarken beschrieben? Das Rätselraten geht weiter.

Und so bleibt der Schatz von La Buse bis heute verschollen - irgendwo zwischen den Seychellen, La Réunion, Mauritius, Mayotte, Rodrigues und Sainte-Marie. Bis er gefunden wird, lebt der Mythos von Pirat La Buse weiter.

Item URL https://www.dw.com/de/piratenschatz-löst-gefundenes-wrack-das-rätsel-von-la-buse/a-73212699?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Bis heute faszinieren uns die Piratengeschichten aus dem 18. Jahrhundert, vor allem, wenn es um verschollene Schätze geht
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Item 50
Id 73106575
Date 2025-07-10
Title Eliten in der Wirtschaft: Herkunft schlägt Leistung
Short title Eliten in der Wirtschaft: Herkunft schlägt Leistung
Teaser Deutschland versteht sich als Leistungsgesellschaft. Wer hart arbeitet, kann es ganz nach oben schaffen. Aber stimmt das wirklich? Wer sitzt in den deutschen Chefetagen und wie kommt man dahin?
Short teaser Wer in Deutschland hart arbeitet, schafft den Aufstieg. Stimmt das? Welche Rolle spielen Leistung und soziale Herkunft?
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Populisten wie Donald Trump versprechen immer wieder, die Bevölkerung vor den Eliten zu schützen. Aber gibt es sie tatsächlich? Diese Eliten, die die Fäden in der Hand halten? Und welche Faktoren entscheiden darüber, wer in den Führungsetagen der Unternehmen das Sagen hat - die Leistung vielleicht oder sind doch andere Faktoren relevant, wie die soziale Herkunft?

Der Soziologe Michael Hartmann hat sich die letzten 150 Jahre in Deutschland angeschaut und unter anderem untersucht, wer auf den Chefsesseln der Unternehmen sitzt.

Das Ergebnis habe ihn selbst überrascht, sagt der emeritierte Professor der Technischen Universität Darmstadt. "Bis heute rekrutiert sich die Wirtschaftselite zu über vier Fünfteln aus den oberen drei bis vier Prozent der Bevölkerung."

Zwar habe es zwischen 1907 und 1927 einen leichten Wandel gegeben, meint Hartmann. Es hätten also aus den unteren 96 Prozent der Bevölkerung etwas mehr Menschen den sozialen Aufstieg geschafft, "in den knapp 100 folgenden Jahren aber stieg der Anteil der sozialen Aufsteiger dann gerade noch um knapp zweieinhalb Prozentpunkte."

Frauenquote: Mehr Frauen, aber die "richtigen"

Dabei gibt es seit Jahren Diversity-Programme in Unternehmen, die die Vielfalt fördern sollen. Zwei Drittel der Unternehmen mit mindestens 500 Beschäftigten haben Diversitätsziele verankert, ein knappes weiteres Drittel diskutiert oder plant es konkret, so eine Umfrage, die Bitkom in diesem Jahr gemacht hat.

Wenn es um die einflussreichen Führungspositionen in den Unternehmen geht, bleibt die Elite aber weiterhin gerne unter sich. Allerdings seien in den letzten Jahren mehr Frauen in die Chefetagen vorgedrungen, so Hartmann. Das sei vor allem der Frauenquote zu verdanken.

Die Allbright Stiftung kritisiert allerdings, dass das Verhältnis von Frauen zu Männern immer noch nicht ausgewogen sei. "Insbesondere die Personalauswahl für die obersten Managementebenen, bei der Aufsichtsratsvorsitz und Vorstandsvorsitz die zentrale Rolle spielen, liegt fast ausschließlich in männlicher Hand. Generell gilt: Je höher die Position, desto weniger Frauen sind vertreten."

Vor allem seien Frauen, die solche Positionen erklimmen, sozial noch exklusiver als die Männer, sagt Hartmann gegenüber der DW. Ähnlich sehe das bei Personen mit Migrationshintergrund aus. "Meine Annahme ist, dass wenn man schon ein 'Handicap' hat, wie etwa Geschlecht oder Migrationshintergrund, dann muss die soziale Herkunft umso mehr stimmen", meint Hartmann. "Ein zweites 'Handicap' kann man sich nicht erlauben."

Soziale Herkunft wichtiger als Leistung?

Das für Top-Positionen gerne Bewerber aus "dem richtigen Stall" genommen werden, bedeutet dabei nicht, dass diese weniger Leistung vorweisen müssen. Aber bei der Bildung fängt die Diskriminierung bereits an. Akademikerkinder haben es deutlich leichter und werden mehr gefördert als Arbeiterkinder. So fangen Kinder aus Akademikerfamilien zu etwa 80 Prozent ein Studium an, bei Kindern von Nicht-Akademikern sind es nur rund ein Viertel, wie eine Studie der Personalberatung PageGroup ergab. Ohne Studium aber sei es aber kaum möglich, die Top-Positionen der Wirtschaft zu erklimmen, so Hartmann.

Haben die Sprösslinge der Elite dann dieselbe schulische Leistung erbracht, ist ihr beruflicher Karriereweg schneller und einfacher. Hartmann hat verschiedene Jahrgänge von Menschen mit Promotion analysiert. Sein Ergebnis: Managerkinder mit Promotion hätten eine 17mal höhere Chance gehabt, in den Vorstand eines der 400 größten Unternehmen zu gelangen, als Arbeiterkinder mit einer gleichwertigen Promotion.

Am Ende entscheiden also andere Kriterien, wenn es um die höchsten Positionen in der Wirtschaft geht. Wie jemand spricht, wie er auftritt oder welche Hobbies er hat, kann dann ausschlaggebend sein. "Man umgibt sich gerne mit Leuten, mit denen man ähnliche Interessen hat, die ähnlich ticken, die so reden wie man selbst...", sagt Hartmann. Das tun auch die Unternehmenslenker, die über ihresgleichen entscheiden.

Arbeiterkinder verdrängen Mittelschicht

Etwas positiv haben sich in den letzten Jahrzehnten aber die Chancen der Arbeiterkinder entwickelt, wie Hartmann beobachten konnte. Ihr Anteil sei von sehr niedrigem Niveau spürbar gestiegen, so der Soziologe. Allerdings auf Kosten der Kinder der Mittelschichten.

"Also ganz platt gesagt: Ein Arbeiterkind, das hohe Bildungstitel erreicht hat und damit auch für Spitzenpositionen in der Wirtschaft in Frage kam, hat beispielsweise ein Lehrerkind verdrängt". Alles in allem ist der Anteil der Kinder von Eliten in den Führungspositionen gleich geblieben.

Soziale Undurchlässigkeit hat Folgen

Für das Wirtschaftswachstum hat es Folgen, wenn die soziale Herkunft die berufliche Karriere bestimmt. Ein Mangel an sozialer Mobilität der deutschen Wirtschaft führt zu einem jährlichen Verlust von etwa 25 Milliarden Euro an BIP-Wachstum, heißt es bei der Personalberatung PageGroup.

In den EU27-Ländern könnte das BIP um neun Prozent beziehungsweise 1,3 Billionen Euro steigen, wenn die soziale Mobilität verbessert werde, das ergab eine Studie der Unternehmensberatung McKinsey.

Mittel, um soziale Mobilität zu fördern: Quoten

Dabei gibt es immer wieder auch Erfolgsgeschichten von sozialem Aufstieg aus den Unternehmensspitzen. Gerne in den Medien erwähnt wird in diesem Zusammenhang beispielsweise der ehemalige Siemens-Chef Joe Kaeser, Kind eines Fabrikarbeiters. Solche Ausnahmen gebe es immer wieder, sagt Hartmann. "Die werden medial so häufig präsentiert, dass man glaubt, das sind viele."

Aber wie kann es gelingen, dass solche Ausnahmen zur Regel werden? Hartmann glaubt, dass sei nur über eine gesetzliche Quote möglich. Solche Quoten seien zwar sehr unbeliebt, "aber nach meiner Erfahrung wird es nicht anders funktionieren", so der Soziologe.

Item URL https://www.dw.com/de/eliten-in-der-wirtschaft-herkunft-schlägt-leistung/a-73106575?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Rein statistisch werden es ihre Nachkommen wohl nicht in die obersten Chefetagen schaffen
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Item 51
Id 73218260
Date 2025-07-10
Title Neuer "Superman"-Film: Superheld vs. Trump
Short title Neuer "Superman"-Film: Superheld vs. Trump
Teaser James Gunn nennt seinen neuen "Superman"-Film politisch, weil der Held für die Schwachen weltweit kämpft und seine Migrationsgeschichte thematisiert wird. Rechte Kritiker sehen darin "Wokeness" und rufen zum Boykott auf.
Short teaser James Gunn nennt seinen "Superman"-Film politisch, weil es um Menschlichkeit geht. Rechte Kritiker wittern "Wokeness".
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Blutverschmiert, verletzt, allein in einer Eiswüste: So zeigt sich der Held in den ersten Szenen des neuen, mit Spannung erwarteten "Superman"-Films mit David Corenswet in der Hauptrolle.

"Wir sehen einen geschundenen Superman. Das ist unser Land", sagte Regisseur James Gunn bei einer Pressekonferenz nach Veröffentlichung des Trailers. Der angeschlagene Held stehe für ein Amerika, das angeschlagen, aber noch immer aufrecht ist und für das Gute kämpft.

Superman galt lange als Inbegriff des US-amerikanischen Superhelden: die Verkörperung von Wahrheit, Gerechtigkeit - und dem amerikanischen Traum. Doch Gunn geht mit seiner Neuinterpretation in eine andere Richtung.

In zahlreichen Blockbustern retten US-amerikanische Helden die Welt - anstelle dieses Ausnahmeanspruchs rückt in diesem Film eine universelle Moral in den Mittelpunkt. Superman ist kein nationaler Retter mehr, sondern ein Beschützer der Schwachen weltweit - selbst wenn ihm das Schwierigkeiten einbringt. "Ja, es geht um Politik", sagte Gunn der britischen Times. "Aber es geht auch um Menschlichkeit."

Dass ausgerechnet dies als Provokation empfunden wird, lässt den Regisseur kalt: "Natürlich gibt es überall Leute da draußen, die das nicht ertragen und sich beleidigt fühlen - nur weil es um Mitgefühl geht. Aber ehrlich gesagt: Sollen sie doch."

Konservative wittern "Wokeness"

Rechte Kommentatoren in den USA sind in heller Aufregung. Der Regisseur habe Superman "woke" gemacht, heißt es auf einschlägigen Kanälen.

Konservative Medien rufen zum Boykott des Films auf. Die Moderatorin Kellyanne Conway sagte in der Talkshow "The Five" auf Fox News: "Wir gehen nicht ins Kino, um belehrt zu werden oder eine Ideologie übergestülpt zu bekommen. Mal sehen, ob der Film überhaupt erfolgreich wird."

Dabei ist der Vorwurf, Superhelden seien zu politisch, nicht neu - nur ist er aktueller denn je.

Blockbuster-Superheldenfilme vermeiden es in der Regel zwar, sich offen politisch zu positionieren. Doch unter Fans kursiert eine weitverbreitete Theorie: Die Filmwelten der beiden größten nordamerikanischen Comicverlage - DC und Marvel - seien entlang der ideologischen Bruchlinien unserer Zeit politisch aufgeladen.

Das DC-Universum, zu dem unter anderem Superman und Batman gehören, wird dabei oft als konservativ und autoritär bezeichnet. Die Superhelden erscheinen dort als letzte Instanz der Ordnung - als verlängerter Arm des Gesetzes, der über den Menschen steht.

"Demokratische Mitbestimmung scheint in Batmans Welt überhaupt keine Rolle zu spielen", sagte der US-Filmkritiker A. O. Scott dazu im Podcast "X Man: The Elon Musk Origin Story".

Dem gegenüber steht das Marvel-Universum, mit Figuren wie Iron Man, Captain America, Ant-Man oder den Avengers. Diese werden - im selben Podcast - als "Team der Weltverbesserer" bezeichnet, die Ausdruck einer eher liberalen, Obama-nahen Weltsicht seien.

Superman-Regisseur James Gunn - ein ausgewiesener Trump-Kritiker

James Gunn gehörte als Autor und Regisseur der "Guardians of The Galaxy"-Reihe lange zur Marvel-Welt - und sorgte dort 2017 selbst für Schlagzeilen. In Tweets kritisierte er Donald Trump offen: "Ich habe mich nie politisch geäußert, aber wir stecken in einer nationalen Krise. Der Präsident greift Journalismus und Fakten an - im Stil von Hitler und Putin."

Konservative Plattformen gruben daraufhin alte, geschmacklose Tweets von Gunn aus. Daraufhin bekam der Disney-Konzern, zu dem Marvel gehört, Druck aus den sozialen Netzwerken, er solle sich von Gunn trennen.

Gunn wurde zunächst vom dritten "Guardians of the Galaxy"-Film ausgeschlossen, kehrte jedoch nach einer öffentlichen Entschuldigung und Gesprächen mit den Disney-Verantwortlichen wieder zurück. Kurz darauf wechselte er jedoch endgültig die Seiten: 2022 wurde er Co-Vorsitzender der DC Studios. Unter seiner kreativen Leitung wurde das DC-Universum 2024 neu gestartet - mit einer ganzen Reihe von Filmen, darunter auch der neue "Superman".

Superman als Held mit Migrationsgeschichte

Supermans Geschichte stammt von den jüdischstämmigen US-Amerikanern Jerry Siegel und Joe Shuster, beides Söhne osteuropäischer Einwanderer.

Sie erschufen ihren Superhelden in den 1930er-Jahren als Reaktion auf den Aufstieg Hitlers und den wachsenden Antisemitismus in Europa - und machten ihn von Anfang an zu einem Verteidiger der Schwachen.

Kal-El, wie Superman auf seinem Heimatplaneten Krypton heißt, wird als Baby zur Erde geschickt, bevor seine Welt zerstört wird. Auf der Erde nimmt ihn ein amerikanisches Paar auf und gibt ihn als ihr eigenes Kind aus.

Superman ist also, strenggenommen, ein "undokumentierter Fremder", im US-Amerikanischen "undocumented alien". Ein Begriff, der im politischen Sprachgebrauch abwertend verwendet wird - hier aber als Teil einer Migrationsbiografie sichtbar wird.

Strengere Migrationspolitik in den USA

Diese Lesart wird seit Jahren betont. 2018 veröffentlichte das UN-Flüchtlingshilfswerk ein Buch mit dem Titel "Superman war auch ein Flüchtling". Schon 2017 schützte Superman in einer Comic-Ausgabe eine Gruppe Migranten vor einem bewaffneten weißen Rassisten - kurz nachdem Donald Trump angekündigt hatte, DACA, ein Schutzprogramm für junge Migranten, zu beenden.

Das DACA-Programm ermöglichte Hunderttausenden von Migranten, die als Kinder in die USA gebracht wurden, ein Leben und Arbeiten ohne Angst vor Abschiebung.

Der Begriff "Alien" für "Ausländer" oder "Fremder", den die US-Regierung unter Joe Biden offiziell abgeschafft hatte, wurde Anfang 2025 unter der aktuellen Trump-Regierung wieder eingeführt.

Gleichzeitig verschärft die Regierung ihre Maßnahmen gegen Migration erneut - was die Sorgen um den Zustand der US-Demokratie und ihrer Gesellschaftverschärft.

Adaption aus dem Englischen: Silke Wünsch

Item URL https://www.dw.com/de/neuer-superman-film-superheld-vs-trump/a-73218260?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Der Held im Cape: Superman
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Item 52
Id 73162324
Date 2025-07-10
Title Versteckte Hitze-Gefahren belasten Gesundheit und Wirtschaft
Short title Versteckte Hitze-Gefahren belasten Gesundheit und Wirtschaft
Teaser Hitzewellen sind tödlich. Die Opferzahlen steigen mit zunehmender Intensität und Häufigkeit. Krankenhäuser sind überlastet, die Wirtschaft klagt über verlorene Arbeitsstunden. Welche Lösungen gibt es?
Short teaser Hitzewellen sind tödlich. Krankenhäuser sind überlastet, die Wirtschaft klagt. Welche Lösungen gibt es?
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In einem Land wie Indien mit 1,4 Milliarden Einwohnern, in dem mindestens die Hälfte der Erwerbstätigen im Freien arbeitet und nur zehn Prozent der Bevölkerung eine Klimaanlage zu Hause haben, ist Hitze mehr als nur ein Ärgernis: Die hohen Temperaturen bedrohen Wirtschaft, Existenzgrundlagen und Gesundheit.

"Hitzewellen nehmen in Indien zu, breiten sich in neuen Regionen aus und treten früher auf als erwartet", so Purnamita Dasgupta, Professorin für Umweltökonomie an der Universität Delhi, im DW-Interview.

Bei solchen Hitzewellen können die Temperaturen 50 Grad Celsius überschreiten. Sobald die Temperaturen steigen, fällt die Produktivität. Allein in 2023 gingen in Indien 182 Milliarden potentielle Arbeitsstunden aufgrund von extremer Hitze verloren, das ergaben Berechnungen in der medizinischen Fachzeitschrift "Lancet".Bis 2030 könnten 34 Millionen Vollzeitstellen verloren gehen.

Arbeit in der Landwirtschaft sowie dem Bausektor sind am härtesten betroffen. Doch Risiken gibt es nicht nur bei Jobs, die im Freien ausgeführt werden. In schlecht belüfteten Wohnungen in dicht besiedelten Gebieten bleibt es auch nachts brütend warm, das macht es den Bewohnern schwer, sich von den hohen Temperaturen des Tages zu erholen.

Einige Regierungen haben dies verstanden . In Indien sind manche lokale Behörden dazu übergegangen, Arbeitgeber dazu zu verpflichten, bei Hitze für genügend Schatten, Pausen und Wasser zu sorgen. Einige Arbeitgeber unternehmen selber etwas, um die verlorene Produktivität ihrer Mitarbeiter wiederherzustellen.

"Die Realität ist jedoch, dass die Produktivität in den meisten Fällen abnimmt", so Dasgupta. Wenn das Thermometer auf 35 Grad Celsius klettert, verliert ein Arbeitnehmer, "der mit mäßiger Arbeitsintensität arbeitet etwa die Hälfte seiner Arbeitskraft." Hochgerechnet auf die gesamte Volkswirtschaft wird dies zu einer massiven wirtschaftlichen Belastung.

Die globalen Folgen der Hitze für das Wachstum

Im Jahr 2021 verursachte Hitze laut der Interessengruppe Climate Transparency in Sektoren wie dem verarbeitenden Gewerbe, der Landwirtschaft, dem Dienstleistungssektor und dem Baugewerbe Einkommensverluste von rund 159 Milliarden US-Dollar – das entspricht 5,4 Prozent des indischen Bruttoinlandsproduktes (BIP). Für Länder wie Thailand, Kambodscha und Pakistan werden bis 2030 ähnliche Verluste prognostiziert.

Diese Verluste sind besonders bedrohlich für Entwicklungsländer mit ehrgeizigen Wachstumszielen - wie etwa Indien, das sich als Ziel gesetzt hat, bis 2047 zur Industrienation aufzusteigen.

Doch Hitze ist längst ein globales Problem. Hitzebedingte wirtschaftliche Verluste kosten die USA pro Jahr bereits rund 100 Milliarden US-Dollar. Laut der US-Denkfabrik Atlantic Council wird diese Zahl innerhalb von 25 Jahren voraussichtlich auf 500 Milliarden US-Dollar jährlich ansteigen.

In Europa haben Hitzewellen das BIP bereits um 0,3 bis 0,5 Prozent pro Jahr verringert. Das mag nicht nach viel klingen, aber wenn die Anpassungsbemühungen an die Hitze hinterherhinken, könnten sich die Verluste bis 2060 verfünffachen.

Hitze und Gesundheit: Ein stiller Notfall

Hitze schadet nicht nur der Wirtschaft – menschliche Leben stehen auf dem Spiel. Ein einziger Tag extremer Hitze führt in Indien geschätzt zu 3.400 zusätzlichen Todesfällen. Dauert solche extreme Hitze fünf Tage an, diese Zahl laut Forschern der University of California im amerikanischen Berkeley auf rund 30.000.

Europa ist der Kontinent, der sich am schnellsten erwärmt. Allein im Sommer 2022 führten kam es dort wegen der hohen Temperaturen zu 61.000 zusätzlichen Todesfällen. Viele der Verstorbenen waren ältere Menschen.

"Wir alle denken an Hitzeerschöpfung und Hitzschlag – wie etwa jemand, der nachdem er lange gelaufen ist, an einem heißen Tag zusammenbricht – und das sind die offensichtlichen Fälle", sagte Dr. Sandy Robertson, Notfallmedizinerin in Großbritannien im DW-Interview. "Aber tatsächlich treten die meisten Erkrankungen erst einige Tage später auf."

Die indischen Arbeiter, die Dasgupta interviewte, schafften es oft nicht, wegen hitzebedingter Erkrankungen einen Arzt aufzusuchen, weil sie gar nicht erkennen, dass sie Hilfe brauchen.

Während Hitzewellen in Großbritannien hat Robertson einen Anstieg der Zahl von Schlaganfällen, Atemwegserkrankungen und Herzinfarkten beobachtet. Sogar Körperverletzungen treten vermehrt auf, weil Gewalt und Aggression mit steigenden Temperaturen tendenziell zunimmt. Längere Hitzeeinwirkung wird auch mit Nierenerkrankungen, psychischen Problemen und kognitiven Beeinträchtigungen in Verbindung gebracht.

Und auch das Gesundheitspersonal ist gegen die Hitze nicht immun. In vielen Krankenhäusern in Großbritannien gibt es keine Klimaanlagen. Wenn die Temperaturen auf den Stationen 26 Grad Celsius überschreiten, kommt es zu Überhitzungsereignissen, die die Sicherheit der Patienten gefährden, das Personal überlasten und zu Geräteausfällen führen – wie etwa bei Kühlschränken, in denen lebensrettende Medikamente gelagert werden.

"Wir haben schon erlebt, dass die IT-Systeme von Krankenhäusern komplett abgestürzt sind, weil sie überhitzt waren", sagte Robertson. "Wenn dann die Menschen in einer stark ausgelastete Abteilung mit Hitze und einem stressigen Tag kämpfen, wird es noch schwieriger und chaotischer, wenn die Systeme, auf die man sich bei der Patientenversorgung verlässt, ausfallen."

Einfache Schutzmaßnahmen können helfen, so Robertson. Sie empfiehlt zu überprüfen, ob etwa Medikamente die Hitzetoleranz des Körpers beeinflussen, nach älteren Nachbarn zu sehen und die Wohnung zu kühlen, indem man nachts lüftet und tagsüber die Jalousien schließt.

Städte so planen, um Folgen von Hitzewellen abzuschwächen

In Städten kommt es häufiger zu drückenden, gefährlichen Temperaturen, die Notaufnahmen überlasten. Materialien wie Asphalt, Beton und andere städtische Infrastruktur absorbieren und geben Wärme deutlich stärker ab als natürliche Flächen wie Wälder. In besonders dicht besiedelten Städten mit wenigen Grünflächen führt dieser städtische Wärmeinseleffekt dazu, dass die Tagestemperaturen um rund vier Grad höher steigen als in Randgebieten.

Klimaanlangen sind eine Möglichkeit, die tödlichen Auswirkungen von Hitze zu bekämpfen. Besonders für gefährdete Bevölkerungsgruppen wie ältere Menschen kann dies wichtig sein.

Wenn die Klimaanlage jedoch mit Strom aus fossilen Brennstoffen betrieben wird, trägt sie zu den Treibhausgasemissionen bei, die den Planeten erwärmen und Hitzewellen verschlimmern. Klimaanlagen verstärken zudem den Wärmeinseleffekt und erhöhen die nächtlichen Außentemperaturen um etwa ein Grad.

Stattdessen sind intelligente Städteplanungen mit viel Grünflächen und anderen einfachen Maßnahmen wichtig, sagt Nick Rajkovich, Architekt und außerordentlicher Professor an der University of Buffalo.

Im spanischen Sevilla spenden enge Straßen Schatten und halten die Temperaturen niedrig. In Los Angeles wurden Straßen weiß gestrichen, um Hitze zu reflektieren. Im chinesischen Xiamen senkten Gründächer die Temperaturen um fast ein Grad Celsius. "Früher haben wir Bäume entlang der Straßen gepflanzt, weil sie die Pferde beim Ziehen der Wagen kühl hielten", so Rajkovich.

Hilfreich kann auch ein Umdenken in der Gebäudeplanung sein, ähnlich wie bei der Stadtplanung. Und ein Blick in die Vergangenheit: "Insbesondere vor der Einführung von Klimaanlagen setzten wir viel stärker auf natürliche Belüftung von Gebäuden", sagte Rajkovich.

Im trockenen Südwesten der USA entwickelten die indigenen Pueblo-Kulturen einen Bauweise mit dicken Lehmwänden. Die Mischung aus Schlamm oder Lehm, Sand und Stroh leiten die Hitze des Tages und die Kälte der Nacht jeweils stark verzögert an die Innenräume weiter. Darum sind die Häuser in der Tageshitze kühl und nachts angenehm temperiert. Die Flachdächer der Gebäude sammeln zudem Regenwasser.

In Burkina Faso sorgen Doppeldächer, die durch einen mit Luft gefüllten Hohlraum getrennt sind, für den Wärmeabfluss und spenden Gebäuden Schatten. "Das sind alles Strategien, mit denen wir die Gebäudekühlung deutlich effizienter gestalten können", so Rajkovich.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert von Sarah Steffen.
Mitarbeit: Charli Shield

Item URL https://www.dw.com/de/versteckte-hitze-gefahren-belasten-gesundheit-und-wirtschaft/a-73162324?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Menschen, die draußen arbeiten müssen, leiden besonders unter den hohen Temperaturen – wie dieser Mann in Indien
Image source Satyajit Shaw/DW
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Item 53
Id 73213885
Date 2025-07-09
Title China-Faktor: Trumps Zollplan für Asien
Short title China-Faktor: Trumps Zollplan für Asien
Teaser Die jüngste US-Zollattacke zielt besonders auf asiatische Länder wie Japan, Südkorea und Indonesien. Experten zufolge steht dahinter die Strategie, deren Handel mit China zu reduzieren.
Short teaser Die jüngste Welle von Zöllen des US-Präsidenten zielt stark auf asiatische Länder ab. Ist China der Grund dafür?
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Der US-Präsident kündigte in dieser Woche neue Zölle gegen 14 Länder an, die meisten davon in Asien. Donald Trump zufolge werden die Zölle am 1. August in Kraft treten - er ließ aber die Tür für weitere Verhandlungen offen und sagte, die vorgeschlagenen Zölle seien "mehr oder weniger" endgültige Angebote. "Wenn sie anrufen und sagen, wir würden gerne etwas anders machen, sind wir dafür offen."

Welche Länder sind in Trumps Visier und warum?

Zu den Ländern, die Trump ins Visier genommen hat, gehören Japan, Südkorea, Kambodscha, Indonesien, Thailand, Malaysia, Laos und Myanmar. Analysten zufolge ist die Fokussierung auf asiatische Länder Teil der US-Strategie, den handels- und geopolitischen Konkurrenten China indirekt ins Visier zu nehmen.

China ist bei weitem der größte Handelspartner Japans, Südkoreas, Malaysias, Myanmars und Indonesiens und die größte Importquelle für Kambodscha und Thailand. Mit diesem Schritt will Trump offenbar Druck auf diese Länder ausüben, damit sie so schnell wie möglich Abkommen mit den USA abschließen.

Doch einige Beobachter weisen darauf hin, dass die Pläne, die Handelsbeziehungen der Länder mit China in die Abkommen einzubeziehen, nach hinten losgehen könnten.

"Die Verhandlungen könnten sich als problematisch erweisen, wenn die USA, wie einige Berichte andeuten, versuchen, andere Teile Asiens dazu zu bringen, China aus den regionalen Lieferketten auszuschließen", schrieb Gareth Leather, leitender Ökonom für Schwellenländer beim Londoner Anaylsehaus Capital Economics, in einem Kommentar.

Seit Trumps Zoll-Ankündigung am 2. April, dem so genannten "Tag der Befreiung", hat das Weiße Haus nur mit drei Ländern Zollvereinbarungen getroffen: mit dem Vereinigten Königreich, Vietnam und China.

Die Vereinbarung mit Vietnam deutet auf das Bestreben der Vereinigten Staaten hin, China ins Visier zu nehmen. Die USA haben zugestimmt, die Zölle gegenüber Vietnam auf 20 Prozent zu senken, sehen aber einen Zoll von 40 Prozent auf sogenannte Transshipment-Waren vor, bei dem China Waren über Zwischenhändler wie Vietnam an Drittländer verkauft.

Was genau ist "Transshipment"?

Unter Transshipment versteht man den Versand von Waren zu einem Zwischenziel und dann zu einem anderen Endziel. Dies ist oft ein normaler Bestandteil des globalen Handels, kann aber auch eine Methode sein, um den Herkunftsort eines Produkts zu verschleiern.

Anfang dieser Woche veröffentlichte die Financial Times einen Bericht, wonach chinesische Unternehmen vermehrt Waren über südostasiatische Länder in die USA verschicken, um so die neuen US-Zölle auf chinesische Waren zu umgehen.

Die Zeitung berief sich dabei auf Daten des US Census Bureau, aus denen hervorging, dass die chinesischen Exporte in die USA im Vergleich zum Vorjahr um 43 Prozent zurückgegangen waren, während die Gesamtexporte im selben Zeitraum um 4,8 Prozent zulegten. Das deutet darauf hin, dass die Volksrepublik ihre Waren in andere Teile der Welt umleitet.

Auf dem Höhepunkt des Zolldurcheinanders im April führte Trumps Team speziell Vietnam als Beispiel für das Transshipment-Problem an. Trumps Handelsberater Peter Navarro sagte in einem Interview mit Fox News, Vietnam sei "im Wesentlichen eine Kolonie des kommunistischen China". "Vietnam verkauft uns 15 Dollar für jeden Dollar, den wir ihnen verkaufen, und etwa fünf Dollar davon sind einfach chinesische Produkte, die nach Vietnam kommen. Sie klatschen ein 'Made in Vietnam'-Etikett drauf und schicken es hierhin, um die Zölle zu umgehen", sagte er.

Vietnam als Vorbild?

Die Tatsache, dass Vietnam nun eine Vereinbarung getroffen hat, ist ein Beispiel dafür, wie andere asiatische Länder einen Weg finden könnten, mit Trump zu verhandeln, bevor die Zölle am 1. August in Kraft treten. Gareth Leather ist jedoch skeptisch und verweist auf die Tatsache, dass diese Länder eine Beeinträchtigung der Beziehungen zu China befürchten könnten.

"Damit könnten andere Länder für Vergeltungsmaßnahmen Chinas in Betracht kommen. China ist nicht nur ein größerer Handelspartner als die USA, sondern auch eine wichtigere Quelle für Investitionen", schreibt er.

Laut Mark Williams, Chefökonom für Asien bei Capital Economics, hatte Vietnam bei den Verhandlungen mit den USA vergleichsweise "schlechte Karten", wenn man bedenkt, wie viele Waren Vietnam dorthin verkauft. Williams ist der Meinung, dass das US-Handelsabkommen mit Vietnam keine "Vorlage ist, an der sich andere Länder orientieren können".

"Stattdessen ist die wichtigste Lehre für andere Länder aus diesem und dem zuvor mit Großbritannien vereinbarten Abkommen, dass von ihnen erwartet wird, den Handel mit China einzuschränken", schrieb er in einer Notiz an Kunden.

Das im Juni geschlossene Abkommen zwischen den USA und dem Vereinigten Königreich sieht vor, dass Großbritannien strenge US-Sicherheitsanforderungen erfüllt. Dazu gehört beispielsweise die Überprüfung von Lieferketten und Besitzverhältnissen bei Unternehmen - ein Schritt, der sich offenbar gegen China richtet.

Geht es nur um China?

In den Briefen an die Staats- und Regierungschefs der von den Zöllen am 1. August betroffenen Länder, die Trump in den sozialen Medien veröffentlicht hat, bezeichnete der US-Präsident deren Handelsüberschüsse mit den USA als eine "große Bedrohung für unsere Wirtschaft und unsere nationale Sicherheit".

Da die Trump-Regierung bereits einen Waffenstillstand im Handelskonflikt mit China vereinbart hat, geht es bei den anhaltenden Spannungen mit anderen asiatischen Ländern aber nicht nur um Peking.

In den vergangenen Wochen hat Trump Japan kritisiert, es als "verwöhnt" bezeichnet und ihm vorgeworfen, nicht genug US-Waren, insbesondere Agrarprodukte, zu kaufen. Diese Fokussierung auf landwirtschaftliche Erzeugnisse erstreckt sich auch auf andere asiatische Partner, darunter Südkorea und Indien.

Während Gareth Leather davon ausgeht, dass die meisten Länder zu Zugeständnissen bereit wären, um Strafzölle zu vermeiden - zum Beispiel durch ein hartes Durchgreifen bei der Umleitung chinesischer Waren - sind andere Experten skeptischer.

Bill Reinsch, leitender Wirtschaftsberater am Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington, bezweifelt, dass bestimmte asiatische Länder Trump angesichts seiner Unberechenbarkeit genügend entgegenkommen werden. Sie hätten wahrscheinlich das Gefühl, dass "wenn wir bei etwas zustimmen, ihr (die USA, Anm. d. Red.) zwei Wochen später mit sektoralen Zöllen auf etwas anderes ankommen werdet".

Wenn man damit rechnen müsse, so Reinsch, dass die USA die Regeln wieder ändern, sei es schwer vorstellbar, dass Handelspartner solche Verpflichtungen eingehen.

Der Text wurde aus dem Englischen adaptiert

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Image caption Trumps Sprecherin Karoline Leavitt informiert am 7. Juli über die neuen US-Zölle gegen Südkorea und Japan
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Item 54
Id 73201273
Date 2025-07-08
Title Warum hat Donald Trump solche Angst vor den BRICS-Staaten?
Short title Warum hat Trump solche Angst vor BRICS?
Teaser Der US-Präsident hat den BRICS-Staaten, die die Vorherrschaft der USA herausfordern, höhere Zölle angedroht. Obwohl das von China forcierte Bündnis nur begrenzte Fortschritte macht, wollen Dutzende von Ländern beitreten.
Short teaser Der US-Präsident hat den BRICS-Staaten, die die Vorherrschaft der USA herausfordern, höhere Zölle angedroht.
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US-Präsident Donald Trump geht noch härter gegen die BRICS-Staaten vor, zu denen Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika gehören. Er warnt, dass deren Bestreben, die Dominanz des US-Dollars zu untergraben, die wirtschaftliche Vormachtstellung Amerikas bedroht.

Gerade als die Staats- und Regierungschefs der BRICS-Staaten zu ihrem jährlichen Gipfel in Rio de Janeiro zusammenkamen, bekräftigte Trump am Sonntag, jedes Land, das die "antiamerikanische Politik" der Gruppe unterstützt, mit zusätzlichen Zöllen in Höhe von zehn Prozent zu belegen und damit den Druck zusätzlich zu den bereits bestehenden und angedrohten Handelszöllen zu erhöhen.

Die 90-tägige Pause der Trump-Regierung in Bezug auf höhere Zölle läuft am Mittwoch aus, und US-Medienberichten zufolge wurden Dutzende von Ländern schriftlich über ihre neuen US-Einfuhrzölle informiert.

Während seine jüngste Drohung an die BRICS-Staaten eine Abkehr von seiner Drohung vom Januar darstellt, 100 Prozent Zölle auf Länder zu erheben, die "mit dem Dollar spielen", betont Trump nach wie vor, dass er den Status des Dollars als Weltreservewährung sichern will.

In den letzten zehn Jahren ist der BRICS-Block von vier auf elf Mitglieder angewachsen, wobei Saudi-Arabien als Mitglied aufgeführt ist, das aber noch nicht offiziell bestätigt hat. Das Bündnis hat darüberhinaus neun Partnerländer, während Dutzende von anderen Schlange stehen, um beizutreten.

Der Staatenverbund, der als Chinas Alternative zu den Industrienationen der G7 (Gruppe der Sieben) angepriesen wird, repräsentiert inzwischen ein Viertel der Weltwirtschaft und fast die Hälfte der Weltbevölkerung

"Trump hat Grund zur Sorge", sagte Alicia Garcia-Herrero, Senior Fellow bei der Brüsseler Denkfabrik Bruegel, gegenüber der DW. "Die BRICS sind ganz klar antiwestlich. Teil ihres Mantras ist es, die globale Ordnung zu verändern."

Abkehr vom Dollar, aber keine wirkliche Alternative

Die BRICS-Staaten setzen sich für die Interessen des Globalen Südens ein und verstärken ihre Bemühungen, die Abhängigkeit vom US-Dollar zu verringern, etwa durch Handel in lokalen Währungen.

Unter dem Druck westlicher Sanktionen und Zölle sind Russland und China Vorreiter bei der Entdollarisierung und wickeln Energiegeschäfte in Rubel und Yuan ab, während Indien seit 2023 russisches Öl in Yuan, Rubel und dem Dirham der Vereinigten Arabischen Emirate bezahlt.

Größere Ambitionen - wie eine goldgedeckte gemeinsame Währung, der so genannte "Unit" (dt. Einheit, d. Red.) - sind aufgrund interner Differenzen ins Stocken geraten. Indien, das sich vor der Dominanz des chinesischen Yuan fürchtet, lehnte den Plan ab. Auch Brasilien, Gastgeber des Gipfels 2025, gibt dem Handel mit lokalen Währungen den Vorzug vor einer Einheitswährung.

"Indien versucht zusammen mit Brasilien, die antiwestlichen Botschaften der BRICS auszugleichen. China dominiert das Bündnis und Russland spielt eine wichtige Rolle", so Garcia-Herrero, der auch Chefökonom für den Asien-Pazifik-Raum bei der französischen Investmentbank Natixis ist.

Von den rund 33 Billionen US-Dollar des globalen Handelsvoumens 2024 machte der Handel zwischen den BRICS-Staaten laut der BRICS-Website gerade einmal drei Prozent aus, also rund eine Billion US-Dollar.

"Der Großteil des Welthandels wird immer noch in Dollar und anderen traditionellen Währungen abgewickelt", erklärt der Ökonom Herbert Poenisch gegenüber der DW. "Es wird viel brauchen, um diese Vormachtstellung zu beenden".

Die US-Währung ist nach wie vor die Königswährung und wird immer noch für 90 Prozent der weltweiten Transaktionen verwendet, während 59 Prozent der gloablen Devisenreserven in US-Dollar angelegt sind.

Ökonomen zufolge liegt eine Entdollarisierung in weiter Ferne, weil China den Yuan durch Kapitalverkehrskontrollen stark reguliert, der russiche Rubel zu sehr schwankt und eine Reihe von BRICS-Mitgliedern nicht bereit ist, den Dollar aufzugeben.

BRICS wächst schnell, macht aber kaum Fortschritte

Mit dem jüngsten Beitritt von Ägypten, Äthiopien, dem Iran, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Indonesien und fast einem Dutzend weiterer neuer Partnerländer wie Algerien und Malaysia im Schlepptau sind die BRICS eindeutig auf einem schnellen Wachstumspfad.

Viele Länder fühlen sich aus pragmatischen Gründen zu den BRICS hingezogen, da sie eine multipolare Weltordnung anstreben, die weniger vom Westen dominiert wird. Sie glauben, dass die BRICS ihre eigene Stimme auf der Weltbühne verstärken werden.

Diejenigen, die sich vor westlichen Sanktionen fürchten, wie der Iran und Russland, zählen darauf, dass die BRICS Rettungsanker sind, um ihre Volkswirtschaften durch neue Finanzsysteme wie BRICS Pay oder Bridge zu schützen. Andere, darunter Äthiopien und Ägypten, suchen nach einer Entwicklungsfinanzierung, die frei von den politischen Bedingungen ist, die oft mit westlicher Hilfe verbunden sind. Trumps jüngste Drohung könnte sie jedoch zum Nachdenken anregen.

"Plötzlich hat die Zugehörigkeit zu den BRICS einen Preis", unterstreicht Garcia-Herrero gegenüber der DW. "Das wird wahrscheinlich einige entmutigen, vor allem die ärmeren Länder".

Doch trotz der wachsenden Mitgliederzahl und hochtrabenden Versprechen haben die BRICS Schwierigkeiten, ihre Ambitionen in die Tat umzusetzen. Dem Bündnis fehlt es an institutionellem Zusammenhalt, und tiefe geopolitische Gräben - vor allem zwischen Indien und China - untergraben die Einheit.

Abgesehen von der gemeinsamen Währung sind auch die Bemühungen um den Aufbau alternativer Finanzsysteme langsam und fragmentiert. Selbst die Neue Entwicklungsbank (NDB), die als Konkurrentin der Weltbank angepriesen wurde, hat nicht das geliefert, was man sich von ihr versprochen hat. Die NDB hat bisher Kredite in Höhe von lediglich 33 Milliarden US-Dollar vergeben, während die Weltbank über eine Billion Dollar verfügt.

Expansion allein ist nicht gleichbedeutend mit Einfluss, und ohne eine klare strategische Vision, eine stärkere Koordinierung und greifbare Alternativen laufen die BRICS Gefahr, eher zu einem symbolischen Club als zu einer transformativen Kraft zu werden.

"Trump sollte sich keine Sorgen machen", ist der Wirtschaftswissenschaftler Herbert Poenisch gegenüber der DW überzeugt. "BRICS befindet sich noch in der Anfangsphase, und die Überbrückung der vielen Unterschiede in den Prioritäten wird eine große Aufgabe sein."

Ideologische Differenzen sind schwer vereinbar

Trotz ihrer vielen Differenzen bezogen die BRICS-Staats- und Regierungschefs eine klare Position zu Trumps Zöllen und kritisierten einseitige Sanktionen und protektionistische Zölle, ohne ihn in ihrem am Sonntag veröffentlichten Eröffnungskommuniqué direkt zu nennen. Das Bündnis warnte, dass solche Maßnahmen "den Welthandel verzerren" und gegen die WTO-Regeln verstoßen.

Neben ihrer Rolle als Wirtschaftsforum betonten die Staats- und Regierungschefs die Zusammenarbeit in den Bereichen Künstliche Intelligenz (KI), Klimawandel und globale Gesundheit, während sie in ihrem Kommuniqué auch globale Konflikte anprangerten.

Die BRICS-Staats- und Regierungschefs bezeichneten die Angriffe auf den Iran im vergangenen Monat als "Verletzung des Völkerrechts", ohne dabei die USA oder Israel zu erwähnen. Sie bekräftigten außerdem ihre Unterstützung für eine palästinensische Staatlichkeit und verurteilten den Einsatz von Hunger als Waffe im Gazastreifen.

In der Erklärung wurde Russland nicht direkt kritisiert, was die vorsichtige Herangehensweise gegenüber dem BRICS-Mitglied Russland widerspiegelt. Die Angriffe der Ukraine auf russische Infrastrukturen wurden jedoch verurteilt und es wurde zu einer "nachhaltigen Friedenslösung" aufgerufen.

Die Staats- und Regierungschefs der BRICS-Staaten bekräftigten zudem ihr Engagement für Multilateralismus, das Völkerrecht und Reformen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, einschließlich ständiger Sitze für Brasilien, Indien und ein afrikanisches Land.

Der Artikel erschien zuerst auf Englisch.

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Image caption Trump sieht die BRICS-Staaten, deren Staats- und Regierungschefs ihren jährlichen Gipfel in Brasilien abhielten, als Bedrohung für die Macht der USA
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Item 55
Id 73200416
Date 2025-07-08
Title US-Militär stoppt Weitergabe von Wetterdaten
Short title US-Militär stoppt Weitergabe von Wetterdaten
Teaser Aus Sicherheitsgründen wird das US-Militär seine Satellitendaten nicht mehr an Forschende weitergeben. Dies erschwert nicht nur Wetter- und Hurrikanvorhersagen. Vor allem fehlen künftig wichtige Daten zum Klimawandel.
Short teaser Aus Sicherheitsgründen wird das US-Militär seine Satellitendaten nicht mehr für Wettervorhersagen zur Verfügung stellen.
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In den letzten Jahren häuften sich weltweit extreme Wetterereignisse: Starkregen, Gewitter, Überschwemmungen, Hurrikans und Wirbelstürme oder auch langanhaltende Dürren, die zu Ernteausfällen oder Waldbränden führen.

Eigentlich sollte in diesen Zeiten also die Meteorologie gestärkt werden. Denn Schäden oder mögliche Opfer lassen sich reduzieren, wenn es möglichst genaue Wettervorhersagen gibt.

Weniger Wetterdaten – aus Sicherheitsgründen

Für verlässliche Wettervorhersagen braucht es viele unterschiedliche und sehr spezifische Daten. Die Verfügbarkeit von Wetterdaten nimmt aktuell jedoch drastisch ab.

Grund dafür ist auch die Entscheidung des US-Verteidigungsministeriums, ab Ende Juli 2025 die Wetterdaten von einigen Satelliten nicht mehr öffentlich zur Verfügung zu stellen – aus (Cyber)-Sicherheitsgründen. Dies teilte die Nationale Ozean- und Atmosphärenbehörde (NOAA) mit.

Die Entscheidung hat also offiziell - anders als in vielen anderen Forschungsbereichen – nicht direkt etwas mit Budget-Kürzungen und Streichungen der Trump-Administration zu tun. Zunächst sollte die Bereitstellung bereits Ende Juni eingestellt werden, nach Protesten gab es zumindest einen einmonatigen Aufschub bis Ende Juli.

Welche Daten werden künftig fehlen?

Dass Wettervorhersagen nicht immer zutreffend sind, liegt nicht am Unvermögen der Meteorologie, sondern an der Komplexität des Themas. Denn unsere Atmosphäre ist ein sogenanntes "chaotisches System", bei dem "selbst kleinste Unterschiede in der Temperatur, im Druck, im Wind an relativ weit entfernten Orten und auch mit einem zeitlichen Verzug eine große Wirkung zeigen" können, so Meteorologe Peter Knippertz vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) gegenüber der DW.

Durch die US-Entscheidung werden künftig vor allem Satellitendaten über die Erdatmosphäre und die Ozeane fehlen. Diese Daten verraten - teils in Echtzeit - sehr viel etwa über Stürme oder aufziehende Hurrikans, über das Meereis in den Polarregionen oder über Klimaveränderungen.

Seit den 1960er Jahren analysiert das US-Militär Wetterdaten, die ihr Defense Meteorological Satellite Program (DMSP) global sammelt. Aktuell sind offenbar noch drei Satelliten für dieses Programm aktiv. Das von der US Air Force verwaltete Programm wird von einer Air Force Base in Nebraska aus betrieben und soll "täglich weltweite Daten zur Wolkenbedeckung (zusammen mit ozeanografischen und solar-geophysikalischen Umweltparametern) sammeln und verbreiten. Das DMSP-System wird für strategische und taktische Wettervorhersagen eingesetzt, um das US-Militär bei der Planung von Operationen zu See, zu Land und in der Luft zu unterstützen", heißt es auf der Website.

Für die Meteorologie ist vor allem das "Operational Linescan System" (OLS) wichtig. Denn diese Radiometer überwachen zweimal täglich die globale Verteilung von Wolken und Wolkentemperaturen. Sehr wertvolle Daten liefert auch das "Special Sensor Microwave Imager Sounder" (SSM/IS), ein Mikrowellenradiometer, das die thermische Mikrowellenstrahlung der Erde misst und für globale Messungen von Lufttemperaturprofilen, Feuchtigkeitsprofilen und anderen atmosphärischen Messungen genutzt wird. Ein Blick auf die aktuell verfügbaren Daten lässt erahnen, wie groß die künftige Lücke sein wird.

All diese sehr spezifischen und wichtigen Rohdaten der Satelliten wurden bislang vom "Fleet Numerical Meteorology and Oceanography Center" der US Navy aufbereitet und anschließend auch Forschungseinrichtungen und für die zivile Nutzung zur Verfügung gestellt. Sie flossen tagtäglich in die Berechnungen der Wettervorhersagen mit ein. Damit ist ab Ende Juli Schluss.

Welche Auswirkungen hat die Datenlücke?

Unter Hochdruck suchen Meteorologen, Klimaforscher und viele andere Forschende nun nach alternativen Daten und versuchen, ihre Berechnungsmodelle so kalibrieren, dass sie auch ohne US-Wetterdaten funktionieren.

Für Fachleute bedeutet das Fehlen der Daten "einen statistisch messbaren Verlust von Vorhersagegüte, denn Mikrowelleninformationen zu Temperatur und Feuchte haben einen unverhältnismäßig großen Einfluss auf die Wettervorhersage", so Meteorologe Peter Knippertz gegenüber der DW.

Besorgt zeigte sich nicht nur das National Snow and Ice Data Center (NSIDC), dass künftig auf Meereisberechnungen von japanischen Satelliten zugreifen will. Präzise Vorhersagen über das arktische Meereis sind extrem wichtig für die internationale Schifffahrt. Schließlich bestimmt die jeweilige Menge und Dicke des Meereises, welchen Kurs Schiffe wählen und wo die wirtschaftlichste Route langführt.

Sorgen haben auch die Hurrikan-Experten, schließlich beginnt bald die Hurrikan-Saison im Atlantik. Zwar beteuert die US-Ozeanografiebehörde NOAA, dass sich der Wegfall von Daten nicht auf die Genauigkeit von Hurrikan-Vorhersagen auswirken würde, weil die verbleibenden Satelliten die künftig fehlenden Daten liefern könnten.

Aber Experten vor allem aus ärmeren Ländern befürchten, dass die entstehenden Lücken eben nicht kompensiert werden können. Gerade in Regionen, wo Wetterdaten nach wie vor manuell erhoben und übermittelt werden müssen, waren die vom US-Militär zur Verfügung gestellten Daten eine große Hilfe bei der Erstellung von Wettervorhersagen.

Auch US-Messstation auf Hawaii wird geschlossen

Zusätzlich soll auch die wichtige Messstation des Mauna Loa Observatory auf Hawaii laut US-Presseberichten geschlossen werden. Es sammelt bereits seit 1958 unverzichtbare Daten über die Zusammensetzung und über Veränderungen der Erdatmosphäre.

Diese Schließung erfolgt aber wohl nicht aus Sicherheitsgründen. Da in Hawaii vor allem der deutliche Kohlendioxid-Anstieg in der Atmosphäre und der menschengemachte Klimawandel dokumentiert und erforscht wird, sprechen eher politische Erwägungen für die Schließung.

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Image caption Satelliten können Extremwetter und Hurrikans in Echtzeit beobachten
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Item 56
Id 73152552
Date 2025-07-07
Title UNESCO-Komitee berät in Paris über neue Welterbe-Stätten
Short title UNESCO: Sind das die neuen Welterbe-Stätten?
Teaser Ein Märchenschloss, ein versunkener Karibik-Hafen und geheimnisvolle Felsmalereien: Welche Sehenswürdigkeiten erhebt die UNESCO zum neuen Welterbe?
Short teaser Ein Märchenschloss, ein versunkener Hafen und wundersame Felsmalereien: Welche Orte ernennt die UNESCO zum Welterbe?
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Nur noch wenige Tage, und auch die Schlösser König Ludwigs II. von Bayern werden voraussichtlich UNESCO Welterbe. Nominiert wurden Neuschwanstein, Linderhof, Schachen und Herrenchiemsee – gemeinsam mit 31 weiteren Orten rund um den Globus. Die Entscheidungen trifft das Welterbekomitee auf seiner 47. Sitzung in Paris (bis 16. Juli 2025).

Seit zehn Jahren stehen die bayerischen Königsschlösser ganz oben auf der deutschen Wunschliste. Neuschwanstein, das über dem Alpenrand thront und mit seinen vielen Türmchen aussieht wie ein Märchenschloss, gehört zu den weltweit bekanntesten Bauten Deutschlands. Der vielgerühmte "Traum aus Stein" zieht jedes Jahr über 1 Million Besucher aus aller Welt an.

König Ludwig II. von Bayern (1845-1886) hatte das Schloss in Auftrag gegeben, der Bau begann 1869 und sollte ihm als Rückzugsort dienen. Heute gehört das pittoreske Gebäude dem Freistaat Bayern. Es ist auch berühmt für seine prunkvolle Innenausstattung.

Viele Welterbestätten in Deutschland

Vom Aachener Dom bis Zeche Zollverein reicht schon heute die Liste der mehr als 50 deutschen Welterbestätten, die seit 70ern ernannt wurden, als die UNESCO die Welterbekonvention verabschiedete. Auslöser waren damals die Verluste von Kulturgütern im Zweiten Weltkrieg. Den Ausschlag aber gab der Bau des ägyptischen Assuan-Staudamms in den 1960er Jahren, der drohte, die weltberühmten Tempel von Abu Simbel zu überfluten. Die Übereinkunft, der bis heute rund 195 Staaten beigetreten sind, soll Kultur- und Naturstätten von außergewöhnlichem universellem Wert schützen. Derzeit gibt es 1223 Welterbestätten, 952 davon Kulturerbe, 231 Naturerbe.

Der Blick des Welterbekomitees reicht deshalb auch weit über Deutschland hinaus. Insgesamt 32 Kulturorte sind in diesem Jahr von Ländern rund um den Globus nominiert worden. Dazu zählt das antike Khuttal in Tadschikistan ebenso wie der im Meer versunkene Karibik-Hafen Port Royal auf Jamaika, das modernistische Stadtzentrum von Gdynia in Polen oder auch die Gedenkstätten in Kambodscha, die an die Verbrechen der Roten Khmer und ihre Opfer erinnern.

Indische Festungen - auch bald Weltkulturerbe?

Indien hat in diesem Jahr ein Ensemble antiker Festungen als Weltkulturerbe vorgeschlagen. Die beeindruckenden Anlagen in Maharashtra und Tamil Nadu belegen die militärische Stärke des Maratha-Reiches, das vom 17. bis 19. Jahrhundert blühte und weite Teile des indischen Subkontinents kontrollierte.

Die Vereinigten Arabischen Emirate nominierten die Faya-Paläolandschaft als herausragendes Beispiel einer Wüstenlandschaft aus der Steinzeit. Südkorea wirbt für die Petroglyphen von Bangudae, wundersame prähistorische, in Stein gearbeitete Felsbilder. Russland verweist mit seiner Nominierung auf bis zu 20.000 Jahre alte Felsmalereien in der Schulgan-Tasch-Höhle im südlichen Uralgebirge.Chinas Welterbe-Kandidat ist die Nekropole der Tanguten in Xixia, eine der größten Totenstädte der Welt.

Derzeit stehen 1223 Kultur- und Naturstätten in 168 Ländern auf der Liste des UNESCO-Welterbes, 56 davon gelten als bedroht. Das weltweite Ranking stößt vor allem in Wissenschaftlerkreisen immer häufiger auf Kritik. Wie objektiv kann eine solche Aufstellung überhaupt sein, fragt etwa Christoph Brumann vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle.

Kritik am UNESCO-Ranking

Der Ethnologe und Welterbe-Experte hinterfragt das Vergabeverfahren und forscht zu den Folgen eines Welterbe-Titels für die jeweilige Region. Die wohl häufigste: ein Massenansturm an Besuchern. "Davon kann die Bevölkerung profitieren, oft leidet sie aber auch darunter", so Brumann im Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft. Er hat 2021 das englischsprachige Buch "The Best We Share: Nation, Culture and World-Making in the Unesco World Heritage Arena" veröffentlicht.

Das Welterbekomitee, zusammengesetzt aus 21 gewählten Vertragsstaaten der Welterbekonvention, befasst sich in Paris auch mit den wachsenden Gefahren für bereits ernannte Stätten, etwa durch bewaffnete Konflikte wie in der Ukraine oder im Nahen Osten, durch Naturkatastrophen, Umweltverschmutzung, Wilderei oder auch unkontrollierte touristische Entwicklung. Besonders bedrohlich aber wirken sich aktuell Wasserknappheit und Überschwemmungen aus. Sie bedrohen einer jüngsten Studie der Weltkulturorganisation und des World Resources Institute zufolge fast drei Viertel aller Welterbestätten.

Danach streckt ein Fünftel der Orte in der Zwickmühle zwischen Wassermangel und Überfluss. Dazu zählen etwa das Taj Mahal in Indien, das durch den sinkenden Grundwasserspiegel abzusacken droht. Der Yellowstone Nationalpark in den USA musste 2022 nach massiven Überschwemmungen geschlossen werden, die Reparatur der Infrastruktur kostete Medienberichten zufolge mehr als 20 Millionen Dollar (17 Millionen Euro). Zu den am stärksten betroffenen Regionen zählen der Nahe Osten, Nordafrika, Teile Südasiens und der Norden Chinas.

Im bayerischen Schloss Neuschwanstein wird die Entscheidung aus Paris unterdessen mit Hochspannung erwartet. Wenn das Schloss in den Rang des Welterbes aufsteigt, werden es wohl noch mehr Touristen besuchen. Wichtiger dürfte aber der Bayerischen Schlösserverwaltung die weltweite Anerkennung sein, die mit der Auszeichnung einhergeht.

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Image caption Schloss Neuschwanstein in Bayern - bald Weltkulturerbe?
Image source BSV, Beck
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Item 57
Id 73123769
Date 2025-07-07
Title BRICS: Wer ist das und warum sind sie wichtig?
Short title BRICS: Wer ist das und warum sind sie wichtig?
Teaser Die BRICS-Staats- und Regierungschefs treffen sich zu Gesprächen in Brasilien, um sich stärker gegen die westliche Dominanz zu positionieren. Über die Geschichte der BRICS und ihr Bild einer "multipolaren" Welt.
Short teaser Die BRICS-Staaten wehren sich gegen die westliche Dominanz und streben eine multipolare Welt an.
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Die stetig wachsende Gruppe der BRICS-Staaten will den Handel und den Technologieaustausch innerhalb des Blocks stärken und so den Zolldrohungen von US-Präsident Donald Trump trotzen. Brasiliens Präsident Luis Inácio Lula da Silva wird die dreitägigen Gespräche moderieren.

An den Gesprächen werden unter anderem der indische Premierminister Narendra Modi und der chinesische Ministerpräsident Li Qiang teilnehmen. Wladimir Putin jedoch nicht: Der Kreml erklärt, dass der russische Präsident, gegen den ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit Moskaus Invasion in der Ukraine vorliegt, nicht erscheinen wird.

Wie es zur BRICS-Gründung kam

Der Ökonom Jim O'Neill von Goldman Sachs prägte den Begriff BRIC im Jahr 2001. Er bezeichnete damit die Gruppe Brasiliens, Russlands, Indiens und Chinas als schnell wachsende Volkswirtschaften, die das Potenzial hätten, bis 2050 zu globalen Wirtschaftsmächten zu werden.

Trotz unterschiedlicher politischer Ideologien und Sozialstrukturen übernahmen die politischen Entscheidungsträger in Brasilia, Moskau, Neu-Delhi und Peking die Initiative und führten zunächst informelle Gespräche zwischen Außenministern, um den Grundstein für eine Zusammenarbeit zu legen.

Der erste Gipfel der BRIC-Staats- und Regierungschefs fand 2009 im russischen Jekaterinburg statt. Ein Jahr später wurde Südafrika eingeladen, dem aufstrebenden Block beizutreten, und dem Abkürzung BRIC wurde ein "S" hinzugefügt. Die Gründung der BRICS-Staaten wird seither als große Herausforderung für die seit dem Zweiten Weltkrieg dominierenden, von den USA angeführten globalen politischen, wirtschaftlichen und finanziellen Systeme beschrieben.

Eigene BRICS-Währung?

Die ursprünglichen Mitglieder setzten sich für eine multipolare Weltordnung und eine stärkere Mitsprache der Länder des Globalen Südens ein. Die BRICS haben eine Alternative zur Weltbank geschaffen, die Infrastruktur- und Entwicklungsprojekte finanziert, sowie einen neuen Mechanismus zur finanziellen Unterstützung in Wirtschaftskrisen, der teilweise mit der Rolle des Internationalen Währungsfonds (IWF) konkurriert.

Die politischen Entscheidungsträger von BRICS haben auch die Möglichkeit erwogen, eine eigene Währung einzuführen, um dem US-Dollar, der Reservewährung der Welt, Konkurrenz zu machen, doch der Weg dahin ist noch lang. Der Block war sehr daran interessiert, andere Entwicklungsländer aufzunehmen.

BRICS - ein rasantes Wachstum

Der Block besteht mittlerweile aus zehn Ländern - zu den ursprünglichen fünf sind Ägypten, Äthiopien, der Iran, die Vereinigten Arabischen Emirate und Indonesien gestoßen. Obwohl die BRICS-Staaten nach wie vor ein informeller Block sind, bezeichnete das Brasilianische Zentrum für Internationale Beziehungen (CEBRI) sie letzte Woche in einem Vorschaubericht zum Gipfel an diesem Wochenende als "den ersten transregionalen Zusammenschluss nicht-westlicher Staaten".

Obwohl es weder einen Gründungsvertrag noch ein Sekretariat oder Hauptquartier gibt, haben sich die BRICS-Staaten - auf dem Papier - zu einer bedeutenden geopolitischen und wirtschaftlichen Macht entwickelt. Der Block repräsentiert mehr als 40 Prozent der Weltbevölkerung und trägt mehr als ein Drittel zum globalen Wirtschaftswachstum (gemessen an der Kaufkraftparität) bei und übertrifft damit das der G7-Gruppe der Industrienationen.

Die BRICS-Staaten kontrollieren dank neuer Mitglieder wie dem Iran und den Vereinigten Arabischen Emiraten zudem bedeutende Rohstoffmärkte, darunter rund 40 Prozent der weltweiten Ölproduktion. Der BRICS-Website zufolge kontrollieren sie zudem fast drei Viertel der Seltenen Erden. Der Handel untereinander hat der Website zufolge bereits die Marke von einer Billion US-Dollar (850 Milliarden Euro) überschritten.

Der Block versucht, seinen Handel vom US-Dollar zu lösen - ein Prozess, der als De-Dollarisierung bekannt ist. Der Handel innerhalb des BRICS-Systems erfolgt zunehmend in lokalen Währungen und über alternative Zahlungssysteme zur vom Westen unterstützten Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication (SWIFT).

Die Pläne für eine BRICS-Währung sind jedoch aufgrund des Widerstands einiger Mitglieder, insbesondere Indiens, angesichts der wirtschaftlichen Dominanz Chinas ins Stocken geraten. Die Pläne wurden weiter blockiert, als Trump die BRICS-Staaten warnte, dass der Block im Falle der Ankündigung einer gemeinsamen Währung mit 100-prozentigen Zöllen auf Importe in die USA rechnen müsste.

Weitere BRICS-Kandidaten

BRICS steht vor einem explosiven Wachstum: Laut der Website des Blocks haben 44 Nationen entweder offiziell eine Mitgliedschaft beantragt oder sondieren einen Beitritt. Allein in diesem Jahr wurden Weißrussland, Bolivien, Kuba, Kasachstan, Malaysia, Thailand, Vietnam, Uganda und Usbekistan zu Partnerländern unter dem Namen 'BRICS+' - ein Auftakt zur formellen Mitgliedschaft.

Weitere Nationen, die Interesse an einem Beitritt bekundet haben, sind: Aserbaidschan, Bahrain, Bangladesch, Burkina Faso, Kambodscha, Tschad, Kolumbien, die Republik Kongo, Äquatorialguinea, Honduras, Laos, Kuwait, Marokko, Myanmar, Nicaragua, Pakistan, die Palästinensischen Gebiete, Senegal, Südsudan, Sri Lanka, Syrien, Venezuela und Simbabwe.

Saudi-Arabien, das enge Beziehungen zu den Vereinigten Staaten pflegt, sollte BRICS bereits letztes Jahr beitreten, hat aber noch keine endgültige Entscheidung getroffen. Auf der BRICS-Website ist das Königreich jedoch als Mitglied aufgeführt.

Wohin geht der BRICS-Weg?

China und Russland positionieren BRICS aktiv als Gegengewicht zur westlichen Hegemonie, während Indien und Brasilien der wirtschaftlichen Zusammenarbeit Vorrang vor geopolitischer Konfrontation einräumen, was möglicherweise zu Spannungen innerhalb des Blocks führt. Neben dem Grenzstreit zwischen China und Indien könnten auch andere Rivalitäten die Fähigkeit des Blocks schwächen, seine Interessen durchzusetzen: Da sind etwa die Konflikte zwischen dem Iran und Saudi-Arabien - falls es beitritt - oder zwischen Ägypten und Äthiopien um einen Staudamm am Blauen Nil in Äthiopien.

Die fest verwurzelte Rolle der US-Währung im Welthandel und Pekings Beschränkungen der Verwendung des chinesischen Yuan im internationalen Handel könnten die Bemühungen um eine De-Dollarisierung behindern. Manche sehen darin eher einen Versuch Pekings und Moskaus, westliche Sanktionen zu umgehen, als eine realistische Strategie für eine neue Reservewährung.

Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen den Mitgliedern stellen eine weitere Herausforderung für die BRICS-Staaten dar. Chinas BIP etwa übersteigt das von Südafrika oder neueren Mitgliedern wie Äthiopien bei weitem, und es besteht die Gefahr, dass die Prioritäten zugunsten der Interessen Pekings verschoben werden.

Es gibt auch wachsende Bedenken darüber, wie Demokratien wie Indien und Brasilien mit Autokratien wie China, Iran und Russland zusammenarbeiten können. O'Neill, der den Begriff BRIC geprägt hat, hält den Zusammenschluss mittlerweile für ein gescheitertes Projekt und schrieb im November, die BRICS erfüllte keinen wirklichen Zweck, "außer symbolische Gesten und hochtrabende Rhetorik zu produzieren".

Der Beitrag wurde aus dem Englischen adaptiert.

Item URL https://www.dw.com/de/brics-wer-ist-das-und-warum-sind-sie-wichtig/a-73123769?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Die Staats- und Regierungschefs der BRICS-Gruppe treffen sich im brasilianischen Rio de Janeiro
Image source Arzu Pashayeva/TASS/dpa/picture alliance
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Item 58
Id 73137233
Date 2025-07-06
Title World Chocolate Day: Wo isst man welche Schokolade?
Short title World Chocolate Day: Wo isst man welche Schokolade?
Teaser Ob Europa, Asien oder Amerika - Schokolade ist fast überall beliebt. Die Geschmäcker aber sind je nach Kontinent verschieden: Von süß über dunkel bis ganz ausgefallen ist alles dabei.
Short teaser Ob Europa, Asien oder Amerika: Die Geschmäcker sind verschieden - mal süß, mal dunkel, mal ganz ausgefallen.
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Schokoladenfans wissen es: Die geschmacklichen Unterschiede der süßen Köstlichkeit können groß sein. Von Marke zu Marke, aber auch von Land zu Land. Genauso unterschiedlich sind auch die Vorlieben der jeweiligen Konsumentinnen und Konsumenten.

US-Schokolade: Süß, dick und gerne gefüllt

In den Kolonien Nordamerikas kam Kakao als Getränk aus Lateinamerika im 17. Jahrhundert an. Die bissfeste, süße Schokolade hingegen, die heute populär ist, brachten Schweizer Chocolatiers in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Neue Welt. Trotz des gemeinsamen Ursprungs aber schmecken Schweizer und US-Schokolade sehr verschieden.

In den Vereinigten Staaten setzen die erfolgreichsten Marken auf lange Haltbarkeit und einen Geschmack, der für viele europäische Gaumen gewöhnungsbedürftig ist. Das liegt zum einen an der Verwendung von Buttersäure, die der US-Schokolade eine leicht säuerliche Note verleiht, die für europäische Gaumen oft irritierend ist. Aber auch der hohe Zuckergehalt und Zusatzstoffe wie Maissirup oder pflanzliche Fette prägen den typisch amerikanischen Schokoladengeschmack. "Außerdem sind gefüllte, dicke, große Tafeln dort sehr beliebt", erklärt die deutsche Schokoladen-Sommelière Julia Moser.

Europäische Schokolade: Man legt Wert auf Tradition

In Westeuropa - insbesondere in der Schweiz, Belgien, Frankreich und Deutschland - steht der feine Genuss und die hohe Qualität im Vordergrund. Die Rezepturen für Schokolade in der EU sind beispielweise strenger reguliert als etwa in den USA: Milchschokolade muss mindestens 25 Prozent Kakaotrockenmasse enthalten und Kakaobutter ist als Hauptfett vorgeschrieben. Die Hersteller setzen auf traditionelle Verfahren wie das Conchieren, das der Schokolade ihre feine, cremige Textur verleiht. "Die Wertschätzung für gute Schokolade wächst bei uns, auch wenn vor allem noch immer am meisten Milchschokolade konsumiert wird, denn darauf werden wir in der Kindheit geeicht," sagt Moser. "Dunkle Schokoladen werden erst im Erwachsenenalter beliebter."

Wachsende Märkte in Indien und Afrika - mit eigenen Vorlieben

In Indien und anderen Teilen Asiens ist Schokolade ein vergleichsweise junges Genussmittel. Die industrielle Produktion begann hier erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Inzwischen aber wächst der Markt rasant und verdrängt gerade bei jüngeren Menschen traditionelle Süßigkeiten. "Indische Schokolade gilt derzeit als Geheimtipp," sagt Julia Moser, "die Kakaobohne dort hat eine ganz eigene Fruchtigkeit mit einer nussigen Note."

Afrika, insbesondere Westafrika, ist der weltweit größte Produzent von Kakao. Der dortige Schokoladen-Konsum aber machte 2018 nur rund 4 Prozent des weltweiten Marktes aus. Das liege auch an der Hitze, die den Tafeln sehr zu schaffen mache, erklärt Julia Moser: "Die Menschen dort genießen typischerweise das frische Fruchtfleisch der Kakaobohnen oder stellen eine Paste aus gerösteten Bohnen her, aus der sie dann Trinkschokolade machen." In Ländern wie Ghana allerdings, nach der Elfenbeinküste größter Kakaoproduzent der Welt, steigt das Interesse an lokal produzierter Schokolade.

Kultig: Japanische Schokoladensorten

Die zumindest aus westlicher Sicht wohl ausgefallensten Schokoladen-Geschmacksrichtungen gibt es übrigens in Japan: Hier sind KitKat-Riegel mit Matcha, Sojasoße oder auch Wasabi seit Jahren absoluter Kult.

Die dunkle Seite der Schokoladenherstellung

Bei aller Freude über leckere und besondere Schokoladensorten sollte allerdings auch die dunkle Seite der Geschichte nicht vergessen werden: Der Siegeszug des Kakaos von Lateinamerika aus in die ganze Welt ist untrennbar mit kolonialer Ausbeutung verbunden. Es waren die europäische Kolonialmächte, die die Kakaopflanze gezielt in die tropische Kolonien einführte, um die wachsende Nachfrage in Europa zu bedienen. Anbau und Ernte geschah mit Hilfe der einheimischen Bevölkerung - in der Regel unter menschenunwürdigen Bedingungen. Und auch heute noch sind viele Kakaobauern den Machtmechanismen des Weltmarktes ausgeliefert. Viele leben trotz harter Arbeit in extremer Armut, da sie aufgrund zu niedriger Preise der Handelsunternehmen nicht ausreichend entlohnt werden.

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Image caption Machen schon beim Anschauen Appetit, nicht nur am World Chocolate Day: unterschiedliche Schokoladensorten
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Item 59
Id 73138441
Date 2025-07-06
Title Was bringt eine WTO ohne die USA?
Short title Was bringt eine WTO ohne die USA?
Teaser Die EU-Spitze und Kanzler Friedrich Merz haben eine europäische Initiative ins Spiel gebracht, um die Blockade der Welthandelsorganisation durch die USA zu umgehen. Wie sinnvoll ist eine solche Lösung?
Short teaser Die EU will mit gleichgesinnten Freihandelsnationen näher zusammenrücken. Wie sinnvoll ist eine solche "WTO plus"?
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Der Vorstoß von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Kanzler Friedrich Merz hat für Aufsehen gesorgt. Denn seit dem EU-Gipfel Ende Juni steht im Raum, dass unter der Federführung der EU eine Alternativ-Organisation zur 1994 gegründeten Welthandelsorgansiation (WTO) entstehen könnte.

Ein besonders enger Schulterschluss mit gleichgesinnten Handelsnationen in Asien sei geplant, betonte Ursula von der Leyen und bezog sich dabei auf die Zusammenarbeit mit dem CPTPP, dem "Comprehensive and Progressive Agreement for Trans-Pacific Partnership". Das Handelsbündnis besteht aus Australien, Brunei, Kanada, Chile, Japan, Malaysia, Mexiko, Neuseeland, Peru, Singapur und Vietnam. Inzwischen ist auch das Vereinigte Königreich als erstes europäisches Land beigetreten.

Friedrich Merz sprach bereits von einer "neuen Art von Handelsorganisation", die schrittweise ersetzen könnte, "was wir mit der WTO heute nicht mehr haben." Die Organisation mit Sitz in Genf leidet seit Jahren unter veralteten Regeln, deren Reform bislang an der Uneinigkeit ihrer Mitglieder scheiterte.

Streitschlichtung kaum noch möglich

Entscheidend ist aber die Anspielung des Bundeskanzlers auf die weitgehende Lähmung der Streitschlichtung bei Handelsdisputen. Denn die Vereinigten Staaten blockieren seit 2016 - der Amtszeit von Barack Obama - die Neubesetzung von Richtern am höchsten Gericht für den Welthandel, dem "WTO Appellate Body".

Auch alle weiteren US-Regierungen - ganz gleich ob unter demokratischen oder republikanischen Präsidenten - hielten diese Blockade aufrecht. Sie protestieren so gegen die Urteile der letzten juristischen Instanz für Handelsdispute, die aus ihrer Sicht den nationalen Interessen der USA schaden.

Das hat dazu geführt, dass Handelsstreitigkeiten nicht mehr endgültig entschieden werden können, sobald eine Partei in Berufung geht. Zu den ungeklärten Fällen gehören der Streit zwischen der EU und Indonesien um den Export von Nickelerzen, die Entscheidung über die Zulässigkeit von Subventionen an die Flugzeugbauer Boeing und Airbus oder Verfahren gegen China wegen Anti-Dumpings.

Liberalisierung des Welthandels ohne die USA

Aber kann Europa ohne Unterstützung der USA eine neue WTO gründen? Und wie sinnvoll wäre ein Zusammengehen mit gleichgesinnten Partnern rund um den Globus, besonders im asiatisch-pazifischen Raum? Jürgen Matthes, Experte für internationale Wirtschaftspolitik am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, kann sich im Interview mit der DW durchaus mit der Initiative anfreunden.

"Ein tatsächlicher Beitrittsantrag bei CPTPP wäre ein wichtiger strategischer Schritt in verschiedenen Hinsichten, denn das würde ein klares Signal an die USA senden, dass sie sich mit ihrem Protektionismus isolieren, während um sie herum die Liberalisierung des Welthandels weitergeht", so Matthes.

"Es würde ein bemerkenswert großes überregionales Handelsabkommen schaffen, weil wichtige Staaten dabei sind und die EU der größte Block darin ist. Es wäre ein Abkommen, das nahezu alle Kontinente umfasst. Und vielleicht gelingt es ja noch, das ein oder andere afrikanische Land mit dazu zu nehmen", so der Handelsexperte. "Damit könnte man einen "Open Club" mit offenen Bedingungen schaffen, der aber faire Wettbewerbsregeln als Beitrittsvoraussetzung formuliert."

Ohne USA, ohne China

Das heiße aber, dass China zunächst nicht dabei sein kann, weil Peking nicht gerade für faire Wettbewerbsregeln bekannt sei.

"Es geht strategisch darum, ein Handelsbündnis zu schaffen, das mit den Problemen umgeht, die im Moment auf der Welt im Handelsbereich akut sind: Das ist eben nicht nur der US-Protektionismus, sondern das sind auch die massiven Wettbewerbsverzerrungen durch die immensen Subventionen Chinas, gegen die wir nicht richtig ankommen, weil die WTO-Regeln zu große Lücken haben", argumentiert Matthes.

Es gehe für die EU mit Blick auf China darum, in einem solchen Handelsbündnis strikte Wettbewerbsregeln festzuschreiben, "mit Blick auf Staatsunternehmen und Industriesubventionen. Dann könnte man sagen, da kann jeder mitmachen, der diese Bedingungen erfüllt."

Dafür müsse China allerdings sein System gehörig ändern und Wettbewerbsverzerrungen und Subventionen abbauen. Oder sich endlich auf eine durchgreifende Reform der WTO-Regeln einlassen.

Allianz der Willigen bei der Streitschlichtung in der WTO

Schon jetzt gibt es eine Antwort der Verfechter des Freihandels, die auf den Namen "MPIA" hört. Das "Multi-Party Interim Appeal Arbitration Arrangement" wurde innerhalb der WTO geschmiedet, um eine alternative Schiedsgerichtsbarkeit ohne die USA zu gewährleisten. Mittlerweile machen nach Angaben der EU-Kommission 57 Länder bei MPIA mit, die für 57,6 Prozent des Welthandels stehen. Mit dabei ist neben den EU-Staaten auch das Vereinigte Königreich.

Wirtschaftsvereinigungen wie der Bundesverband Groß- und Außenhandel (BGA), der die Interessen der deutschen Exportunternehmen vertritt, wollen aber auf keinen Fall die WTO geschwächt sehen.

Der Ansatz, mit einer kleineren Gruppe funktionierender Demokratien - etwa über CPTPP - einen neuen Rahmen zu schaffen, habe durchaus strategische Vorteile, sagte BGA-Präsident Dirk Jandura der Nachrichtenagentur Reuters. Allerdings gebe es Risiken: So dürfe der Welthandel nicht in konkurrierende Handelsblöcke mit unterschiedlichen Regeln zerfallen. "Entscheidend ist, dass diese neue Organisation nur als Übergangslösung konzipiert werden darf, mit dem klaren Ziel, die WTO zu reformieren und nicht zu ersetzen."

Reform statt Ersatz der WTO

Auch Brüssel betont, dass man keineswegs die WTO überflüssig machen wolle. Kommissions-Chefin von der Leyen sagte, dass die "strukturierte Zusammenarbeit" mit den asiatischen CPTPP-Ländern die Basis für den Beginn einer Neugestaltung der WTO sein könnte.

Selbst der bisherige Chefökonom der WTO, Ralph Ossa, machte im Wirtschafts-Podcast der DW keinen Hehl daraus, dass sich die Welthandelsorganisation erneuern müsse. "Braucht die WTO Reformen? Auf jeden Fall", sagte Ossa, der seit dem 1. Juli wieder an seiner alten Wirkungsstätte, der Universität Zürich, lehrt.

Das deutsche Wirtschaftsministerium unterstreicht diese Lesart: Die WTO sei tatsächlich reformbedürftig, weshalb sich die Bundesregierung zusammen mit der EU-Kommission für Reformen einsetze, sagte der Sprecher von Wirtschaftsministerin Katherina Reiche. Dabei gehe es etwa um neue Regeln bei Industriesubventionen zur Schaffung eines fairen Wettbewerbs, Initiativen zum digitalen Handel und Investitionserleichterungen. Die EU sei darüber bereits mit Ländern im Austausch, die sich zu offenem und regelbasiertem Handel bekennen würden, etwa mit den Mitgliedern des CPTPP.

Handelspolitische Mehrdeutigkeit

Dass die EU starke Signale in die USA und nach China sendet, könnte auch damit zusammenhängen, dass man seit Trumps "Zollhammer" bewusst mehrdeutig kommuniziert. Die Botschaft ist: Die Mehrheit der Handelsnationen sind Anhänger eines regelbasierten Handels.

Dem Kölner Handelsexperten Matthes schwebt ein Club unter der Überschrift "Offene Märkte mit fairem Handel" vor. "Bei offenen Märkten sind die USA raus und bei fairem Handel ist China raus, es sei denn, die USA ändern sich unter einer neuen Regierung und man habe es künftig mit einem anderen China zu tun.

Matthes sieht gleich eine ganze Reihe von Vorteilen: "Wir schaffen mehr Handelsliberalisierung und öffnen für uns neue Märkte. Die USA isolieren wir stärker und zeigen Trump, dass Protektionismus am Ende ein Irrweg ist." Außerdem könnten die Europäer ein wichtiges Signal an China senden, dass man seine Wettbewerbsverzerrungen nicht mehr hinnehmen will.

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Image caption Welche Rolle spielt künftig die WTO?
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Item 60
Id 73156018
Date 2025-07-05
Title Besser küssen mit vollen Lippen?
Short title Besser küssen mit vollen Lippen?
Teaser Volle, rote Lippen gelten als attraktiv – Lippenvergrößerungen sind eine gefragte Schönheitsbehandlung. Nicht nur Frauen, auch Männer lassen sich inzwischen die Lippen aufspritzen. Aber kann man damit auch besser küssen?
Short teaser Aufgespritzte Lippen sind "in" – bei Frauen, wie auch immer öfter bei Männern. Aber kann man damit auch besser küssen?
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Der Schönheitstrend "volle Lippen" hat längst die Social-Media-Plattformen verlassen - auch auf den Straßen sieht man immer häufiger Menschen mit aufgespritzten Lippen.

Volle Lippen stünden für Jugend, für Fruchtbarkeit und gälten damit als sexuell attraktiv, sagt Helge Jens, Facharzt für Plastische und Ästhetische Chirurgie. "Rosige, volle Lippen wirken vital, während schmale, trockene, farblose oder faltige Lippen eher Krankheit und Alter symbolisieren."

Lippen spielten in unserem Gefühlsleben eine große Rolle, erläutert Psychotherapeut Wolfgang Krüger. "Küssen ist die beste und die intimste Möglichkeit, Nähe herzustellen."

Es sei sogar intimer und sinnlicher als Sex, meint der Experte. Denn beim Küssen kämen sich die Gesichter ganz nah, man fühle sich mit der anderen Person innerlich verbunden. "Das merkt man auch, wenn Beziehungen schwieriger werden. Das Erste, das leidet, ist das romantische Küssen."

Wer lässt sich die Lippen aufspritzen?

"Die überwiegende Zahl sind junge Frauen, die einem bestimmten Schönheitsideal nacheifern wollen", sagt Helge Jens. Inspirationsquelle seien oft Beispiele aus den Sozialen Medien. "Die Patientinnen kommen tatsächlich mit ausgedruckten Bildern oder mit Handy-Fotos in die Praxis und sagen, dass sie es gerne genauso hätten." Ein Trend, den er problematisch findet, da die Lippen auch zum Gesicht passen müssten.

Zu Christiane Bayerl dagegen kommen hauptsächlich Frauen ab den Wechseljahren, denn: "Die Lippen werden schmaler mit dem Alter." Schmale Lippen könnten als verkniffen empfunden werden, sagt die Direktorin der Klinik für Dermatologie und Allergologie an den Helios Dr. Horst Schmidt Kliniken Wiesbaden.

Der Schönheitstrend hat längst nicht nur Frauen, sondern auch Männer erfasst. Sucht man mit den entsprechenden Stichworten im Netz, stößt man auf eine Fülle von Angeboten.

Etwa eine "exklusive Lippenvergrößerung, mit einem natürlich schönen Ergebnis für den Mann." Denn "Sinnliche Lippen sind eben nicht nur etwas für Frauen", heißt es auf den entsprechenden Seiten. Betont wird häufig, dass die "Lippenkorrektur für Männer .. "Sie nicht feminin aussehen lässt."

Lippenvergrößerungen – nicht nur in Arztpraxen

Nicht immer würden Lippenkorrekturen von ärztlichen Fachleuten durchgeführt, berichtet Helge Jens, der auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetisch-Plastische Chirurgie (DGÄPC) ist. "Zum Beispiel bei Kosmetikerinnen oder in speziellen Schönheits-Instituten." Denn in der Regel werde bei der Behandlung Hyaluronsäure in die Lippen gespritzt. Das dürfe so gut wie jeder, da der Stoff nicht medikamentös verordnet werden muss.

Auch wenn eine Lippenvergrößerung also in der Regel ohne Operation und Skalpell stattfindet, kann sie durchaus Gefahren bergen. Blutgefäße etwa können sich verschließen, wenn die Lippen bereits zuvor behandelt wurden, sagt Hautärztin Christiane Bayerl. Frauen, die schon "Schlauchboot-Lippen" haben, schicke sie deswegen manchmal wieder nach Hause.

Häufige Nebenwirkungen sind laut Bayerl blaue Flecken, wenn beim Spritzen ein kleines Blutgefäß erwischt wird. "Es kann auch passieren, dass es unsymmetrisch wird und bei einer erneuten Behandlung korrigiert werden muss." Hinzu komme die Gefahr von Infektionen und - in sehr seltenen Fällen - von Gefäßverschlüssen, die unbedingt behandelt werden müssten, damit sie keine schweren Folgen haben.

"Bloß weil ein Großteil der Behandlungen gut geht, ist es nicht harmlos", sagt auch Chirurg Helge Jens. "Man muss schon über genaue Anatomiekenntnisse verfügen, um zu wissen, wo man Hyaluronsäure spritzen kann, so dass es den gewünschten Effekt hat."

Macht das Küssen mit vollen Lippen mehr Spaß?

Zumindest als küssende Person spüre man allein durch vergrößerte Lippen beim Küssen wahrscheinlich keinen Unterschied, meint Bayerl. Wenn die Lippenvergrößerung sehr ausgeprägt sei, könne sich das sogar eher negativ auf das Empfinden auswirken.

Der Grund: Unsere Lippen enthalten Nervenenden, die sie empfindlich für Wärme, Kälte und Berührungen machen. "Diese werden durch das Aufspritzen ja nicht mehr, sondern müssen sich über eine größere Oberfläche verteilen", erläutert Jens.

Ob es allerdings (noch) schöner ist, von vollen Lippen geküsst zu werden, dürfte bisher medizinisch wohl noch nicht erforscht sein.

Wichtiger als das rein Äußerliche sei für die attraktive Wirkung auf andere Menschen sowieso viel mehr die Art, wie eine Person lebe, sagt Psychotherapeut Krüger. "Ich denke, man sieht einer Person an, ob sie eine sinnliche Bereitschaft hat zu küssen."

Wenn jemand dagegen viele Probleme habe, angespannt und zurückhaltend sei, zeige sich das irgendwann auch in den Gesichtszügen. "Die betreffende Person wirkt schmallippig." An diesem Ausdruck könne eine Lippenkorrektur nur sehr vordergründig etwas ändern.

Warum küssen wir Menschen überhaupt?

Warum Menschen dieses Verhalten entwickelt haben, lasse sich aus wissenschaftlicher Sicht nicht eindeutig beantworten, sagt Wolfgang Enard, Experte für evolutionäre Anthropologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. "Eine prominente Idee ist, dass der Kuss über die Weitergabe von Nahrung, also das Vorkauen, entstanden ist." Außerdem gebe es die Theorie, dass Küssen die Funktion habe, Bakterien auszutauschen und dadurch das Immunsystem zu stärken.

Für plausibler hält Enard aber eine andere Theorie: "Bei den Schimpansen läuft die soziale Interaktion ganz viel über die Fellpflege. Man laust sich." Beim Menschen sei das Fell aber verschwunden, und der Kuss habe sich als Überbleibsel der Fellpflege entwickelt. Egal, ob romantischer Kuss, ein zärtlicher Kuss der Eltern oder ein freundschaftlicher Kuss zur Begrüßung auf die Wange: "Es ist immer ein starkes soziales Signal".

Mit Material der dpa

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Image caption Küssen macht Spaß und ist gut für die Gesundheit - ganz egal mit welcher Lippenform oder -fülle
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Item 61
Id 73023077
Date 2025-07-04
Title Ozzy Osbourne und die Rückkehr von Black Sabbath
Short title Ozzy Osbourne und die Rückkehr von Black Sabbath
Teaser Am 5. Juli gibt Ozzy Osbourne mit Black Sabbath ein letztes Konzert in seiner Heimatstadt Birmingham. Ein Rückblick auf das wilde Leben des "Prince of Darkness", der im Alter seine weichen Seiten zeigt.
Short teaser Am 5. Juli gibt Ozzy Osbourne ein letztes Konzert in Birmingham. Ein Rückblick auf das Leben des "Prince of Darkness".
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Wenn am 5. Juli 2025 in Birmingham die Scheinwerfer angehen und die ersten Gitarrenriffs aus den Boxen dröhnen, wird es mehr als ein Konzert sein. Es wird Geschichte geschrieben. Black Sabbath - Pioniere des Heavy Metal - kehren für ein letztes Mal in Originalbesetzung zurück auf die Bühne. Und im Mittelpunkt steht ein Mann, dessen Leben längst zur Legende geworden ist: Ozzy Osbourne.

Es könnte auch eine Szene aus einem Rockmärchen sein: Ein vom Leben gezeichneter Held kehrt dorthin zurück, wo alles begann - und verabschiedet sich genau da von der Bühne, wo er sie einst zum Beben brachte. "Es ist an der Zeit, zurück zu den Anfängen zu gehen … Zeit für mich, der Stadt, in der ich geboren wurde, etwas zurückzugeben. Birmingham ist das wahre Zuhause des Metal. Birmingham für immer", sagte er Anfang des Jahres zur Konzertankündigung.

Das klingt etwas sentimental, und doch ist es ehrlich und geradeaus, mit einem Hauch Größenwahn - typisch Ozzy. Dass dieser Musiker, der mit seinem leichten Hang zum Wahnsinn nach einem wilden Leben wieder auf dem Teppich gelandet ist, zeigt auch seine Ankündigung, den Erlös des Konzerts an verschiedene karitative Organisationen aus Birmingham zu spenden - der einstige Bürgerschreck ist altersmilde geworden.

Aus den Schatten Birminghams

Geboren wurde John Michael Osbourne 1948 im industriellen Birmingham, mitten in einer Welt aus Ruß, Rauch und sozialem Druck. Die Perspektiven waren nicht vielversprechend - und die Realität in den düsteren Vierteln Birminghams war hart. Doch in der Musik fand Ozzy - den Namen hat er seit seiner Schulzeit - eine Sprache, die seiner Wut, seiner Verzweiflung und auch seinem schwarzen Humor Ausdruck verlieh. Mit Tony Iommi, Geezer Butler und Bill Ward gründete er Ende der 1960er Jahre Black Sabbath. Der düstere, schwere Rock, gepaart mit okkulten Anspielungen und gesellschaftskritischen Texten, wurde zum Klang einer Generation.

Alben wie "Paranoid" (1970) oder "Master of Reality" (1971) wurden zu Blaupausen des späteren Heavy Metal. Osbournes markante Stimme - hoch, klagend, gleichzeitig durchdringend und verletzlich - wurde zur Ikone. Doch während Black Sabbath mit ihrer Musik in den Olymp aufstiegen, begann Ozzys persönlicher Abstieg.Alkohol, Drogen, Exzesse - es wurde so schlimm, dass die Band ihn 1979 rauswarf.

Und dann kam dieser Moment, der für immer an ihm haften sollte: 1982 biss er auf der Bühne einer lebenden Fledermaus den Kopf ab - vermeintlich im festen Glauben, es handle sich um ein Gummitier. Was auch immer das war - perfekt inszeniert oder völlig entgleist - es wurde zum Sinnbild des Osbourne-Mythos: düster, irre, unberechenbar.

Beispiellose Solokarriere

Das Band-Aus war für Ozzy zunächst ein weiterer Absturz, er nahm noch mehr Drogen - bis seine spätere Frau Sharon ihn aus dem Sumpf zog und ihm eine Solokarriere nahelegte. Er gründete die Band "Blizzard of Ozz", nahm das gleichnamige Album auf und startete durch. Seine Ehe mit Sharon Osbourne, die gleichzeitig seine Managerin wurde, brachte ihm Stabilität. In den 2000er Jahren wurde das Paar mit den Kindern Kelly und Jack durch die Reality-TV-Show "The Osbournes" weltweit bekannt: Ozzy als verpeilter, fluchender, aber herzlicher Vater wurde ein Popkulturphänomen.

Die letzten Jahre waren geprägt von gesundheitlichen Rückschlägen. 2019 wurde bekannt, dass Osbourne an Parkinson leidet. Er sagte Touren ab, musste sich Operationen unterziehen und kämpfte sich mit Mühe zurück. Doch die Liebe zur Musik, zum Publikum - und vielleicht auch zum Mythos Ozzy - hielten ihn aufrecht. Und so entstand dann auch die Idee zum Reunion-Konzert mit Black Sabbath. "Ich werde da sein und mein Bestes geben. Alles, was ich tun kann, ist aufzutauchen", sagte er kürzlich im Interview mit "The Guardian".

Zurück zu den Anfängen

Das Konzert am 5. Juli in Birmingham trägt den passenden Titel: "Back to the Beginning". Es wird das erste Mal seit über 20 Jahren sein, dass die Originalbesetzung gemeinsam auftritt. Neben Black Sabbath selbst sind Metal-Größen wie Metallica, Pantera oder Gojira angekündigt - für Metalfans das Feinste vom Feinen.

Doch der Fokus wird auf dem einen Moment liegen, in dem Ozzy, Tony, Geezer und Bill gemeinsam auf der Bühne stehen. Es ist nicht nur eine Reunion - es wird auch ein würdiger Abschied für einen der ganz großen Rockstars unserer Zeit.

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Image caption Eine letzte große Bühne für den Kultstar: Ozzy Osbournes Abschied mit Black Sabbath am 5. Juli
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Item 62
Id 73124710
Date 2025-07-03
Title Faktencheck: Erhöhen Sonnenschutzmittel das Hautkrebsrisiko?
Short title Faktencheck: Erhöhen Sonnenschutzmittel das Hautkrebsrisiko?
Teaser In Sozialen Medien kursieren falsche und missverständliche Informationen rund um das Thema Sonnenschutz und Hautkrebs. Schützen Sonnenschutzmittel vor Melanomen oder erhöhen sie das Hautkrebsrisiko? DW-Faktencheck.
Short teaser Schützen Sonnenschutzmittel vor Melanomen oder erhöhen sie das Hautkrebsrisiko, wie es im Netz oft behauptet wird?
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Angesichts der Hitzewelle kursieren in den Sozialen Medien zurzeit Warnungen vor einem angeblichen Hautkrebsrisiko durch Sonnenschutz. Obwohl ultraviolette Strahlen die Hauptursache für Melanome sind und Sonnenschutzmittel diese Strahlen abweisen, wird davon abgeraten, sich zu schützen und der Sonnenschutz selbst als Gefahr dargestellt. Was ist dran an den Behauptungen?

Behauptung: "Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass in den Ländern, die am meisten Sonnenschutzmittel verwenden, die meisten Fälle von Hautkrebs auftreten. Je mehr Sonnenschutz genutzt wird, desto höher die Ausbreitung von Hautkrebs", schrieb in einem Beitragein US-amerikanischer X-User mit 58.000 Followern Ende Juni. Auch auf Tiktok gibt es Videos, die vor einem angeblichen Hautkrebsrisiko durch Sonnenschutz warnen.

DW Faktencheck: Falsch

Die Warnungen sind unbegründet. "Es gibt keine wissenschaftlichen Belege, die einen Zusammenhang zwischen erhöhtem Krebsrisiko und dem Gebrauch von Sonnenschutzmitteln herstellen", stellt Brittany Schaefer vom Institut für öffentliche Gesundheit des US-Staates Connecticut (CT)gegenüber der DW klar.

Der X-User nennt in seinem Beitrag das Connecticut Tumor Registry als Quelle. Institutssprecherin Schaefer erklärt, dass es sich hierbei um falsche Angaben handelt.

"Die ursprünglichen Daten zur Krebsinzidenz stammen wahrscheinlich aus dem CT-Tumorregister von vor Jahrzehnten, nicht aber die hinzugefügten Textfelder zu Sonnenschutzmitteln. Wir kennen die Quelle der aktuellen Grafik nicht, sie stammt nicht vom CTR oder dem CT Department of Public Health".

Mehr Sonnenschutz, mehr Melanome?

Doch warum nimmt die Zahl der Hautkrebsfälle weltweit zu, obwohl immer mehr Menschen Sonnenschutzmittel verwenden? Eine länderübergreifende Studievon Wissenschaftlern aus den USA, der Schweiz, Deutschland und Ungarn vom Dezember 2023 hat fünf Hypothesen aufgestellt, um diesen Widerspruch aufzulösen.

Zu den möglichen Gründen für Missverständnisse und Mythen rund um den Zusammenhang zwischen Hautkrebsrisiko und Sonnenschutz gehören laut Baseler Studie unter anderem eine verstärkte Diagnostik, bessere Behandlungsmethoden, veraltete wissenschaftliche Studien, eine erratische Verwendung von Sonnenschutzmitteln sowie der Klimawandel.

Hohe Inzidenz in Australien

So habe das wachsende Bewusstsein für Hautkrebsrisiken bei Patienten und Ärzten zu einer verstärkten Berichterstattung und Dokumentation geführt. Denn im Gegensatz zu den steigenden Inzidenzen weltweit, ist die Sterberate bei Hautkrebslaut der Internationalen Agentur für Krebsforschung wegen besserer Behandlungsmöglichkeiten weltweit gesunken.

Die höchste altersstandardisierte Inzidenzrate der Neuerkrankungen wies laut Angaben des World Cancer Research Fundaus dem Jahr 2022 Australien auf: 37 neue Hautkrebsfälle pro 100.000 Menschen pro Jahr, gefolgt von Dänemark (31,1), Norwegen (30,6), Neuseeland (29,8) und Schweden (27,4).

Hinsichtlich der Gesamtzahl der Hautkrebsfälle im Jahr 2022 lagen die USA mit 101.388 Fällen auf Platz 1, während Deutschland bei einer identischen Inzidenzrate von 16,5 mit 21.976 Hautkrebsfällen den zweiten Platz belegte.

Bei der Zahl der an Hautkrebs Verstorbenen im Jahr 2022 lagen die USA erneut auf Platz 1 (7.368 Todesfälle), während Deutschland mit 3.303 Fällen den vierten Platz hinter China und Russland einnahm. Dass eine hohe Inzidenzrate von Hautkrebserkrankungen nicht zwangsläufig mit einer höheren Sterblichkeitsrate einhergeht, zeigt auch die folgende Grafik.

Veraltete Studien

Ein weiterer Grund für die Zunahme von Hautkrebsfällen könnte laut Studie die Tatsache sein, dass mehr Menschen Zeit in der Sonne verbringen. Auch wenn sie dabei Sonnenschutzmittel verwendeten, sei dies keine Garantie dafür, dass dies auf korrekte Weise erfolge.

Auch fehlende aktuelle wissenschaftliche Studien trügen dazu bei, veraltete Narrative zu verfestigen. Denn erst 2011 begann die US-Gesundheitsbehörde (FDA) mit der Regulierung von Sonnenschutzpräparaten. Alle davor durchgeführten Studien, die die Verwendung von Sonnenschutzmitteln und die Entwicklung von Melanomen untersuchten, wurden also wahrscheinlich mit Sonnencremes durchgeführt, die nicht das gleiche Schutzniveau boten wie die heute auf dem Markt befindlichen Mittel.

Sonnenschutz - ein lukrativer Absatzmarkt

Doch verwenden Menschen in den Ländern mit den höchsten Hautkrebsinzidenzen wie Neuseeland, Australien, Schweden, Norwegen, Kanada und den USA wirklich mehr Sonnenschutz, wie es User im Netz behaupten?

Richtig ist, dass der Absatz von Sonnenschutzmitteln weltweit zunimmt. Laut Herstellerangabenwird er bis 2028 rund 13.553 Millionen US-Dollar erreichen. Größter Absatzmarkt sind die USA, gefolgt von China und Südkorea.

Wie Sonnenschutz in der Praxis wirklich genutzt wird, ist allerdings eine ganz andere Frage. Laut einer Erhebung des Australischen Statistikamtesgaben zwar 38 Prozent der Bevölkerung ab 15 Jahren auf dem Kontinent an, regelmäßig Sonnencremes zu verwenden.

Dennoch erklärten fast sieben Prozent, in der Woche vor der Befragung einen Sonnenbrand gehabt zu haben. Bei jungen Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren war dieser Anteil mit 15 Prozent deutlich höher.

Sonnenschutz nur im Urlaub

In den USA ergab eine Umfrage des Instituts Talker Research vom Mai dieses Jahres, dass weniger als 41 Prozent der 2000 befragten US-Amerikaner Sonnenschutz mehr als 60 Tage im Jahr benutzen. 13 Prozent gaben an, auf Sonnenschutz komplett zu verzichten.

Auch im Hochinzidenzland Deutschland verwenden laut einer Online-Umfrage vom August 2024rund 51 Prozent der Menschen Sonnenschutzmittel nur im Sommer oder in der direkten Sonne.

Die Sprecherin des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg, Sybille Kohlstädt, warnt angesichts des Mangels an validen Daten zum Thema Sonnenschutz vor falschen Rückschlüssen: "Im Gegensatz zu vorhandenen Daten über die wachsende globale Ausbreitung von Hautkrebs gibt es keine länderspezifische Statistiken, die den Gebrauch von Sonnenschutz aufschlüsseln und diesen wiederum in Beziehung zur Hautkrebsverbreitung setzen."

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Image caption Mehr Sonnenschutz, mehr Melanome? In Sozialen Medien kursieren Falschmeldungen zum Gebrauch von Sonnenschutzmitteln und einem damit verbundenen vermeintlichen Hautkrebsrisiko
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Item 63
Id 73114167
Date 2025-07-03
Title Im Rollstuhl durchs Berghain: Wie inklusiv sind die Clubs?
Short title Im Rollstuhl durchs Berghain: Wie inklusiv sind die Clubs?
Teaser Tanzen im Rollstuhl, stundenlang feiern - ohne begafft zu werden: Für Felize ist das Berghain ein zweites Zuhause. Doch was bedeutet Inklusion im Club, jenseits von Awareness-Teams und Rollstuhlrampen?
Short teaser Tanzen im Rollstuhl, stundenlang feiern, ohne begafft zu werden - immer mehr Clubs setzen auf Inklusion.
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Wenn Felize die Eingangshalle des Berghain durchquert, fühlt sie sich nicht wie eine Außenseiterin. Obwohl sie im Rollstuhl sitzt, gehört sie hier einfach dazu. Sie ist Stammgast im berühmtesten Technoclub Deutschlands. Sie kennt die Bässe, die endlosen Nächte, die strenge Tür - aber auch das Gefühl, inmitten von Fremden gesehen und akzeptiert zu werden.

Clubs wie das Berghain verstehen sich zunehmend als "Safe Spaces" (sichere Räume) für queere Menschen oder Menschen mit Behinderung. Inklusive Räume also, in denen die Menschen in aller Ruhe und sicher feiern können. Viele Clubs arbeiten mit Awareness-Teams, achten auf vielfältige Line-ups, eine diverse Gästeliste und setzen sich gegen Diskriminierung ein. Doch wie barrierefrei sind diese Räume tatsächlich - physisch und sozial?

"Ich will sichtbar sein - auch im Club"

Felize ist 20 Jahre alt, kommt aus einer Kleinstadt in Sachsen und lebt seit Kurzem in Berlin. Sie ist Rollstuhlfahrerin aufgrund einer genetischen Erkrankung, die bereits im Kleinkindalter festgestellt wurde. Das hält sie aber nicht davon ab, regelmäßig feiern zu gehen. Ihr Lieblingsclub: das Berghain.

"Ich bin nicht einfach nur ein Mensch im Rollstuhl - ich bin Teil dieser Szene. Ich will nicht zu Hause versauern, nur weil der Clubbesuch für mich mit mehr Aufwand verbunden ist", sagt Felize der DW. Und Aufwand gibt es. Schon vor dem Ausgehen beginnt die Planung: "Ich muss immer mit einer Begleitperson unterwegs sein - wegen Hilfestellung, aber auch, weil Vertrauen wichtig ist." Dann folgen praktische Fragen: Gibt es einen funktionierenden Fahrstuhl? Komme ich über den Eingang? Gibt es Treppen? Gibt es eine barrierefreie Toilette? Meistens, sagt sie, sei es erstaunlich schwer, diese Informationen überhaupt zu finden. Denn Clubbing im Rollstuhl sei ein nicht so präsentes Thema.

Für Felize steht auch die strengste Tür offen

Trotzdem geht sie feiern - oft im Berghain, manchmal auch in anderen Clubs. "Ich war zuerst total nervös, ob ich überhaupt reinkomme", erzählt sie über ihren ersten Besuch im berühmten Berliner Technotempel. "Die strenge Tür ist ja bekannt, und ich wusste nicht, ob es heißen würde: 'Sorry, Rollstuhl geht nicht.' Aber es war unkompliziert - ich durfte einfach rein." Im Vergleich zu anderen Clubs sei das Berghain für sie tatsächlich am besten zugänglich.

Doch Barrieren enden nicht bei Stufen und engen Toiletten. Es sind auch die Menschen. "Viele wissen nicht, wie sie mit mir umgehen sollen. Manche stellen ihre leeren Glasflaschen unter meinen Rollstuhl. Oder legen ihre Jacke drauf, als wäre ich ein Kleiderständer", erzählt sie. "Ich bin aber kein Hindernis oder sowas. Mein Rollstuhl ist ein Teil von mir." Sie wünscht sich mehr Empathie - und gleichzeitig mehr Normalität. "Ich will nicht immer als etwas Besonderes gesehen werden. Ich bin einfach ein Mensch, der gerne tanzt und feiert."

"Zeigen, wer ich bin"

Ihr Kleidungsstil spiegelt das wider: "Klar, Schwarz gehört zum Club-Look. Aber ich peppe es gerne mit auffälligen Accessoires auf. Ich will mich wohlfühlen, und ich will zeigen, wer ich bin." Lange habe sie sich viele Gedanken darüber gemacht, wie andere sie sehen. "Aber ich arbeite daran, meinen Körper zu akzeptieren und mich nicht ständig anzupassen. Das ist ein Prozess."

Ihr Traum von einer perfekten Partynacht sei "mit Freunden feiern in einem barrierefreien Club mit funktionierendem Fahrstuhl, einer richtigen Toilette und einer entspannten Crowd, die einfach nur gemeinsam tanzen will, ohne Vorurteile." Bis zum Sonnenaufgang feiern, dann irgendwo noch etwas essen und nach Hause rollen - einfach eine typische Sommer-Clubnacht.

Warum sie sich trotzdem manchmal alleine fühlt? "Es gibt wenige Menschen im Rollstuhl, die in Clubs gehen. Ich glaube, das liegt zum einen an der schlechten Zugänglichkeit - aber auch am fehlenden Selbstvertrauen. Man wird angestarrt, das lässt sich nicht vermeiden. Aber ich finde, wir müssen präsenter sein, damit sich das ändert. Ich will nicht unsichtbar sein. Ich will Teil des Ganzen sein." Und das wird Felize immer mehr. Sie ist im Berghain angekommen - mehr sagt sie nicht. Denn auch sie weiß: Was im Berghain passiert, bleibt im Berghain.

Item URL https://www.dw.com/de/im-rollstuhl-durchs-berghain-wie-inklusiv-sind-die-clubs/a-73114167?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Felize vor dem Berghain, dem berühmtesten Technoclub Deutschlands
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Item 64
Id 73117134
Date 2025-07-02
Title KI-Modell soll menschliches Verhalten vorhersagen
Short title KI-Modell soll menschliches Verhalten vorhersagen
Teaser Kann künstliche Intelligenz errechnen, wie sich Menschen verhalten? Das neuentwickelte KI-Modell Centaur kam in einer Studie bei mehr als 60 Prozent der Fälle zum richtigen Ergebnis. Geht das auch im echten Leben?
Short teaser Ein neues KI-Modell soll das Verhalten von Menschen in psychologischen Test voraussagen. Geht das auch im echten Leben?
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Künstliche Intelligenz (KI) in Form von Sprachmodellen scheint menschliches Verhalten immer besser abbilden zu können. Aber sind solche KI-Modelle dadurch auch in der Lage, Entscheidungen von Menschen vorherzusagen? Das wollte ein internationales Forschungsteam um das Institut für Human-Centered AI am Helmholtz Zentrum München herausfinden – und entwickelte das neue Sprachmodell Centaur.

Als Basis diente dem Team ein open-source Sprachmodell der Firma Meta AI. Die Forschenden programmierten die Centaur-KI dann mit Daten aus 160 psychologischen Experimenten. Dabei waren rund 60.000 Testpersonen Aufgaben gestellt worden. Sie sollten beispielsweise Objekte einordnen oder Entscheidungen beim Glücksspiel treffen.

Zehn Millionen Entscheidungen als KI-Training

Insgesamt umfasst der Datensatz für Centaur mehr als zehn Millionen Entscheidungen. Mit 90 Prozent der Ergebnisdaten wurde die KI trainiert. Die Ergebnisse der restlichen zehn Prozent blieben ihr unbekannt. Mit diesen Daten testen die Forschenden dann ihr neues Sprachmodell: Würde Centaur in der Lage sein, das Verhalten der Testpersonen vorherzusagen?

Das Ergebnis: Das KI-Modell konnte die tatsächlich getroffenen Entscheidungen teilweise mit einer Genauigkeit von bis zu 64 Prozent vorhersagen. Cenatur lieferte auch dann noch gute Ergebnisse, wenn der Versuchsaufbau leicht verändert wurde – wenn es also zu Situationen Vorhersagen treffen sollte, zu denen es nicht konkret trainiert worden war.

"Unternehmen nutzen KI, um unsere Vorlieben vorherzusagen"

Das Neue an Centaur sei, dass man die KI auf "Verhaltensdaten" anwenden könne, sagt Clemens Stachl, Direktor des Instituts für Verhaltenswissenschaften und Technologie, der Universität St. Gallen. "Das ist dadurch geschehen, dass die Ergebnisse aus klassischen Experimenten über Entscheidungen in Sprache übersetzt wurden."

KI-Modelle wie Centaur könnten auch jenseits der Sozial- und Verhaltenswissenschaften angewendet werden, meint Stachl. "Zum Beispiel überall da, wo menschliches Verhalten analysiert und vorhergesagt werden soll, etwa beim Einkaufen, in der Bildung oder im Militär."

Eine praktische Anwendung hält der Verhaltenswissenschaftler für offensichtlich, schließlich sei diese Art von KI-Modellen von der Industrie entwickelt worden. So komme auch bei Centaur die grundlegende Architektur von Google und die schon vortrainierte Basis von Meta.

"Wir können davon ausgehen, dass große Technologieunternehmen bereits heute ähnliche Modelle einsetzen, um unser Entscheidungsverhalten und unsere Präferenzen – etwa beim Online-Shopping oder in sozialen Medien – vorherzusagen."

Als Beispiele nennt Stachl das Sprachmodell ChatGPT und die Social-Media-Plattform Tiktok. "Diese Modelle sind inzwischen sehr gut, denken Sie hier zum Beispiel daran, wie gut Tiktok Videos vorschlägt, um Nutzer möglichst lange in der App zu halten."

"Ergebnisse der Centaur-Studie nicht überbewerten"

Andere Experten sind der Ansicht, dass es noch eine Weile dauern dürfte, bis KI-Anwendungen wie Centaur auch außerhalb der Labore genutzt werden.

Die psychologischen Tests, mit denen die KI trainiert wurde, umfassten nur einen winzigen Ausschnitt menschlichen Verhaltens, sagt etwa Markus Langer. Er leitet die Abteilung Arbeits- und Organisationspsychologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. "Über die Vorhersage 'natürlichen' oder 'alltäglichen' menschlichen Verhaltens sagt das erstmal nicht viel aus."

Er sieht das Hauptrisiko derartiger Forschung darin, dass die Ergebnisse überinterpretiert werden könnten - nach dem Motto: 'Wow, jetzt kann man menschliches Verhalten endlich präzise vorhersagen'. Das sei eben noch nicht der Fall, so Langer. Auch müsse man sich fragen, ob man die Genauigkeit der Vorhersagen von Centaur mit rund 64 Prozent wirklich als "gut" bewertet wolle.

Sollte KI überhaupt menschliches Verhalten deuten können?

Das Centaur-Modell und die Ergebnisse der Studie seien vor allem als Beitrag zur Grundlagenforschung zu verstehen, sagt Verhaltenswissenschaftler Stachl. Modelle dieser Art könnten zwar grundsätzlich helfen, komplexe gesellschaftliche Herausforderungen zu lösen, etwa im Gesundheitsbereich.

"Gleichzeitig besteht jedoch die Gefahr, dass sie uns immer vorhersagbarer machen und in eine Form digitaler Abhängigkeit oder gar 'digitaler Sklaverei' führen." Durch unseren alltäglichen Medienkonsum und die Nutzung digitaler Technologien würden Tag für Tag neue Verhaltensdaten produziert, die zur weiteren Verbesserung solcher Modelle beitragen, so Stachl weiter.

Der Umgang mit dieser Technologie ist für den Verhaltenswissenschaftler eine Frage, die "unsere Gesellschaft als Ganzes beantworten muss. Dabei werden die Wissenschaft, aber insbesondere auch Juristinnen und Juristen sowie politische Entscheidungsträger in Zukunft stärker gefordert sein."

Item URL https://www.dw.com/de/ki-modell-soll-menschliches-verhalten-vorhersagen/a-73117134?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption KI kann deutlich mehr Daten verarbeiten als ein menschliches Gehirn - für die Bewertung der Ergebnisse braucht es aber (noch) den Menschen
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Item 65
Id 73110077
Date 2025-07-02
Title Es ist zu heiß: Ist diese Hitze das neue Normal?
Short title Es ist zu heiß: Ist diese Hitze das neue Normal?
Teaser Hitzewellen werden an vielen Orten der Welt immer extremer. Brütende Hitze belastet unseren Körper, bringt die Gesellschaft durcheinander und legt unsere Infrastruktur lahm. Wie kann sich die Welt darauf einstellen?
Short teaser Hitzewellen werden an vielen Orten auf der Welt immer extremer. Wie kann sich die Welt daran anpassen?
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Menschen auf der ganzen Welt haben mit schwül-heißen Temperaturen zu kämpfen, die durch den Klimawandel angeheizt werden. Die erste Hitzewelle dieses Sommers hat Teile Europas und der USA fest im Griff.

Die Temperaturen in Südspanien erreichten am Samstag 46 Grad Celsius, ein neuer Rekord für Juni, so die nationale Wetteragentur. Barcelona hat ebenfalls einen neuen Rekord für den heißesten Juni aller Zeiten aufgestellt.

Die Behörden entlang des Mittelmeers haben die Menschen aufgefordert, Schutz vor der Hitze zu suchen. Frankreich und Italien haben unter anderem Krankenwagen in die Nähe von Touristenhochburgen geschickt, um im Fall der Fälle Menschen mit Hitzschlag zu behandeln.

Am Sonntag brachen in Frankreich und der Türkei Brände aus, die durch starken Wind angefacht wurden. Gleichzeitig bekämpften Feuerwehrleute auch in Griechenland und Italien Brände, die durch ungewöhnlich trockene Bedingungen begünstigt wurden.

Letzte Woche gaben die chinesischen Behörden an einem der bisher heißesten Tage des Jahres 2025 die zweithöchste Hitzewarnung für die Hauptstadt Peking und andere Regionen aus.

Nach Angaben der World Meteorological Organziation (WMO) erwärmt sich Asien aufgrund seiner großen Landmasse mehr als doppelt so schnell wie der Rest der Welt.

Welche Auswirkungen hat die Hitze auf Menschen und Gesellschaft?

Hitzewellen sind weltweit die tödlichste Art von Extremwetter. Jährlich sterben Hunderttausende von Menschen an hitzebedingten Ursachen. Besonders gefährdet sind Menschen über 65 Jahre, schwangere Frauen, Kinder und Menschen mit chronischen Krankheiten oder Grunderkrankungen.

Die ersten Hitzewellen zu Beginn des Sommers sind besonders tödlich, da die Menschen oft weniger gut vorbereitet sind und sich ihr Körper noch nicht an die höheren Temperaturen gewöhnt hat.

Hitzewellen bergen vor allem körperliche Risiken: Dehydrierung, Überhitzung, Hitzeerschöpfung und Hitzschlag.

Dabei wirkt sich Hitze wirkt nicht nur auf den Körper aus, sondern bringt auch die Gesellschaft aus dem Gleichgewicht. Nach Angaben des UN-Kinderhilfswerks UNICEF leben fast eine halbe Milliarde Kinder- jedes fünfte weltweit - in Gebieten, in denen es inzwischen mehr als doppelt so viele extrem heiße Tage pro Jahr gibt wie vor 60 Jahren. Viele Menschen verfügen nicht über die nötige Infrastruktur wie zum Beispiel Klimaanlagen, um mit der extremen Hitze fertig zu werden.

Hitzefrei in der Schule und Auswirkungen auf die Arbeit

Im Mai erlebte Pakistan eine landesweite Hitzewelle, bei der die Temperaturen in der bevölkerungsreichsten Provinz Punjab 45 Grad Celsius erreichten. In mehreren anderen Provinzen wurden die Schulstunden verkürzt oder die Sommerferien vorgezogen.

Auch im Südsudan und auf den Philippinen haben Hitzewellen in diesem Jahr den Schulbetrieb unterbrochen.

Extreme Hitze wirkt sich auch darauf aus, wann die Menschen arbeiten können. In einigen Ländern in den heißeren Teilen der Welt ist es üblich, mittags eine "Siesta"-Pause einzulegen. Jetzt wird auch in früher normalerweise kühleren Gegenden darüber gesprochen, wie die Arbeitszeiten geregelt werden können, wenn die Temperaturen steigen.

Infrastrukturen wie Straßen, Eisenbahnen und Brücken sind von großer Hitze stark betroffen. Herkömmliche Asphaltstraßen, die nicht für heißes Wetter ausgelegt sind, bekommen schneller Spurrillen und können buchstäblich "schmelzen". Eisenbahnschienen können sich bei großer Hitze verziehen; ebenso können sich Brücken ausdehnen und verformen.

Wie hängen die höheren Temperaturen mit dem Klimawandel zusammen?

Im Jahr 2024 wurden die wärmsten zwölf Monate seit Beginn der Aufzeichnungen verzeichnet. Der Trend zu steigenden Temperaturen wird seit Jahren beobachtet. "Wir hatten nicht nur ein oder zwei rekordverdächtige Jahre, sondern eine ganze Zehn-Jahres-Serie. Dies ging einher mit verheerenden und extremen Wetterereignissen, steigenden Meeresspiegeln und schmelzendem Eis, alles angetrieben durch rekordverdächtige Treibhausgaswerte aufgrund menschlicher Aktivitäten", sagte WMO-Generalsekretärin Celeste Saulo.

Die Klimaerwärmung hat die Häufigkeit und Intensität von Hitzewellen seit den 1950er Jahren erhöht. Dabei macht sich jeder Bruchteil eines Grades Erwärmung bemerkbar und führt dazu, dass sie noch stärker werden und häufiger auftreten.

Kohle, Öl und Gas tragen nach Ansicht von Wissenschaftlern am meisten zum Klimawandel bei. Wenn diese fossilen Brennstoffe verbrannt werden, um Verbrennungsmotoren anzutreiben, Strom zu erzeugen, Kunststoffe herzustellen und Häuser zu heizen, setzen sie Treibhausgasemissionen frei. Diese legen sich wie eine Decke um die Erde.

Extreme Hitze kann auch zu einem höheren Risiko für andere Katastrophen wie Dürre und Waldbränden führen.

Wie können wir mit der zunehmenden Hitze leben?

Gesundheitsexperten raten Menschen, sich möglichst nicht in der Hitze aufzuhalten, anstrengende Aktivitäten zu vermeiden und viel zu trinken - aber keinen Alkohol oder Koffein.

Zu Hause kann man sich zumindest etwas schützen, indem man Jalousien oder Vorhänge zuzieht und die Fenster tagsüber geschlossen hält und nur nachts öffnet, wenn die Luft kühler ist. Helle Kleidung, die Wärme und Sonnenlicht reflektiert, kann ebenso helfen wie elektrische Ventilatoren, vor allem wenn die Umgebungstemperatur unter 35 Grad Celsius liegt.

Zu den langfristigen Strategien, um die Hitze erträglicher zu machen, gehören Klimamaßnahmen in Städten wie die Begrünung von Flächen und das Pflanzen von Bäumen entlang der Straßen. Sie spenden nicht nur Schatten, sondern verringern auch die vom Beton gespeicherte Wärme.

Laut Experten ist der Schlüssel zur Eindämmung der steigenden globalen Temperaturen die Förderung der grünen Energiewende durch die Nutzung erneuerbarer Energiequellen, die keine hitzeverursachenden Emissionen freisetzen.

Im Jahr 2024 stammten bereits etwa 40 Prozent des weltweit erzeugten Stroms aus erneuerbaren Energien. Dabei wächst einem Bericht des globalen Energie-Thinktanks Ember zufolge derzeit die Solarenergie am schnellsten.

Der Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt.

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Image caption Auch in Spanien müssen die Menschen derzeit mit der Rekordhitze umgehen. An besonders heißen Nachmittagen sollen sie nicht mehr draußen arbeiten.
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Item 66
Id 73095179
Date 2025-07-01
Title Was wir über die 1800 Atommüll-Fässer im Atlantik wissen
Short title Was wir über die 1800 Atommüll-Fässer im Atlantik wissen
Teaser Hunderttausende Fässer mit nuklearem Müll wurden vor Jahrzehnten im Atlantik versenkt. Forschende vermuten, dass sie Radioaktivität freisetzen und nehmen Proben aus ihrer Umgebung. 1800 Fässer haben sie bereits geortet.
Short teaser Im Atlantik liegen hunderttausende Fässer mit nuklearem Müll. 1800 davon haben Forschende nun geortet und nehmen Proben.
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Aus den Augen, aus dem Sinn - nach diesem Motto wurde früher radioaktiver Abfall im Meer verklappt. Mehr als 1800 Fässer mit radioaktiven Abfällen haben Forschende nun im Nordostatlantik entdeckt. Die radioaktiven Fässer waren zwischen den 1950er und 1980er Jahren von verschiedenen europäischen Staaten, darunter Großbritannien, Belgien, die Niederlande, die Schweiz und Deutschland, im Ozean entsorgt worden. Es war die billigste und einfachste Lösung, um radioaktive Abfälle aus der Atomindustrie und aus Forschungslaboren zu beseitigen.

Erst 1993 wurde die Entsorgung von Atommüll im Ozean untersagt. Bis dahin wurden allerdings mutmaßlich mindestens 200.000 Fässer alleine im Nordostatlantik versenkt, in 3000 bis 5000 Metern Tiefe.

Europäische Forschende sind nun auf dem Forschungsschiff "L'Atalante" in das Gebiet gefahren, in dem vermutlich die Hälfte aller Atomabfälle landete: in das Westeuropäische Becken des Atlantiks, mehr als 1000 Kilometer westlich vom französischen La Rochelle. NODSSUM heißt das Projekt - Nuclear Ocean Dump Site Survey Monitoring - zu Deutsch etwa: Überwachung der Atom-Deponien im Ozean.

Bisher kaum Daten zu den Atommüll-Fässer im Atlantik

Das internationale Team aus 21 Forschenden will eine Karte mit allen Orten erstellen, an denen Atom-Fässer gefunden werden. Denn bisher weiß man nur wenig über den Nuklearmüll im Meer und darüber, wo genau er sich befindet.

"In vielen Fällen fehlen Informationen über den Zustand oder den genauen Standort der Fässer und die Daten über die Art und Herkunft der radioaktiven Abfälle sind oft unvollständig oder schwer zugänglich", erklärt Pedro Nogueira der DW. Der Biochemiker vom Thünen-Institut für Fischereiökologie in Bremerhaven ist mit an Bord der "L'Atalante". Er arbeitet seit zehn Jahren an der Überwachung radioaktiver Stoffe in der Meeresumwelt.

Von kontaminierten Labormaterialien und Schutzkleidungen, Rückständen aus Medizin, Forschung und Industrie sowie Abfällen aus Atomreaktoren sei alles dabei, so Nogueira. Zwar handelt es sich bei dem verklappten Müll dem Wissenschaftler zufolge zum Großteil um schwach- und mittelradioaktive Abfälle. Doch auch einige dieser Stoffe sind gefährlich. Strontium-90 etwa, das vor allem Knochentumore und Leukämie auslösen kann, wenn es in den menschlichen Körper gelangt. Oder Cäsium-137, ein Stoff, der auch bei der Reaktor-Katastrophe von Tschernobyl freigesetzt wurde. Bis heute sind Wildpilze und Wildtierfleisch in einigen Regionen Europas, darunter Bayern in Deutschland, damit noch stark belastet.

Und auch Plutonium wurde in Fässern im Atlantik versenkt, genauer gesagt: Plutonium-239. Es ist das am häufigsten produzierte Plutoniumisotop. Als Isotope bezeichnet man Atomarten eines chemischen Elements, hier also des Plutoniums, die sich in der Anzahl ihrer Neutronen im Atomkern vom Ursprungselement unterscheiden.

Plutonium-239 hat eine Halbwertszeit von mehr als 24.000 Jahren, erst dann also ist seine Strahlung um die Hälfte gesunken.

Wie viel radioaktive Strahlung entweicht in den Ozean?

Projektleiter Patrick Chardon, Atomphysiker am Labor Clermont Auvergne in Frankreich vermutet, dass schon seit längerem Radioaktivität aus den Behältern entweicht. Zwar seien die Fässer so konzipiert, dass sie dem Druck der Tiefe standhielten. Allerdings eben nicht so, dass die radioaktive Strahlung in ihrem Inneren bleibe.

"Wir wissen, dass einige Fässer korrodiert sind und dass in Tiefsee-Sedimenten und Organismen in der Nähe alter Deponien geringe Mengen an Radioaktivität nachgewiesen wurden", sagt Pedro Nogueira. "Die verfügbaren Daten zeigen aber, dass sie für die Küstenregionen oder die menschliche Gesundheit nur ein sehr geringes Risiko darstellt." Auch in Fischen und Meeresfrüchten liege die Radioaktivität weit unter den Schwellenwerten für sichere Lebensmittel, wie die laufenden Überwachungen zeigten.

Projektleiter Chardon schätzt, dass bei den allermeisten nuklearen Abfällen im Nordatlantik die Radioaktivität nach etwa 300 bis 400 Jahren verschwunden sein wird. Nur bei etwa zwei Prozent des Mülls sei die Strahlungsdauer deutlich länger, so der Atomphysiker.

Atommüll soll in der Tiefsee des Atlantiks bleiben

Die in der Tiefsee versenkten Fässer werden wahrscheinlich dort verbleiben. Eine Bergung wäre mit der derzeitigen Technologie äußerst schwierig und könnte größere Umweltrisiken mit sich bringen, erklärt Pedro Nogueira.

Um künftige Veränderungen der radioaktiven Belastung rechtzeitig zu erkennen und dann angemessen zu handeln, sei daher eine kontinuierliche Überwachung des Atommülls im Ozean unerlässlich, betont der Wissenschaftler.

Vier Wochen lang will das Team auf der "L'Atalante" insgesamt vor Ort bleiben. Nicht nur, um Standorte und Zustand der Fässer zu erfassen, sondern auch, um Proben von Wasser, Boden und Tieren nehmen. Sie sollen zeigen, welchen Einfluss der verklappte Nuklearmüll auf das Ökosystem hat. Insgesamt wollen die Forschenden etwa 200 Quadratkilometer Meeresgebiet untersuchen.

Item URL https://www.dw.com/de/was-wir-über-die-1800-atommüll-fässer-im-atlantik-wissen/a-73095179?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Mit ihrem Tauchroboter Ulyx haben Forschende fast 2000 Fässer mit radioaktivem Müll im Nordostatlantik entdeckt
Image source Flotte Océanographique Française/picture alliance/dpa
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Item 67
Id 62749737
Date 2025-06-30
Title Wenn einen der Hitzschlag trifft, kann das tödlich enden
Short title Hitzewelle: Wenn der Hitzschlag tödlich endet
Teaser Eine Hitzewelle hat Deutschland und Europa derzeit fest im Griff: Die extreme Hitze kann bei Menschen zu einem Hitzschlag führen - mit lebensbedrohlichen Folgen.
Short teaser Extreme Hitze wie diese Woche in Deutschland kann zu einem Hitzschlag führen - mit lebensbedrohlichen Folgen.
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Kleine Kinder sind extrem gefährdet, an einem Hitzschlag zu sterben, denn ihr Körper besitzt noch nicht so viele Schweißdrüsen wie der Körper eines Erwachsenen. Der zählt durchschnittlich zwischen 150 und 350 Schweißdrüsen pro Quadratzentimeter. Und die sind unter anderem dafür zuständig, unseren Körper zu kühlen. Die Anzahl ist abhängig von der jeweiligen Körperregion. Handinnenflächen und Fußsohlen haben mit etwa 360 bis 370 den höchsten Anteil.

Im Auto kann es zu gefährlich hohen Temperaturen kommen

Bei einer Außentemperatur von etwa 32 Grad Celsius klettert das Thermometer im Innenraum eines Autos nach 30 Minuten auf etwa 48 Grad, nach 60 Minuten auf 58 Grad. Das ist lebensgefährlich, denn unser Körper muss in der Lage sein, die Körpertemperatur von 37 Grad zu halten. Bei einem Hitzschlag liegt sie bei etwa 40 Grad. Das ist nicht nur unangenehm, sondern kann zum Hitzetod führen.

Auch für ältere Menschen ist es gefährlich, wenn sie extremer Hitze ausgesetzt sind. Häufig leiden sie unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Bei großer Hitze muss das Herz sehr viel mehr und stärker arbeiten als bei durchschnittlichen Temperaturen. Nach einer Herzoperation oder wenn die Gefäße geschädigt sind, laufen Ältere also eher Gefahr einen Hitzschlag zu erleiden.

Kein Sport bei extremer Hitze

Auch Menschen ohne Vorerkrankungen oder solche, die normalerweise selten unter extremen Temperaturen leiden, sind nicht vor einem Hitzschlag gefeit. Treiben sie beispielsweise bei großer Hitze extremen Sport und überschreiten dabei ihr Limit, ist es nicht verwunderlich, wenn der Körper irgendwann aufgibt und einen Hitzschlag erleidet. Das gleiche gilt für Menschen, die in der Hitze schwer körperlich arbeiten müssen und der prallen Sonne ausgesetzt sind wie etwa Menschen im Straßenbau.

Bei starker Hitze wird unsere Haut stärker durchblutet und unser Körper versucht, sich über die Haut und über das Blut abzukühlen. Wir beginnen zu schwitzen. Die Schweißperlen auf unserer Haut verdunsten und bringen so zumindest ein bisschen Abkühlung für den Körper. Bei extremer Hitze kann es aber passieren, dass unser natürlicher Temperaturausgleich versagt. Täglich verlieren wir so zwischen einem halben bis mehreren Litern Flüssigkeit - 99 Prozent davon sind Wasser.

Schwitzen ist lebenswichtig

Für die Regulation des menschlichen Wärmehaushaltes sind die sogenannten ekkrinen Schweißdrüsen verantwortlich. Es gibt sie vor allem unter den Achseln und an den Handinnenflächen, aber auch auf der Stirn. Sie haben einen Durchmesser von knapp 0,4 Millimetern.

Unser Körper hat insgesamt zwischen zwei und vier Millionen dieser winzigen ekkrinen Schweißdrüsen. Produziert wird der Schweiß im Drüsenendstück, das ähnlich aussieht wie ein Wollknäuel. Über einen Ausführungskanal wird der Schweiß an die Haut abgegeben. Dort verteilt sich die Flüssigkeit dann in Form von winzigen Schweißperlen. Solange das alles funktioniert, kommt unser Körper alleine klar. Wenn er aber nicht mehr in der Lage ist, sein eigenes Kühlsystem zu nutzen, kann das äußerst gefährlich werden, etwa bei einem Sonnenstich.

Es ist wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren

Bei einem Sonnenstich ist der Kopf überhitzt, da er vermutlich zu lange und zu intensiv starker Sonne und damit auch hohen Temperaturen ausgesetzt war. Kopfschmerzen sind meist ein erstes Anzeichen für einen Sonnenstich. Der Nacken schmerzt, die Person ist erschöpft, manchmal kommen Übelkeit und Erbrechen hinzu.

Zu diesen Symptomen kommt es, weil die Hirnhäute durch die Überhitzung gereizt sind. So kann es zu einer sogenannten aseptischen Meningitis kommen, einer Hirnhautentzündung also, die nicht von einem Bakterium verursacht wird. Der Person ist meist schwindelig, es kann zu Verwirrtheit kommen oder sogar zu Bewusstlosigkeit. Dann ist auf jeden Fall ein Arzt gefragt.

Zunächst einmal sollten Betroffene bei einem Sonnenstich sofort in eine kühle Umgebung gebracht werden und auf den Rücken gelegt werden, damit sie sich so möglichst schnell erholen können. Dabei werden Kopf und Oberkörper hochgelagert. Kalte, feuchte Tücher können helfen, Körperareale, wie etwa den Nacken, zu kühlen. Außerdem sollten die Betroffenen viel trinken, um den Wasserhaushalt wieder auf ein normales Niveau zu bringen.

Ein Hitzschlag ist ein Supergau für den Körper

Schlimmer noch als ein Sonnenstich ist ein Hitzschlag. Dabei steigt die innere Temperatur auf bis zu 40 Grad Celsius. Die Lage wird dann äußerst ernst, denn es komm neben starkem Schwitzen möglicherweise zu Sehstörungen und zu Atemnot. Ein Hitzschlag kann schnell lebensbedrohlich werden. Dabei kann der Körper die Hitze auf keinem Weg mehr ausreichend ausgleichen und sie nach außen abgeben. Der Puls ist erhöht, die Atmung wird schneller und der Blutdruck sinkt. Letztendlich kann es zu einer Entzündungsreaktion und im weiteren Verlauf zu ernsthaften Organschäden kommen. Wird der Patient dann nicht so schnell wie möglich behandelt, kann komplettes Organversagen die Folge sein.

Extreme Hitze zu vermeiden ist die beste Vorbeugung

Bei extrem hohen Temperaturen kommt unsere körpereigene Hitzeregulierung schnell an ihre Grenzen. Bei älteren Menschen kommt hinzu, dass sie oft zu wenig trinken. In der Folge kann der Körper nicht genügend Schweiß produzieren, was wiederum dazu führt, dass es für den Körper schwierig ist, sich von alleine abzukühlen.

In vielen Fällen ist es dann empfehlenswert und am sichersten, einen Arzt zu rufen. Die beste Möglichkeit einen Sonnenstich, Hitzekollaps oder gar einen Hitzschlag zu vermeiden, liegt auf der Hand: nicht zu viel Sonne tanken, sich möglichst nicht extremer Hitze aussetzen und viel trinken.

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Image caption Bei Hitze ist es wichtig, einen kühlen Kopf zu bewahren
Image source picture alliance/dpa/S. Kahnert
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Item 68
Id 73060638
Date 2025-06-30
Title Die frühen Europäer hatten dunkle Haut und dunkle Haare
Short title Die frühen Europäer hatten dunkle Haut und dunkle Haare
Teaser Eine italienische Studie zeigt die genetische Entwicklung der Haut-, Haar- und Augenfarbe in Europa über 45.000 Jahre hinweg. Erst vor etwa 3000 Jahren treten blonde Haare und blaue Augen häufiger auf.
Short teaser Laut einer italienischen Studie traten blonde Haare und blaue Augen in Europa erst vor etwa 3000 Jahren häufiger auf.
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Die frühen Europäer hatten wahrscheinlich dunkle Haare, dunkle Augen und dunkle Haut. Bis zur Eisenzeit vor etwa 3000 Jahren waren Menschen mit hellen Haaren, hellen Augen und heller Haut die große Ausnahme. Das zeigen Forschungsergebnisse der Genetikerin Silvia Ghirotto von der Universität Ferrara in Italien.

Demnach traten die Gene, die für helle Haut, Haare und Augen verantwortlich sind, bei den frühen Europäern vor etwa 14.000 Jahren, in der Spätphase der Altsteinzeit (Paläolithikum), nur sehr sporadisch auf.

Heute gibt es in Nordeuropa in Ländern wie Norwegen, Schweden und Finnland sogar Regionen, in denen über 80 Prozent der Bevölkerung von Natur aus blond sind. Im Rest Europas sind blonde Haare eher eine Ausnahme, die meisten Europäer haben braune Haare. Weltweit sind nur etwa zwei Prozent der Menschen von Natur aus blond.

Schwierige Suche nach brauchbarer DNA

Für die Studie analysierte das Team um Ghirotto 348 DNA-Proben aus archäologischen Stätten in 34 Ländern in Westeuropa und Asien. Die älteste, 45.000 Jahre alte Probe stammt vom Ust'-Ishim-Individuum, das 2008 in Westsibirien entdeckt wurde. Besonders aussagekräftig war auch die DNA-Probe des etwa 9000 Jahre alten Individuums SF12 aus Schweden.

Allerdings sind viele der untersuchten DNA-Proben so stark beschädigt oder unvollständig ("degradiert"), dass die Forschenden die Pigmentierungsmerkmale (wie Haut-, Haar- und Augenfarbe) nicht direkt ablesen konnten. Stattdessen nutzten sie statistische Methoden, um trotzdem Rückschlüsse auf diese Merkmale zu ziehen.

Das afrikanische Erbe der Europäer

Vor etwa 50.000 bis 60.000 Jahren blieben die ersten Homo sapiens dauerhaft in Europa. Genetisch hatten sie sich noch nicht weit von ihren modernen Vorfahren in Afrika entfernt. Das heißt, sie trugen überwiegend die Gene für dunkle Haut, Haare und Augen in sich.

Zwar gab es wohl immer mal Ausnahmen, etwa blaue Augen, aber die meisten Menschen in Europa hatten auch noch während der Kupferzeit vor etwa 5000 Jahren dunkle Haut und dunkle Haare. Laut den DNA-Proben hatten 63 Prozent der frühen Europäer dunkle Haut, während nur acht Prozent helle Haut hatten.

Evolutionäre Vorteile durch helle Haut und helle Augen in Europa?

In Nordeuropa, wie zum Beispiel in Schweden, kam es dann vor etwa 3000 Jahren zu einer Häufung von Menschen mit hellen Haaren und hellen Augen.

Laut der Studie könnte die helle Haut für die frühen Sammler und Jäger einen evolutionären Vorteil bedeutet haben. Im schwächeren Sonnenlicht konnten sie so möglicherweise mehr Vitamin D synthetisieren, was für gesunde Knochen, Zähne und Muskeln benötigt wird.

Dagegen hatte die hellere Augenfarbe wohl keine größeren evolutionären Vorteile. Die blauen oder grünen Augen seien auf einen genetischen Zufall oder auf sexuelle Selektion zurückzuführen, erklärt Genetikerin Ghirotto.

Noch ist aber nicht abschließend geklärt, welche evolutionären Vorteile helle Haut, Haare und Augen den Menschen in Europa genau brachten. Auch ob die Zunahme der helleren Pigmentierung etwa mit klimatischen und migrationsbedingten Veränderungen in Europa zusammenhing, muss noch weiter erforscht werden.

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Image caption Rekonstruierter Kopf des etwa 10.000 Jahre alte "Cheddar"-Mannes aus dem Süden des heutigen Englands
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Item 69
Id 73052280
Date 2025-06-29
Title Wie tragen Erneuerbare zur Energiesicherheit bei?
Short title Wie tragen Erneuerbare zur Energiesicherheit bei?
Teaser Geopolitische Krisen - wie zuletzt der Konflikt zwischen Israel und dem Iran - gefährden Öl und Gasimporte. Bieten erneuerbare Energien in unsicheren Zeiten mehr Sicherheit?
Short teaser Geopolitische Krisen gefährden Öl und Gasimporte. Bieten erneuerbare Energien in unsicheren Zeiten mehr Sicherheit?
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Derzeit herrscht eine Waffenruhe zwischen dem Iran und Israel, doch der Konflikt zwischen den beiden Nationen hat in den vergangenen Wochen die globale Energiesicherheit wieder in den Fokus gerückt. Als Reaktion auf den Angriff der USA auf Nuklearanlagen im Iran drohte das Land mit der Schließung der Straße von Hormus, einer wichtigen Schifffahrtsroute für die globale Energieversorgung.

Ein solcher Schritt könnte den Zugang zu fossilen Brennstoffen für viele Länder weltweit stören und die Energiepreise in die Höhe treiben. Etwa 20 Prozent des weltweiten Flüssigerdgases und fast 27 Prozent des Rohöls werden über die schmale Wasserstraße transportiert, die den Persischen Golf mit dem Golf von Oman verbindet.

Viele argumentieren, dass die Abkehr von fossilen Brennstoffen nicht nur für das Klima, sondern auch für die Energiesicherheit von entscheidender Bedeutung ist. Denn heimische erneuerbare Energien könnten in Zeiten geopolitischer Spannungen eine stabile Energieversorgung gewährleisten.

Was ist Energiesicherheit und warum ist sie wichtig?

Energiesicherheit bedeutet laut der unabhängigen zwischenstaatlichen Internationalen Energieagentur (IEA): ein ununterbrochener Zugang zu Energie - zu einem erschwinglichen Preis. Für moderne Volkswirtschaften ist Energie von entscheidender Bedeutung für alle Sektoren, von der Fertigung über Transport und Kommunikation bis hin zu Bildung und Landwirtschaft.

Unterbrechungen in der Energieversorgung können ganze Industriezweige zum Erliegen bringen, wichtige Dienstleistungen wie das Gesundheitswesen behindern und sogar die nationale Sicherheit gefährden, indem sie militärische Operationen beeinträchtigen.

In den 1970er Jahren führten Unterbrechungen der Ölexporte zu starken Preisanstiegen, langen Schlangen an Tankstellen und erschütterten die Weltwirtschaft. In jüngerer Zeit hat die Energiekrise nach dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine im Jahr 2022 die Verwundbarkeit Europas wegen seiner starken Abhängigkeit von importiertem russischem Gas deutlich gemacht.

Sind erneuerbare Energien stabiler als fossile Brennstoffe?

Der jüngste Konflikt zwischen dem Iran und Israel unterstreicht laut Experten des britischen Energie-Thinktanks Ember die weltweite Abhängigkeit von Ölimporten. Ihrer Analyse von IEA-Daten zufolge leben 79 Prozent der Weltbevölkerung in Öl importierenden Ländern, wobei 62 Prozent ihr gesamtes Öl aus anderen Ländern beziehen. 90 Nationen - darunter Spanien, Südkorea, Deutschland, die Türkei und Indien - decken mehr als 80 Prozent ihres Bedarfs durch Importe.

In Zeiten instabiler globaler Handelsbeziehungen und zunehmender geopolitischer Spannungen kann eine solche Abhängigkeit zu Risiken für die Energiesicherheit führen, so Ember. Und Turbulenzen auf den Märkten für fossile Brennstoffe verursachen Preisschwankungen für alle Länder, die von Öl und Gas abhängig sind.

Erneuerbare Energien können laut Experten eine stabile und sichere Alternative bieten. Strom kann damit innerhalb der Landesgrenzen oder in benachbarten Ländern erzeugt werden, geschützt vor Preisschwankungen und geopolitischen Risiken. Die Diversifizierung der Optionen für Stromversorgung wird als wichtiger Bestandteil eines widerstandsfähigen Energiesystems angesehen.

Untersuchungen des Internationalen Währungsfonds zeigen auch, dass die politische Lage in den meisten Ländern, die fossile Brennstoffe produzieren, in den vergangenen Jahrzehnten riskanter geworden ist und demokratische Freiheiten zunehmend eingeschränkt werden.

"Je mehr heimische Energiequellen wir haben, desto besser", sagt Fatih Birol, Exekutivdirektor der IEA. Er betont die Notwendigkeit, Energie "nicht aus einem einzigen Land, nicht über eine einzige Handelsroute und nicht von einem einzigen Unternehmen" zu beziehen. Birol hebt hervor, dass die Energiesicherheit ein zunehmend wichtiger Faktor für den Übergang zu sauberer Energie ist.

"Je geringer unsere Energieabhängigkeit von fossilen Brennstoffen ist, desto größer ist unsere Energiesicherheit. Das ist die Lehre, die wir in Europa gezogen haben", sagte Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission, auf einem Gipfeltreffen zur Zukunft der Energiesicherheit im April dieses Jahres.

Von der Leyen erklärte, dass Europa als Reaktion auf die Energiekrise nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, die "Einführung heimischer erneuerbarer Energien" beschleunigt habe. Diese machen nun 47 Prozent des Strommixes aus.

Bringt die Umstellung auf saubere Energie neue Risiken?

Der Weg zu mehr Energiesicherheit umfasst laut Ember sowohl die Umstellung auf lokalere erneuerbare Energien als auch die Ausweitung der Elektrifizierung. Diesen Ansatz verfolgt auch China, so die Analyse.

Den Schätzungen zufolge könnten die Importe fossiler Brennstoffe weltweit um 70 Prozent reduziert werden, indem Elektrofahrzeuge, Wärmepumpen und erneuerbare Energien gefördert werden. Durch die Förderung von Elektrofahrzeugen könnten 33 Prozent der importierten Ölmengen ersetzt werden. Weitere 23 Prozent Einsparungen würde der Ausbau der Stromerzeugung aus Wind- und Sonnenenergie bringen.

Ember fügt hinzu, dass 92 Prozent der Weltbevölkerung ihren Energiebedarf mit erneuerbaren Energien mehr als zehnfach decken könnten.

Allerdings birgt die grüne Wende auch Risiken.

Im April warf ein großflächiger Stromausfall in Spanien und Teilen Portugals Fragen zur Stabilität von erneuerbaren Energien wie Solar- und Windenergie auf, die von bestimmten Wetterbedingungen abhängig sind. Kurz vor dem Vorfall machten erneuerbare Energien rund 70 Prozent der Stromerzeugung Spaniens aus.

Die Regierung hat jedoch inzwischen erklärt, dass der Grund für den Ausfall eine Kombination aus Planungsproblemen und technischen Fehlern gewesen sei. Es gebe keinerlei Hinweise darauf, dass eine übermäßige Abhängigkeit von erneuerbaren Energien eine Rolle gespielt habe.

Was ist mit der Unbeständigkeit von erneuerbaren Energien?

Laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) gibt es bereits sehr fortschrittliche Lösungen, um das Stromsystem robuster und flexibler zu machen: dazu gehören Investitionen in die Netzinfrastruktur und Energiespeicherung.

Außerdem bestehen Bedenken, dass die Umstellung auf saubere Energie eine neue Importabhängigkeit für Metalle und Mineralien mit sich bringen könnte, die für den Bau von Infrastruktur und Speichern erneuerbarer Energien benötigt werden. Experten sagen jedoch, dass ein Mangel an Baumaterialien keine Energiekrise wie bei Öl- oder Gasknappheit auslösen würde. Denn solche Materialien werden nur für die Erweiterung der Kapazitäten und nicht für die laufende Stromerzeugung benötigt.

Untersuchungen haben einige Fälle schwerer Umweltverschmutzung in Gemeinden aufgedeckt, die in der Nähe von Minen für Metalle wie etwa Nickel liegen, das häufig für Batterien von Elektrofahrzeugen verwendet wird. Es gibt jedoch Möglichkeiten, die Auswirkungen von Bergbau zu verringern. Dazu gehören strengere Vorschriften für die Abfallentsorgung, eine verbesserte Überwachung und die Einführung sauberer Technologien für den Abbau.

Der Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt von Anke Rasper.

Item URL https://www.dw.com/de/wie-tragen-erneuerbare-zur-energiesicherheit-bei/a-73052280?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Dänemark hat stark in Windkraft investiert und gehört zu den Ländern mit hoher Energiesicherheit
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Item 70
Id 73049663
Date 2025-06-26
Title Nadelattacken – sexualisierte Gewalt gegen Frauen
Short title Nadelattacken – sexualisierte Gewalt gegen Frauen
Teaser Immer wieder werden Frauen in Clubs, bei Festivals oder Veranstaltungen mit Nadeln gestochen - wie beim Fête de la Musique in Frankreich. "Needle Spiking" soll vor allem Angst verbreiten.
Short teaser Immer wieder werden Frauen bei Festivals oder Partys mit Nadeln gestochen. "Needle Spiking" soll Angst verbreiten.
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Es ist die Saison der Open-Air-Konzerte, Festivals und Großveranstaltungen in Europa. Und wieder wurden Frauen mit spitzen Gegenständen gestochen. In Frankreich erstatteten nach dem Fête de la Musique 145 Frauen Anzeige, teilte das französische Innenministerium mit.

Die meist jungen Frauen zwischen 14 und 20 Jahren berichteten von einem plötzlichen Stichgefühl im Gedränge – oft am Arm oder an der Schulter. Die Polizei ermittelt in mehreren Städten wie Paris, Metz, Rouen und Tours wegen gefährlicher Körperverletzung.

Die Attacken sind eine Form von sexualisierter Gewalt. Ob tatsächlich Substanzen injiziert wurden, ist bislang unklar. Die Angst von dem sogenannten "Needle Spiking" ist vor allem bei Frauen groß. Die Unbeschwertheit beim Besuch von Musikfestivals, Sommerpartys und Großveranstaltungen ist vielen vergangen.

Was ist Needle Spiking?

"Needle Spiking" bezeichnet das heimliche Stechen mit Nadeln oder Spritzen. Dabei sollen den Opfern – meist jungen Frauen - unbekannte Substanzen injiziert werden, um sie bewusst- oder wehrlos zu machen. Besonders gefährdet sind demnach Frauen, die sich in eng gedrängten Menschenmengen aufhalten – etwa auf Tanzflächen, bei Festivals oder auf unübersichtlichen Großveranstaltungen.

Oftmals bemerken die Betroffenen die Attacke zunächst nicht wirklich. Der Einstichschmerz geht im allgemeinen Trubel unter. Erst später bemerken sie eine Rötung oder einen blauen Punkt an der Einstichstelle. Einige Betroffene berichteten von Schwindel, Übelkeit und Benommenheit.

Gibt es Needle Spiking tatsächlich?

Angesicht der zahlreichen Fälle in den letzten Jahren ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass Frauen tatsächlich mit spitzen Gegenständen attackiert wurden. Ob dabei tatsächlich Substanzen injiziert wurden, ist weniger klar.

Viele Mediziner und Forensiker bezweifeln eine unbemerkte Injektion. Die Opfer bewegten sich zu schnell und eine entsprechende Injektion dauere zu lang.

Frauen würden zwar mit spitzen Gegenständen attackiert. Laut Experten seien schwere Halluzinationen, stundenlange Erinnerungslücken, kompletter Kontrollverlust und Bewusstlosigkeit aber eher auf übermäßigen Alkoholkonsum (auch in Kombination mit Drogen) oder auf die heimliche Verabreichung von Substanzen über Getränke, dem sogenannten Drink Spiking, zurückzuführen.

Welche Substanzen kommen in Frage?

Beim "Drink Spiking" wird häufig Opfern heimlich im Getränk die "Vergewaltigungsdroge" GHB verabreicht, auch bekannt als Liquid Ecstasy oder K.O. Tropfen.

GHB ist die Abkürzung für Gammahydroxybuttersäure, es gibt sie als farblose, salzig schmeckende Flüssigkeit, als Pulver oder in Tablettenform. Die Wirkung setzt nach etwa 10 bis 30 Minuten ein und hält bis zu drei Stunden an.

Als Partydroge kann GHB in mittleren Dosen entspannend, euphorisierend und sexuell anregend wirken. GHB hemmt die Herzaktivität und die Atmung - hohe Dosen können bewusstlos machen.

Der ursprüngliche Einsatz von GHB als Narkosemittel wurde aufgrund der starken Nebenwirkungen mittlerweile eingestellt. In Kombination mit Alkohol und vor allem mit stimulierenden Drogen wie Kokain, Speed und Ecstasy kann es zu sehr gefährlichen Wechselwirkungen kommen.

Verabreicht werden zudem Sedativa, also Beruhigungsmittel, das Narkosemittel Ketamin sowie Benzodiazepine. Diese "Benzos" oder "Tranquilizer" werden eigentlich zur Behandlung von Angstzuständen und Schlafstörungen eingesetzt.

Ob und welche Substanz verabreicht wurde, ist nachträglich schwer nachzuweisen. Viele der Substanzen werden sehr schnell vom Körper abgebaut.

Woher kommt das "Needle Spiking"?

Die ersten größeren Berichte tauchten 2021 in Großbritannien auf. Innerhalb kurzer Zeit meldeten sich Hunderte Frauen, die in Clubs unbemerkt am Bein, am Arm oder auch auf dem Rücken mit einem spitzen Gegenstand attackiert wurden.

Rasch folgten weitere Meldungen aus Spanien, Belgien, den Niederlanden, Deutschland und Frankreich.

Gibt es ein Täterprofil?

Gewalt gegen Frauen im öffentlichen Raum hat auch in Europa in den vergangenen Jahren zugenommen.

Nach der jüngsten Attacke in Frankreich wurden zwölf tatverdächtige Männer im Alter von 19 bis 44 Jahren festgenommen. Sie wurden aber schnell wieder freigelassen, weil sie alle Vorwürfe bestritten und handfeste Beweismittel wie Nadeln, Spritzen oder andere spitze Gegenstände nicht gefunden wurden.

Das französische Innenministerium teilte mit, dass es in den sozialen Medien im Vorfeld geteilt wurden, Frauen während der Fête de la Musique mit Spritzen zu stechen. Schon lange solidarisieren sich im Netz Frauenhasser, Nachahmungstäter oder Unruhestifter. Sie tauschen Tipps zur Gewalt gegen Frauen aus. Nadel-Attacken gehören offenkundig dazu.

"Es geht darum, Frauen klarzumachen, dass der öffentliche Raum kein Ort der Sorglosigkeit ist", erklärt der Autor Félix Lemaître die jüngsten Angriffe gegenüber der französischen Tageszeitung "Libération". Lemaître hat das Buch "La Nuit des hommes", zu Deutsch "Die Nacht der Männer" geschrieben. Hinter den Attacken stecke eine toxische Form des Maskulinismus, es ist die Ideologie einer männlichen Überlegenheit.

Als eine neue Art sexualisierter Gewalt setzen die Täter die Attacken zur psychologischen Einschüchterung von Frauen ein, um Macht und Kontrolle im öffentlichen Raum zu demonstrieren. Ihr Tatmotiv könnte sein, Angst und Verunsicherung zu verbreiten.

Angst vor einer möglichen Injektion, Angst vor Kontrollverlust, Angst vor einer Infektion. In den sozialen Medien wurden Nadelattacken häufiger mit der Angst vor einer HIV-Infektion in Verbindung gebracht. Mediziner halten solche Befürchtungen für unbegründet.

Aber die Angst vor einer Verletzung oder generellen Infektion ist nicht unberechtigt. "Die Spritzen gingen von Hand zu Hand. Sie wurden unter den Angreifern weitergereicht", so Éric Henry von der Gewerkschaft Alliance Police Nationale nach den Attacken.

Wie können sich Frauen schützen?

Vor heimtückischen Stechattacken in Clubs, bei Konzerten oder Großveranstaltungen ist niemand vollkommen sicher. Lange Kleidung bietet nur einen gefühlten Schutz.

Wichtig ist, dass nicht nur die Veranstalter, sondern alle sensibilisiert sind und aufeinander aufpassen. Es ist sicherer, in Gruppen mit Freunden unterwegs sein, keine Getränke zu teilen und keine fremden Getränke anzunehmen.

Opfer einer Nadelattacke sollten sofort Freunde, den Veranstalter und die Polizei alarmieren. Unabhängig von den Symptomen sollten sich Betroffene umgehend medizinisch untersuchen lassen, um Infektionen zu verhindern und Injektionen auszuschließen.

Der sicherste Schutz ist natürlich, alle Konzerte, Clubs, Festivals und andere Veranstaltungen im öffentlichen Raum zu meiden. Dann hätten die Frauenhasser allerdings ihr Ziel erreicht.

Item URL https://www.dw.com/de/nadelattacken-sexualisierte-gewalt-gegen-frauen/a-73049663?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Die in Frankreich groß gefeierte Fête de la Musique wurde von einer Welle heimtückischer Stichattacken auf Frauen überschattet.
Image source Julien Mattia/Le Pictorium/picture alliance
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Item 71
Id 70901806
Date 2025-06-24
Title Neues HIV-Medikament Lenacapavir - sicher, aber sehr teuer
Short title HIV-Medikament Lenacapavir - sicher, aber sehr teuer
Teaser Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat das HIV-Medikament Lenacapavir auch zur HIV-Prophylaxe zugelassen. Im Kampf gegen Aids könnte Lenacapavir zum echten "Gamechanger" werden - wenn es nicht so exorbitant teuer wäre.
Short teaser Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat das teure HIV-Medikament Lenacapavir auch zur HIV-Prophylaxe PrEP zugelassen.
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Als die Lenacapavir-Testergebnisse bei der Welt-Aids-Konferenz im Juli 2024 vorgestellt wurden, war die Fachwelt begeistert: Im Kampf gegen Aids könnte Lenacapavir tatsächlich der lange erwartete "Gamechanger" sein, der den entscheidenden Durchbruch schafft.

"Ich bin total begeistert. Als diese Daten vorgestellt wurden, war im Saal eine elektrisierende Stimmung, die ich selten so erlebt habe. Das ist einfach grandios", sagt Prof. Dr. Clara Lehmann, die Leiterin des Infektionsschutzzentrums der Uniklinik Köln.

Was ist das besondere an Lenacapavir?

Das antiretrovirale Medikament hat eine fast 100-prozentige Wirksamkeit bei der Prävention und auch bei der Behandlung von HIV-Infektionen. Außerdem muss es nur zweimal im Jahr gespritzt werden, was die Verabreichung wesentlich vereinfacht. Anderen Prophylaxen wie Cabotegravir (CAB) werden alle ein bis zwei Monate injiziert; Truvada muss täglich als Tablette eingenommen werden.

Das neue Medikament ist nicht nur komfortabler. Vor allem dort, wo die Versorgung schwierig ist oder familiäre Zwänge und Stigmatisierung gegen eine tägliche Tabletteneinnahme sprechen, kann eine diskrete halbjährliche Injektion eine große Erleichterung sein, so Dr. Astrid Berner-Rodoreda, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Heidelberg Institute of Global Health. Davon würden vor allem Frauen und junge Mädchen profitieren, bei denen die HIV-Inzidenz laut UNAIDS immer noch außerordentlich hochist.

Wann ist Lenacapavir wo erhältlich?

Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat das langwirksame HIV-Medikament Lenacapavir auch zur HIV-Prophylaxe PrEP zugelassen (Handelsname in den USA: Yeztugo). In der EU ist das vielversprechende Medikament des Pharmaunternehmens Gilead bislang nur zur Behandlung von HIV-Patienten unter medizinischer Aufsicht zugelassen.

Zu kaufen war Lenacapavir bisher nicht, weil der Hersteller noch die Zulassung als antivirale Prä-Expositions-Prophylaxe (HIV-PrEP) abwarten wollte. Dies ist in den USA jetzt geschehen.

Ob Lenacapavir aber wirklich den lang ersehnten Wendepunkt im Kampf gegen Aids bringt, ist trotzdem unklar. Denn zum Durchbruch würde das Präparat nur, wenn es flächendeckend eingesetzt würde. Und dafür müsste das Medikament bezahlbar sein.

Was wird Lenacapavir kosten?

Bislang ist Lenacapavir allerdings unerschwinglich teuer: Zunächst wurde von Aidsexperten ein Preis von rund 40.000 Dollar pro Jahr genannt. Als "Launch-Preis" hat der US-Pharmakonzern Gilead 28.000 Dollar pro Person und Jahr festgelegt. Zum Vergleich: Andere HIV-Prophylaxen kosten im Schnitt 50-60 Euro im Monat, also etwa 600-700 Euro im Jahr.

"Es wäre abscheulich, das Tausendfache für ein Medikament zu verlangen, welches das Potenzial hat, eine Pandemie zu beenden. Wir können Aids nicht mit solch teuren Medikamenten bekämpfen", so UNAIDS-Chefin Winnie Byanyima.

Gilead rechtfertigt den hohen Preis mit den langjährigen Entwicklungskosten. Das wollen Experten und Aids-Aktivisten aber nicht gelten lassen. Astrid Berner-Rodoreda verweist etwa auf Berechnungen des britischen Pharmakologen Andrew Hill von der Universität Liverpool, der die tatsächlichen Lenacapavir-Herstellungskosten berechnet hat.

Selbst bei einer Gewinnmarge von 30 Prozent dürfe der Preis laut Hill nur bei jährlich 40 Dollar liegen, also ein Tausendstel von dem, was Gilead verlangt.

Wo wird Lenacapavir erhältlich sein?

Gilead verhandelt mit mehreren Generikaherstellern, um das Medikament künftig auch in Ländern mit niedrigem Einkommen günstiger herzustellen und zu verkaufen.

Bis Oktober 2024 hatte Gilead nach eigenen Angaben sechs Lizenzvereinbarungen unterzeichnet, um 120 dieser Länder mit generischem LEN für PrEP zu versorgen. Gilead habe so "schon sehr früh vor einer Zulassung sichergestellt", so der US-Pharmakonzern, "dass in diesen Ländern Lenacapavir zur HIV-Prävention nach Zulassung zu einem generischen und für Gilead non profit Preis zur Verfügung stehen wird."

Gleichzeitig aber gehören einige Länder mit mittlerem Einkommen wie Argentinien, Brasilien, Mexiko und Peru möglicherweise nicht zum Lizenzgebiet, obwohl Gilead auch dort das Medikament getestet hat. Dies werfe ethische und auch rechtliche Fragen auf, so Berner-Rodoreda.

Ähnlich sieht dies auch die stellvertretende Direktorin von UNAIDS, Christine Stegling. Bei der Vorstellung des UNAIDS-Jahresberichts sagte sie, dass solche "bahnbrechenden Neuerungen nur dann zu einem echten Rückgang der Neuinfektionen führen werden, wenn wir sicherstellen, dass alle Menschen Zugang zu ihnen haben".

Wie funktioniert Lenacapavir?

Lenacapavir ist ein sogenannter Kapsid-Inhibitor: Der Wirkstoff stört die Funktion der kegelförmigen Proteinhülle um das HIV-Erbgut und hemmt die Vermehrung des Virus. Und das funktioniert - im Gegensatz zu den meisten antiretroviralen Wirkstoffen - in mehreren Phasen im Leben des HI-Virus.

Eigentlich will die Internationale Gemeinschaft die HIV-Epidemie bis 2030 beenden. Aber davon sind wir weit entfernt: Nach wie vor tragen weltweit über 40 Millionen Menschen das Virus in sich. Rund 30 Millionen sind in Behandlung. Das andere Viertel erhält keine antiretrovirale Therapie, welche die Virusmenge im Blut auf nicht nachweisbare Werte reduzieren könnte.

Die Zahl der weltweiten HIV-Neuinfektionen ging zwischen 2010 und 2021 um 22 Prozent zurück. Allerdings infizierten sich 2023 laut dem neuen UNAIDS-Bericht immer noch rund 1,3 Millionen Menschen.

Die größten Rückgänge sind in Subsahara-Afrika und in Südasien zu verzeichnen. Dagegen steigen die Zahlen in Mittel- und Osteuropa, in Zentralasien, Nordafrika und im Nahen Osten weiter an.

"In der Prävention haben wir keine großen Fortschritte gemacht, das muss man wirklich offen sagen. Wenn wir wirklich bis 2030 die Aids-Epidemie beenden wollen, dann müssten wir die Neuinfektionen auf 370.000 nächstes Jahr senken", sagt Astrid Berner-Rodoreda.

Die HIV-bedingten Todesfälle gingen zwischen 2010 und 2021 ebenfalls um fast 40 Prozent zurück. Im vergangenen Jahr starben rund 630.000 Menschen an Aids-bedingten Krankheiten. Das ist der niedrigste Stand seit 2004.

Gibt es Alternativen?

Trotz intensiver Forschung gibt es zwar noch keine Impfung gegen HIV. Aber es gibt inzwischen einige hochwirksame Prä-Expositions-Prophylaxen, die eine HIV-Ansteckung verhindern. Auch wenn sie in der Anwendung nicht ganz so komfortabel sind, konnten die vorhandenen Prä-Expositions-Prophylaxen die HIV-Raten in einigen Ländern bereits deutlich senken.

Bislang haben sich diese günstigeren Mittel aber vor allem in wohlhabenderen Ländern bewährt. In ärmeren Ländern mit teilweise hohen HIV-Raten sind auch diese Prophylaxen oftmals zu teuer. "Nur 15 Prozent der Menschen, die PrEP benötigen, erhielten diese im Jahr 2023", heißt es im UNAIDS-Bericht.

Der Artikel wurde am 04.07.25 um den "Launch-Preis" von 28.000 USD und um die Gilead-Stellungnahme zu den sechs Lizenzvereinbarungen aktualisiert.

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Image caption Bislang ist Lenacapavir unerschwinglich teuer: Für die Behandlung verlangt der US-Pharmakonzern Gilead mehr als 40.000 Dollar pro Person und Jahr.
Image source Nardus Engelbrecht/AP/picture alliance
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