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Item 1
Id 70988949
Date 2024-12-07
Title Wie kann sich die NATO gegen hybride Kriegführung wehren?
Short title Wie kann sich die NATO gegen hybride Kriegführung wehren?
Teaser Das westliche Verteidigungsbündnis NATO sucht nach neuen Wegen, sich gegen Sabotage durch Russland und China zu wehren. Könnten hybride Angriffe den Bündnisfall auslösen?
Short teaser Das Verteidigungsbündnis sucht nach neuen Wegen, sich gegen hybride Kriegführung durch Russland und China zu wehren.
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Als sich die Außenminister der NATO in der ersten Dezemberwoche in Brüssel versammelten, stand ein Thema ganz weit oben auf der Tagesordnung: die Bekämpfung der hybriden Kriegführung. So wird der Einsatz konventioneller und nicht-konventioneller Mittel bezeichnet, der noch nicht das Stadium einer offenen Kriegführung erreicht, die Zielländer jedoch destabilisiert.

Immer häufiger kommt es zu Fällen mutmaßlicher Sabotage auf dem Gebiet der NATO-Mitgliedsstaaten. Die Verbündeten beschlossen daher, den Informationsaustausch zu intensivieren, die Zusammenarbeit mit Privatunternehmen zu verbessern und kritische Infrastruktur resistenter gegen hybride Kriegführung zu machen.

"In den vergangenen Jahren haben Russland und China versucht, unsere Nationen durch Sabotageakte, Cyberangriffe, Desinformation und Erpressung im Bereich der Energieversorgung zu destabilisieren und uns einzuschüchtern", sagte NATO-Generalsekretär Mark Rutte. "Die NATO-Verbündeten werden weiterhin Seite an Seite stehen, um diesen Bedrohungen durch eine Reihe von Maßnahmen entgegenzutreten. Dazu zählen auch ein verstärkter Austausch von Informationen und ein besserer Schutz kritischer Infrastruktur."

Als im November zwei Glasfaserkabel in der Ostsee durchtrennt wurden, von denen eines Finnland mit Deutschland und das andere Schweden mit Litauen verband, befand sich jeweils das selbe chinesische Schiff in der Nähe. Dies ist nur das jüngste Beispiel in einer immer längeren Reihe von Vorfällen, bei denen es sich nach Einschätzung der NATO um geplante und koordinierte Akte hybrider Kriegführung handelt, die von Moskau oder im Auftrag Moskaus ausgeführt wurden.

Ein hochrangiger NATO-Beamter erklärte unter der Voraussetzung der Anonymität, das Bündnis überarbeite angesichts der "zunehmenden Risikobereitschaft" Russlands seine Strategie zur Bekämpfung hybrider Kriegführung aus dem Jahr 2015 und werde dieses um weitere Maßnahmen ergänzen.

Maßnahmen gegen hybride Kriegführung

Laut einem in der "New York Times" veröffentlichten Bericht unternahm Russland mehrere hybride Angriffsversuche auf NATO-Mitgliedsstaaten, darunter Brandanschläge auf eine Lagerhalle in Großbritannien, eine Farbenfabrik in Polen und eine Ikea-Filiale in Litauen.

Russlands Arsenal für die hybride Kriegführung ist außerordentlich gut bestückt und umfasst unter anderem Mittel für Cyberattacken und Desinformationskampagnen. Als besonders verwundbar für Sabotageakte haben sich jedoch die unterseeischen Anlagen der NATO erwiesen. Unter der Wasseroberfläche verlaufen Millionen von Kilometern an Unterseekabeln und -pipelines für die Kommunikation und die Energieversorgung der Mitgliedsstaaten.

So wird in der NATO unter anderem diskutiert, wie die Unterwasserinfrastruktur besser geschützt werden kann, zum Beispiel durch die Verlegung der Kabel unter dem Meeresboden oder aber die Ummantelung von Öl- und Gaspipelines mit Beton oder anderen härteren Materialien. Dies könnte nach Ansicht von Experten auch einen zusätzlichen Schutz vor der Beschädigung durch Trawler oder Anker bieten. Ein weiterer Vorschlag ist die Verlegung von Kabelattrappen, um den Feind in die Irre zu führen.

Die Verbündeten überlegen außerdem, die unterseeische Infrastruktur konsequent zu überwachen, nicht nur, um die Täter zu identifizieren, sondern auch, um Schiffe vor Ort entsenden und die Täter festsetzen zu können. Solche Maßnahmen könnten Experten zufolge dabei helfen, künftige Sabotageakte zu verhindern.

Die NATO diskutiere über eine konsequente Überwachung der kritischen Unterwasserinfrastruktur zum Beispiel durch unter oder über Wasser einsetzbare, mit Kameras ausgestattete Drohnen, die Videos oder anderen Daten aufzeichnen, mit deren Hilfe Täter identifiziert werden könnten, berichtet Rafael Loss vom European Council on Foreign Relations (ECFR) in Berlin und Experte für Sicherheit und Verteidigung im euro-atlantischen Raum der DW.

Eigentümer der Infrastruktur, die Ziel von Angriffen wird, sind häufig private Unternehmen. Die NATO möchte daher mit den entsprechenden Unternehmen besser zusammenarbeiten, damit Informationen schnell weitergeleitet werden. Nachdem im vergangenen Jahr die Nord-Stream-Pipeline beschädigt wurde, richtete die NATO eine Koordinierungszelle zum Schutz kritischer Unterwasserinfrastruktur ein, um die Zusammenarbeit mit dem Privatsektor zu verbessern.

Keine Nennung von Verdächtigen

Obwohl Indizienbeweise in mehreren Fällen auf die üblichen Verdächtigen hinweisen, sind sich die NATO-Mitgliedsstaaten uneinig darüber, ob diese ohne stichhaltige Beweise öffentlich benannt werden sollten. Nach Ansicht von Experten ist eine Befehlskette in Fällen hybrider Kriegführung ohnehin schwer zu belegen. Dabei spielen auch politische und wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle.

"Will man wirklich die chinesische Staatsführung eines möglichen feindseligen Aktes beschuldigen, wenn die Beziehungen außerordentlich komplex sind?", fragt Loss mit Verweis auf die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Peking und der EU. "Bei einigen Mitgliedern besteht zudem die Hoffnung, dass China eine Rolle bei der Beilegung des Krieges in der Ukraine und in der globalen Klimapolitik spielen könnte."

Könnten hybride Angriffe den Bündnisfall auslösen?

Einige Mitgliedsstaaten vertreten die Meinung, dass die NATO sich auf Artikel 5 des Bündnisvertrags berufen kann, wenn ein hybrider Angriff eine bestimmte Grenze überschreitet. Dieser Artikel löst den Bündnisfall aus, in dem alle Mitgliedsstaaten aufgefordert sind, ein angegriffenes Mitglied zu verteidigen.

"Der umfangreiche Einsatz hybrider Maßnahmen durch Russland erhöht das Risiko, dass die NATO irgendwann erwägt, ihre Klausel zur gegenseitigen Verteidigung nach Artikel 5 in Anspruch zu nehmen", sagte der deutsche Geheimdienstchef Bruno Kahl bei der Veranstaltung einer Denkfabrik vergangene Woche in Berlin.

Im Falle einer Eskalation hybrider Operationen gegen Mitgliedstaaten, die das Ausmaß eines bewaffneten Angriffs annehmen, könnte die Anwendung von Artikel 5 tatsächlich in Betracht gezogen werden, betont Eitvydas Bajarunas gegenüber der DW. Das hätten die Staats- und Regierungschefs der Verbündeten auf dem letzten NATO-Gipfel im Juli 2024 bestätigt, so der ehemalige stellvertretende Botschafter Litauens bei der NATO, der zurzeit als Gastdozent am Center for European Policy Analysis (CEPA) lehrt.

Experten zufolge weiß Russland jedoch von diesen Überlegungen und wird die Schwere seiner Angriffe derart begrenzen, dass sie sich direkt unterhalb der Schwelle eines offenen Krieges bewegen. Laut der NATO-eigenen Definition umfasst hybride Kriegführung "ein Zusammenspiel oder eine Verschmelzung konventioneller und nicht-konventioneller Instrumente der Macht und Zerstörung". Diese Definition ist jedoch nicht eindeutig und macht so die Zuordnung und damit die Reaktion auf solche Akte schwierig.

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine haben europäische Regierungen mehr als 700 russische Spione, die sich als Diplomaten tarnten, ausgewiesen. Doch die hybriden Angriffe gehen weiter.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

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Image caption Unterseekabel, wie das hier bei der Verlegung in der Ostsee gezeigte C-Lion1-Kabel, werden immer häufiger Ziel von Sabotageakten
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Item 2
Id 70925603
Date 2024-12-07
Title Liebe ohne Likes: Wie die Amish in Pennsylvania daten
Short title Liebe ohne Likes: Wie die Amish in Pennsylvania daten
Teaser Dating-Apps sind in den USA gang und gäbe. Doch Amish leben ohne Elektrizität und sind dauerhaft offline. Zwei Autorinnen der DW sind nach Pennsylvania gereist, um herauszufinden, wie sich junge Menschen hier treffen.
Short teaser Sie leben ohne Elektrizität und sind dauerhaft offline. Dating-Apps gibt es hier nicht, dafür ganz eigene Traditionen.
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Weite Felder mit Kornspeichern und langen Wäscheleinen vor den Bauernhöfen prägen die Landschaft. Kombiniert mit den vielen Pferdekutschen auf den Straßen fühlt man sich zurück katapultiert in eine längst vergangene Zeit.

Errungenschaften der Moderne wie Autos oder das Internet sind in der Welt der Amish meist nicht erlaubt. Und damit auch keine Dating-Apps, die ansonsten die Partnersuche hier in den USA dominieren. Wir wollen wissen, wie die Mitglieder dieser christlichen Glaubensgruppe zueinanderfinden.

Darum fahren wir - "The English", wie die Amish alle Nicht-Amish bezeichnen - nach Lancaster County im nordöstlichen US-Bundesstaat Pennsylvania. Denn hier befindet sich mit über 43.600 Amish die größte Siedlung weltweit.

Die Amish streben nach Demut und Gemeinschaft. Als Teil der Glaubensgemeinschaft der Täufer folgen sie einer strengen Auslegung der Bibel. Ursprünglich stammen sie aus der Schweiz, dem Elsass und aus Süddeutschland. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden sie wegen ihrer Glaubensvorstellungen verfolgt, viele fanden Zuflucht in Kanada und den USA. In Pennsylvania herrschen günstige Bedingungen für ihr landwirtschaftlich geprägtes Leben.

Hochzeitssaison im Herbst und Winter

Unsere ersten Stationen sind Farmen und Quilt-Läden der Amish, mit denen wir schnell ins Gespräch kommen. Viele fragen nach unserer Herkunft, weil sie uns Deutsch sprechen hören. Sie selbst reden nämlich Pennsylvaniadeutsch, eine Mischung aus Deutsch und Englisch.

Im Herbst ist Hochzeitssaison bei den Amish. Sie beginnt Mitte Oktober und zieht sich bis in den März. Die Zeitspanne ist kein Zufall: Die Menschen nutzen die Monate nach der Ernte, weil sie da mehr Zeit für die aufwendigen Feierlichkeiten haben. Zudem erlauben die kühlen Temperaturen die Lagerung der vielen Speisen - ganz ohne elektrische Kühlschränke.

Mittlerweile hat sich das Durchschnittsalter für Hochzeiten verschoben. "Die meisten heiraten nicht mehr als Teenager, so wie ich damals, sondern mit Anfang zwanzig", erzählt die Bäuerin Martha.

"Trennung vor der Hochzeit ist keine Sünde"

Eine Hochzeit sei ein großes Ereignis, erzählt uns eine junge Frau, die als Kellnerin in einem Restaurant arbeitet. "Die Familien feiern bei sich zu Hause und erwarten 300 bis 500 Gäste. Eine Hochzeit geht den ganzen Tag, dabei werden drei Mahlzeiten serviert."

Eine traditionelle Speise besteht aus Hähnchenfleisch mit hausgemachter Brotfüllung, Kartoffelpüree, Selleriecreme und frischem Krautsalat. Zwischen den Mahlzeiten wird gesungen - und zwar aus dem Ausbund, dem ältesten Gesangsbuch der Täufer.

"Meine jüngere Schwester heiratet nächstes Jahr im Oktober", erzählt sie. Sie ist seit zwei Jahren mit ihrem Partner zusammen, mit kurzen Unterbrechungen. Das sei erlaubt und keine Sünde. Eine Scheidung würde allerdings mit Exkommunikation bestraft. Sex vor der Ehe sei zudem verpönt. Bei einer Schwangerschaft müsse dann schnell geheiratet werden, um in der Gemeinschaft bleiben zu können.

Kennenlernen und Daten: öffentlich oder versteckt?

In den Sozialen Medien erklären Aussteiger, wie daten bei den Amish funktioniert: Eine Freundesgruppe fährt nachts mit der Kutsche zu einem Mädchen und fragt stellvertretend für den Kumpel, ob das Mädchen Interesse habe. Bei einer positiven Antwort darf der junge Mann in ihr Zimmer.

"Sie liegen im Bett, Sex ist nicht erlaubt. Sie unterhalten sich, aber irgendwann übernimmt der Junge die Führung, legt seine Arme um das Mädchen (...) Danach wiegen sie sich eine Weile hin und her," erklärt Lizzie in diesem Video. "Die Regel ist, dass man sich drei Mal hin und her wiegt, dann gibt es einen Kuss. Und danach lässt man los und redet weiter."

Lizzie war Teil der "Swartzentruber", eine der konservativsten Untergruppen. Hier in Lancaster County gehören fast alle der "Old Order Amish" an. Die Bräuche unterscheiden sich je nach Gruppe, Bischof und Familienregeln stark. Das erklärt, warum Susan, die wir in einem Handwerksladen treffen, andere Abläufe schildert.

Die "Rumspringa"- Jahre

"Sobald wir 16 sind, gehen wir sonntags zur Jugendgruppe. Wir singen biblische Lieder und spielen Volleyball. Hier treffen Mädchen und Jungen aufeinander", erzählt Susan. Der erste Kontakt gehe dabei von den Jungen aus. Nicht bei Dunkelheit, sondern während dieser Treffen lernen sie einander kennen. "Sie dürfen auch zusammen in der Öffentlichkeit gesehen werden und einander besuchen."

Diese Phase, in der sich die Jugendlichen mehr von den Eltern entfernen und in die Welt hineinschnuppern, wird "Rumspringa" genannt. Sie endet mit der Taufe, meist im Alter von 18 bis 22 Jahren. Die Täufer lehnen eine Kindestaufe ab, um einen bewussten Glaubenseinstieg zu ermöglichen.

"Für manche kann diese Zeit mit abweichendem Verhalten verbunden sein. Am Samstagabend auf eine Party zu gehen, auf der viel Alkohol ausgeschenkt wird oder so. Obwohl das nicht unbedingt die Norm ist", so Steven Nolt, Direktor des Young Center für täuferische und pietistische Studien am Elizabethtown College.

Traditionen lieben und leben

Obwohl Traditionen hier hochgehalten werden, geht die Zeit auch an den Amish nicht spurlos vorbei. Hier und da sieht man vereinzelt Solarpanels vor den Farmen - ein Symbol für den schleichenden Wandel? Vielleicht leben manche "Old Order Amish" doch etwas moderner als vermutet. Laut Steven Nolt liegt die Ausstiegsquote bei den Amish bei nur 10 bis 15 Prozent. Es scheint also nach wie vor seinen Reiz zu haben, dieses einfache Leben inmitten der modernen Zeit.

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Image caption Die Kutsche - für die Amish nach wie vor ein aktuelles Fortbewegungsmittel
Image source John Greim/Loop Images/picture alliance
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Item 3
Id 70991610
Date 2024-12-07
Title Bürgerkrieg in Syrien: Machtkampf und Vertreibung
Short title Bürgerkrieg in Syrien: Machtkampf und Vertreibung
Teaser Der Bürgerkrieg in Syrien galt seit Jahren als "eingefroren". Nun hat der Vormarsch der Rebellen die Lage radikal verändert. Dies könnte nicht nur das Assad-Regime beenden, sondern auch eine neue Fluchtwelle auslösen.
Short teaser Der Krieg in Syrien galt jahrelang als "eingefroren". Nun hat der Vormarsch der Rebellen die Lage radikal verändert.
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Die Frontlinien im syrischen Bürgerkrieg haben sich dramatisch verändert. Regierungsfeindliche Kämpfer rücken auf die Hauptstadt Damaskus vor. Die Anti-Assad Kämpfer haben am Samstag die Stadt Homs erreicht. Hassan Abdel Ghani, ein Militärchef der Islamisten, sagte der Nachrichtenagentur AFP: "Wir sind jetzt weniger als 20 Kilometer vom südlichen Zugang der Hauptstadt Damaskus entfernt."

Das syrische Militär hat sich nach Berichten der syrischen Staatsagentur Sana aus den Städten Daraa und Suweida zurückgezogen. Die Regierungstruppen würden sich neu positionieren, nachdem "terroristische Elemente" Kontrollpunkte der Armee angegriffen hätten.

Kann Katar vermitteln?

Daraa hat große symbolische Bedeutung: Die Stadt war Ausgangspunkt des Aufstands gegen Präsident Baschar al-Assad, der 2011 den Bürgerkrieg in Syrien auslöste.

Unterdessen versucht Katars Premier Scheich Mohammed bin Abdulrahman Al Thani laut Berichten der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu Agency zu vermitteln. Al Thani habe über die jüngsten Entwicklungen in Syrien telefonisch mit dem türkischen Außenminister Hakan Fidan, dem iranischen Außenminister Abbas Araghchi und dem jordanischen Außenminister Ayman Safadi gesprochen.

Am Sonntag treffen sich zudem Vertreter der Arabischen Liga, um eine Dringlichkeitssitzung der Außenminister der Liga zur Lage in Syrien und im Gazastreifen vorzubereiten.

Immer mehr Binnenvertriebene

Nach UN-Schätzung könnten 200.000 bis 400.000 Syrer zu Binnenvertriebenen werden, wenn die Feindseligkeiten nicht aufhören. Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs sind rund sieben Millionen Menschen aus Syrien geflohen.

"Von Aleppo über Idlib bis nach Hama berichten unsere Partner, dass die zunehmenden Feindseligkeiten die Zivilbevölkerung gefährden, die Binnenvertreibung vorantreiben, die Kontinuität lebenswichtiger Dienstleistungen unterbrechen und die Lieferung lebensrettender humanitärer Hilfe behindern", erklärte der Dänische Flüchtlingsrat in einer Erklärung.

Sollten die Kämpfe eskalieren, sind laut UN eine humanitäre Krise und eine verstärkte Migration um das Land herum und aus dem Land heraus ebenfalls wahrscheinlich. Es ist auch möglich, dass Anhänger des Assad-Regimes und Soldaten versuchen würden, Syrien zu verlassen.

Islamischer Staat weiterhin aktiv

Während des syrischen Bürgerkriegs erlangten Kämpfer des sogenannten Islamischen Staats (IS) die Kontrolle über die Stadt Raqqa. Die IS-Gruppe wurde schließlich von einer internationalen Koalition unter Führung der USA vertrieben.

Der IS ist aber weiterhin in Syrien aktiv, vor allem in den weniger besiedelten Wüstengebieten. Er führt weiterhin Angriffe auf alle Kräfte durch, die er als seine Feinde ansieht - auch auf die Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS), die größte Gruppe der Aufständischen. Im Jahr 2024 hat die Zahl der IS-Angriffe in Syrien drastisch zugenommen, wie das Zentralkommando der US-Streitkräfte kürzlich mitteilte.

Deyaa Alrwishdi, Stipendiatin an der Harvard Law School und Expertin für Kriegsrecht, wies diese Woche in dem Online-Forum für Außenpolitik Just Security darauf hin: "Anhaltende Instabilität und schwache Regierungsführung sind die Hauptfaktoren, die das Wiedererstarken von Extremisten fördern. In der Vergangenheit hat der 'Islamische Staat' die zersplitterte politische Landschaft Syriens und das Machtvakuum vor allem in marginalisierten Gebieten ausgenutzt."

"Umdenken in arabischen Hauptstädten"

Nach mehr als einem Jahrzehnt des brutalen Bürgerkriegs in Syrien hatten viele Länder - darunter auch europäische Nationen - ihre Außenpolitik mehr oder weniger auf ehemals "eingefrorenen" Frontlinien aufgebaut. Einige Länder in der Region, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien, hatten die Rebellen in Syrien ursprünglich unterstützt und Assad ausgegrenzt. In letzter Zeit haben sie sich jedoch bemüht, die Beziehungen zu ihm zu normalisieren.

"Die Hauptstädte der Golfstaaten sind zu dem Schluss gekommen, dass das Regime mit der Unterstützung des Irans und Russlands die Opposition wahrscheinlich auslöschen würde", schrieb Cinzia Bianco in einer Analyse für die deutsche Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2022. Als Ergebnis dieser Entwicklung wurde Syrien im Mai 2023 wieder in die Arabische Liga aufgenommen. Der einzige Golfstaat, der eine Normalisierung der Beziehungen zu Assad noch immer strikt ablehnt, ist Katar.

Doch nun habe sich die Lage geändert, schreibt Charles Lister, der Herausgeber des Newsletters Syria Weekly: "Der dramatische Zusammenbruch des Regimes im Nordwesten in den letzten Tagen dürfte in den arabischen Hauptstädten ein Umdenken auslösen.".

Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert und aktualisiert (Stand 7.12.2024).

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Image caption Anti-Assad-Kämpfer in Syrien erreichten am 7. Dezember die Stadt Homs
Image source Mahmoud Hasano/REUTERS
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Item 4
Id 70985868
Date 2024-12-07
Title Südafrikas G20-Vorsitz: Große Pläne in schwierigen Zeiten
Short title Südafrikas G20-Vorsitz: Große Pläne in schwierigen Zeiten
Teaser Erstmals hat ein afrikanisches Land die G20-Präsidentschaft inne. Beobachter erwarten eine "afrikanische Präsidentschaft" rund um Klima- und Gerechtigkeitsfragen. Doch der Weg zu Erfolgen könnte kaum steiniger sein.
Short teaser Erstmals hat ein afrikanisches Land die G20-Präsidentschaft inne. Doch der Weg zu Erfolgen könnte kaum steiniger sein.
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Endlich ist Südafrika an der Reihe: Am 1. Dezember hat es für ein Jahr die Präsidentschaft der G20 übernommen, nachdem jedes andere der 19 Mitgliedsländer bereits dran war. Neben diesen Industrie- und Schwellenländern sitzen die Europäische Union und seit 2023 auch die Afrikanische Union am Tisch. Ein Jahr lang koordiniert nun also Südafrika den informellen Austausch in der G20, die keine festen Strukturen wie ein Sekretariat besitzt. Rund 130 Treffen sollen im ganzen Land stattfinden, bevor Präsident Cyril Ramaphosa die Staats- und Regierungschefs im November in Johannesburg empfängt - zum ersten G20-Gipfel auf afrikanischem Boden.

Erste afrikanische G20-Präsidentschaft

"Das ist zwar die erste afrikanische Präsidentschaft, aber sie baut auf vielen Themen auf, die zuvor Indonesien, Indien und Brasilien als Prioritäten gesetzt haben", erläutert Elizabeth Sidiropoulos, Leiterin des Südafrikanischen Instituts für Internationale Angelegenheiten (SAIIA). "Viele von ihnen überlappen mit unseren Prioritäten für Afrika. Die Präsidentschaft wird eine deutliche afrikanische Note haben", sagt Sidiropoulos im Gespräch mit der DW.

Melanie Müller, stellvertretende Leiterin der regionalen Forschungsgruppe bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), rechnet damit, dass die G20 auf dem ganzen Kontinent viel Aufmerksamkeit erfahren wird, auch weil Südafrika sich inhaltlich mit den anderen Regierungen abstimmen werde.

Schwerpunkte: Klimakrise, Schulden, Gerechtigkeit

Denn die erklärten Schwerpunktthemen betreffen in unterschiedlichen Ausprägungen den gesamten Kontinent. "Die Klimakrise verschärft sich", sagte Ramaphosa bei der Vorstellung seines Programms, bei der er auch die allgegenwärtige Armut, Ungleichheit und die teils hohe Staatsverschuldung in Afrika zum Thema machte. "Geopolitische Instabilität, Konflikte und Kriege verschärfen das Leid. Das alles geschieht in einer Zeit großer technologischer Umbrüche, die Möglichkeiten und Risiken mit sich bringen."

Auch die Transformation hin zu weniger klimaschädlichen Technologien steht im Fokus der Präsidentschaft. Ramaphosa kann von einem rapiden Ausbau von Solarenergie in seinem Land berichten - auch wenn der größte Zuwachs auf den Dächern von Privatleuten liegt, die nicht mehr unter regelmäßigen Stromabschaltungen wegen überalterter Kohlekraftwerke leiden wollen.

Abbau kritischer Rohstoffe als Motor für Afrikas Entwicklung

Der weltweite Ausbau von Erneuerbaren Energien, E-Mobilität und Digitaltechnologien erhöht auch die Nachfrage nach mineralischen Rohstoffen, von denen viele in Afrika liegen. Zum Beispiel beherbergt die DR Kongo den größten Teil der weltweiten Kobaltvorkommen, die zum großen Teil nach China exportiert werden, während etwa die EU und die USA ihre Marktmacht steigern wollen. "Wir haben in einigen Staaten eine ganz interessante Situation", sagt Melanie Müller, die auch zu Rohstofflieferketten forscht: "Nämlich, dass die sich ihre Handelspartner auch immer mehr aussuchen können und auch nicht unbedingt abhängig sind, nur von chinesischen Arrangements, und das auch positiv sehen. Das gibt ihnen einen gewissen Verhandlungsspielraum, um mit unterschiedlichen Partnern gute Bedingungen auszuarbeiten."

Südafrika ist selbst ein wichtiges Bergbauland und speist bedeutende Mengen an Platin, Gold und Chrom in den Welthandel ein. Ramaphosa will seine G20-Präsidentschaft nun dafür nutzen, den Einsatz kritischer Rohstoffe zum "Motor für Wachstum und Entwicklung in Afrika" zu machen.

Brücken bauen in geopolitisch schwierigen Zeiten

Um derartige Ziele zu erreichen, wird die Präsidentschaft zwischen den sehr heterogenen Interessen der G20-Mitglieder Kompromisse ausloten müssen. Doch sowohl das moderne Südafrika als auch Ramaphosa selbst hätten die dafür nötige Erfahrung, meint SAIIA-Leiterin Sidiropoulos: "Das haben wir vor knapp 30 Jahren gesehen, als Ramaphosa eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung unserer Verfassung von 1996 gespielt hat." Südafrika sehe seine Aufgabe darin, Konsens zu schaffen: "Es geht darum, das Narrativ um die Prioritäten so zu weben, dass man einzelne Blöcke in den G20 nicht verliert, sondern sie zusammenbringt." Denn unter einer weiteren geopolitischen Zuspitzung könnte auch der globale Süden in besonderem Maße leiden.

Konkret bedeutet das auch, zu verhindern, dass die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Kriege in der Ukraine oder im Nahen Osten jeglichen Fortschritt torpedieren. Diese werden zwar bei jedem Treffen besprochen werden und in allgemeiner Form sicher auch in der Abschlusserklärung im kommenden November landen, meint Sidiropoulos. "Doch Südafrika wird sicher keine Situation wollen, in der einer der beiden Konflikte das herausragende Thema auf der Agenda wird und alle anderen Themen in den Schatten stellt, die für sich entwickelnde Wirtschaften viel wichtiger sind."

Ramaphosa hat seit seinem Aufstieg an die Staatsspitze 2018 viel diplomatische Erfahrung gesammelt, etwa als BRICS-Gastgeber 2023. Sein gutes Verhältnis zu Russland ungeachtet von dessen Krieg gegen die Ukraine sorgt im Westen zwar für Irritation. Doch wird er auch in Europa und Nordamerika als verlässlicher Partner geschätzt. Am 13. Dezember will Ramaphosa den deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zu Gesprächen über die G20-Agenda empfangen.

Wann wird Südafrikas G20-Präsidentschaft zum Erfolg?

Ambitionierte Ziele treffen also auf schwierige Rahmenbedingungen - wie viel darf man also vom südafrikanischen G20-Vorsitz erwarten? SWP-Wissenschaftlerin Melanie Müller verweist im DW-Gespräch auf die Bilanz der gerade zu Ende gegangenen brasilianischen Präsidentschaft: "Da ist es auch so, dass man eben die Erfolge dieser Präsidentschaft nicht isoliert von Dingen, wie die Geopolitik da reinspielt, betrachten kann. Wie erfolgreich so etwas sein kann, wird auch davon abhängen, wie sich das Verhältnis zwischen den USA und China entwickelt."

Denn die Wahl Donald Trumps zum nächsten US-Präsidenten verschärft die Unsicherheit. Ende November kündigte er bereits an, als eine der ersten Amtshandlungen im Januar Strafzölle von zehn Prozent auf sämtliche Importe aus China zu verhängen. Allen BRICS-Mitgliedern - also auch Südafrika - drohte er sogar Strafzölle von 100 Prozent an, sollten sie Überlegungen für eine gemeinsame neue Währung weiter vorantreiben.

Der Umgang mit Trump wird also in den nächsten zwölf Monaten auch zur Herausforderung für Ramaphosa. Die USA sind enger als andere in die südafrikanische Präsidentschaft involviert - weil Ramaphosa in einem Jahr den G20-Staffelstab an Trump übergibt.

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Image caption Cyril Ramaphosa hat den Staffelstab von Brasiliens Präsidenten Luiz Inacio Lula da Silva übernommen
Image source Eraldo Peres/AP/picture alliance
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Item 5
Id 70989473
Date 2024-12-07
Title Rumänien: Vertrauenskrise nach Annullierung der Wahl
Short title Rumänien: Vertrauenskrise nach Annullierung der Wahl
Teaser Das rumänische Verfassungsgericht erklärt die Präsidentschaftswahl für ungültig. Die Entscheidung hat den Beigeschmack parteipolitischer Einflussnahme und verschärft die tiefe politische Krise in Rumänien.
Short teaser Rumäniens Verfassungsgericht erklärt die Präsidentschaftswahl für ungültig und vertieft die politische Krise im Land.
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In Rumänien ist ein Ende des politischen Schocks nicht in Sicht. Vor knapp zwei Wochen gewann Calin Georgescu, ein weitgehend unbekannter TikTok-Kandidat, der rechtsextreme, pro-russische und esoterische Ansichten vertritt, völlig überraschend die erste Runde der Präsidentschaftswahl. Doch weniger als 36 Stunden vor Beginn der Stichwahl erklärte das rumänische Verfassungsgericht am Freitag (6.12.2024) die erste Wahlrunde für ungültig. Damit muss die gesamte Präsidentschaftswahl neu organisiert werden. Mit der Entscheidung erreicht die politische Krise der vergangenen Wochen einen neuen Höhepunkt - mit bislang noch kaum absehbaren Folgen.

Das Verfassungsgericht traf die Entscheidung, nachdem es noch Anfang der Woche die erste Runde der Präsidentschaftswahl für gültig erklärt hatte. Der Grund für die jetzige Kehrtwende: neue Erkenntnisse zur Beeinflussung der Wahl auf TikTok, zur Finanzierung der Wahlkampagne von Georgescu und zur Einmischung Russlands in die Wahl. Am Mittwoch hatte der amtierende rumänische Staatspräsident Klaus Johannis Geheimdienstdokumente freigegeben, in denen dazu Einzelheiten zu lesen waren, allerdings teils nur in sehr vager Form. So etwa wird in den Dokumenten eine russische Wahlbeeinflussung - die durchaus plausibel ist - lediglich indirekt behauptet, aber an keiner Stelle wurde Russland benannt. Allerdings sprach US-Außenminister Antony Blinken am Donnerstag konkret von einer Einmischung Russlands in die rumänischen Präsidentschaftswahlen.

In Rumänien löste die Entscheidung des Verfassungsgerichts in Politik und Öffentlichkeit unterschiedliche Reaktionen aus: einerseits Kopfschütteln und Entsetzen, andererseits auch Zustimmung. Elena Lasconi, zweitplatzierte Kandidatin für die Stichwahl um das Präsidentenamt und Chefin der progressiv-liberalen Partei Union Rettet Rumänien (USR), sprach von einer "illegalen und unmoralischen Entscheidung" des Verfassungsgerichts und sagte: "Der rumänische Staat tritt die Demokratie mit Füßen."

"Pakt mit dem Volk und mit Gott"

Der amtierende Premier und Chef der Sozialdemokraten (PSD), Marcel Ciolacu, der lange Zeit als Favorit in der ersten Wahlrunde gegolten hatte, nannte die Entscheidung hingegen "die einzige korrekte Lösung nach der Freigabe der Geheimdienstdokumente". Denn es habe sich gezeigt, dass das Ergebnis der rumänischen Wahl durch russische Einmischung eklatant verfälscht worden sei.

Der rechtsextreme Präsidentschaftskandidat, Calin Georgescu, bezeichnete die Entscheidung des Verfassungsgerichts als "Staatsstreich" und kommentierte sie in seiner üblichen messianischen Art: "Das korrupte System hat sein wahres Gesicht gezeigt und einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Ich aber habe einen Pakt mit dem rumänischen Volk und mit Gott." Auch andere rechtsextreme rumänische Politiker sprachen übereinstimmend von einem "Putsch", der in Rumänien stattfinde. George Simion, der Chef der rechtsextremen Partei Allianz für die Vereinigung der Rumänen (AUR), rief seine Anhänger jedoch zur Ruhe auf und dazu, "nicht auf die Straße zu gehen".

Keine Anzeichen von Unruhe

Als Rumäniens Staatspräsident, Klaus Johannis, am Freitagabend Stellung zur Entscheidung des Verfassungsgerichts nahm, schien er um die richtigen Worte zu ringen. In einer kurzen Ansprache sagte er in hölzernem und bürokratischem Ton, Rumänien sei "stabil, sicher, demokratisch" und "nicht in Schwierigkeiten". Johannis kündigte an, dass er verfassungsgemäß Präsident bleiben werde, bis ein Amtsnachfolger vereidigt worden sei, und versprach: "Ich werde mich als Präsident so einbringen wie bisher." In den vergangenen Jahren war Johannis allerdings auch wegen fehlender Tatkraft und Passivität in der Kritik.

Befürchtungen, dass es zu Unruhen kommen könnte, haben sich am Freitag nicht bewahrheitet. Generell sind gewalttätige Auseinandersetzungen eher unwahrscheinlich. Die schrecklichen Erfahrungen beim blutigen Aufstand gegen den Diktator Ceausescu im Dezember 1989 und in den Wirren der Monate danach, vor allem die gewalttätigen Märsche der Bergarbeiter aus dem Schiltal auf Bukarest, wirken für viele bis heute traumatisch nach. Der größte Teil der Öffentlichkeit möchte solche Szenarien unbedingt vermeiden. Die rumänische Gendarmerie, die neben der Polizei für öffentliche Sicherheit und Ordnung zuständig ist, dementierte am Freitag, dass sie in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden sei.

Justiz in den Augen vieler diskreditiert

Eine reale Gefahr ist demgegenüber das Machtvakuum in den kommenden Monaten. Voraussichtlich erst im März wird es eine neue Präsidentschaftswahl geben können. Der amtierende Präsident, Klaus Johannis, ist kein starker Akteur. Und auch eine Regierungsbildung nach der Parlamentswahl vom vergangenen Sonntag (1.12.2024) könnte Monate dauern, da Rumänien weiter im Wahlkampfmodus ist. So droht eine längere politische Lähmung des Landes.

Die Entscheidung des Verfassungsgerichts könnte auch die tief sitzende Vertrauenskrise der rumänischen Gesellschaft in den Staat und in die demokratischen Institutionen noch mehr verstärken. Denn das Urteil vom Freitag ist nur das jüngste von mehreren, mit denen sich das Gericht - und die Justiz generell - in den Augen vieler Menschen in Rumänien diskreditiert hat.

Anfang Oktober 2024 schloss das Verfassungsgericht die rechtsextreme Präsidentschaftskandidatin Diana Sosoaca von der Wahl aus, da ihre politischen Erklärungen "mit den Werten der Demokratie nicht vereinbar" seien und Rumäniens Mitgliedschaft in der EU und der NATO in Gefahr brächten. Gleichzeitig wurden jedoch Calin Georgescu und der AUR-Chef George Simion, die selbst immer wieder gegen die EU und die NATO hetzen und die antisemitischen Legionärs-Faschisten der rumänischen Zwischenkriegszeit verherrlichen, nicht von der Wahl ausgeschlossen.

"Land der unbegrenzten Möglichkeiten"

Die politische Gerüchteküche in Rumänien spekuliert, dass sich die regierenden Sozialdemokraten, die Staat und Verwaltung seit 35 Jahren dominieren, ein Wahlszenario zurechtgelegt hätten, in dem der Premier und PSD-Chef Marcel Ciolacu und der AUR-Chef Simion in die Stichwahl hätten kommen sollen - die dann Ciolacu hätte gewinnen sollen. Nun sind viele Rumänen überzeugt, dass das Verfassungsgericht erneut als verlängerter Arm des politischen Establishments agiert hat - nachdem in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl alles anders gekommen war als geplant - mit Georgescu auf Platz eins und Elena Lasconi auf Platz zwei. Demnach sei vor allem Lasconi eine Bedrohung für die alten Systemparteien, denn sie und ihre Partei würden es durchaus ernst mit Anti-Korruptions- und anderen Reformvorhaben meinen.

Der prominente rumänische Jurist und ehemalige Amtsrichter, Cristi Danilet, seit vielen Jahren aktiv in der demokratischen Zivilgesellschaft, kommentierte die Entscheidung des Verfassungsgerichts auf Facebook sarkastisch: "Das Gericht hat eine Grundsatzentscheidung getroffen, mit der man sämtliche Fehler beheben kann. Rumänien ist zum Land der unbegrenzten Möglichkeiten geworden."

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Image caption Viele Menschen gingen in Bukarest und anderen Städten in den vergangenen zwei Wochen auf die Straße, um gegen den rechtsextremen Georgescu zu protestieren
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Item 6
Id 70961843
Date 2024-12-07
Title Ghana wählt in Krisenzeiten neuen Präsidenten
Short title Ghana wählt in Krisenzeiten neuen Präsidenten
Teaser In Ghana dürfen 19 Millionen Wahlberechtigte einen neuen Präsidenten wählen. Es wird mit einem friedlichen Machtwechsel gerechnet. Auf den Gewinner kommen angesichts hoher Verschuldung große Aufgaben zu.
Short teaser In Ghana dürfen 19 Millionen Wahlberechtigte einen neuen Präsidenten wählen. Der Gewinner muss die Wirtschaft ankurbeln.
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Ghana gilt als eine der Vorzeige-Demokratien - und am Samstag sind 19 Millionen Wahlberechtigte aufgerufen, einen demokratischen Machtwechsel an der Staatsspitze herbeizuführen. Präsident Nana Akufo-Addo darf nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidieren. Auf seine Nachfolge bewerben sich elf Kandidaten, von denen zweien eine Favoritenrolle zukommt: Akufo-Addos regierende Neue Patriotische Partei (NPP) schickt Vizepräsident Mahamadu Bawumia ins Rennen.

Sein aussichtsreichster Herausforderer ist John Dramani Mahama vom Nationalen Demokratischen Kongress (NDC), der von 2012 bis 2017 schon einmal Ghanas höchstes Staatsamt innehatte. Er war jedoch 2016 nicht wiedergewählt worden und verlor auch 2020 gegen Akufo-Addo.

Enttäuschte Wähler

Ghana ächzt unter hoher Staatsverschuldung. Die Wirtschaft wächst, zugleich nimmt jedoch auch die Armut zu. Insbesondere in ländlichen Gegenden hinkt die Entwicklung hinterher - eine Tendenz, die sich verstärkt, je weiter man von der Küste nach Norden in Richtung der Grenze zu Burkina Faso fährt.

"Sie schließen Gemeinde um Gemeinde ans Stromnetz an, uns lassen sie links liegen", beklagt sich Abdullai Jamal in einem Vorort von Tamale, der Provinzhauptstadt der Nordregion. Jamal und seine Nachbarn sind enttäuscht, dass die Entwicklungsversprechen der Politiker bislang nicht bei ihnen angekommen sind. Sie haben beschlossen, an der Wahl nicht teilzunehmen, sofern bis zum Wahltag nicht noch etwas passiert. "Jeder, der versprochen hat, uns ans Netz anzuschließen, hat uns nach den Wahlen ignoriert. Deshalb haben wir das so entschieden", sagt Jamal der DW.

Ibrahim, ein weiterer Anwohner, pflichtet ihm bei: "Jeder wählt wegen der Entwicklung, aber bis heute haben wir keinen Strom", sagte er der DW.

Kümmert sich die Politik um die Probleme?

Beobachter warnen die Politiker davor, ihre Wähler für selbstverständlich zu halten, indem sie so tun, als würden sie ihre Stimmen erkaufen. "Es geht vor allem um die Stimmen", sagt der politische Analyst Ibrahim Mohammed Gadafi: "Sie vernachlässigen entweder die systemischen Probleme, unter denen die Menschen bereits leiden. Oder sie versuchen, Projekte anzustoßen, um den Wählern zu zeigen, dass sie sich kümmern", so Gadafi zur DW.

Die beiden Favoriten Bawumia und Mahama haben ihre Kampagnen auf Ghanas wirtschaftliche Erholung zugeschnitten. Das Thema kratzt am Erbe des scheidenden Präsidenten Akufo-Addo. Mit Unterstützung des Internationalen Währungsfonds steckt Ghana gerade mitten in einer Umschuldung. Über die Jahre waren die Staatsschulden auf rund 30 Milliarden US-Dollar (28,5 Milliarden Euro) angewachsen.

Digitale Innovation oder 24-Stunden-Wirtschaft?

Der Ökonom und frühere Zentralbanker Bawumia verspricht digitale Innovationen als Lösung für Ghanas wirtschaftliche Probleme. "Die Jugend braucht dringend Jobs. Ich werde einer Million jungen Ghanaern digitale Fähigkeiten geben", versprach Bawumia bei einem Wahlkampfauftritt in der Volta-Region im Südosten des Landes. "Selbst, wenn du die Schule ohne Abschluss verlassen hast, können wir dich digital weiterbilden."

Sein wichtigster Gegner Mahama beschwört hingegen ein Konzept seiner Partei: Die 24-Stunden-Wirtschaftsinitiative, die laut Mahama das Potenzial des Landes freisetzen würde. Gemeint sind längere Arbeitszeiten bis hin zu rund um die Uhr verfügbaren Einrichtungen und Dienstleistungen. "Der Präsident und der Vizepräsident behaupten, zwei Millionen Arbeitsplätze geschaffen zu haben. Ich frage: Wo sind diese Stellen?", sagte Mahama bei einem Auftritt in der Region Ahafo im zentralen Südwesten. "Das klingt wie Rhetorik, die Stimmen bringen soll. Wir hingegen werben für eine 24-Stunden-Wirtschaft, die neue Beschäftigungsmöglichkeiten schafft."

Friedenspakt vor den Wahlen

Ghana ist an friedliche Wahlen gewöhnt - und Beobachter rechnen damit, dass das auch an diesem Wochenende so sein wird. Bawumia und Mahama haben im Vorfeld ein Friedensabkommen unterzeichnet, in dem sie ankündigen, jedes Wahlergebnis zu respektieren. "Wir hoffen, dass diese Zusagen uns dabei helfen, friedliche und rechtskonforme Wahlen abzuhalten", sagte der Regierungsführungs-Analyst Emmanuel Akwetey anlässlich der Unterzeichnung des Pakts. "Damit werden unsere Institutionen gestärkt."

Mahamas Partei NDC hat sich dem Pakt jedoch explizit nicht angeschlossen. Ihr Generalsekretär hatte stattdessen beklagt, es gebe keine ausbalancierte und inklusive Atmosphäre.

Alles bereit für den Wahltag

Unterdessen bemühte sich Ghanas Wahlkommission bis zuletzt, Vorwürfe, dass es an Transparenz mangle, zu entkräften. Nach massiver Kritik machten sie eine Entscheidung rückgängig, die den Zugang von Medienvertretern zu den Auszählungen beschränkt hätte. Die Wahlkommissions-Vorsitzende Jean Mensah versprach friedliche und glaubwürdige Wahlen: "Ich versichere Ihnen, dass wir die Zutaten - Transparenz, schnelle Reaktionsfähigkeit und Nichtausgrenzung - in all unseren Aktivitäten bis zum Wahltag und darüber hinaus anwenden."

Neben dem Staatschef werden am Samstag auch die mehr als 270 Parlamentsabgeordneten neu gewählt. Von sechs bis 17 Uhr lokaler Zeit sind mehr als 40.000 Wahllokale geöffnet. Sollte bei der Präsidentenwahl kein Kandidat auf Anhieb 50 Prozent plus eine Stimme erhalten, steht Ghana noch eine Stichwahl bevor.

Dieser Artikel wurde zuvor auf Englisch veröffentlicht.

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Image caption Die Vorzeige-Demokratie wählt eine neue Staatsspitze
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Item 7
Id 70989155
Date 2024-12-06
Title Morddrohungen in Rumänien: Wir werden euch erschießen!
Short title Morddrohungen in Rumänien: Wir werden euch erschießen!
Teaser Rechtsextreme Drohungen und Gewaltaufrufe gegen Roma und weitere Minderheiten haben den Endspurt des Präsidenten-Wahlkampfs in Rumänien begleitet.
Short teaser Rechtsextreme Drohungen gegen Roma und weitere Minderheiten haben den Wahlkampf in Rumänien begleitet.
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Am Donnerstagnachmittag erschütterten Morddrohungen und gewaltverherrlichende Bilder die Aktivisten der Nichtregierungsorganisation „Roma for Democracy Romania“. Die Organisation, die sich für die Rechte der Roma-Minderheit einsetzt, berichtete, dass Mitglieder über soziale Medien Nachrichten erhielten, die mit Hass und Gewalt aufgeladen waren. Unter den Nachrichten fand sich auch die erschreckende Botschaft: „Heil Hitler. Juden und Zigeuner müssen eliminiert werden. Und alle unreinen Ethnien.“

Drohungen mit Gewehren und SS-Symbolen

Laut Alin Banu, einem Vertreter der Organisation, erhielten mehrere Aktivisten Bilder und Drohungen, die mit paramilitärischen Symbolen versehen waren. Auf den Fotos, die der Redaktion des rumänischen Info-Portals HotNews.ro vorliegen, sind maskierte Personen zu sehen, die Waffen tragen und Symbole der faschistischen Legionärsbewegung sowie der SS zeigen. Diese rechtsextremen Embleme stehen in direktem Zusammenhang mit einer Vergangenheit von Gewalt und Rassismus in Rumänien und Europa.

Erschreckend sei laut Banu, dass sich solche Gruppen gezielt über Social-Media-Plattformen und Telegram-Kanäle organisieren. „Es gibt Rekrutierungsgruppen, die versuchen, Menschen zu identifizieren, die andere Meinungen vertreten, besonders jene, die pro-europäische Botschaften verbreiten“, erklärte er.

Einer der Gewaltverherrlicher veröffentlichte zudem auf seiner eigenen Social-Media-Seite Bilder von Schusswaffen und Schwertern, begleitet von klaren Gewaltaufrufen gegen Andersdenkende: „Wir werden euch erschießen, wenn ihr auf die Straße geht.“

Verbindungen zur rechtsextremen Präsidentschaftskampagne

Zu den ausgestellten Symbolen gehört auch das Wappen der rumänischen Legionärsbewegung aus der Zwischenkriegszeit, das ein Anführer der Neo-Legionären Bewegung auf seiner Jacke trug, als er den rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Călin Georgescu in einer TV-Show begleitete. Diese Verbindungen zwischen rechtsextremen Gruppen und politischen Akteuren werfen ernste Fragen über die Rolle solcher Gruppierungen in der gegenwärtigen politischen Landschaft auf.

Georgescu, der Umfragen zufolge im Vorfeld der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen (Anm. d. Red.: am Freitag, 6. Dezember, hat das rumänische Verfassungsgericht die Präsidentschaftswahlen annulliert, ein neuer Termin steht noch nicht fest) vor der pro-europäischen Kandidatin Elena Lasconi in Führung lag, hat bisher keine klare Distanzierung von solchen Gruppen geäußert. Dies verstärkt die Sorge, dass rechtsextreme Ideologien durch die politische Bühne legitimiert werden könnten.

Reaktion von „Roma for Democracy Romania“

Die betroffene Organisation reagierte mit einer entschiedenen Botschaft auf Facebook: „Wir vertrauen darauf, dass die rumänischen Institutionen noch in der Lage sind, ihre Arbeit zu tun und dass sie schnell und entschlossen gegen diese Personen vorgehen werden. Jetzt, bevor es zu spät ist!“

Sie kündigten außerdem an, weitere Informationen darüber zu veröffentlichen, wie paramilitärische Gruppen, die den rechtsextremen Kandidaten unterstützen, über Telegram organisiert und rekrutiert werden.

Aufruf zum Handeln

Die bisherige Untätigkeit der verantwortlichen Institutionen habe diejenigen ermutigt, die von Angst und Spaltung profitieren, heißt es in einer Stellungnahme des Präsidenten der Roma Foundation for Europe, Zeljko Jovanovic, die der DW vorliegt. Sie untergrabe das Vertrauen in staatliche Institutionen und gefährde die Integrität der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen. Das Fehlen von Garantien für Sicherheit und Gerechtigkeit sende das gefährliche Signal aus, dass Hass und Einschüchterung in einer demokratischen Gesellschaft akzeptable Mittel seien. In diesem Moment stehe nicht nur das Schicksal der Roma auf dem Spiel. Wenn Hass und Spaltung nicht eingedämmt würden, bedrohten sie das demokratische Gefüge Rumäniens.

„Das ist kein TikTok-Witz. Das ist der Anfang vom Ende der Welt, wie wir sie kennen. Heute stehen wir an einem Scheideweg, der die Zukunft der Demokratie und Freiheit bestimmen wird – nicht nur in Rumänien, sondern in ganz Europa“, sagt Zeljko Jovanovic, Präsident der Roma Foundation for Europe. Der Roma-Politiker sendet eine klare Botschaft an die Verantwortlichen in Rumänien und Europa: “Werden wir zulassen, dass die Welt in die Hände derer fällt, die sie brennen sehen wollen? In die Hände derer, die lieber im Krieg herrschen als in Frieden leben? In die Hände derer, die von Hass und Angst leben? Wir vertrauen darauf, dass die Institutionen Rumäniens schnell und entschlossen handeln können und werden, um diese Bedrohungen zu beseitigen. Wir fordern sie auf, die Grundsätze der Gerechtigkeit und Freiheit jetzt zu wahren, bevor es zu spät ist“, so Jovanovic.

rcs / das / hotnews.ro

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Image caption Zeljko Jovanovic, Präsident der Roma Foundation for Europe
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Item 8
Id 70988481
Date 2024-12-06
Title Aufstand in Syrien: "Dieses Regime ist tot"
Short title Aufstand in Syrien: "Dieses Regime ist tot"
Teaser Der Vormarsch der Rebellenallianz in Syrien setzt auch den Iran massiv unter Druck. Stürzt dort Präsident Assad, würde auch das Regime in Teheran ins Wanken geraten.
Short teaser Stürzt Syriens Präsident Assad, würde auch das Regime in Teheran ins Wanken geraten.
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Nach Aleppo und Hama stehen syrische Rebellen nun vor den Toren von Homs, der drittgrößten Stadt in Syrien. Ihr erklärtes Ziel sei der Sturz vom Machthaber Baschar al-Assad, sagt Rebellenanführer Abu Mohammed al-Dschulani im Interview mit dem US-Sender CNN. "Dieses Regime ist tot."

Noch am Freitag (06.12.) sagt der Iran seinem Verbündeten Syrien weitere Raketen und Drohnen zu. Die Zahl der militärischen Berater werde erhöht, sagt ein hochrangiger Vertreter des Iran. Derzeit stelle der Iran Syrien Geheimdienstunterstützung und Satellitendaten zur Verfügung.

Auch die Hisbollah-Miliz in Libanon hat reagiert. Libanesischen Sicherheitskreisen zufolge schickte sie in der Nacht auf Freitag einige "Überwachungstruppen" in Richtung Homs.

Präsident Assad werde mit Unterstützung der vom Iran unterstützten Streitkräfte und den russischen Luftangriffen wahrscheinlich neue Verwüstungen unter den Rebellen anrichten, so die Befürchtung einer Studie der European Council on Foreigen Relations Anfang Dezember. "Dies ist eine düstere Aussicht. Die humanitäre Krise in Syrien und die regionale Instabilität wird sich verschlimmern."

USA und Israel wollen keine Präsenz des Iran in Syrien

Während die islamistischen Dschihadisten in Syrien weiter auf dem Vormarsch sind, arbeiten die USA nach einem Bericht der New York Times an einem Plan mit Syriens Präsident Assad. Washington wolle mit dem Rückzug der verbliebenen US-Truppen und der Lockerung der Sanktion gegen ein Ende iranischer Präsenz in Syrien tauschen.

Flankiert sei das politische Angebot durch militärische Angriffe. Israels Armee attackiert Syrien seit Langem mit der Luftwaffe. Schon 2011 kämpfte der Iran mit seiner Revolutionsgarde an der Seite des Assad-Regimes im Bürgerkrieg gegen die bewaffnete Armee der syrischen Opposition. Auch Russland und die libanesische Hisbollah gehören zu den Verbündeten Syriens. Die Hisbollah-Miliz wiederum wird vom Iran bewaffnet.

Der Iran hat dewegen in Damaskus starke Einflüsse. Genau diese strategische Präsenz wolle Tel Aviv verhindern, so eine Studie der International Crisis Group. Israels primäres Interesse in Syrien sei es, dort eine strategische iranische Militärpräsenz in zu verhindern, einschließlich des iranischen Aufbaus einer militärischen Infrastruktur und der Ausbildung lokaler Partnermilizen. Es bestehe die Gefahr, "dass eine Eskalationsspirale zu einem offenen Krieg zwischen Israel und dem Iran führt, der auf den Libanon übergreifen könnte."

Syrien als Baustein der iranischen Strategie

"Syrien ist ein ganz wesentlicher Teil der regionalen Sicherheitsstrategie des Iran. Teheran will einen Kreis von engen Verbündeten im sogenannten schiitischen Halbmond aufbauen", sagt Marcus Schneider, Projektleiter "Frieden und Sicherheit im Mittleren Osten-Nordafrika" der Friedrich-Ebert-Stiftung. "Jahrzehntelang war Damaskus Irans einziger enger staatlicher Verbündeter - und das trotz ideologischer Gegensätze." Syrien gilt als säkular, während der Iran ein Gottesstaat ist.

"Sollte Syrien fallen, verliert Iran auch direkten Zugang zur Hisbollah und somit zum Mittelmeer", sagt Marcus Schneider. Die Hisbollah in Libanon gilt als Irans fähigster militärischer Verbündeter. "Doch mit dem Krieg zwischen Libanon und Israel ist sie extrem geschwächt. Sie wird sich ohne den Korridor zum Irak und Iran, der ja über Syrien führt, militärisch kaum wieder erholen können."

Syrien, die Hisbollah, die Huthi-Miliz in Jemen, die Hamas und der Iran bilden im Nahen Osten die "Achse des Widerstands", eine antiwestliche und antiisraelische Allianz. Würde Syrien fallen, hätte der Iran ein Problem der Glaubwürdigkeit in diesem Bündnis, sagt Politologe Schneider von der Friedrich-Ebert-Stiftung.

"Iran wurde geschwächt"

Seit Jahren wurde der Handlungsspielraum des Irans in der Region immer kleiner, sagt Sara Bazoobandi, Iran-Expertin beim Hamburger German Institute for Global and Area Studies. "Die Tötung hochrangiger Kommandeure der iranischen Revolutionsgarden im vergangenen Jahr wie auch die vom General Qasem Soleimani, Kommandeur der Spezialeinheit für Auslandsaktivitäten der Revolutionsgarde 2020 in Bagdad, haben zu einer gewissen Verunsicherung innerhalb der islamischen Regierung geführt. Insbesondere mit Blick auf Israel ist der Iran hinsichtlich seiner militärischen wie auch nachrichtendienstlichen Fähigkeiten äußerst verwundbar geworden."

Erschwerend kommen die Wirtschaftssanktionen durch die westlichen Länder hinzu, so Bazoobandi weiter. Die Aktivitäten rund um Syrien seien bereits jetzt für den Iran sehr teuer. Diese könnten sich unter der US-Präsidentschaft von Donald Trump ab 2025 noch einmal verschärfen. Deswegen werde der Iran alles in die Waagschale werfen, um das Assad-Regime in Syrien zu verteidigen, sagt Schneider. "Syrien ist für die Islamische Republik kein 'Krieg der Wahl', sondern ein 'Krieg der Notwendigkeit'."

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Image caption Rebellen auf dem Vormarsch in Syrien
Image source Ghaith Alsayed/AP Photo/picture alliance
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Item 9
Id 70984419
Date 2024-12-06
Title Ausverhandelt: EU und Mercosur-Staaten einigen sich
Short title Ausverhandelt: EU und Mercosur-Staaten einigen sich
Teaser Nach knapp 25 Jahren sind die Verhandlungen für das EU-Mercosur-Abkommen abgeschlossen. Was bedeutet das Handelslabkommen für die Menschen in Lateinamerika und Europa - und wann kann es in Kraft treten?
Short teaser Die EU und Mercosur haben die Verhandlungen für ihr Handelsabkommen abgeschlossen. Worum geht es?
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"Der heutige Tag markiert einen wahrhaft historischen Meilenstein," freut sich Ursula von der Leyen am Freitag in Montevideo. Der Grund: Der Abschluss der Verhandlungen des EU-Mercosur-Abkommens.

Von der Leyen unterstreicht die Gemeinsamkeiten der Wertvorstellungen in den beiden Regionen und betont, dass man eine "starke Nachricht" in die Welt sende - nämlich die, dass in einer zunehmend konfrontativen Welt Demokratien aufeinander zählen könnten.

Nach knapp 25 Jahren Verhandlungen soll das EU-Mercosur-Abkommen nun also stehen; und damit laut von der Leyen eine der "größten Handels- und Investitionspartnerschaften, die die Welt je gesehen hat."

Was regelt das Abkommen?

Das EU-Mercosur-Abkommen soll mehr als 700 Millionen Menschen auf dem südamerikanischen und europäischen Kontinent miteinander verbinden. Auf der einen Seite die 450 Millionen Bürger der 27 EU-Staaten, und auf der anderen Seite die 270 Millionen Menschen in Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay. Venezuelas Mitgliedschaft im Mercosur ist bis auf weiteres suspendiert. Für das jüngste Mercosur-Mitglied Bolivien gilt das Abkommen noch nicht.

Auf die Eckpunkte hatte man sich bereits 2019 geeinigt. Stufenweise sollen mehr als 90 Prozent der Zölle auf beiden Seiten abgebaut werden. Dadurch würden EU-Exporteure über kurz oder lang jährlich mehr als vier Milliarden Euro einsparen können, schätzt die EU-Kommission.

EU will Freihandel und Rohstoffe

Dabei geht es aus europäischer Sicht wohl vor allem um den Import von Rohstoffen und den Export von Autos und Maschinen. Das Interesse der EU an dem Handelsabkommen dürfte auch vor dem Hintergrund des Amtsantritts Donald Trumps im Januar erneut gewachsen sein. Der gewählte US-Präsident hat der EU bereits im Wahlkampf mit der Erhebung von Zöllen gedroht.

Mit Blick auf die geopolitische Lage bezeichnet von der Leyen das Abkommen am Freitag als eine "politische Notwendigkeit". So will die EU beispielsweise beim Zugang zu wichtigen Rohstoffen wieSeltene Erden unabhängiger von China werden. Diese für Schlüsseltechnologien notwendigen Metalle könnten die Mercosur-Staaten liefern.

Nach EU-Angaben exportierten die Mercosur-Staaten 2023 vor allem Mineralerzeugnisse sowie Lebensmittel, Getränke und Tabak in die EU, während die EU-Staaten insbesondere Maschinen, Geräte, Chemikalien und pharmazeutische Produkte in die vier Mercosur-Staaten exportierte. Das Handelsvolumen zwischen den beiden Blöcken lag 2023 bei rund 110 Milliarden Euro.

In der EU, insbesondere in Deutschland, dürften vor allem Automobilhersteller auf den Abbau des 35 Prozent hohen Einfuhrzolls hoffen, während südamerikanische Produzenten sich darauf freuen, in Zukunft Agrarprodukte, wie etwa Fleisch und Zucker, leichter in die EU verkaufen zu können.

Streit um Umweltstandards

Seit 2019 scheiterte der Vertragsabschluss vor allem an EU-Forderungen nach strengeren Umweltauflagen, die in einem Zusatzprotokoll festgehalten werden sollen. In einer Pressemitteilung betont die EU-Kommission, dass das jetzt ausgehandelte Abkommen "klare, konkrete und messbare Verpflichtungen zum Stopp der Entwaldung" beinhalte.

Auch von südamerikanischer Seite gab es in der Vergangenheit Kritik an dem Abkommen. So äußerte sich etwa der argentinische Präsident Javier Milei während seines Wahlkampfes ablehnend und der brasilianische Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte sich gegen das Zusatzprotokoll ausgesprochen.

Europäische Bauern mobilisieren dagegen

Das Abkommen führte in den vergangenen Wochen zu vehementen Protesten von Bauern vor allem in Frankreich, aber auch in Belgien. Sie fürchten einen unfairen Wettbewerb durch billige Produkte aus Südamerika und beklagen, dass dort niedrige Schutzvorschriften und Umweltanforderungen gälten. Auch der Deutsche Bauernverband sprach sich gegen das Abkommen aus und forderte neue Verhandlungen.

Umweltorganisationen wie Greenpeace lehnen das Abkommen ab. Sie fürchten unter anderem eine fortgesetzte Abholzung des Regenwaldes, um Produkte wie Rindfleisch und Futtersoja herzustellen.

Befürworter halten dagegen, dass das Abkommen die EU-Standards schütze und Quoten in bestimmten Bereichen, wie etwa bei Rindfleisch, Geflügel und Zucker, vorgesehen seien. Von der EU-Kommission hieß es am Freitag, die Interessen aller Europäer, auch die der Bauern, würden durch das Abkommen geschützt

Abkommen spaltet EU-Länder

Auch innerhalb der EU-Mitgliedstaaten gehen die Meinungen über das Abkommen auseinander. Entschiedener Gegner des Abkommens ist Frankreich.

Aus dem Elysée-Palast hieß es am Donnerstag, der französische Präsident Emmanuel Macron habe Ursula von der Leyen klar gemacht, dass das Abkommen in seiner derzeitigen Form "inakzeptabel” sei. Man werde Frankreichs "landwirtschaftliche Souveränität” weiterhin verteidigen. Zweifel an dem Abkommen meldeten auch Polen und Italien an.

Deutschland und Spanien unterstützen dagegen das Abkommen. Deutschland drängte in letzter Zeit vermehrt auf einen zügigen Vertragsabschluss.

Wann tritt das Abkommen tatsächlich in Kraft?

Trotz der Einigung dürfte es noch einige Zeit dauern, bis das Freihandelsabkommen tatsächlich seine Wirkung entfalten kann: Beide Seiten müssen es noch ratifizieren und noch sind weitere Blockaden möglich. Die EU-Kommission bezeichnet das Ende der Verhandlungen als einen "ersten Schritt" hin zum Vertragsabschluss.

Auf EU-Seite muss der Vertragstext erst einmal juristisch geglättet und in alle weiteren 23 EU-Sprachen übersetzt werden. Dann wird der Text dem EU-Rat und dem EU-Parlament vorgelegt, teilte die Kommission am Freitag mit.

Grundsätzlich müsse die EU-Kommission noch beurteilen, welches die finale juristische Grundlage des Abkommens sei, sagte ein Kommissionsprecher am Donnerstag in Brüssel. Davon hängen die weiteren Schritte ab.

Würde es als reines Handelsabkommen gewertet, könnte es an der notwendigen Zustimmung der Mitgliedstaaten scheitern: Diese könnten das Abkommen verhindern, wenn mindestens vier Staaten, die mehr als 35 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten, dagegen stimmen. Wären auch Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten betroffen, würde schon eine Gegenstimme für ein Scheitern genügen.

Item URL https://www.dw.com/de/ausverhandelt-eu-und-mercosur-staaten-einigen-sich/a-70984419?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Freitag beim Mercosur-Gipfel in Montevideo
Image source Matilde Campodonico/AP Photo/picture alliance
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Item 10
Id 70982830
Date 2024-12-06
Title Ermuntert die EU Serbien zu aggressivem Verhalten?
Short title Ermuntert die EU Serbien zu aggressivem Verhalten?
Teaser Die kürzlichen Anschläge in der Republik Kosovo sind noch nicht aufgeklärt. Doch klar ist: Belgrad hat ein Interesse an der Destabilisierung Kosovos. Die EU sieht dem Treiben des Beitrittskandidaten Serbien tatenlos zu.
Short teaser Serbien hat ein Interesse an der Destabilisierung Kosovos. Die EU sieht dem Treiben des Beitrittskandidaten tatenlos zu.
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In der vergangenen Woche erlebte die Republik Kosovo eine Anschlagsserie: Zunächst explodierten Handgranaten neben einer Dienststelle der kosovarischen Polizei im Ort Zvecan im überwiegend serbisch bewohnten Norden des Landes. Einige Tage später explodierte eine Handgranate am Rathaus von Zvecan. Kurz darauf wurde ein wichtiger Wasserkanal unweit der Stadt Mitrovica durch eine Explosion beschädigt, der für die Wasserversorgung von Bewohnern im Norden Kosovos und zur Kühlung eines Kraftwerks wichtig ist.

Noch ist unklar, wer hinter der Attacke steht. Die Regierungen Serbiens und Kosovos beschuldigen sich gegenseitig, die Urheber zu sein. Doch der Anschlag auf den Wasserkanal wurde von der EU als "Terrorangriff" verurteilt: "Es handelt sich um einen verabscheuungswürdigen Sabotageakt gegen die kritische zivile Infrastruktur Kosovos", so der scheidende EU-Außenbeauftragte Josep Borrell.

Unabhängig vom Ausgang der Untersuchungen lässt sich feststellen, dass es bereits seit 2022 eine Kette von Gewaltakten und Drohungen aus Serbien gegen Kosovo gibt. Im September vergangenen Jahres griff eine aus Serbien eingesickerte und mit Waffen aus Beständen der serbischen Streitkräfte ausgerüstete paramilitärische Gruppe kosovarische Polizisten an. Bei dem von der EU verurteilten "Terrorakt" kamen vier Menschen ums Leben. Brüssel drohte Sanktionen an, beließ es aber dabei. Später setzte Serbiens Präsident Aleksandar Vucic seine Streitkräfte in Richtung Kosovo in Bewegung. Nur Interventionen der USA und der NATO veranlassten Vucic, seine Panzer zu stoppen. Ein ähnliches Szenario hatte sich bereits im Dezember 2022 ereignet.

"Serbische Welt"

Bei EU-Vermittlungen im März 2023 einigten sich dann Vucic und Kosovos Premier Albin Kurti mündlich, die Beziehungen zu verbessern. Am selben Abend sagte Vucic im Fernsehen auf die Frage, wann das Abkommen unterzeichnet werde: "Ich habe unerträgliche Schmerzen in meiner rechten Hand, ich kann nur mit der rechten Hand unterschreiben, und diese Schmerzen werden voraussichtlich die kommenden vier Jahre anhalten."

Im Mai 2023 folgten dann serbische Angriffe auf die NATO-Friedenstruppe KFOR, bei denen 90 Soldaten teils schwer verletzt wurden. Nach der KFOR-Aufstockung Ende letzten Jahres auf knapp 5000 Soldaten legte sich die Gewalt im Kosovo.

Im Juni 2024 fand in Belgrad eine von Vucic geleitete Regierungskonferenz statt, deren Ziel die Realisierung des Konzeptes der "Serbischen Welt" (Srpski Svet) war. Der Name lehnt sich an das Konzept der "Russischen Welt" (Russkij Mir) an; Srpski Svet ist die adaptierte Neuauflage des Projektes "Großserbien", das der serbische Präsident Slobodan Milosevic während des Zerfalls Jugoslawiens in den 1990er Jahren verfolgte, nämlich die Vereinigung aller von Serben bewohnten Gebiete.

Lob von der EU-Kommissionspräsidentin

Bereits im April 2024 hatte der NATO-Oberbefehlshaber für Europa, US-General Christopher Cavoli, eindringlich vor neuen bewaffneten Konflikten auf dem Westbalkan gewarnt. Russland schüre mittels serbischer Akteure Spannungen in der Region und versuche, die verschiedenen Ethnien gegeneinander aufzubringen. "Die Angriffe auf Kosovo-Polizisten und ein serbischer Truppenaufmarsch an der Grenze zu Nordkosovo stellte die höchste Gefahr von zwischenstaatlicher Gewalt seit dem Ende des Krieges 1999 dar und illustrierte die besorgniserregende Bedrohungsstufe in der Region", so Cavoli.

Diese - teils gewaltsamen - Ereignisse wurden beim Besuch von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Oktober 2024 bei Vucic in Belgrad nicht thematisiert. Vucic und seine Regierung wurden ausdrücklich gelobt und belohnt: Von der Leyen attestierte Vucic einen "großartigen Job" hinsichtlich des "exzellenten Reform-Programms" gemacht zu haben und kündigte Finanzhilfen für Serbien in dreistelliger Millionenhöhe an. "Lieber Aleksandar", sagte von der Leyen, "Du hast gezeigt, dass Du entschlossen bist, die Reformen voranzutreiben, insbesondere bezüglich der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Du hast gezeigt, dass Deinen Worten Taten folgen!"

Hybrides Regime

Dem Lob der EU-Kommissionspräsidentin stehen zahlreiche Analysen renommierter Institute und NGOs gegenüber: Bei der Rechtsstaatlichkeit liegt Serbien laut dem World Justice Projekt zwischen Benin und China auf Platz 94. Alle ehemaligen Teilrepubliken Jugoslawiens stehen besser da, Kosovo beispielsweise auf dem 58. Platz. Laut Transparency International befindet sich Serbien auf Platz 104 von 180 des Korruptionsindex. Human Rights Watch zeichnet ein düsteres Bild der Pressefreiheit, und Wahlbeobachter haben die Wahl im Dezember 2023 als weder frei noch fair kritisiert. Freedom House nennt das serbische Regime schon seit geraumer Zeit "hybrid", also zwischen Demokratie und Autokratie stehend.

Aktuell greift die serbische Regierung zu repressiven Maßnahmen gegen die Zivilgesellschaft im Zuge der Proteste gegen den geplanten Lithium-Abbau und den Kollaps eines Bahnhofvordachs in Novi Sad, bei dem über ein Dutzend Menschen starben. Das im Inneren immer nervöser reagierende Regime Vucics intensiviert parallel hierzu dramatisch die Kontakte zu den Regierungen Russlands, Chinas, Belarus' und Irans und zwar auf militärischer, sicherheitspolitischer und wirtschaftlicher Ebene. So scheint die mangelnde Kritik der EU, gepaart mit enorm hohen unkonditionierten Finanzhilfen, genau das Gegenteil des gewünschten Ziels zu erreichen, nämlich den Westbalkan zu beruhigen.

Rechtsstaatlichkeit gegen Lithium getauscht

"Wie Sie wissen ist Serbien nicht nur ein strategischer Partner Russlands, sondern auch ein Alliierter Russlands", so Vize-Premier Aleksandar Vulin gegenüber Präsident Wladimir Putin im September in Wladiwostok. Der Vize ist Vucics engster Vertrauter und von den USA wegen seiner Moskau-Nähe sanktioniert. Prompt beklagte Vulin sich in einem Interview mit Russia Today am Rande des BRICS-Gipfels auch über EU und NATO-Vertreter. Sie würden die serbische Regierung immer wieder drängen, die EU-Sanktionen gegen Moskau mitzutragen. Doch Vulin versprach dem russischen Publikum, Serbien werde solch einen "großen Verrat" niemals begehen: "Ich bin stolz auf meine Beziehungen zu Russland und werde bis zum letzten Lebenstag dafür kämpfen, dass sie enger und enger werden."

Seit Kanzler Olaf Scholz im Juli zwischen Brüssel und Belgrad einen milliardenschweren Lithium-Deal in die Wege leitete, brodelt es zunehmend auf dem Westbalkan. Ein ehemaliger deutscher Diplomat und Balkankenner, der ungenannt bleiben möchte, sagte hierzu, dass die EU den Balkan nur noch als "Herkunftsregion für Arbeitskräfte" für den Pflegebereich und "für Ressourcen wie Lithium" wahrnehme. Hierbei seien "Autokraten wie Vucic" hilfreich, denn diese könnten innenpolitisch umstrittene Projekte wie den Lithium-Deal am besten durchsetzen.

Der Balkan-Experte der Universität Graz, Professor Florian Bieber, kommentiert das auf seinem X-Kanal so: "Heute haben die EU und Deutschland Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und eine EU-Beitrittsperspektive für den Balkan gegen Lithium getauscht. Es gibt keine unabhängigen Institutionen oder Medien und keinen Platz für eine kritische Zivilgesellschaft in Serbien."

Item URL https://www.dw.com/de/ermuntert-die-eu-serbien-zu-aggressivem-verhalten/a-70982830?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Durch einen Anschlag beschädigter Kanal bei Zubin Potok im Norden Kosovos
Image source Valdrin Xhemaj/REUTERS
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Item 11
Id 70982247
Date 2024-12-06
Title Von Warschau nach Berlin und zurück - der polnische Autor Jacek Dehnel kehrt nach Polen zurück
Short title Warum der polnische Autor Jacek Dehnel Berlin verlässt
Teaser Der schwule polnische Schriftsteller Jacek Dehnel lebte lange mit seinem Ehemann in Deutschland. Doch er wollte immer zurück in ein "besseres Polen". Für den "PiS-Flüchtling" ist die Zeit für die Rückkehr reif.
Short teaser Der Schriftsteller und Expat Jacek Dehnel kehrt zurück nach Polen. Der "PiS-Flüchtling" verabschiedet sich von Berlin.
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Der polnische Schriftsteller Jacek Dehnel kann aufatmen. In seiner Heimat finden wieder Treffen mit der Leserschaft statt, und er wird wieder dazu eingeladen. Unter der Regierung der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die von 2015 bis 2023 in Polen an der Macht war, war das nicht selbstverständlich. "Es wurde allmählich reduziert und verschlimmerte sich im Laufe der Zeit", erzählt Dehnel im DW-Interview.

Der offen schwule Autor zählt zu den bekanntesten polnischen Schriftstellern der Gegenwart. Er schrieb zahlreiche Romane und Gedichtbände und machte sich auch als Übersetzer einen Namen. Seine Werke wurden auch ins Deutsche übertragen.

Vor fünf Jahren kam Dehnel zu dem Schluss, dass Polen "kein sicherer Ort für LGBT-Menschen" sei. Denn die homophobe PiS-Regierung machte andauernd Stimmung gegen queere Menschen und ihre Rechte. LGBT sei "eine Ideologie, keine Menschen", behauptete der polnische Präsident Andrzej Duda, der noch bis Mitte 2025 im Amt ist. Fast ein Drittel der Gemeinden und Städte in Polen wurde zu "LGBT-freien-Zonen" erklärt. "Das war Diskriminierung, Verfolgung unserer Gemeinschaft, staatlich organisierte Hetze", sagt Jacek Dehnel. Und so wurde Berlin für ihn und seinen Ehemann die neue Heimat - fünf Jahre lang.

Rechtlich nichts geändert

Jetzt gehen die "PiS-Flüchtlinge" nach Polen zurück. "In ein etwas besseres Polen", sagt Dehnel schmunzelnd, auch wenn sein Heimatland "kein Paradies auf Erden" sei. "In Polen müssen noch viele Dinge geändert und verbessert werden. Die rechtliche Situation für LGBT-Menschen hat sich nicht geändert", sagt er.

Zwar war Polen Vorreiter bei der Emanzipation homosexueller Bürger und entkriminalisierte gleichgeschlechtliche Beziehungen schon 1932 (die DDR machte das 1957, die Bundesrepublik 1969), aber seitdem ist nicht viel passiert. "Grundlegende Änderungen haben noch nicht stattgefunden, wie etwa Schutz vor Hassreden aufgrund der sexuellen Orientierung und Identität sowie die Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften oder Gleichstellung mit der Ehe", sagt Dehnel.

Polen ist eines von fünf EU-Ländern, welches noch keine eingetragenen gleichgeschlechtlichen Partnerschaften anbietet, erst recht nicht eine solche Ehe.

Die derzeitige liberale Regierung unter Donald Tusk möchte das ändern. Der erste Gesetzentwurf zu eingetragenen zivilen Partnerschaften ist da und mit ihm ein zähes Ringen in Tusks Koalition, zu der auch das christdemokratisch-konservative Bündnis "Dritter Weg" gehört. Wann das Gesetz in Kraft treten kann, ist noch offen. Selbst wenn es zeitnah verabschiedet werden sollte, kann Präsident Duda, ein Freund der homophoben Vorgänger-Regierung, sein Veto einlegen.

Ein gesellschaftlicher Wandel

Jacek Dehnels Partner ist der Schriftsteller Piotr Tarczynski. Seit 21 Jahren sind die beiden ein Paar, 2018 haben sie in London geheiratet. In Polen wird ihre Ehe nicht anerkannt. Sie haben nur das, was sie beim Notar festgelegt haben. "Wir werden vom polnischen Staat wie Fremde behandelt. Wenn wir die Brücke über die Oder Richtung Polen überqueren, lassen wir uns scheiden bis wir zurückfahren und an der Oder wieder heiraten. Eine Hochzeit aus Wasser", beschreibt Dehnel symbolisch seine Lage.

Und obwohl sich die rechtlichen Bedingungen in Polen noch nicht geändert haben, ist die Lage doch nicht hoffnungslos. Es habe "ein enormer gesellschaftlicher Wandel" stattgefunden, der "in gewisser Weise wichtiger" sei. "Viele denken bereits ganz anders über uns", freut sich der Schriftsteller. Aktuellen Umfragen zufolge, befürwortet die Mehrheit der Polen gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften. "Es gibt einen großen Unterschied zwischen der polnischen Gesellschaft und der politischen Klasse, die immer noch konservativ ist, und Angst vor der Kirche hat", betont Dehnel.

Immer mehr queere Menschen outen sich, dabei einige Prominente - auch für das katholische Polen gehört Queer-Sein langsam zum Leben. Die Pride-Paraden bezeugen das, meint Dehnel.

Lange Zeit gab es sie nur vereinzelt und in den großen Städten. Inzwischen ziehen Menschen mit Regenbogenfahnen durch mehr als 30 Gemeinden, auch kleine Orte sind dabei. "Die Paraden werden immer sicherer, die Menschen gewöhnen sich daran", so Dehnel. Mit jedem Jahr werde es schwieriger, Hass auf die LGBT-Menschen zu wecken.

Ob jedoch ein so offenes Leben wie in Berlin auch in Warschau möglich sein wird, wird sich zeigen. In der deutschen Hauptstadt habe Dehnel keine homophoben Kommentare erlebt - "bis auf einen von einem Polen". Aber auch in Berlin sei die Situation dynamisch und vom Wohnviertel abhängig. "Die deutschen LGBT-Organisationen weisen darauf hin, dass die Gewalt gegen queere Personen in Deutschland sehr stark zunimmt", fügt Dehnel hinzu.

Berlin in "einer tiefen Krise"

Nicht nur das macht ihm Sorgen. Auch die Lebensbedingungen und "eine tiefe Krise", in der sich die deutsche Hauptstadt befinde, seien Gründe für den Weggang. Die Stadt werde den Erwartungen vieler Expats nicht gerecht. Am schlimmsten sei die Bürokratie, die "ständig Probleme multipliziert".

Als Beispiel nennt Dehnel die Nichtanerkennung polnischer Dokumente, "die böswillige Infragestellung verschiedener Dinge", und das lange Warten auf Entscheidungen der Behörden. "Mein Mann wartete elf Monate auf die Anerkennung als Künstler und musste dann für diese elf Monate die Beiträge für die Versicherung nachzahlen, die er nicht in Anspruch nehmen konnte", sagt der Schriftsteller.

Das sei keineswegs ein Einzelfall, betont Dehnel. Viele der Expats würden mittlerweile desillusioniert die Stadt wieder verlassen. Berlin, früher bekannt für seine kulturelle Offenheit und Toleranz, für bezahlbare Mieten und eine pulsierende Kreativszene, könne diesen Ruf nicht mehr erfüllen.

Dehnels Kritik wurde Ende Oktober in der polnischen "Newsweek" und sozialen Netzwerken publik gemacht - und schlug unter den in Deutschland lebenden Polen hohe Wellen. "Wir sind Bürger der Europäischen Union, wir kommen in Berlin quasi zu uns selbst - in einen anderen Teil der Gemeinschaft, zu der Polen und Deutschland gehören. Wir haben bestimmte Erwartungen", betont er im DW-Gespräch. Dass man bestimmte Behördengänge auf Englisch erledigen kann, mit Kreditkarte bezahlt, über bessere digitale Infrastruktur verfügt. "Ich erwarte eine bestimmte Art von Dienstleistung. Und mehr, ich vergleiche sie mit dem Niveau in Polen", fügt er hinzu. Dieser Vergleich falle oft zugunsten von Polen aus.

Seit dem 1. Dezember wohnt Jacek Dehnel wieder in Warschau. An der Oder musste er sich nochmal symbolisch scheiden lassen. Die Wohnung in Berlin behält er aber noch. Für alle Fälle.

Item URL https://www.dw.com/de/von-warschau-nach-berlin-und-zurück-der-polnische-autor-jacek-dehnel-kehrt-nach-polen-zurück/a-70982247?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Der prominente polnische Schriftsteller Jacek Dehnel bei einer Buchpräsentation
Image source Anna Maciol-Holthausen/DW
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Item 12
Id 70966513
Date 2024-12-06
Title Kroatiens unsichtbare Migranten
Short title Kroatiens unsichtbare Migranten
Teaser Über 26.000 Flüchtlinge sind seit Januar 2024 nach Kroatien eingereist - aber nur 3,6 Prozent von ihnen haben Antrag auf Asyl gestellt. Zu sehen sind Migrierende in dem EU- und Schengen-Mitgliedsland kaum.
Short teaser Über 26.000 Flüchtlinge sind seit Januar 2024 nach Kroatien eingereist. Nur 3,6 Prozent haben einen Asylantrag gestellt.
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Kroatien ist der erste EU-Mitgliedsstaat am nordwestlichen Ende der Balkanroute. Migrierende, die über die Nachbarländer Bosnien und Herzegowina oder Serbien in den Westen und Norden Europas wollen, müssen das Land durchqueren, das seit Januar 2023 auch Mitglied im Schengen-Raum ist.

"Insgesamt wurden in den ersten zehn Monaten dieses Jahres (2024) 26.534 illegale Grenzübertritte registriert", erklärt die Pressestelle des kroatischen Innenministeriums der DW. Die meisten Migranten seien Bürger Afghanistans, Syriens, der Türkei, der Russischen Föderation und Ägyptens.

Doch während im Westen Bosniens, im Südosten Österreichs oder im Norden Italiens Flüchtlinge zum Straßenbild gehören, sieht man in Kroatien zwar immer mehr "Gastarbeiter" - aber Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten wie Afghanistan oder Syrien kaum. Dass sich trotzdem viele Flüchtende in Kroatien aufhalten bzw. das Land durchqueren, belegen Fotos ihrer Hinterlassenschaften in den Gebirgen an den Grenzen zu Italien und Österreich, die Wanderer und Bergsteiger aufgenommen haben.

"Die Kleidung, Schuhe, Rucksäcke, Dokumente, Fotos, Brillen, Kinderwagen und Windeln, die die Bergsteiger finden, sind kein Müll, sondern Spuren der Brutalität des europäischen Grenzregimes in Kroatien", erklärt die NGO "Gradovi utocista" (Städte der Zuflucht) in einer Stellungnahme für die DW. "Solange migrierende Menschen gezwungen sind, sich zu verstecken, werden sie diese Spuren auf Bergen, Nebenstraßen oder in Wäldern hinterlassen", so das informelle Netzwerk. Gradovi utocista verbindet lokale Initiativen, Aktivistinnen und Aktivisten in Kroatien, die Migrantinnen und Migranten vor Ort helfen.

"Die Sichtbarkeit von Migranten und ihre Kontakte mit der lokalen Bevölkerung stehen und fallen mit dem Grad ihrer Kriminalisierung und Illegalisierung", erklärt Izvor Rukavina, Aktivist bei Gradovi utocista und Soziologe an der Universität der kroatischen Hauptstadt Zagreb. "In Italien und Bosnien können Migrierende sich leichter in der Öffentlichkeit zeigen, ohne ihre Weiterreise zu gefährden. In Kroatien und Slowenien ist das Risiko von Inhaftierung und Pushbacks viel größer, insbesondere wenn sie mit Medien sprechen."

"Sieben-Tage-Papiere": Grundlage für künftige mögliche Rückübernahmen

Das war nicht immer so. Bis zum Beitritt Kroatiens zum Schengen-Raum stellten die Behörden Flüchtlingen "Sieben-Tage-Papiere" aus, mit denen sie das Land binnen einer Woche durchqueren durften. Dieses Dokument und die darin enthaltenen personenbezogenen Daten sind Grundlage für künftige mögliche Abschiebungen und Rückübernahmen aus anderen EU-Ländern.

"Damals wurde zum Beispiel in Rijeka ein humanitärer Versorgungspunkt eingerichtet, wo täglich mehr als hundert Menschen mit Erfrischungen und Grundnahrungsmitteln versorgt wurden, bevor sie weiterzogen", berichtet Rukovina. Anfang 2024 sei das Projekt beendet worden, da keine Flüchtlinge mehr in der Stadt ankamen. "Aber es durchqueren weiterhin zahlreiche Migranten Kroatien, so dass wir nun von unsichtbarer Migration sprechen."

Zwischen Pushbacks und Ertrinken

Wenn Flüchtlinge heute in den kroatischen Medien auftauchen, dann im Rahmen von Beiträgen über Festnahmen von Schleppern bei Polizeikontrollen oder Unfällen von Transportern, bei denen Migrierende verletzt - und bei dieser Gelegenheit entdeckt wurden. Aber diese Berichte kommen nicht von der Grenze, sondern von Straßen, die EU-Länder Italien, Slowenien und Österreich mit dem Grenzgebiet zu Bosnien und Serbien verbinden.

Von dort kommen seit Jahren Berichte über brutale, nach EU-Recht eigentlich illegale Pushbacks an Kroatiens Grenze zu Bosnien. Die kroatische Grenzpolizei setzt dort unter anderem Drohnen ein, um Flüchtlinge zu finden, die versuchen, die EU-Außengrenze zu überwinden. Zuvor mussten die Menschen das noch immer von Minen aus dem Krieg 1992-95 verseuchte Bosnien durchqueren. Minen sind nur eine der Gefahren, die den Migranten drohen. Hilfsorganisationen wie SOS Balkanroute aus Österreich berichten, dass immer mehr unbekannte Tote aus den Flüssen entlang der Grenzen Bosniens und Serbiens zu Kroatien geborgen werden.

96,4 Prozent ziehen weiter

"Nur 3,6 Prozent der Personen, die ihre Absicht bekundet haben, internationalen Schutz in der Republik Kroatien zu beantragen, stellen einen förmlichen Antrag", erklärt das Innenministerium in Zagreb der DW. "Wir haben keine Informationen darüber, in welches Land diese Menschen gegangen sind." Als Flüchtlinge anerkannt sind derzeit ganze 1012 Personen, darunter drei Palästinenser und 23 russische Staatsbürger.

Vorübergehenden Schutz genießen zudem knapp 25.000 Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor Russlands Angriffskrieg nach Kroatien geflohen sind. Sie alle haben laut Innenministerium Anrecht auf "Unterbringung im Aufnahmezentrum, Verpflegung und Kleidung in Form von Sachleistungen, Erstattung der Kosten für öffentliche Verkehrsmittel zum Zwecke der Gewährung internationalen Schutzes und eine finanzielle Unterstützung, die sich derzeit auf 20 Euro pro Monat beläuft."

16.000 Rücknahmeersuche aus Deutschland

In Zukunft könnte sich die Anzahl derer, die diese Unterstützung in Anspruch nehmen müssen, drastisch erhöhen. Der kroatische Dienst der DW meldete Ende November 2024, dass Deutschland 16.000 Migranten nach Kroatien zurückführen möchte. "Die Bundesrepublik will das Tempo bei der Abschiebung von Personen erhöhen, die keinen Anspruch auf Schutz haben", so der Bericht von DW Kroatisch.

Derartige Rücknahmeersuche innerhalb der Europäischen Union sind in den "Dublin-Regeln" vorgesehen: Zuständig für einen bestimmten Asylbewerber ist nach der Verordnung Dublin-III derjenige EU-Mitgliedsstaat, in dem diese Person erstmals in die EU eingereist ist - bzw. dort, wo sie erstmals registriert wurde.

Im Jahr 2023 wollte die Bundesrepublik 74.622 Asylbewerberinnen und Asylbewerber in andere EU-Staaten zurückführen. Die meisten Anträge auf eine Rücknahme gingen dabei an Italien (15.749) und Kroatien (16.704). Während die italienischen Behörden Rückführungen grundsätzlich ablehnen, zeigten sich die kroatischen deutlich kooperativer.

Laut Kroatiens Innenminister Davor Bozinovic hat Deutschland 2024 allerdings lediglich 1519 Rückführungen in sein Land angekündigt, von denen nur 401 tatsächlich durchgeführt worden seien. "Wir haben mit der deutschen Seite bis Ende des Jahres eine Vereinbarung über die Rückkehr von weiteren 182 Personen", so Bozinovic auf einer Pressekonferenz in Zagreb am 27. November 2024.

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Image caption Hinterlassenschaften von Migranten, die Wanderer im November 2024 in den Bergen im Grenzgebiet zwischen Kroatien, Slowenien und Italien gefunden haben
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Item 13
Id 70962904
Date 2024-12-06
Title Katholische Kirche: Der Papst und Kardinäle aus aller Welt
Short title Katholische Kirche: Der Papst und Kardinäle aus aller Welt
Teaser Papst Franziskus ernennt neue Kardinäle. So prägt er den Kreis hoher katholischer Geistlicher, die später im Konklave seinen Nachfolger wählen. Wird das die Wahl beeinflussen?
Short teaser Papst Franziskus ernennt neue Kardinäle. So prägt er den Kreis hoher Geistlicher, die später seinen Nachfolger wählen.
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Wenn Papst Franziskus neue Kardinäle ernennt, kann man immer mit überraschenden Entscheidungen rechnen. An diesem Samstag nahm das katholische Kirchenoberhaupt 21 Geistliche neu in das Kardinalskollegium auf. Und wieder sind einige davon ungewöhnlich.

Einer der Neuen ist 44 Jahre alt - so jung wie lange kein Kardinal. Ein anderer wird in zehn Monaten 100 Jahre alt - und ist damit der älteste aller 253 Kardinäle.

Und da ist der Reisemarschall des Papstes, ein indischer Mitarbeiter der Kurie, erst seit drei Jahren für die Organisation der Reisen zuständig. Auch die Erzbischöfe von Teheran und Algier, gebürtig in Belgien und in Frankreich, treten am Samstag im Petersdom vor den Papst und bekommen das purpurfarbene Käppchen.

Papst Franziskus "viel eigenwilliger"

Franziskus setzt wie schon bei seinen vorherigen neun Runden von Kardinal-Ernennungen längst nicht nur auf überkommene Gewohnheiten. Dieser Papst, sagt der Augsburger Theologieprofessor Jörg Ernesti der DW, verfahre "viel eigenwilliger" als alle seine Vorgänger der vergangenen 200 bis 250 Jahre. Er nehme weit weniger Rücksichten auf Erwartungen.

So bleibe mancher Bischofsstuhl in wichtigen Metropolen wie Mailand, Sydney, Paris oder Berlin unberücksichtigt. "Stattdessen wählt Franziskus oft Geistliche aus, die kirchenpolitisch auf seiner Linie liegen, die sich zum Beispiel sehr in der Flüchtlings- und Migrationsthematik engagieren." Ernesti analysierte kürzlich in dem Buch "Geschichte der Päpste seit 1800" die Entwicklung des modernen Papsttums und das Profil der einzelnen Päpste.

Das Kardinalskollegium ist der engste Beraterkreis des obersten Chefs der katholischen Kirche. Alle Mitglieder unter 80 Jahren wählen nach dem Tod oder dem Rücktritt eines Papstes im sogenannten Konklave dessen Nachfolger. Eigentlich, so hatte es Paul VI. (1963-1978) im Jahr 1975 festgelegt, sollte die Zahl der Papstwähler im Konklave nicht höher als 120 liegen. Eigentlich - aber ein Papst darf von solchen Vorgaben abweichen.

Lediglich einer der 21 neuen Kardinäle ist schon jenseits der Altersgrenze, der 99-jährige Italiener Angelo Acerbi. Damit sind ab Samstag 140 Kardinäle jünger als 80 Jahre und zur Papstwahl zugelassen. So viele waren es wohl selten, wenn überhaupt schon einmal. Bis Ende des Jahres 2025 werden 15 Kardinäle das 80. Lebensjahr erreichen und damit aus dem Kreis der potenziellen Papstwähler ausscheiden. Falls es nicht noch Todesfälle gibt, wären es dann immer noch 125 Papstwähler.

Großteil der Kardinäle selbst ernannt

Klar ist, dass Franziskus den Kreis der Teilnehmer eines nächsten Konklaves schon deutlich geprägt hat. Nur noch gut 21 Prozent der potenziellen Papstwähler wurden bereits von Johannes Paul II. (1978-2005) oder von Benedikt XVI. (2005-2013) ernannt. Franziskus hat diesem Kreis längst seinen Stempel aufgedrückt.

Gleichwohl ist es nicht ein Stempel mit einer einzelnen Prägung. So wählt Franziskus gern Geistliche aus, die nicht spürbar darauf warten, Kardinal zu werden. Jeder, der mit vatikanischen Abläufen zu tun hat, kennt solche Karriere-Priester. Franziskus macht es anders.

Der nun zum Kardinal ernannte Erzbischof von Tokio, Tarcisio Isao Kikuchi, war im Oktober, als der Papst während seiner sonntäglichen Ansprache die Namen der künftigen Kardinäle verkündete, wegen der Weltsynode in Rom. Kikuchi hörte dabei nicht zu, er war zu Fuß unterwegs. Als ihm plötzlich jemand gratulierte, hielt er das zunächst für einen Scherz. Bis ihm der Kardinal von Bogota ein Video mit den Papstworten zeigte.

Deutlich wird vor allem das Anliegen des Papstes, das Kardinalskollegium stärker zu internationalisieren. Am Konklave von 2013, das den Argentinier Jorge Mario Bergoglio zum Nachfolger von Benedikt XVI. wählte, zum heutigen Papst Franziskus, nahmen 115 Kardinäle aus 48 Ländern teil, darunter 28 Italiener (heute: 17) und sechs Deutsche (heute: drei), aber nur elf Kardinäle aus Asien und Ozeanien (heute: 29) und elf aus Afrika (heute: 18).

Wichtiger als das Element der Internationalisierung ist nach Einschätzung des italienisch-amerikanischen Kirchenhistorikers Massimo Faggioli ein anderes Element. Häufig gebe es eine "persönliche Affinität" durch irgendeine Kenntnis der konkreten Person, durch gemeinsame Zugehörigkeit zum Jesuitenorden, durch ähnliche Religiosität oder persönliche Sympathie.

Faggioli sagt, zu Zeiten von Johannes Paul II. oder Benedikt seien solche persönlichen Bande viel kritisiert worden. "Bei Franziskus wird nicht viel darüber gesprochen, aber es gibt persönliche Affinität."

Das geografische Element dominiere bei den Papst-Personalentscheidungen für jene Regionen, die ihn persönlich interessierten wie Afrika, Lateinamerika oder Asien. In den Teilen der Welt, zu denen Franziskus keine besondere Bindung habe, schlage dann die persönliche Intuition, die Sympathie durch.

Der Kirchenhistoriker spricht von seltsamen Folgen dieser Praxis. So komme seit längerem kein potenzieller Papstwähler aus Irland. Und der nun zum Kardinal erhobene Geistliche aus Australien sei ein Ukrainer, der sich in dem Land um ukrainisch-katholische Gläubige kümmere.

Kann es dem bald 88-jährigen Franziskus gelingen, durch seine Personalpolitik die Entscheidung eines künftigen Konklave vorherzubestimmen? Kirchenhistoriker Ernesti ist da skeptisch. Sicher versuche jeder Papst auf diesem Wege, dafür zu sorgen, dass seine Arbeit oder sein kirchenpolitischer Kurs fortgesetzt werde. Die Kirchengeschichte zeige aber, dass das nicht so leicht sei. "Man kann sagen: Konklave sind letztlich dann doch unberechenbar", stellt der Theologe fest.

Faggioli sieht noch ein anderes Problem. Zwar sei das Kardinalskollegium nun internationaler aufgestellt. Es gebe viel mehr Kardinäle, die sich "bezüglich ihrer geografischen Herkunft und ihres Hintergrundes stärker unterscheiden. Aber sie treffen sich fast nie", sagt er der DW. Denn das Instrument von verpflichtenden Kardinalstreffen, das genau dafür vorgesehen sei, nutze Papst Franziskus nur selten und nur begrenzt.

"Das ist meiner Meinung nach ein Risiko", sagt Faggioli. Nach seiner Einschätzung sei ein größeres und internationaleres Kardinalskollegium durchaus sinnvoll. Aber der Papst müsse es tatsächlich zusammenbringen und als einen "Senat der Kirche" nutzen, mahnt er. "Heute dagegen besteht die Gefahr, dass es sich nur um eine Gruppe von Leuten handelt, die sich eines Tages zusammenfindet und dann das Problem hat, einen neuen Papst zu wählen, ohne sich gegenseitig zu kennen."

Item URL https://www.dw.com/de/katholische-kirche-der-papst-und-kardinäle-aus-aller-welt/a-70962904?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/62952859_302.jpg
Image caption Papst Franziskus blickt auf die von ihm ernannten Kardinäle in roter Robe (2022)
Image source Vatican Media/REUTERS
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Item 14
Id 70957487
Date 2024-12-06
Title Warum Ukraine-Kämpfer aus Belarus in der EU Zuflucht suchen
Short title Warum Ukraine-Kämpfer aus Belarus in der EU Zuflucht suchen
Teaser Sie sind Belarussen, kämpfen aber für die Ukraine. Hunderte haben sich seit dem Kriegsausbruch im Nachbarland freiwillig gemeldet. Doch nach Ende ihres Kampfeinsatzes können sie oft nicht in der Ukraine bleiben.
Short teaser Sie sind Belarussen, kämpfen aber für die Ukraine. Doch nach Ende ihres Kampfeinsatzes können sie oft nicht bleiben.
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Viktor (Name geändert) zog 2022 freiwillig in den Kampf gegen Russlands Angriffskrieg und verbrachte ein Jahr in der ukrainischen Armee. Dann ging er nach Polen, wo er sich wegen einer Verwundung behandeln ließ. In Warschau beantragte er Asyl, da ihm in seiner Heimat Belarus wegen der Kriegsteilnahme eine Strafverfolgung droht.

Der ehemalige Manager eines belarussischen Unternehmens dachte, er werde aufgrund seines Einsatzes auf Seiten der Ukraine schnell einen Job bei einer ukrainischen Firma in Polen finden. Doch Personalvermittler wiesen ihn ab, mit der Begründung, dass er belarussischer Staatsbürger sei. Zudem fürchteten sie, Viktor könnte eine posttraumatische Belastungsstörung entwickeln und bei Kollegen Schamgefühle hervorrufen.

"Sie sagten, es gebe Ukrainer in der Firma, die nicht gekämpft hätten, und wenn sie mich einstellen würden, würden sich diese vor mir deswegen schämen oder unwohl fühlen - kurz gesagt: Sie seien besorgt, was die Stimmung im Team angeht", so der ehemalige Kämpfer.

Da Viktor nach nur wenigen Monaten seine Ersparnisse ausgingen, nahm er schließlich einen Job in einer Autowerkstatt an. Zwei weitere Monate später bekam er ein Jobangebot seiner ehemaligen belarussischen Firma, von Polen aus weiter für sie zu arbeiten.

Ihm zufolge gelingt es nicht allen einstigen Kämpfern, sich wieder ins zivile Leben zu integrieren. Dies falle vor allem jungen Veteranen, die ohne Berufsausbildung in den Krieg gezogen seien, besonders schwer.

"Sie überlegen, ob sie sich als Kurierfahrer oder Bauarbeiter betätigen sollen. Dann fragen sie sich verzweifelt, wofür sie überhaupt gekämpft haben: Um zwölf Stunden auf einem Fahrrad zu sitzen? So beginnt sich deren Weltbild zu verändern", sagt Viktor. Er kenne Fälle, in denen psychische Probleme zu Obdachlosigkeit und sogar Selbstmord geführt haben.

Kein Bleiberecht in der Ukraine?

Auch Anton (Name geändert) arbeitete einst in Belarus - als Manager. Er schloss sich gleich im ersten Kriegsmonat den ukrainischen Streitkräften an und verbrachte zwei Jahre an der Front, wo er Kopfverletzungen und weitere Verwundungen erlitt. Heute lebt der 29-Jährige in Warschau und wartet dort seit neun Monaten auf einen Asylbescheid.

Die ukrainische Armee habe er verlassen, weil er die Motivation verloren habe, sagt er. Anfangs habe er in der Ukraine bleiben wollen, doch es habe dort keine Aussicht auf eine Aufenthaltserlaubnis gegeben.

"Ich habe mir viele Geschichten meiner Freunde angehört und begriffen, dass es unrealistisch ist, einen legalen Status zu bekommen. Sogar Männer, die ukrainische Frauen haben, bekamen Ablehnungen. Wenn, dann funktioniert es wohl nur mit Korruption. Der Krieg ist nicht die beste Zeit für Leben und Entwicklung. Aber ich bin ja noch ein junger Mann", sagt Anton, der in Polen bislang noch keinen festen Job gefunden hat.

Militärische oder humanitäre Angelegenheit?

Laut Andrej Kuschnjerow von der Veteranenorganisation "Vereinigung belarussischer Freiwilliger" konnten die meisten Belarussen nach ihrem Ausscheiden aus der ukrainischen Armee vor allem deshalb nicht in der Ukraine bleiben, da ihnen die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis fehlten. Bei manchen liefen die belarussischen Pässe ab; neue konnten sie nicht beantragen. Und die Ukraine habe ihnen keine Papiere ausgestellt, erklärt Kuschnjerow.

Daher ziehen viele der Veteranen in einen EU-Staat - meist nach Polen, weil dies gemäß Dublin-Abkommen ihr erstes Einreiseland in die Europäische Union ist, in dem sie Asyl erhalten können. Nach Litauen gingen meist diejenigen, die dort bereits vor dem umfassenden Krieg Russlands gegen die Ukraine gelebt haben, erläutert der Aktivist und ehemalige belarussische Freiwillige Aleksandr Klotschko.

Er findet, Veteranen sollten von der belarussischen Zivilgesellschaft stärker unterstützt werden. "Wenn ein Fall irgendetwas mit dem Militär zu tun hat, gibt es oft Bedenken, sich dessen anzunehmen", sagt Klotschko und bedauert, dass sich diese Haltung auch auf Familienangehörige ehemaliger Kämpfer auswirkt. "Wie kann man die Familie eines gefallenen belarussischen Freiwilligen als militärische Angelegenheit betrachten?", sagt der Aktivist, der betont, es handele sich vielmehr um ein humanitäres Problem.

Fehlende finanzielle Unterstützung

Ehemaligen belarussischen Freiwilligen in der Ukraine hilft das Rehabilitationszentrum Lanka, das von der belarussischen Aktivistin Tatjana Gazuro-Jaworskaja gegründet wurde. In der EU gebe es keine vergleichbare Initiative, so Andrej Kuschnjerow. "Wir brauchen eine systematische Arbeitsbeschaffung für Hunderte von Menschen, aber es fehlt die Finanzierung", beklagt er.

Seine Veteranenorganisation wurde 2023 von belarussischen Freiwilligen aufgebaut. Laut Kuschnjerow gehören ihr bis zu zweihundert Kämpfer an, sowohl ehemalige als auch aktive. Die "Vereinigung belarussischer Freiwilliger" ist in Polen registriert, doch sie konnte bisher keine finanzielle Unterstützung anderer Veteranenverbände in der EU gewinnen.

Die Aktivisten fanden aber Psychologen, die sich ehrenamtlich um belarussische Veteranen und ihre Familien kümmern. Sie helfen mit Ratschlägen und bei der Jobsuche. Kuschnjerow schätzt, dass rund 30 Prozent der Veteranen Probleme mit der Integration ins zivile Leben haben. Meist würden sie keine Arbeit finden, weil sie aufgrund von Kriegsfolgen ihren früheren Beruf nicht ausüben könnten und Umschulungen benötigten.

Verantwortung der belarussischen Diaspora

Auch Wadim Kabantschuk, erklärter Gegner des Lukaschenko-Regimes und zuständig für Verteidigung und nationale Sicherheit im Exilkabinett der in Litauen lebenden belarussischen Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, sieht den Bedarf, den Betroffenen zu helfen. "Wenn wir sagen, dass dies unsere belarussischen Veteranen sind, dann muss die Diaspora auch Verantwortung für sie tragen, denn heute verteidigen sie in den Augen der Ukrainer die Ehre des belarussischen Volkes", sagt Kabantschuk.

Ihm zufolge handelt es sich um Hunderte Belarussen. "Wir hatten viele Treffen mit Parlamentariern, Menschenrechtlern und in ukrainischen Behörden. Es wurden Gesetze verabschiedet, die die Legalisierung, den Erhalt von Papieren und der Staatsbürgerschaft sowie die Erlangung von Offiziersrängen für den weiteren Militärdienst erleichtern", sagt Kabantschuk. Er bezieht sich dabei auf ein am 24. November in der Ukraine in Kraft getretenes Gesetz "über den rechtlichen Status von Ausländern und Staatenlosen, die sich an der Verteidigung der territorialen Integrität und Unverletzlichkeit der Ukraine beteiligen".

Demnach sollen Nichtukrainer, die für die Ukraine kämpfen, künftig eine Aufenthaltserlaubnis erhalten können, auch wenn ihre Pässe abgelaufen sind. Russen und Belarussen, die auf diese Weise einen ukrainischen Pass bekommen, müssten innerhalb eines Jahres nach Aufhebung des Kriegsrechts auf ihren ursprüngliche Staatsbürgerschaft verzichten.

Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk

Item URL https://www.dw.com/de/warum-ukraine-kämpfer-aus-belarus-in-der-eu-zuflucht-suchen/a-70957487?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Belarussische Kämpfer im April 2023 beim Einsatz im Osten der Ukraine
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Item 15
Id 70973646
Date 2024-12-06
Title Zwei Vogelgrippe-Mutationen reichen für eine Pandemie
Short title Zwei Vogelgrippe-Mutationen reichen für eine Pandemie
Teaser Das hochansteckende Vogelgrippevirus H5N1 hat in den USA bereits hunderte Rinderherden und vereinzelt auch Menschen infiziert. Damit sich das Virus nicht an den Menschen anpasst, braucht es strengere Kontrollen.
Short teaser Das hochansteckende Virus H5N1 hat in den USA bereits hunderte Rinderherden und vereinzelt auch Menschen infiziert.
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Kein Grund zur Panik, aber zur erhöhten Vorsicht: Eine einzelne Mutation des in den USA unter Rindern grassierenden Vogelgrippevirus H5N1 könnte ausreichen, damit der Erreger deutlich leichter Menschen infizieren kann. Laut einer neuen Studie könnten weitere minimale Mutationen sogar eine Pandemie auslösen.

Warum ist dieses Vogelgrippevirus so gefährlich?

Die Vogelgrippe tritt schon lange regelmäßig auf. Gewöhnlich wurden dann die betroffenen Geflügelbestände gekeult, also getötet. So konnte sich das Vogelgrippevirus nicht weiter verbreiten. In den letzten Jahren aber ist das Virus nicht mehr verschwunden. Inzwischen haben sich die hochansteckenden Virenstämme H5N1 und H5N8 durch Zugvögel weltweit ausgebreitet.

Dieses Vogelgrippevirus der Klade 2.3.4.4b hat sogar Pandemiepotential. Das liegt daran, dass dieses Virus gleich eine Vielzahl von Wirten infizieren kann, darunter Vögel, Meeressäuger, Rinder und eben auch Menschen.

Die Vorsichtsmaßnahmen haben in den USA nicht den erhofften Erfolg gehabt, das Virus hat sich in vielen Rinderherden ausgebreitet. 2024 wurde es in mindestens 282 Betrieben in 14 US-Bundesstaaten nachgewiesen.

"Die Krankheiten bei Kühen sind manchmal schwerere als zu Beginn des Ausbruchs. Und der Erreger wird teilweise auch auf Geflügel in der Nähe und weiter entfernt von den betroffenen Milchviehbetrieben übertragen. Das ist wirklich besorgniserregend. Außerdem haben sich auch Menschen infiziert, die nicht mit den Milchkühen oder Vögeln in Berührung gekommen sind", so Dr. Megan Davis, eine US-amerikanische Professorin für Umweltgesundheit und -technik im DW-Interview.

Wie gefährlich ist die Vogelgrippe für den Menschen?

Die Viren können Menschen nur infizieren, wenn sie an die humanen Rezeptoren an der Zelloberfläche andocken können. So können sie in die Zelle eindringen. Gegenwärtig ist das aviäre Influenzavirus nicht mehr nur an die Vogel-Rezeptoren angepasst. Dass es inzwischen auch Rinder infiziert, zeigt wie wandlungsfähig es ist.

Für die neue Studie haben die Forschenden gezielt die Rezeptorbindungsstelle des jetzt bei Rindern grassierenden H5N1-Virus modifiziert. Mit nur einer einzelnen Veränderung eines bestimmten Proteins, des sogenannten Hämagglutinin (HA), ließ sich die Bindungspräferenz des Virus auf menschliche Rezeptoren umstellen. Eine zweite Veränderung verstärkte die Bindung.

"Zwei Anpassungen im HA scheinen dabei bereits auszureichen, um eine vollständige Anpassung zu ermöglichen. Dies erleichtert es den Viren, sich im Menschen zu vermehren. Trotzdem bleiben weitere Hürden wie die angeborene Immunität, die ebenfalls überwunden werden müsste", so Prof. Dr. Martin Beer, Leiter des Instituts für Virusdiagnostik am Friedrich-Loeffler-Institut.

Wie viele Menschen haben sich bereits mit dem Virus angesteckt?

In den USA haben sich mehr als 50 Personen mit dem Vogelgrippevirus infiziert, bei den meisten war der Verlauf mild. Allerdings hat sich zuletzt ein Jugendlicher im kanadischen British Columbia infiziert und erkrankte schwer.

Dabei hatte der Teenager überhaupt keinen Kontakt zu Wildvögeln oder Geflügel- und Rinderfarmen. Und das beim ihm festgestellte Virus gehört zwar zur selben Virusklade 2.3.4.4b, genetisch ist das Virus aber nicht identisch mit dem in den USA zirkulierenden Virus.

Besteht die Gefahr einer Mensch zu Mensch-Übertragung?

Im Moment gibt laut Davis keine eindeutigen Hinweise für eine Übertragung von Mensch zu Mensch. Aber: "Mit jeder Gelegenheit, die wir dem Virus beim Menschen oder beim Tier geben, steigt die Gefahr, dass sich die Viren auch an eine Übertragung von Mensch zu Mensch anpassen und gegen antivirale Medikamente resistent werden und dann schwerere Krankheiten verursachen", so Prof. Dr. Davis gegenüber der DW.

Was kann man gegen das Virus tun?

Angesichts des hohen Pandemiepotentials plädieren Forschende und Mediziner für eine deutliche strengere Überwachung des Erregers in den USA.

Für eine engmaschige Überwachung spricht sich auch Prof. Dr. Martin Schwemmle vom Institut für Virologie am Universitätsklinikum Freiburg aus: "Es ist auch wichtig, die Infektionsketten bei Milchkühen zu stoppen, um dem H5N1-Virus keine Chance zu geben, sich dadurch indirekt an den Menschen anzupassen."

In den betroffenen Gebieten sollten die Menschen möglichst keine Rohmilch, sondern lieber pasteurisierte Milchprodukte konsumieren, so Dr. Megan Davis gegenüber der DW. "Wenn Sie einen Wildvogel sehen, fassen Sie ihn nicht mit bloßen Händen an. Rufen Sie die Behörden. Wenn Sie mit Wildvögeln arbeiten, tragen Sie eigene Schutzausrüstung. Halten Sie Ihre Katzen im Haus, besonders wenn es in Ihrer Umgebung Probleme mit H5N1 gibt."

Ausgewählte Quellen:

Lin TH et al. (2024): A single mutation in bovine influenza H5N1 hemagglutinin switches specificity to human receptors. Science. DOI: 10.1126/science.adt0180.

Item URL https://www.dw.com/de/zwei-vogelgrippe-mutationen-reichen-für-eine-pandemie/a-70973646?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Es ist wichtig, die Infektionsketten bei Milchkühen zu stoppen, damit sich das H5N1-Virus nicht indirekt an den Menschen anpasst
Image source Robert F. Bukaty/AP/picture alliance
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Item 16
Id 70963535
Date 2024-12-06
Title Decoding China: Pekings Bild von Deutschland
Short title Decoding China: Pekings Bild von Deutschland
Teaser Wie gut kennt sich das "Reich der Mitte" mit dem "Land der Tugend" aus? Chinas Experten geben in einem "Blaubuch" Auskunft über die größte Volkswirtschaft der EU. Dominierende Themen sind Rechtsruck und Protektionismus.
Short teaser Chinas Deutschlandkenner geben in einem "Blaubuch" Auskunft über die größte Volkswirtschaft der EU.
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Ist Alice Weidel wirklich die beliebteste deutsche Politikerin in China? Die Vorsitzende der rechtspopulistischen und in Teilen rechtsextremen Partei AfD ist vermutlich die einzige Bundestagsabgeordnete, die Chinesisch spricht. Als Studentin forschte und promovierte sie über das Rentensystem in China. Viele Reels über Weidel kursieren in den staatlich kontrollierten sozialen Medien. Die designierte AfD-Kanzlerkandidatin für die Wahl 2025 findet Zuspruch, weil sie sich gegen die Großmacht USA und gegen die europäische Integration einsetzt.

Dass Alice Weidel durchaus Chancen hätte, Bundeskanzlerin zu werden, ist eines von unzähligen Klischees in China. Der gesellschaftlichen Elite im Reich der Mitte ist es aber durchaus bewusst, dass die Zusammenarbeit zwischen China als der weltweit zweit- und Deutschland als drittgrößten Volkswirtschaft nur dann nachhaltig sein kann, wenn in der Öffentlichkeit ein sachliches und differenziertes Deutschlandbild existiert.

Mitte November wurde in China nun der "Annual Development Report of Germany (2024)" vorgestellt, der Jahresbericht über Deutschland. Herausgeber ist das "Deutschlandforschungszentrum der Tongji-Universität" in Shanghai. Deren Vorgänger, die "Deutsche Medizinschule für Chinesen in Shanghai", war 1907 vom deutschen Marinearzt Erich Paulun gegründet worden.

In der 386-seitigen Studie wurden die jüngsten Veränderungen in der Bundespolitik wie die angekündigten Neuwahlen des Bundestags zwar noch nicht berücksichtigt. Der Großteil der zugrunde gelegten Daten ist Stand von 2023. Dennoch ist es sehr beeindruckend zu lesen, wie intensiv und gründlich sich die chinesischen Wissenschaftler mit Deutschland befassen.

Top-Thema Rechtsruck in Deutschland

Eines der dominierenden Themen ist der Aufstieg der AfD. Teile der Bevölkerung in Deutschland beunruhige die gesamtpolitische und wirtschaftliche Lage, geben die Autoren als Ursache an. Diese Stimmung nutze die AfD, um die Gesellschaft zu spalten und zu polarisieren. "Der starke Rückenwind für den Rechtspopulismus und dessen Partei stellt die anderen etablierten politischen Parteien vor gewaltige Herausforderungen", so Xuan Li, Professor der Tongji-Universität. Ob dem Rechtsruck entgegen gewirkt werden kann, hänge davon ab, "ob den anderen Parteien eine angemessene Reaktion auf die Stimmung in der Wählerschaft gelingt".

Auch außenpolitisch setzten die Rechtspopulisten neue Akzente und forderten die etablierte "politische Korrektheit" heraus, die USA als Verbündeten anzusehen. Nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine zum Beispiel habe die AfD im Bundestag die Abschaffung der Sanktionen gegen Russland gefordert. "Das politische Tauziehen zwischen der AfD und den anderen wird unmittelbar die Beziehungen zwischen den USA und Deutschland auf die Belastungsprobe stellen."

Transatlantische Allianz

Auf seiner USA-Reise im Februar 2024 bezeichnete Bundeskanzler Olaf Scholz die Beziehungen zwischen den USA und Deutschland als "intensiv, eng und einvernehmlich, wie das wahrscheinlich über viele Jahre und Jahrzehnte nicht der Fall war."

Als hätten die Politikwissenschaftler aus Fernost den Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen 2024 schon vorhergesehen, gaben sie schon vor Redaktionsschluss eine Prognose ab über die weitere Entwicklung der transatlantischen Allianz: "Wenn Donald Trump wieder gewählt würde, wäre das Risiko, dass neue Streitigkeiten und gar Konflikte zwischen Deutschland und den USA in Sachen Verteidigung und Handel entstehen, extrem groß. Eine angemessene Antwort auf die Unberechenbarkeit der neuen US-Regierung wäre dann ein schwieriges Unterfangen. Schließlich sehen wir grenzüberschreitend ein Hoch des Nationalismus im Wirtschaftsleben, von den USA bis hin zu Deutschland und vielen anderen europäischen Ländern. Dieses Gemisch wird die Zukunft der Beziehungen zwischen Deutschland und den USA sowie die Allianz beider Länder im Ukraine-Krieg schwer belasten."

Der Ukraine-Krieg sei auch eine gemeinsame Herausforderung für Deutschland und China, machte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock auf ihrer Chinareise Anfang der Woche in Peking deutlich. Aber beide Länder sähen sich heute auch immensen Hürden gegenüber, diese gemeinsamen Herausforderungen wie den Ukraine-Krieg zu meistern, sagt Wulf Linzenich, Vorstand der Deutsch-Chinesischen Wirtschaftsvereinigung (DCW) auf der Jahrestagung am Dienstag in Düsseldorf.

"Wie können wir eine Balance finden zwischen einer verstärkten Zusammenarbeit mit den USA und der Pflege einer gleichwertigen Partnerschaft mit China? Der Wirtschaftsmotor der nächsten Jahrzehnte wird zweifelsohne in Asien sein. Für China wird Europa in Zukunft ein wichtiger Partner bleiben. Eine klare und kohärente Strategie, die beide Seiten berücksichtigt, ist unerlässlich", sagt Linzenich.

Handel und Klimaschutz im Schatten der "China-Strategie"

Mit der grünen Außenministerin ist Peking nicht wirklich warm geworden, da die China-Strategie der Bundesregierung 2023 aus ihrem Ressort stammte. Darin wird China als "Partner, Wettbewerber und Rivale" definiert. Der politische Schwerpunkt liegt nach Pekinger Lesart eher beim Letzteren. Ferner wird die deutsche Wirtschaft zum Abbau von Risiken, dem De-Risking, aufgerufen. Durch Diversifizierung soll eine kritische Abhängigkeit von China zu vermieden werden.

Das De-Risking sei teuer und an sich riskant, so die Autoren des Blaubuchs, Kou Kou und Shi Shiwei. Die deutsche Wirtschaft müsse eine hohe Rechnung für diese politische Entscheidung zahlen, die Zusammenarbeit mit seinem - seit acht Jahren - weltweit größten Handelspartner China zu beschränken. "Deutschland droht nun akut der Rutsch in die Rezession. Die fiskalpolitischen Spielräume sind ausgeschöpft. Der Bundesregierung fehlt es an Unterstützung für ihre China-Strategie in den eigenen Reihen und in vielen anderen EU-Ländern. Die realen Effekte des De-Riskings liegen deutlich hinter der politischen Erwartung zurück."

Made by China

Wettbewerb sei gesund, glauben die chinesischen Deutschlandkenner. "Die Reform und Öffnung und sachliche Zusammenarbeit ohne ideologische Streitigkeiten haben beiden Partnern greifbare Profite gebracht. Mit dem Erstarken der Wirtschaft stehen chinesische Firmen in einigen Bereichen mit der deutschen Wirtschaft im Wettbewerb. Aber der gesunde Wettbewerb wirkt sich nicht notwendigerweise negativ auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit aus."

China sei unumkehrbar in die Weltwirtschaft eingebunden und wird auch in Zukunft die Märkte und den digitalen Raum erheblich mitprägen, sagt Andreas Schmitz, Präsident der Industrie- und Handelskammer Düsseldorf, auf der DCW-Tagung. Es gelte auch weltweit für den Klimaschutz und die Definition von Industrienormen.

"Für deutsche und europäische Unternehmen ist die Volksrepublik weiterhin ein wichtiger Markt. Aber auch im Hinblick auf Rohstoffe und Vorprodukte jetzt, und in Zukunft noch viel mehr im Hinblick auf die Innovationskraft des Landes und seiner Unternehmen, kommt China eine bedeutende Rolle für die europäische und die deutsche Wirtschaft zu", so der IHK-Präsident weiter. "Made in China" sei früher nicht immer positiv gemeint gewesen. "Heute sagt man 'Made by China'. Und das ist positiv gemeint."

"Decoding China" ist eine DW-Serie, die chinesische Positionen und Argumentationen zu aktuellen internationalen Themen aus der deutschen und europäischen Perspektive kritisch einordnet

Item URL https://www.dw.com/de/decoding-china-pekings-bild-von-deutschland/a-70963535?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Deutsche und chinesische Nationalflagge beim Besuch des Bundeskanzlers Scholz in Peking im April 2024
Image source Michael Kappeler/dpa/picture alliance
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Item 17
Id 70977744
Date 2024-12-05
Title EU und Mercosur vor Handelsabkommen
Short title EU und Mercosur vor Handelsabkommen
Teaser Durchbruch nach 25 Jahren Verhandlungen? Trotz Protesten in Frankreich soll am Freitag beim Mercosur-Gipfel in Montevideo das Freihandelsabkommen zwischen Südamerikas Wirtschaftsbund und der EU unterzeichnet werden.
Short teaser Trotz Protesten in Frankreich soll das Abkommen zwischen Südamerikas Mercosur-Staaten und EU unterzeichnet werden.
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Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und den südamerikanischen Mercosur-Ländern Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay steht anscheinend kurz vor dem Abschluss. Der Durchbruch soll beim Gipfel des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses Mercosur am Freitag (6.12.) erzielt werden, berichtete die Nachrichtenagentur Reuters.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist zu dem Gipfeltreffen in die uruguayische Hauptstadt Montevideo gereist, um gemeinsam mit den Präsidenten von Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay den Vertrag zum Abschluss zu bringen.

Mit dem Abkommen zwischen der EU und dem Mercosur-Bündnis würde eine der weltweit größten Freihandelszonen mit mehr als 700 Millionen Einwohnern entstehen. Es soll vor allem Zölle abbauen und damit den Handel ankurbeln.

Über das Freihandelsabkommen wird seit mehr als 25 Jahren verhandelt. Eine Grundsatzeinigung war 2019 erzielt worden, doch es folgten jahrelange Nachverhandlungen.

Angst vor "Agrarmacht" Brasilien

Der Vertrag ist sowohl in Südamerika als auch in Europa umstritten. Vor allem Landwirte in Europa und die französische Regierung äußerten wiederholt Bedenken.

Insbesondere in Frankreich regt sich heftiger Widerstand. Das Büro des französischen Präsidenten Emmanuel Macron bezeichnete die vorläufige Einigung beider Seiten als "inakzeptabel". Macron befürchtet Nachteile für französische Landwirte. Denn zum Mercosur-Block gehören mit Argentinien und Brasilien wichtige Fleisch-Exporteure.

Deutschland befürwortet das Freihandelsabkommen. Die deutsche Automobilindustrie drängt auf einen Abschluss.

"Zeichen gegen Protektionismus"

"Es wäre auch ein wichtiges Zeichen der neuen EU-Kommission für mehr Freihandel - gerade in Zeiten von zunehmendem Protektionismus", sagte Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA). Die Autobranche sei auf offene Märkte angewiesen.

Sollte in Montevideo nun eine Einigung verkündet werden, müssen die Texte für das Abkommen noch juristisch geprüft und in die Sprachen der Vertragsstaaten übersetzt werden, bevor sie unterzeichnet werden können. Unklar ist auch noch, ob das Abkommen in einen Handelsteil und in einen politischen Teil gesplittet wird. Eine solche Aufteilung könnte verhindern, dass noch immer kritische EU-Staaten wie Frankreich und Polen das Inkrafttreten des Abkommens blockieren.

apo/ds (rtr,dpa)

Item URL https://www.dw.com/de/eu-und-mercosur-vor-handelsabkommen/a-70977744?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70837533_302.jpg
Image caption Fürchten die Konkurrenz aus Südamerika: Französische Bauern protestieren gegen das geplante Freihandelsabkommen zwischen EU und den südamerikanischen Mercosur-Staaten
Image source Stephane Mahe/REUTERS
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Item 18
Id 70970033
Date 2024-12-05
Title Rätsel um Hitze-Rekorde geklärt: Es fehlen Wolken
Short title Rätsel um Hitze-Rekorde geklärt: Es fehlen Wolken
Teaser Das Jahr 2023 brachte sprunghafte Hitze-Rekorde - in den Meeren wie bei der globalen Durchschnittstemperatur. Warum der Anstieg so heftig war, blieb lange ein Rätsel. Nun haben Forscher eine mögliche Erklärung gefunden.
Short teaser Das Jahr 2023 brachte sprunghafte Hitze-Rekorde, der Grund war lange ein Rätsel. Nun gibt es eine mögliche Erklärung.
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Sie heißen Cumulus, Stratus oder Stratocumulus:Wolken, die sich in eher geringer Höhe zur Erdoberfläche bilden. Allen gemeinsam ist: Sie reflektieren das Sonnenlicht und kühlen damit die Erdoberfläche ab.

Und sie werden weniger - zumindest in bestimmten Regionen. Das zeigt eine aktuelleStudie des Alfred-Wegener-Instituts, dem Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI).

Wir blicken auf das Jahr 2023: alarmierende Rekorde beim Anstieg der Meeresspiegel, dem Schmelzen der Gletscher sowie extreme Hitzewellen an Land und auch in den Meeren. Die globale Durchschnittstemperatur stieg erstmals kurzfristig auf 1,5 Grad Celsius gegenüber dem vorindustriellen Niveau.

"Erklärungslücke" von 0,2 Grad

Ein Großteil dieser Erwärmung ließ sich mit der hohen Treibhausgas-Konzentration in der Atmosphäre durch menschliche Einflüsse erklären. Außerdem mit den Auswirkungen des Wetterphänomens El Niño. Aber auch wenn man all diese Faktoren zusammenrechnete: In der Bilanz blieb eine Lücke von 0,2 Grad Celsius.

"Die Frage nach der Erklärungslücke von 0,2 Grad Celsius im Jahr 2023 ist aktuell eine der prominentesten Fragen der Klimaforschung", sagt Helge Gößling, Hauptautor der neuen AWI-Studie.

Gößling und sein Team schlossen zunächst die stärkere Sonnenaktivität sowie das Fehlen von Aerosolpartikeln, also Schwebeteilchen in der Atmosphäre, in die Rechnung mit ein. Eine Lücke blieb dennoch.

Dann verglich das AWI-Team gemeinsam mit dem Europäischen Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage (ECMWF) Satellitendaten der NASA und Erkenntnisse des ECMWF aus Beobachtungsdaten und Wettermodellen. Die Forschenden blickten bis ins Jahr 1940 zurück und betrachteten auch Informationen zur Bewölkung in verschiedenen Höhen.

Dabei kam heraus, dass 2023 im analysierten Zeitraum das Jahr mit dem geringsten sogenannten Albedo-Effekt war. Der Albedo-Effekt beschreibt die Fähigkeit einer Oberfläche die Sonnenergie zu reflektieren, und hängt von deren Helligkeit ab. Frischer Schnee ist fast weiß und reflektiert somit am meisten Sonnenenergie auf der Erde. Im Gegensatz dazu steht Asphalt, der die meiste Energie absorbiert.

Wird weniger Sonnenenergie zurück ins All gestrahlt, befeuert das die globale Erderwärmung. Das könnte die bisher fehlenden 0,2 Grad Celsius in der Klimarechnung für 2023 erklären.

Weniger Schnee, weniger Sonnenreflexion

Die Forschenden rechneten aus: Wäre die Reflexion der Sonneneinstrahlung von Dezember 2020 an stabil geblieben, wäre das Jahr 2023 im Mittel um etwa 0,23 Grad Celsius kühler gewesen.

Die Albedo der Erdoberfläche nimmt seit den 1970er Jahren ab, weil Schnee und Meereis in der Arktis seitdem immer weniger werden. Das bedeutet: weniger weiße Flächen, die Sonnenstrahlen reflektieren. Seit 2016 kommt noch der Meereis-Rückgang in der Antarktis hinzu.

"Die Analyse der Datensätze zeigt jedoch, dass der Rückgang in den Polarregionen nur etwa 15 Prozent zum jüngsten Rückgang der planetaren Albedo beigetragen hat", erklärt Helge Gößling. Die gesunkene Reflexion von Sonneneinstrahlung musste also noch an etwas anderem liegen.

Und tatsächlich, Gößlings Team fand heraus: Es werden deswegen weniger Sonnenstrahlen ins All zurückgeworfen, weil es immer weniger niedrige Wolken gibt – also Cumulus, Stratus und Stratocumulus.

Niedrige Wolken kühlen, hohe Wolken erwärmen Erde

Niedrige Wolken nahmen vor allem in den in nördlichen mittleren Breiten, in den Tropen und über dem Atlantik ab. In der Atlantik-Region wurden 2023 die ungewöhnlichsten Hitzerekorde verzeichnet.

Die Wolkenbedeckung in hohen und mittleren Höhen ging dagegen kaum bis gar nicht zurück. Und das verschärft das Problem. Denn Wolken in hohen, kalten Luftschichten reflektieren zwar auch einen Teil der Sonneneinstrahlung. Sie haben aber zusätzlich eine wärmende Wirkung.

Der Grund: sie halten die Wärme, die die Erdoberfläche abstrahlt, in der Atmosphäre – wie eine Decke. Niedrigere Wolken haben diesen Effekt nicht. "Gibt es weniger niedrigere Wolken, verlieren wir nur den Kühleffekt, es wird also wärmer", erklärt Gößling. In Europa habe es in den vergangenen zehn Jahren immer weniger solcher Wolken gegeben.

Lässt die Erderwärmung die Wolken verschwinden?

Zusammengefasst: Weniger Wolken in niedriger Höhe bedeuten weniger Sonnenreflexion und das wiederum bedeutet höhere Temperaturen auf der Erde. Nicht so eindeutig ist, warum es weniger niedrige Wolken gibt.

Ein Grund dürfte sein, dass weniger Ruß- und andere Feinstaubpartikel in die Luft gelangen. Dafür haben Luftreinhaltungsgesetze, etwa strengere Auflagen beim Schiffsdiesel, gesorgt. Solche Aerosole wirken in der Atmosphäre als sogenannte Kondensationskeime, um die herum sich Wassertröpfchen sammeln - also Wolken bilden. Natürliche Schwankungen und Wechselwirkungen in den Ozean könnten ebenfalls den Wolkenrückgang in niedrigen Höhen verursacht haben.

Laut AWI-Forscher Gößling reichen diese Faktoren als Erklärung aber eher nicht aus. Er vermutet noch einen dritten Mechanismus hinter dem Verschwinden von Cumulus, Stratus und Co: die Erderwärmung selbst.

Eine solche Rückkopplung zwischen Erderwärmung und Wolken legten auch einige Klimamodelle nahe. Sollte diese Rückkopplung tatsächlich für den gesunkenen Albedo-Effekt verantwortlich sein, so Gößling, "müssen wir mit einer starken zukünftigen Erwärmung rechnen."

"Wir könnten 1,5-Grad-Grenze schneller erreichen als gedacht"

Das hieße nicht, dass es schon bald eine Erwärmung der globalen Durchschnittstemperatur um acht Grad oder dergleichen gebe, so Gößling. Aber: "Unter den verschiedenen Klimamodellen, die es gibt, dürften dann eher die zutreffen, die einen schnelleren Anstieg der Temperaturen voraussagen. Wir könnten einer dauerhaften globalen Klimaerwärmung von über 1,5 Grad Celsius also schon jetzt näher sein als gedacht."

Daher sei noch schnelleres und entschiedeneres Handeln gegen die Klimakrise dringend geboten, betont der Wissenschaftler. Um die im Pariser Klimaabkommen vereinbarte Grenze der Erwärmung von 1,5 Grad Celsius einhalten zu können, dürften noch viel weniger Treibhausgase ausgestoßen werden. Und, so Gößling: "Maßnahmen gegen die Auswirkungen der zu erwartenden Wetterextreme werden noch dringlicher."

Item URL https://www.dw.com/de/rätsel-um-hitze-rekorde-geklärt-es-fehlen-wolken/a-70970033?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70914863_302.jpg
Image caption Ein Rückgang bestimmter Wolken treibt die Erderwärmung an
Image source Rolf Vennenbernd/dpa/picture alliance
RSS Player single video URL https://rssplayer.dw.com/index.php?lg=de&pname=&type=abs&image=https://static.dw.com/image/70914863_302.jpg&title=R%C3%A4tsel%20um%20Hitze-Rekorde%20gekl%C3%A4rt%3A%20Es%20fehlen%20Wolken

Item 19
Id 70971657
Date 2024-12-05
Title Warum ein schwaches Frankreich die EU schwächt
Short title Warum ein schwaches Frankreich die EU schwächt
Teaser Regierungskrise in Frankreich, Wahlkampf in Deutschland: Die beiden wichtigsten EU-Staaten sind mit sich selbst beschäftigt. Das macht die EU nicht stärker. Und Trump steht vor der Tür. Aus Brüssel Bernd Riegert.
Short teaser Regierungskrisen in Frankreich und Deutschland. Das macht die EU nicht stärker. Und Trump steht vor der Tür.
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"Das Regieren mit diesem Parlament ist unmöglich," stöhnte der enttäuschte Premierminister Michel Barnier, als er sich von seinem Kabinett verabschiedete. "Ich wünsche der nächsten Mannschaft viel Glück", fügte er hinzu.

Barnier wurde nach nur 91 Tagen durch ein Misstrauensvotum des Linksbündnisses und des rechtsextremen "Rassemblement National" von Marine Le Pen aus dem Amt gefegt. Er Barnier hatte im Parlament keine eigene Mehrheit. Nach der Wahl im Juli ist die Nationalversammlung in Paris in drei fast gleich große Lager gespalten – links, liberal-konservativ und rechts –, die nicht miteinander koalieren wollen. Das Land ist derzeit unregierbar, meinen viele Analysten in Frankreich.

Macron ist am Zug

Verursacht wurde das Debakel von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Er hatte die Neuwahlen im Sommer überraschend angesetzt, um seine liberale Partei zu stärken – und sich damit gewaltig verzockt. Jetzt könnte sein eigener Stuhl wackeln.

Die rechtsextreme Dauerkandidatin für das Präsidentenamt, Marine Le Pen, fordert lautstark seinen Rücktritt. Sie hat bereits zweimal gegen Emmanuel Macron verloren und will bei den nächsten Präsidentschaftswahlen, die regulär im April 2027 anstehen, erneut antreten.

Präsident Macron macht aber keine Anstalten abzutreten. Es wird erwartet, dass er möglichst schnell eine neue Kandidatin oder einen Kandidaten präsentiert. Vielleicht noch vor dem Wochenende, an dem sich Macron vor zahlreichen Staatsgästen und Donald Trump in Paris bei der Wiedereröffnung der restaurierten Kathedrale Notre Dame glanzvoll inszenieren will.

Frankreichs Schulden wachsen zu schnell

Macron hat den geschassten Barnier gebeten, vorläufig geschäftsführend im Amt zu bleiben. Denn das Problem ist, dass der von ihm aufgestellte Sparhaushalt für das kommende Jahr nicht verabschiedet wurde. Dieser hatte eine Konsolidierung der Staatsfinanzen vorgesehen. Eine solche wäre dringend nötig, denn das Haushaltsdefizit der öffentlichen Kassen beträgt in diesem Jahr 6,1 Prozent des Bruttoinlandprodukts, doppelt so viel wie nach den Schuldenregeln der Europäischen Union zulässig ist.

Die Finanzmärkte, auf denen der französische Finanzminister den Schuldenberg von über 100 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung refinanzieren muss, haben bislang relativ stillgehalten. Sie könnten aber angesichts der tiefen Regierungskrise die Kreditwürdigkeit des Landes herabstufen, so die Kosten für die Staatsschulden enorm erhöhen und Frankreich damit fiskalpolitisch handlungsunfähig machen.

Der christdemokratische Europaabgeordnete und Finanzexperte Markus Ferber warnt: "Frankreich ist das Sorgenkind Europas. Die Finanzmärkte sind hoch nervös und zwar zurecht, das spiegelt sich in steigenden Renditen für französische Staatsanleihen." Das Risiko, dass die Krise auf die Eurozone, also die Länder mit der Währung Euro, überschwappt, sei so groß wie nie seit der Staatschuldenkrise um Griechenland, Zypern, Spanien und Irland vom 2009 bis 2015.

"Schnelle Regierungsbildung wäre hilfreich"

Sophie Pornschlegel von der europäischen Denkfabrik "Jacques Delors Centre" in Berlin, sieht die Lage kritisch: "Wir brauchen eine französische Regierung, die sich dafür einsetzt, dass europäische Gesetze verabschiedet werden. Je schneller es eine neue Regierung gibt, desto besser", sagt die Politologin gegenüber der DW.

Sie warnt aber auch vor Alarmismus. In der Rückschau seien die Auswirkungen auf die EU durch die langwierige Regierungsbildung nach der Neuwahl im Sommer überschaubar gewesen. Das könne auch daran gelegen haben, dass die neue EU-Kommission nach den Europawahlen noch nicht im Amt war. "Es gibt auch die Möglichkeit, dass die politische Krise nicht allzu groß wird, vorausgesetzt, es wird schnell eine neue Regierung gebildet."

Deutschland schwächelt ebenfalls

Da neben Frankreich, der zweitgrößten Volkswirtschaft in der EU, auch Deutschland in einer wirtschaftlichen Krise steckt, wachsen die Sorgen in Brüssel. Wer soll etwa Frankreich aus dem fiskalpolitischen Loch helfen, wenn der größte Geldgeber Deutschland in einer Rezession steckt und ebenfalls keine handlungsfähige Regierung hat? – so fragen sich EU-Diplomaten. Auch nach den vorgezogenen Wahlen in Deutschland im Februar könnte es noch Wochen dauern, bis eine regierungsfähige Koalition steht.

Die deutsch-französische Lokomotive, die in der EU normalerweise den Takt vorgibt, steht im Moment eher auf dem Abstellgleis. Ein französischer Diplomat, der lieber ungenannt bleiben möchte, formulierte es in Brüssel so: "Wenn wir keinen Haushalt haben und finanzpolitisch nicht handeln können, nimmt uns auch in der EU niemand ernst." Eine Sprecherin der EU-Kommission erklärte in Brüssel hingegen, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Regierungskrise in Frankreich seien mehr oder weniger "eingedämmt", ohne ins Detail zu gehen.

Souveränes Europa?

Die doppelt schwache Führung in Frankreich und Deutschland kommt auch transatlantisch gesehen zur falschen Zeit. Wenn am 20. Januar Donald Trump das Weiße Haus übernimmt, wäre aus europäischer Sicht eine starke und geschlossene Union nötig. Eventuell muss die EU noch im Januar auf angedrohte Strafzölle aus den USA oder abrupte Kurswechsel in der Außenpolitik und bei Hilfen für die Ukraine reagieren.

Der französische Präsident Emmanuel Macron hat zwar in starken Reden, zuletzt im April an der Pariser Universität Sorbonne, ein souverän handelndes, strategisch unabhängiges Europa gefordert. Praktische Schritte dahin fehlen aber noch in vielen Bereichen. Bei der Verteidigung ist Europa vom Bündnispartner USA stark abhängig.

Wirtschaftlich sind gute Geschäfte mit den USA und China ebenfalls lebenswichtig, vor allem für die schwächelnde deutsche Industrie. Mehr Wettbewerbsfähigkeit und mehr Handelsabkommen hat sich die neue EU-Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen auf die Fahnen geschrieben. Doch ohne handlungsfähige Regierungen in Berlin und Paris wird sich die Erfüllung der weit gesteckten Ziele weiter verzögern.

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Image caption Frankreichs Präsident Macron: Er muss die zweite Regierung ohne parlamentarische Mehrheit aus dem Hut zaubern (Archiv)
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Item 20
Id 70955546
Date 2024-12-05
Title Kriegsrecht in Südkorea: Polizei ermittelt gegen Präsident Yoon
Short title Südkorea: Polizei ermittelt gegen Präsident Yoon
Teaser Der Druck auf Südkoreas Präsident Yoon Suk Yeol steigt. Die Polizei hat wegen "mutmaßlichen Aufruhrs" Ermittlungen gegen den Staatschef aufgenommen. Die Opposition strengt Amtsenthebungsverfahren an.
Short teaser Der Druck auf Südkoreas Präsident steigt. Die Polizei ermittelt wegen "mutmaßlichen Aufruhrs" gegen den Staatschef.
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Nach der kurzzeitigen Ausrufung des Kriegsrechts hat die südkoreanische Polizei gegen Staatschef Yoon Suk Yeol Ermittlungen wegen mutmaßlichen "Aufruhrs" eingeleitet. Die Untersuchung sei im Gange, sagte der Chef der nationalen Ermittlungsabteilung der Polizei, Woo Kong Suu, am Donnerstag vor Abgeordneten.

In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember hatten Tausende vor der Nationalversammlung in Südkoreas Hauptstadt Seoul gegen die Verhängung des Kriegsrechtes und für den Rücktritt des Präsidenten demonstriert.

Sechs oppositionelle Parteien haben ein Amtsenthebungsverfahren in Gang gesetzt. Am Samstagabend (Ortszeit) wird das Parlament darüber abstimmen. Wenn danach auch der Oberste Gerichtshof zustimmt, muss Yoon das Präsidialamt räumen.

Die Umfragewerte des Präsidenten sind dramatisch in gesunken. Anfang der Woche lagen sie bei nur 19 Prozent. Seine Partei, die konservative People Power Party (PPP), hat in der Nationalversammlung keine Mehrheit. Yoon ist auf die Unterstützung der Opposition angewiesen.

Als am Dienstagabend plötzlich bewaffnete Soldaten vor dem Parlamentsgebäude standen, wurden in der südkoreanischen Bevölkerung Erinnerungen an die Militärdiktaturen wach, die bis in die 1980er Jahre das Land beherrschten.

Fehleinschätzung von Yoon

Politische Analysten sind sich einig, dass Präsident Yoon den Zeitpunkt für eine Generalabrechnung mit der oppositionellen Demokratischen Partei (DP) falsch eingeschätzt hat. Mit der Entscheidung für das Kriegsrecht habe er sich selbst scharfer Kritik ausgeliefert.

"In der Öffentlichkeit und in der Presse war viel Unmut über die Demokratischen Partei zu hören. Es scheint, dass Yoon dies als Unterstützung für ihn selbst missverstanden hat", sagte Kim Sang-woo, ehemaliger Politiker der linksgerichteten südkoreanischen Kongresspartei für neue Politik und jetzt Vorstandsmitglied der Kim Dae-jung-Friedensstiftung.

"Die Opposition hat ihre Mehrheit im Parlament genutzt, um Gesetzesvorlagen durchzusetzen, die für Yoon unvereinbar mit dem nationalen Interesse sind", sagte Kim im Interview mit der DW. Die Opposition treibe zudem Ermittlungen gegen Yoons Frau voran und "stellt immer wieder Amtsenthebungsanträge gegen Kabinettsmitglieder".

Yoons Ehefrau hatte ein teures Präsent, eine Markenhandtasche, von einem Pastor mit Verbindungen nach Nordkorea angenommen. Dabei wurde sie von einer versteckten Kamera gefilmt. Ende 2023 kam der Mitschnitt an die Öffentlichkeit. Die Opposition nutzte den Skandal bei den Zwischenwahlen Anfang 2024 und gewann die Mehrheit im Parlament. Dadurch ist Yoon in der zweiten Hälfte seiner Amtszeit praktisch machtlos.

Amtsenthebungsverfahren als Waffe der Opposition

Die Regierungspartei PPP war zudem darüber verärgert, dass die DP die Kürzungen der Verteidigungsetats um umgerechnet 45,7 Millionen Euro erzwang. Diese Gelder sollen für nachrichtendienstliche Tätigkeiten verwendet werden, wie die Aufdeckung und Untersuchung von Bedrohungen der nationalen Sicherheit, in erster Linie aus Nordkorea sowie die Bekämpfung von Korruption.

Nur wenige Stunden vor Yoons Ankündigung hieß es in einem Leitartikel der Tageszeit "Korea Times", die Demokratische Partei nutze "ihre parlamentarische Mehrheit aus, um ihre Agenda voranzutreiben". Der Kommentator warf der DP vor, Amtsenthebungsverfahren gegen wichtige Politiker als Waffe einzusetzen. An diesem Mittwoch startete die Opposition neben dem Verfahren gegen Präsident Yoon noch drei weitere Amtsenthebungsverfahren gegen Regierungsmitglieder.

Aber auch mehrere DP-Politiker waren in jüngster Zeit Gegenstand von Korruptions- und anderen Untersuchungen, darunter auch Oppositionsführer Lee Jae-myung. Er war Mitte November wegen Verstoßes gegen das Wahlgesetz zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden. Lee hat Berufung eingelegt, die Strafe ist zunächst für zwei Jahre ausgesetzt. Sollte das Urteil vom Berufungsgericht bestätigt werden, könnte Lee aufgrund dieser Vorstrafe nicht mehr bei den nächsten Präsidentschaftswahlen antreten.

Instabil auf unbestimmte Zeit

Präsident Yoon habe sich - trotz aller politischen Rückschläge - nicht staatsmännisch verhalten und sich selbst geschwächt, sagt Leif-Eric Easley, Professor für internationale Studien an der Ewha Womans University in Seoul. "Yoons Verhängung des Kriegsrechts überschreitet offenbar die rechtliche Kompetenz und scheint eine politische Fehlkalkulation zu sein. Damit hat er Südkoreas Wirtschaft und Sicherheit unnötig gefährdet."

"Angesichts der fehlenden Unterstützung und ohne starke Rückendeckung innerhalb seiner eigenen Partei und Regierung hätte der Präsident wissen müssen, wie schwierig es sein würde, sein Dekret spät in der Nacht umzusetzen", sagte Easley. "Er klang wie ein Politiker, der unter Beschuss steht und einen verzweifelten Schritt gegen die zunehmenden Skandale, die institutionelle Obstruktion und die Forderungen nach einem Amtsenthebungsverfahren unternimmt. Im Endeffekt hat er die bestehenden Konflikte nur verschärft."

Allerdings habe Yoon dann das Richtige getan und das Kriegsrecht sofort nach der Ablehnung durch das Parlament wieder rückgängig gemacht, sagt Easley weiter. Dennoch wies der Politologe darauf hin, dass die Nation mit der Instabilität weiter leben müsse, so lange die Pattsituation zwischen Regierung und Parlament anhalte.

Dieser Artikel wurde am 5.12.2024 aktualisiert.

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Image caption Regierungskrise in Südkorea: Präsident Yoon Suk Yeol am Donnerstag bei einer Pressekonferenz im Präsidialamt
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Item 21
Id 70961053
Date 2024-12-05
Title "Dubai-Schokolade" erobert Weihnachtsmärkte
Short title "Dubai-Schokolade" erobert Weihnachtsmärkte
Teaser Mittlerweile verkaufen Süßwarenhersteller ihre jeweils eigene "Dubai-Schokolade" weltweit - auch auf Weihnachtsmärkten in Deutschland, zum Beispiel in Köln. Die Frage ist, ob der Begriff markenrechtlich geschützt ist.
Short teaser "Dubai-Schokolade" wird mittlerweile weltweit verkauft, auch auf Weihnachtsmärkten. Erlaubt das Markenrecht das?
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Weihnachtsmarktbesucher, dick in Mäntel, Schals und Mützen eingepackt, drängeln sich auf dem Weihnachtsmarkt vor den Glasscheiben eines Verkaufsstands, in denen sich der Kölner Dom spiegelt. Ein süßer Duft liegt in der Luft. Es wird Französisch, Englisch und Holländisch gesprochen.

Hinter dem Glas türmen sich Cashewnüsse und Trockenfrüchte. Doch die meisten Besucher kommen wegen einer Ware, die genau in der Mitte der Auslage auf Stapeln liegt: Handgemachte Dubai-Schokolade. Der Trend hat es jetzt auch auf die traditionellen deutschen Weihnachtsmärkte geschafft.

Der Verkaufsstand gehört der Kischmisch-Manufaktur, die eigentlich Spezialitäten aus Zentralasien bietet. Aber die Dubai-Schokolade, sagt ihr Gründer Nasratullah Kushkaki der DW, sei aktuell sein Topseller und fast täglich ausverkauft - trotz des Preises von 7,50 Euro für 100 Gramm.

Und der Deutsch-Afghane ist nicht der Einzige, der auf den Trend aufgesprungen ist. Auf deutschen Weihnachtsmärkten finden sich Dubai-Schokoladen-Crépes, Heiße Dubai-Schokolade oder auch Dubai-Schokolade-Waffeln. Aber dürfen einfach alle den Namen "Dubai-Schokolade" verwenden?

Erfunden in Arabien

Der Ursprung der Dubai-Schokolade liegt wohl, wie der Name vermuten lässt, in Dubai, der bevölkerungsreichsten Stadt in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Unternehmerin und Influencerin Sarah Hamouda gilt als die Erfinderin. Angefangen habe alles mit Schwangerschaftsgelüsten, erzählt die Unternehmensgründerin von Fix Dessert Chocolatier auf Instagram.

Ihr Ehemann konnte in Dubai einfach nicht das passende Dessert für ihren Heißhunger finden, also erfand sie es selbst: Knackige Schokolade, mit einer Pistaziencremefüllung und knusprigen Kadayif-Teigfäden, die man in Deutschland als Engelshaar kennt. Durch TikTok ging die Trendschokolade viral.

Herkunft ist nicht immer geschützt

Diese Schokoladenvariation darf jeder produzieren, die Frage ist nur: Darf man die Pistazien-Kadayif-Schokolade auch "Dubai-Schokolade" nennen? Generell kann man eine Ursprungsbezeichnung weltweit schützen lassen. Ein bekanntes Beispiel ist der Champagner: Dieser Schaumwein darf sich nur "Champagner" nennen, wenn er aus der französischen Champagne stammt.

Festgeschrieben ist das in der Genfer Akte des Lissaboner Abkommens , ein Internationales Abkommen zwischen 30 Vertragspartnern, das solche Ursprungsbezeichnungen weltweit schützt - auch die Europäische Union gehört dazu.

Patentanwalt Rüdiger Bals erklärt der DW, dass dies jedoch nur für Länder gelten würde, die Teil des Abkommens sind. Und das sind die Vereinigten Arabischen Emirate, in denen Dubai liegt, nicht. Daher können sie den Begriff "Dubai-Schokolade" nicht über das Abkommen schützen lassen.

Allerdings können sich Länder auch in bilateralen Abkommen auf den Schutz von Herkunftsangaben einigen. "Theoretisch wäre es möglich, dass die Vereinigten Arabischen Emirate die 'Dubai-Schokolade' als Herkunftsangabe in ihrem Land unter Schutz stellen und dann bei der EU-Kommission einen Antrag stellen, dass die Herkunftsangabe 'Dubai-Schokolade' auch in der EU unter Schutz gestellt wird", erklärt das Deutsche Patent- und Markenamt auf eine Anfrage der DW.

Markenname extrem begehrt

Mittlerweile haben weltweit Bäckereien, Konditoreien, Influencer und selbst große Schokoladenhersteller wie Lindt den Trend aufgegriffen und verkaufen eigene Produkte unter dem Namen "Dubai-Schokolade", für die Menschen inzwischen stundenlang anstehen.

Allein in Deutschland gibt es nach Angaben des Deutschen Patent- und Markenamtes 19 aktuelle Markenanmeldungen mit dem Bestandteil "Dubai" in Bezug auf Süßwaren. Eine Marke davon sei sogar schon eingetragen, es laufe allerdings ein Widerspruchsverfahren gegen den Eintrag. In Europa gebe es mehr als 30 Markenanmeldungen mit dem Wortbestandteil "Dubai" in Bezug auf Schokolade (Stand 4.12.2024).

Bals hält es allerdings für unwahrscheinlich, dass diese Markenanmeldungen erfolgreich sein werden. "Denn beim Markenrecht wird unter anderem geprüft, ob es unterscheidungskräftige Bestandteile gibt, und da reicht nur der Name 'Dubai-Schokolade' vermutlich nicht für aus."

Pistazien müssen dabei sein

Denn "Dubai-Schokolade" ist mittlerweile im Sprachgebrauch ein üblicher Begriff für Schokolade mit Pistaziencreme und Kadayif geworden. Genauso wenig könnte man den Begriff "Schokoladenweihnachtsmann" als Marke eintragen lassen, da der Begriff in der Gesellschaft generell gebräuchlich ist für Schokolade in Form eines Weihnachtsmannes.

Dabei wird als Unterscheidungsmerkmal auch nicht ausreichen, einfach den eigenen Herstellernamen voranzustellen, sagt Bals. Das versuchen gerade zahlreiche Hersteller, wie beispielsweise die deutsche YouTuberin Kiki Aweimer, die "Kikis Dubai-Schokolade" beim Deutschen Patent- und Markenamt angemeldet hat. Aber da sich "Kikis Dubai-Schokolade" vermutlich nicht stark genug von der Dubai-Schokolade anderer Hersteller unterscheidet, wird sich das Produkt als Marke wohl nicht durchsetzen können.

Hinzu kommt, erklärt Bals, dass es sich gegebenenfalls um eine täuschende Angabe handeln kann. "Diese kann im Rahmen der absoluten Schutzhindernisse im Markenrecht von Amtswegen geprüft werden, wenn kein geografischer Bezug zur Ware: Schokolade oder Süßigkeit zu 'Dubai' gegeben ist." Das heißt ganz konkret: Es kann als Täuschung verstanden werden, wenn der Begriff "Dubai-Schokolade" einfach verwendet wird, aber keine der Zutaten - wie Schokolade oder Pistazien - aus Dubai stammen.

Fix hält sich bedeckt

Das Unternehmen Fix Dessert Chocolatier könnte theoretisch als Erfinder die Dubai-Schokolade als Marke hier in Deutschland und der EU anmelden. Die DW hat das Unternehmen gefragt, ob Pläne bestehen, ihre Schokolade so schützen zu lassen. Bis zum Redaktionsschluss gab es jedoch keine Antwort.

Auch wenn markenrechtlich bisher noch einiges ungeklärt ist, eines ist sicher: Dieses Jahr werden noch zahlreiche Tafeln unter dem Begriff "Dubai-Schokolade" als Geschenk weltweit unter Weihnachtsbäumen liegen.

Der Schokoladenhersteller Nasratullah Kushkaki genießt auf jeden Fall den Andrang in der Weihnachtszeit. Während die Sonne langsam sinkt, drängen sich immer mehr Menschen an seinem Stand auf dem Kölner Weihnachtsmarkt - getrieben von der Sehnsucht nach der luxuriösen Schokolade aus Dubai.

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Image caption Nasratullah Kushkaki an seinem Verkaufsstand auf dem Kölner Weihnachtsmarkt
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Item 22
Id 70966537
Date 2024-12-05
Title Stichwahl in Rumänien: "Entscheidung für Russland oder EU"
Short title Stichwahl in Rumänien: "Entscheidung für Russland oder EU"
Teaser In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl geht es für Rumänien um eine historische Entscheidung: Bleibt es in Europa oder wählt es einen extremistischen, prorussischen Abenteurer und Esoteriker zum Staatschef?
Short teaser In der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl geht es für Rumänien um eine historische Entscheidung über seinen Kurs.
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Der Mann im weißen Trainingsanzug nimmt im Auto ein schnelles Facebook-Reel auf. Er sagt: "Ich möchte klarstellen, ich habe mich geirrt. Ich habe aus Wut gestimmt, gegen das System. Aber das entschuldigt nichts. Denn ich habe nicht alles überprüft, was der Kandidat behauptet."

Einige Tage später legt der Mann in Ruhe nach. Er erklärt, warum er für den rechtsextremen, prorussischen Anti-System-Kandidaten Calin Georgescu gestimmt hat, obwohl er dessen politische Ansichten nicht teilt. Er erklärt seine "unendliche Wut" und sagt am Ende, dass er in der zweiten Runde nicht wählen werde. Denn er sähe keine gute Alternative.

Der Mann in den Videos heißt Stefan Mandachi, ist 38 Jahre alt, Unternehmer aus Suceava im Norden Rumäniens. Er wurde 2019 bekannt, als er auf eigene Kosten einen Meter Autobahn bauen ließ, vierspurig, mit Seiten- und Mittel-Begrenzung sowie Verkehrsschildern. Es war eine Protestaktion gegen fehlende Programme des rumänischen Staates zur Infrastrukturentwicklung. Mandachi ist zudem bekannt für seine humanitären Aktionen. Unter anderem half er 2022 sehr großzügig ukrainischen Kriegsflüchtlingen.

Korruption und Klientelismus

Rumänien wenige Tage vor der Stichwahl um das Präsidentenamt am Sonntag (8.12.2024): Die sozialen Medien sind voll von Videos wie denen Mandachis, darunter oft hunderte oder tausende Kommentare. Es hat sich eine für Außenstehende schwer nachvollziehbare Wut auf "das System und seine Parteien" breitgemacht - Wut über Korruption und Klientelismus, über die Ignoranz und Selbstbedienungsmentalität der politischen Klasse, Wut über schlechte medizinische Versorgung, baufällige Schulen und lächerlich niedrige Renten für viele.

Vor diesem Hintergrund gewann ein nahezu Unbekannter und krasser politischer Außenseiter vor knapp zwei Wochen (24.11.2024) die erste Runde der Präsidentschaftswahl mit immerhin 23 Prozent, wobei ihm die plötzliche hunderttausendfache Verbreitung seiner Videos auf TikTok half: Calin Georgescu, 62 Jahre, Agraringenieur, Rechtsextremer, Esoteriker, Verschwörungstheoretiker und christlich-orthodoxer Fundamentalist. Er ist außerdem erklärter Bewunderer des russischen Diktators Wladimir Putin, des profaschistischen rumänischen Diktators der Zwischenkriegszeit Ion Antonescu und der mit ihm zeitweise verbündeten Legionärs-Faschisten.

Am Sonntag haben die Bürgerinnen und Bürger in Rumänien die Wahl zwischen ihm und seiner Kontrahentin, die in der ersten Wahlrunde auf 19 Prozent kam: Elena Lasconi, 52 Jahre, Chefin der progressiv-liberalen Partei Union Rettet Rumänien (USR), Bürgermeisterin einer südrumänischen Kleinstadt und ehemalige Starjournalistin bei einem privaten TV-Sender.

"Rumänien an erster Stelle"

Angesichts des völligen Versagens der Meinungsforschungsinstitute in der ersten Runde tun sich Experten nun schwer mit Prognosen. Die wenigen Umfragen sehen mal Georgescu, mal Lasconi vorn. Fest steht: Georgescu hat gute Chancen, Präsident zu werden.

Für Rumänien, aber auch für die Europäische Union und die NATO wäre das eine Katastrophe. Zwar hat der Präsident nur wenige Befugnisse, doch er kann politische Entscheidungen und Prozesse verzögern oder blockieren, das Land lähmen und zu einem unberechenbaren Partner machen. Georgescu hat sich mittlerweile Trumps Rhetorik angeeignet und spricht davon, dass er "Rumänien und das rumänische Volk immer an erste Stelle" setze. "Wir werden nicht mehr auf Knien, sondern auf Augenhöhe mit dem Westen sprechen", verkündet er. Anders als noch vor wenigen Wochen strebt er nun angeblich keinen Austritt Rumäniens aus der EU und der NATO mehr an. Er verspricht jedoch einen sofortigen Stopp der rumänischen Militärhilfe für die Ukraine und einen russlandfreundlicheren Kurs.

Rhetorik, die an Ceausescu erinnert

In den wenigen Auftritten der vergangenen Tage konnte man aus Georgescus Mund die ihm eigentümlichen Monologe vernehmen. Er selbst habe nur eine Partei - das rumänische Volk, sagte er beispielsweise in der Sendung Marius-Tuca-Show, eine Art Kneipenstammtisch-Gespräch auf Youtube, das Hunderttausende schauen. Rumänien sei das "Geschenk Gottes an das rumänische Volk, das es dank seiner Liebe erhalten" habe, so Georgescu. Als Präsident werde er eine "Börse für Nahrung, eine für Energie und eine für Metalle gründen". Rumänien werde Europa mit "Nahrung, Wasser, Rohstoffen und Energie versorgen" und auf diese Weise "eine Drehscheibe des Friedens werden". Eine Rhetorik und Projekte, die an die Politik des größenwahnsinnigen Diktators Nicolae Ceausescu erinnern.

Dagegen präsentiert sich Elena Lasconi als die Kandidatin, mit der Rumänien nicht in einen prorussischen, isolationistischen und nationalistischen Abgrund stürzen wird. Sie verspricht den Verbleib des Landes in der EU, der NATO und in einem offenen, demokratischen Europa. Dafür hat sie inzwischen die gesamte herkömmliche politische Klasse auf ihrer Seite, einschließlich der regierenden Sozialdemokraten (PSD), die bei der Parlamentswahl am vergangenen Sonntag (1.12.2024) zwar erneut stärkste Partei wurden, allerdings deutliche Stimmenverluste hinnehmen mussten. Die Sozialdemokraten sind faktisch die Nachfolgepartei der Kommunisten und rechtsnational ausgerichtet; sie gelten vielen Rumänen als das Symbol für Korruption und Klientelismus.

Progressive Ideen und konservative Werte

Elena Lasconi hat seit der ersten Runde der Wahl einige starke Auftritte hinter sich, in denen sie ihre Landsleute aufrief, die Freiheit und die Demokratie zu wählen und nicht an politischen Irrsinn zu glauben. Andererseits wirkt sie manchmal überfordert und kann auf Sachfragen nur schlecht antworten, was sie jedoch ehrlich zugibt. Inhaltlich versucht sie, progressive Ideen und christlich-konservative Werte zu vereinbaren und verspricht tiefgreifende Staatsreformen im Land.

Auffällig ist das überdimensionierte christliche Kreuz, dass sie oft um den Hals trägt. Nach Stationen als Sensations- und Kriegsreporterin, Moderatorin von Astrologiesendungen und Bürgermeisterin schien es in den vergangenen Monaten mitunter, als sei ihre Präsidentschaftskandidatur nur ein weiterer Höhepunkt in ihrem Lifestyle-Kalender. Inzwischen hat sich der Ernst der Lage in Rumänien aber sichtbar auf sie und ihre Auftritte übertragen.

Schwerer Stand für Frauen in der Politik

Nach langem Zögern spricht sich nun selbst die Führung der mächtigen Rumänischen Orthodoxen Kirche (BOR) für den Verbleib Rumäniens in den europäischen Stukturen aus - und damit indirekt gegen Georgescu, obwohl viele Priester ähnlich denken wie er. Ob die massive Unterstützung des Establishments für Lasconi allerdings für ihren Sieg reicht, ist fraglich. Nachteilig wirkt sich für sie auch aus, dass sie eine Frau ist - da sich in Rumänien verbreitete Misogynie mit dem immer noch präsenten Hass auf die Ceausescu-Gattin Elena mischen, die vielen Rumänen als das "wahre Übel" der Ceausescu-Ära gilt. Frauen haben es in der rumänischen Politik äußerst schwer.

Inwieweit soziale Medien und vor allem TikTok diesmal eine manipulative Rolle spielen werden, ist unklar. Rumäniens amtierender Staatspräsident Klaus Johannis hat am Mittwoch (4.12.2024) Geheimdienstberichte freigeben lassen, denen zufolge Calin Georgescu von obskuren IT-Firmen hohe finanzielle Hilfe für die Verbreitung von TikTok-Videos und die Beeinflussung von Algorithmen erhielt - obwohl er behauptet, eine Kampagne ohne jegliche Finanzierung geführt zu haben. Außerdem soll es zu rund 85.000 Hacker-Angriffen auf die öffentliche rumänische IT-Infrastruktur während des derzeitigen Wahlprozesses gekommen sein. Die rumänischen Geheimdienste nennen Russland als Urheber.

Angesichts dieser Veröffentlichungen warnte Elena Lasconi noch einmal eindringlich vor der Wahl ihres Kontrahenten: "Genauso wie jetzt bei uns hat Russland in der Ukraine agiert, bevor es sie überfallen hat. Die Rumänen müssen wählen, ob sie Rumänien Russland zum Geschenk machen oder ob sie weiter in der Europäischen Union bleiben wollen."

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Image caption Protest in der rumänischen Hauptstadt Bukarest gegen den rechtsextremen Präsidentschaftskandidaten Calin Georgescu am 27.11.2024
Image source DANIEL MIHAILESCU/AFP/Getty Images
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Item 23
Id 70955001
Date 2024-12-05
Title Warum der Nikolaus nicht der Weihnachtsmann ist
Short title Warum der Nikolaus nicht der Weihnachtsmann ist
Teaser Beide tragen ein rotes Gewand und verteilen Geschenke. Den einen gab es wirklich, der andere ist eine Erfindung, die viel älter ist als koffeinhaltige Limonade aus den USA - und deren Geschichte ziemlich komplex ist.
Short teaser Den einen gab es wirklich - der andere ist eine Mischung aus Legenden, Kulturen und Kolonialgeschichte.
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Wie kann ein einziges Wesen an Weihnachten Abermillionen von Kindern auf der ganzen Welt quasi gleichzeitig Geschenke bringen? Nun, da ist eine Menge Glaube im Spiel. Und Glaube hat auch viel damit zu tun, wie die Weihnachtsfigur, die wir heute als Weihnachtsmann kennen, aussieht.

Ob Papai Noel in Brasilien, Santa Claus in den USA und Kanada, Kalėdų Senelis in Litauen oder Babbo Natale in Italien - der Geschenkebringer mit dem Rauschebart ist einem Bischof, dem Heiligen Nikolaus von Myra, aus dem 3. Jahrhundert nachempfunden. Und nicht nur ihm: Gute 200 Jahre später tauchte ein weiterer Heiliger mit demselben Vornamen auf: Nikolaus von Sion.

Nikolaus, der Wohltäter

Über beide Männer gibt es kaum überlieferte historische Tatsachen. Ihre Lebensgeschichten wurden über die Jahrhunderte hinweg miteinander verwoben, und so entstanden die zahlreichen Nikolaus-Legenden.

Eine der bekanntesten ist die Geschichte mit den Goldklumpen: Sie erzählt, wie Nikolaus drei bettelarme Mädchen vor der Prostitution rettete, indem er nachts Goldklumpen durch das Fenster ihres Hauses warf. Daher wird Nikolaus in der Kunst oft mit drei goldenen Kugeln oder Äpfeln dargestellt. Der Bischof soll überhaupt eine starke wohltätige Ader gehabt und sein beträchtliches Vermögen an die Armen vermacht haben.

Nikolaus versus Christkind

Das Fest des Heiligen Nikolaus wird am 6. Dezember, dem wahrscheinlichen Todestag des Nikolaus von Myra, gefeiert. Dies aber missfiel dem berühmten Reformator des 16. Jahrhunderts, Martin Luther, der sich mit der katholischen Kirche und damit nahezu mit der halben Welt angelegt hatte.

Luther kritisierte die katholische Heiligenverehrung und wollte den christlichen Gabenbringer daher lieber am Weihnachtsfest andocken, an dem die Geburt Jesu Christi gefeiert wird. In diesem Zuge ersetzte er den Heiligen Nikolaus auch durch den Heiligen Christ, was in protestantischen Gegenden schnell angenommen wurde. Seit der Reformation brachte daher das Christkind die Geschenke zum Weihnachtsfest, je nach Region entweder an Heiligabend (24. Dezember) oder auch einen Tag später, am ersten Weihnachtsfeiertag.

Doch auch der Nikolausbrauch, bei dem in Deutschland in der Nacht zum 6. Dezember Geschenke in den zuvor geputzten Schuhen platziert werden, starb nicht aus. In manchen Ländern ist das Nikolaus-Fest nach wie vor der Haupt-Geschenketag, wie etwa in Belgien oder den Niederlanden, wo das "Sinterklaasfeest" gefeiert wird.

Ein düsterer Begleiter

im 16. Jahrhundert bekam der wohltätige Nikolaus einen ziemlich unfreundlichen Antagonisten an seine Seite gestellt. Er hatte verschiedenen Namen: Manche kennen ihn als "Knecht Ruprecht", im süddeutschen Raum ist er als "Krampus", im Rheinischen als "Hans Muff" bekannt.

Er trug eine Rute aus Reisig und sollte damit unartige und böse Kinder bestrafen. Bis heute begleitet Knecht Ruprecht den Nikolaus - allerdings nur noch als schaurig-schöne Dekoration. Seine Aufgabe besteht darin, dem Nikolaus beim Tragen des Geschenkesacks zu helfen und ansonsten finster zu gucken.

Das Christkind hingegen kommt ohne Begleiter, dafür mit Engelsgesicht und Flügeln. Obwohl es einen protestantischen Ursprung hat, ist das Christkind heutzutage eher in katholischen Gegenden anzutreffen. Woanders wurde es abgelöst durch eben jenen Weihnachtsmann - eine Figur, die im Laufe der Jahrhunderte entstanden ist durch eine Mischung aus Nikolauslegende, nordischen Mythen und osteuropäischen Märchen.

Papa Noel, Väterchen Frost und das Schneeflöckchen

Hört man sich in der Welt um, stellt man schnell fest, dass die Bezeichnung "Papa" für den Weihnachtsmann weit verbreitet ist: Im spanischen Sprachraum von Europa bis Lateinamerika heißt es "Papá Noel", in ehemals britischen Kolonien und im Vereinigten Königreich spricht man von "Father Christmas" und die Franzosen nennen ihren Weihnachtsmann "Père Noël".

In Südafrika kommt Sinterklaas, ein Erbe der niederländischen Siedler, ebenso wie in Indonesien, das bis 1949 niederländische Kolonie war. In osteuropäischen Ländern bis hin zur Mongolei ist eher vom Papa Winter oder Väterchen Frost die Rede.

Die Figur geht auf einen Winterzauberer aus der slawischen Mythologie zurück und ist dem Weihnachtsmann in seinen Darstellungen sehr ähnlich. Er ist die Personifikation des Winters, und um das zu unterstreichen, hat Väterchen Frost in einigen Regionen auch eine Begleiterin: das Schneeflöckchen - in Gestalt eines zarten Mädchens.

Heidnische Mythen aus dem Norden

Auch in Skandinavien hat der heutige Weihnachtsmann verschiedene Ursprünge. Da gibt es zum einen die Gestalt eines alten Mannes mit Pelzumhang, Kapuze und Rauschebart, der auf einem Rentierschlitten durch die Lande fährt und Nüsse verteilt, damit die Menschen den harten Winter überstehen. Legenden behaupten, er sei ein Nachfahre Odins, des mächtigsten nordischen Gottes.

In Norwegen und Schweden hingegen gibt es die Geschichte von einem Hausgeist ("Tomte"), der über Haus und Hof wachte, aber nur, wenn er auch genügend Essen bekam. Heute ist es der Jultomte oder Julenissen, der an Heilig Abend die Geschenke bringt - gegen Essen natürlich.

Der finnische Joulupukki war einst eine fiese Gestalt, halb Mensch, halb Ziege, die um die Häuser zog und Essen verlangte, ansonsten drohte er, die Kinder mitzunehmen. Irgendwann aber verschwanden die Hörner, und der Ziegenmann wurde zum freundlichen Weihnachtsmann.

Wie kommt Santa Claus ins Spiel?

Und warum heißt der Weihnachtsmann in den USA Santa Claus? Niederländische Auswanderer brachten ihren "Sinterklaas" in die USA. Nikolaus war der Schutzheilige von Nieuw Amsterdam - dem heutigen New York. Aus Sinterklaas wurde dann irgendwann Santa Claus.

In den 1930er Jahren entdeckte Coca Cola die Figur für sich, machte sie zur Werbeikone - und prägte damit bis heute unsere Vorstellung vom freundlichen alten Mann in pelzbesetztem Mantel und Mütze, mit roten Wangen und Rauschebart.

Santa Claus aber brachte die Geschenke nicht am 6. Dezember wie sein europäischer Kollege, sondern in der Nacht vom 24. zum 25. Dezember, und jedes amerikanische Kind weiß bis heute, dass Santa mit seinen Geschenken durch den Schornstein kommt, bevor er mit seinem Rentierschlitten wieder in der Luft verschwindet - und zwar schnell, damit er es schafft, auf der ganzen Welt Abermillionen von Kindern zu beschenken.

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Image caption Bischofsmütze (Mitra) und Bischofsstab: Das ist definitiv der Nikolaus
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Item 24
Id 70957986
Date 2024-12-05
Title Krieg mit Drohnen in Äthiopien: Zivilisten im Kreuzfeuer
Short title Krieg mit Drohnen in Äthiopien: Zivilisten im Kreuzfeuer
Teaser Nach dem Tigray-Krieg ist Äthiopien längst nicht zu Normalität zurückgekehrt: In der Nachbarregion Amhara geht die Armee seit 2023 mit Drohnen gegen Aufständische vor - und hat bereits hunderte Zivilisten getötet.
Short teaser In Amhara geht die Armee mit Drohnen gegen Aufständische vor - und hat dabei bereits hunderte Zivilisten getötet.
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"Ich bin am Boden zerstört. Er ging zum Markt und kam nie mehr zurück." Das sind die Worte einer trauernden Mutter in einem entlegenen Dorf in Äthiopiens nördlicher Amhara-Region. Vor einem Monat kam ihr 20-jähriger Sohn bei einem Drohnenangriff ums Leben. "Er starb, nachdem sie aus der Luft angegriffen wurden." Die DW hat sich entschieden, ihre Identität zum Schutz vor Repressalien nicht zu veröffentlichen.

Einige Monate nach dem Friedensschluss in der benachbarten Region Tigray intensivierten sich in Amhara Kämpfe zwischen der Zentralregierung und der lokalen Fano-Miliz. In der benachbarten Zentralregion Oromia kämpft sie gegen die Oromo Liberation Army (OLA). Seitdem ist die Zahl der bei Drohnenschlägen getöteten Zivilisten deutlich gestiegen.

Ein Drohnenangriff, der aus dem Raster fällt

Am 5. November traf dieses Schicksal den 20-Jährigen, der auf dem Markt der nahen Kleinstadt Zibst mit gebrauchter Kleidung handelte. Er war eines der 43 Todesopfer eines Drohnenschlags an jenem Tag. Im Telefonat mit der DW erzählt der Vater, ein Nachbar habe seinen Sohn anhand seines Ausweises identifiziert und ihn angerufen. "Ich eilte in die Stadt", erzählt der Vater. "Ich brachte ihn nach Hause und begrub ihn am Ort seiner Geburt."

Anwohner berichten, dass nach insgesamt drei Drohnenschlägen auf Zibst die Zahl der Toten auf bis zu 51 angestiegen sei. Auch eine Grundschule und ein Gesundheitszentrum seien getroffen werden.

Vom "tödlichsten Angriff" in dem Konflikt spricht Braden Fuller, der am Ethiopian Peace Observatory der US-amerikanischen NGO Armed Conflict Location and Event Data Project (ACLED) arbeitet. "Die Drohnenschläge treten meist im Kontext von Zusammenstößen am selben Ort auf. Aber ich glaube, dass dieser jüngste Angriff eine Sonderstellung hat, weil zu dem Zeitpunkt an dem Ort nicht gekämpft wurde." Lokale Zivilisten, mit denen die DW sprechen konnte, untermauern diese Einschätzung.

Hunderte bei Luftschlägen getötet

ACLED zählte bis Ende November 54 Luftschläge, von denen 52 von Kampfdrohnen der Äthiopischen Nationalen Streitkräfte ENDF ausgeführt wurden. Die Organisation geht von 449 Todesopfern aus.

Es ist davon auszugehen, dass diese Aufzählung nicht alle Vorfälle beinhaltet, da der Informationsfluss aus den dünn besiedelten Gegenden lückenhaft ist. Die Amhara Association in Nordamerika (AAA) kommt zu höheren Zahlen: Ihren Angaben zufolge wurden in der Region Amhara mindestens 125 Drohnen- und Luftschläge ausgeführt. Dabei seien mindestens 754 Menschen getötet und 223 verletzt worden. Und darin seien nur Angriffe enthalten, die ausschließlich Zivilisten gegolten hätten, erklärt AAA-Vertreter Hone Mandefro. "Sie massakrieren unschuldige Menschen, die nichts mit dem Krieg zu tun haben, und das ist kein Versehen", sagt Hone im DW-Gespräch. "Seitdem die Regierung wiederholt Kampftruppen entsendet und Niederlagen erlitten hat, bleibt ihr nur die Möglichkeit, die Bevölkerung zu terrorisieren und somit von einer Unterstützung der Fano abzuhalten."

Addis Abeba dementiert Schläge auf Zivilisten

Die Armee leugnet nicht den Einsatz von Drohnen gegen Fano-Milizionäre in Amhara. "Drohnen sind für den Kampf gemacht", sagte Generalstabschef Feldmarschall Birhanu Jula in einem Interview des nationalen Fernsehsenders. "Wir haben sie zum Kämpfen gekauft. Wenn wir eine Gruppe Extremisten aufspüren, greifen wir sie mit Drohnen an. Aber wir zielen nicht auf Zivilisten."

Im Oktober bestätigte die Führung der 302. Einheit des ENDF-Ostkommandos, dass im Bezirk Nordgodscham Drohnen gegen Fano-Stellungen eingesetzt wurden. Der Angriff taucht auch in den Listen der AAA auf: Sechs Bauern seien getötet, vier weitere verletzt worden.

Legesse Tulu, Informationsminister der Regierung in Addis Abeba, weist solche Berichte als "inakzeptabel" zurück. In einer Pressekonferenz am 16. November sagte er, die Armee habe in "ausgewählter und geplanter Weise" angegriffen.

Menschenrechtler dokumentieren Drohneneinsätze der Armee

Äthiopische und internationale Menschenrechtsorganisationen beruhigen solche Beteuerungen nicht. Ein Bericht der Äthiopischen Menschenrechtskommission (EHRC) legt nahe, dass in den zwölf Monaten bis Juni 2024 "eine große Zahl von Zivilisten brutal durch Artilleriebeschuss und Luftschläge insbesondere von Drohnen getötet wurden". Auch der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) sieht zahlreiche zivile Opfer als erwiesen an: Laut OHCHR wurden zwischen August und Dezember 2023 bei 18 Drohnenschlägen 248 Zivilisten getötet und 55 weitere verletzt.

Im OHCHR-Jahresbericht ist außerdem von Luftschlägen auf öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser sowie private Wohnhäuser die Rede. Dies wecke ernsthafte Besorgnis über die Einhaltung internationalen Rechts.

Die Armee war mit der Bayraktar TB2 schon einmal erfolgreich

Erst im vergangenen Jahr hat die äthiopische Luftwaffe den Aufbau einer eigenen Drohneneinheit bestätigt. Sie nutzt verschiedene Modelle, darunter die türkische Bayraktar TB2. Das Modell wurde beispielsweise auch von Aserbaidschan im Bergkarabach-Krieg 2020 sowie von der Ukraine in der Abwehr der russischen Invasion ab 2022 eingesetzt und ist auch in Afrika weit verbreitet. Beobachtern zufolge ist die Bayraktar TB2 effektiver als andere Drohnen der ENDF, die etwa aus China stammen. Der Geschäftsführer der türkischen Entwicklerfirma, Haluk Bayraktar, wurde von der ENDF "für seine bedeutsamen Beiträge für den Aufbau von Fähigkeiten der Luftwaffe" ausgezeichnet. Experten zufolge hatten die Drohnen einen deutlichen Einfluss auf den Verlauf des Tigray-Kriegs, der am 3. November 2022 durch einen Friedensvertrag zwischen den lokalen TPLF-Rebellen und der Zentralregierung beigelegt wurde.

Beim aktuellen Konflikt sei das anders, meint ACLED-Analyst Fuller: "Ich sehe keinen Beweis, dass die Drohnenschläge irgendwelche Auswirkungen haben auf die anhaltenden Kämpfe gegen Fano-Milizionäre in Amhara oder die OLA in Oromia." Auch wenn die Angriffe möglicherweise dem Führungspersonal der Milizen gälten, würden dennoch ständig zivile Ziele getroffen. Fuller glaubt dennoch, dass die Regierung auch künftig an Drohnenschlägen festhalten wird. "Wir haben in der Vergangenheit nicht beobachtet, dass die äthiopische Regierung sich dem Druck beugt, egal ob er von der Öffentlichkeit oder der internationalen Gemeinschaft kommt."

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

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Image caption Äthiopien setzt die türkische Militärdrohne Bayraktar TB2 ein - Menschenrechtlern zufolge wurden hunderte Zivilisten bei derartigen Angriffen getötet
Image source Emrah Yorulmaz/AA/picture alliance
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Item 25
Id 70959314
Date 2024-12-04
Title Stiller Superheld: Was unser Boden alles kann
Short title Stiller Superheld: Was unser Boden alles kann
Teaser Meistens denken wir nicht groß über ihn nach. Doch ob wir schlafen, gehen, fahren oder etwas anpflanzen: Ohne den Boden unter unseren Füßen könnten wir nicht überleben. Aber er ist in Gefahr. Was kann ihn retten?
Short teaser Meistens denken wir nicht groß über ihn nach. Dabei ist der Boden für uns lebenswichtig. Doch er ist in Gefahr.
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Was genau ist eigentlich "der Boden"? In der Wissenschaft nennt man ihn Pedosphäre. Er ist die oberste Schicht der Erdkruste und ein bis zwei Meter tief. Bildlich gesprochen bildet er die Haut unseres Planeten.

Boden entsteht, wenn das harte Gestein der Erdkruste über sehr lange Zeit verwittert, also zerkleinert wird. Das geschieht durch Hitze und Frost, durch chemische oder mechanische Prozesse, etwa wenn Wasser oder Pflanzenwurzeln durch die Steine dringen. Im Oberboden mischen sich mineralische Bestandteile aus dem Gestein mit einer nährstoffreichen Humusschicht.

Grundsätzlich gilt: Je mehr Humus, desto fruchtbarer der Boden. Der Humus wird von Bodenorganismen aus Pflanzen- oder Tierresten hergestellt. Denn im und auf dem Boden leben unzählige Tiere wie Würmer und Insekten, dazu Pilze, Algen, Flechten und Bakterien. In einem Kilogramm gesundem Boden gibt es mehr Lebewesen als Menschen auf der Erde. Doch bis zwei oder drei Zentimeter Boden entstehen, dauert es bis zu 1000 Jahre. Unser Boden gilt deswegen als eine nicht erneuerbare Ressource.

Boden ist Nahrungsgrundlage, Hochwasserschutz und CO2-Speicher

Böden bilden die Grundlage für das Leben auf der Erde. Sie filtern und wandeln die Stoffe um, die aus den anderen Sphären in sie eindringen. So wird Grundwasser bei seiner Reise durch den Boden von Schadstoffen gereinigt. Wenn Böden Wasser speichern können, sinkt die Hochwassergefahr. Mehr als 95 Prozent unserer Nahrungsmittel stammen aus unseren Böden.

Nach dem Ozean ist der Boden der zweitgrößte Speicher für das klimaschädliche Treibhausgas Kohlendioxid, CO2. Pflanzen nehmen es beim Wachsen aus der Luft auf. Sterben sie, wandeln Bodenorganismen den in ihnen gebundenen Kohlenstoff zu Bodenkohlenstoff um. Er dient neuen Pflanzen als Nahrung.

Boden ist nicht gleich Boden

Böden unterscheiden sich in ihrer Struktur deutlich. So versickert Wasser in Sandböden wegen der großen Hohlräume recht schnell, viele Nährstoffe werden so in die Tiefe gespült und sind für Pflanzen nicht mehr verfügbar. Dennoch bieten Sandböden vielen angepassten Pflanzen- und Tierarten einen Lebensraum und sind wichtig für die Neubildung von Grundwasser.

In Böden mit hohem Tonanteil gibt es nur sehr kleine Hohlräume, Wasser versickert hier nur sehr langsam, Nährstoffe bleiben gebunden und für die Pflanzen verfügbar. Als bester Boden für den Ackerbau gilt Lehmboden, eine Mischung aus Sand, Ton und dem sogenannten Schluff, der für einen stabilen Wasserhaushalt sorgt.

Eine Ausnahme von der Regel: "je mehr Humus, desto fruchtbarer der Boden" bildet der tropische Regenwald. Er hat zwar nur eine dünne Humusschicht, aber wegen des feucht-warmen Klimas sind die Bodenorganismen hier ganzjährig aktiv und versorgen die Pflanzen ständig mit Nährstoffen. In kalten Regionen sind viele Bodenorganismen im Winter nicht aktiv, es sammelt sich viel organisches Material, das dann im Frühling wieder zu Humus wird.

Warum sind unsere Böden in Gefahr?

Weil wir Menschen den Boden so stark nutzen: Wir bauen Nahrungsmittel an, holen Öl und andere Rohstoffe aus der Erde, bauen Wohnraum, Straßen, Industriegebäude. All das zerstört das Gleichgewicht des Bodens. Unter Straßen oder Gebäuden leben keine Bodenorganismen mehr - der Boden ist durch diese sogenannte Versiegelung unwiederbringlich zerstört. Auch durch den Bergbau. Auch die Abholzung von Wäldern beeinträchtigt die Stabilität der Böden.

Die Landwirtschaft laugt den Boden vor allem durch Monokulturen aus: Dieselben Pflanzen benötigen immer wieder dieselben Nährstoffe und nach der Ernte bleibt auf dem Boden kaum Pflanzenmaterial zurück, das zu Humus zersetzt werden kann. Er verarmt und trocknet aus. Nach der Ernte fehlt dem Boden Schutz gegen Wind, Regen und Sonneneinstrahlung - er wird weggeweht oder weggeschwemmt.

Pestizide in der konventionellen Landwirtschaft beeinträchtigen die wichtigen Bodenorganismen. Auch übermäßige Bewässerung kann dem Boden schaden, Nährstoffe werden ausgeschwemmt, der Boden versalzt, die Ernteerträge sinken. Die Feldarbeit mit schweren Maschinen verdichtet den Boden, er speichert dann weniger Wasser, wird nicht mehr gut durchlüftet und die Bodenorganismen leiden.

Ein weiteres Problem ist die sogenannte Versauerung des Bodens. Sie entsteht durch sauer wirkende Stickstoff- und Schwefelverbindungen - etwa durch die Verbrennung von Braunkohle, den Abrieb von Autoreifen und durch die intensive Tierhaltung. In versauerten Böden gibt es weniger Artenvielfalt, also weniger Bodenleben, und das bedeutet weniger Humus - mit den bekannten Folgen.

Weltweit ist ein Viertel aller Böden geschädigt

Die Folgen des menschengemachten Klimawandels wie Hitze, Dürre oder Überschwemmungen machen dem Boden ebenfalls zu schaffen. Gleichzeitig verstärkt geschädigter Boden diese Folgen, weil er beispielsweise weniger Wasser speichern kann. Ein ausgelaugter Boden verringert laut der Welternährungsorganisation FAO auch den Gehalt an Vitaminen und Nährstoffen in Lebensmitteln.

Schätzungen zufolge gilt bereits ein Viertel aller Böden weltweit als degradiert, also in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Jeder sechste Mensch ist davon betroffen. In der Europäischen Union gelten laut der Umweltschutzorganisation BUND mehr als zwei Drittel aller Böden als geschädigt.

Und die weltweite Bodendegradation schreitet jedes Jahr um weitere fünf bis zehn Millionen Hektar zusätzlich voran - das gefährdet auf Dauer die globale Ernährungssicherung.

Wie können wir den Boden schützen?

Wiederaufforstung, Wiedervernässung von Mooren und Renaturierung von degradiertem Land können die Lebensfähigkeit der Böden langsam wiederherstellen. Wir können außerdem so wenig Boden wie möglich durch neue Gebäude und Straßen versiegeln.

Vor allem die Landwirtschaft könnte den Boden besser schützen: durch schonende Bodenbearbeitung ohne schwere Maschinen, weniger Pestizide oder Tröpfchenbewässerung, die das Versalzen des Bodens verhindert.

In der Agroforstwirtschaft halten Sträucher und Bäume zwischen und am Rand von Feldern mit ihren Wurzeln das Erdreich bei Wind und Regen fest. Stroh oder andere Pflanzenreste auf den Feldern schützen vor Austrocknung und ermöglichen Humusaufbau.

Auch der Fruchtwechsel, bei dem regelmäßig verschiedene Feldfrüchte angebaut werden, stärkt den Boden, Hülsenfrüchte wie Erbsen oder Ackerbohnen düngen ihn beim Wachsen kostenlos mit Stickstoff aus der Luft.

Ein Umbau der Landwirtschaft könnte sich lohnen - laut BUND können nachhaltig bewirtschaftete Böden besser Wasser speichern - und bringen dadurch in trockenen Jahren stabilere Ernten als konventionell bewirtschaftete Böden.

Unsere Quellen unter anderen:

https://www.un.org/en/observances/world-soil-day

https://www.umweltbundesamt.de/themen/boden-flaeche

https://www.lfu.bayern.de/boden/index.htm

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Image caption Bis zwei oder drei Zentimeter Boden entstehen, dauert es bis zu 1000 Jahre
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Item 26
Id 70956386
Date 2024-12-04
Title Turner-Preis für Künstlerin Jasleen Kaur
Short title Turner-Preis für Künstlerin Jasleen Kaur
Teaser Die Schottin Jasleen Kaur hat den diesjährigen Turner-Kunstpreis erhalten. Das Werk der Künstlerin mit indischen Wurzeln schlägt eine Brücke zwischen den Kulturen.
Short teaser Die Schottin Jasleen Kaur hat den diesjährigen Turner-Kunstpreis erhalten. Die Jury würdigte sie als Brückenbauerin.
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Der Turner Prize ist der bedeutendste britische Preis für moderne Kunst. In diesem Jahr wurde er zum 40. Mal verliehen. Er ist mit 25.000 Pfund (umgerechnet rund 30.000 Euro) dotiert und nach dem britischen Maler William Turner (1775–1851) benannt. Die 37-Jährige Jasleen Kaur bringe "mit unerwarteten und spielerischen Materialkombinationen unterschiedliche Stimmen" zusammen, lobte die Jury.

Für eine Ausstellung in Glasgow über die schottischen Sikhs hatte Kaur Familienfotos und einen mit einer riesigen weißen Häkeldecke bedeckten Oldtimer benutzt, außerdem kinetische Handglocken. Ihre Arbeit untersuche, wie kulturelles Gedächtnis in den Objekten und Ritualen, die uns umgeben, geschichtet ist, begründete die Preisjury ihre Entscheidung.

Friedensappell in der Dankesrede

Kaur nutzte ihre Dankesrede in der Londoner Tate Britain für eine politische Botschaft und rief zu einem Waffenstillstand im Gazakrieg auf. Dabei trug sie einen Schal in den palästinensischen Farben, während sich vor dem Gebäude Dutzende pro-palästinensische Demonstrierende versammelt hatten.

Die Künstlerin zählt zu den Unterzeichnenden eines offenen Briefs an die Dachorganisation der Tate-Museen. Darin heißt es, diese sollten sich von Gönnern lösen, die Verbindungen zu Israel haben. "Das ist keine radikale Forderung", so Jasleen Kaur, "und sie sollte kein Risiko für die Karriere oder Sicherheit einer Künstlerin sein." Kaur forderte "einen echten Waffenstillstand jetzt" in Gaza.

"Ein Gefühl von Leben"

Alex Farquharson, der Direktor der Tate Britain und Vorsitzende der Jury, würdigte Kaurs Fähigkeit, "aus den prosaischsten Objekten erstaunliche, verzauberte Umgebungen zu schaffen". Ihre Arbeiten trügen "ein Gefühl von Leben" in sich und berührten sowohl Kaurs persönlichen Hintergrund als auch "die großen diasporischen Themen der kulturübergreifenden Identität", insbesondere aber der südasiatischen und schottischen.

Jasleen Kaur ist Schottin mit indischen Wurzeln. Sie wuchs in einem traditionellen Sikh-Haushalt in Glasgow auf. Dort lernte sie Silberschmiedekunst und Schmuck an der Glasgow School of Art. Später zog sie nach London um, wo sie am Royal College of Art studierte. Jasleen Kaurs Arbeiten wurden bereits im Victoria and Albert Museum ausgestellt. Ihr Kurzfilm Yoorop zeigte einen Bericht über Europa unter Verwendung von Filmmaterial aus dem populären indischen Kino.

Neben Kaur waren noch zwei Künstlerinnen und ein Künstler für den Turner Prize nominiert. Sie erhalten jeweils 10.000 Pfund.

sd/pl (dpa/rtr/The Guardian)

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Image caption Erhielt den renommierten Turner Prize: die schottisch-indische Künstlerin Jasleen Kaur
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Item 27
Id 70958765
Date 2024-12-04
Title Angst vor neuer Gaskrise in Europa
Short title Angst vor neuer Gaskrise in Europa
Teaser Ein kalter November, steigende Gaspreise und das wahrscheinliche Auslaufen eines wichtigen Gas-Pipeline-Vertrages werfen ihre Schatten auf die Energie-Versorgungslage.
Short teaser Sinkende Temperaturen und steigende Preise wecken Ängste.
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Die steigenden Gaspreise der letzten Wochen haben bei europäischen Energiehändlern und auch bei Politikern schlechte Erinnerungen geweckt an die Erschütterungen, die die Energiemärkte nach der Invasion Russlands in der Ukraine im Jahr 2022 erfasst haben. Als der Kontinent in aller Eile seine Abhängigkeit von russischem Gas beenden wollte, waren die Preise in die Höhe geschossen.

Dies hatte nicht nur die bereits hohe Inflation weiter angeheizt, sondern auch Sorgen über mögliche Stromausfälle ausgelöst. Die anhaltend hohen Preise belasteten auch energieintensive Industrien und führten zu Schließungen und Arbeitsplatzverlusten.

Doch Europa hat die letzten beiden Winter letztendlich gut überstanden, vor allem dank des Wetters, das milder als erwartet ausgefallen war und den Energieverbrauch für das Heizen niedrig hielt.

Ein Kälteeinbruch im November hatte dann aber wieder zu einem Anstieg der Erdgaspreise geführt. Die Preise stiegen sprunghaft an und erreichten am 21. November fast 49 Euro pro Megawattstunde (MWh), das höchste Niveau seit über einem Jahr.

Sind die Ängste berechtigt?

Das kalte Novemberwetter hatte zu einem stärkeren Energiebedarf für Heizungen geführt. In Kombination mit den niedrigen Windgeschwindigkeiten in Nordeuropa und dem daraus resultierenden Rückgang des Angebots an Windenergieerträgen ist die Nachfrage nach Gas gestiegen.

Dennoch liegen die Preise immer noch weit unter den Höchstwerten des Jahres 2022, besonders, weil die Gesamtnachfrage nach Gas seitdem gesunken ist. Der Schock des November-Preisanstiegs lässt sich auch dadurch erklären, dass die Preise im gesamten Jahr 2024 weitaus niedriger gewesen waren als zu jedem anderen Zeitpunkt seit Beginn des Krieges.

"Die Preise sind seit Mitte September um etwa 40 Prozent gestiegen", sagte Petras Katinas, Energieanalyst am Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA), zur DW. "Das war plötzlich ein ziemlich großer Sprung." Die Aussicht auf einen kälteren Winter hat Angst ausgelöst, dass die bis vor kurzem noch vollen Lagerbestände erschöpft sein und einen zyklischen Preisanstieg auslösen könnten.

Katinas sagt jedoch auch, dass Russlands Einfluss auf den europäischen Markt seit 2022 stark nachgelassen habe und die Rede von einer "Krise" übertrieben sei. "Ich würde es nicht als Krise bezeichnen, vor allem wenn wir vergleichen, was 2022 und 2023 tatsächlich passiert ist", sagte er. "Die Mehrheit der EU-Mitgliedsstaaten ist nicht mehr so stark von russischem Gas abhängig."

Aber was ist mit russischem Gas?

Russland ist, was die Gasversorgung der EU betrifft, längst nicht mehr der Gigant, der es einmal war. Der Anteil des von den Mitgliedstaaten importierten russischen Pipelinegases sank von 40 Prozent der Gesamtmenge im Jahr 2021 auf etwa neun Prozent im Jahr 2023.

Inzwischen scheinen die russischen Gaslieferungen via Pipeline an die Union zu Ende zu gehen. Österreich, eines der letzten europäischen Länder, das noch Pipelinegas aus Russland bezieht, hat nach einem Rechtsstreit mit dem staatlichen russischen Energiekonzern Gazprom die Lieferung des fossilen Rohstoffes endgültig eingestellt.

Die Slowakei und Ungarn erhalten derzeit noch russisches Gas, doch alle Anzeichen deuten darauf hin, dass dieser Import am Ende dieses Jahres endet. Der fünfjährige Gastransitvertrag zwischen Gazprom und dem ukrainischen Staatsunternehmen Naftogaz für den Transport russischen Gases durch ukrainisches Territorium läuft mit diesem Jahr aus und die ukrainische Regierung hat angekündigt, ihn nicht zu verlängern.

Borys Dodonow, Leiter des Zentrums für Energie- und Klimastudien an der Hochschule für Wirtschaftswissenschaften in Kyjiv, erwartet das Ende des Gastransitvertrags, weil "die Ukraine keine wirtschaftlichen Gründe hat, diesen Vertrag zu verlängern".

LNG - die Lösung aller Probleme?

Da die russische Pipelinegaslieferung nach Europa im Jahr 2022 weitgehend eingestellt wurde, ist Flüssigerdgas (LNG) für beide Parteien wichtiger geworden. Die russischen LNG-Einfuhren in die EU sind in diesem Jahr bisher um fast 15 Prozent gestiegen.

Dodonow beharrt darauf, dass Europa aufgrund des LNG-Angebotes aus den USA kein russisches Gas zur Deckung seines Energiebedarfs mehr benötigen wird. Er erwartet, dass der künftige US-Präsident Donald Trump die LNG-Produktion steigern wird, und glaubt, dass Europa für ein großes Gashandelsabkommen mit den USA bereit sein könnte.

Ed Cox, Leiter für globales Flüssigerdgas beim unabhängigen Rohstoffdatenanbieter ICIS, weist darauf hin, dass Flüssigerdgas seit der Invasion im Jahr 2022 nun 34 Prozent des gesamten europäischen Gasanteils ausmacht - das ist doppelt so viel wie zuvor. Die Umstellung auf Flüssigerdgas bedeute aber, dass Europa nun anfälliger für den globalen Preisdruck ist. "Europa ist stärker als je zuvor mit den Fundamentaldaten eines globalen Marktes verbunden", sagte er der DW.

Cox glaubt, dass Europa im Falle eines kalten Winters und eines Endes des Transitabkommens mit der Ukraine seinen Gasbedarf immer noch mit Flüssigerdgas decken könnte. Allerdings besteht die Gefahr deutlich höherer Preise, da das Angebot kurzfristig nicht dramatisch ausgeweitet werden könne. "Europa wird genug Flüssigerdgas bekommen, wenn es das braucht. Aber das könnte bedeuten, dass die europäischen Preise steigen, um mit der asiatischen Nachfrage konkurrieren zu können."

Höhere Gaspreise, um die Vorräte nach dem Winter wieder aufzufüllen, würden sich auf den Winter 2025 und darüber hinaus auswirken, fügte er hinzu: "Es geht nicht darum, ob wir genug LNG oder Gas haben, es geht um die Frage, wie teuer das wird."

Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen adaptiert.

Item URL https://www.dw.com/de/angst-vor-neuer-gaskrise-in-europa/a-70958765?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Alternativen zu russischem Gas: LNG-Flüssiggastanker wird in Katar beladen
Image source Thomas Koehler/photothek/picture alliance
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Item 28
Id 70846054
Date 2024-12-04
Title Frankreichs Nationalheiligtum: Restauration in Rekordzeit
Short title Frankreichs Nationalheiligtum: Restauration in Rekordzeit
Teaser Die Bilder der Zerstörung waren gruselig. Fünf Jahre wurde eilig restauriert - jetzt soll Notre Dame feierlich wiedereröffnet werden. Kölns ehemalige Dombaumeisterin aber befürchtet, dass es dafür zu früh ist.
Short teaser Fünf Jahre wurde eilig restauriert - jetzt soll Notre Dame feierlich wiedereröffnet werden. Manche sehen das kritisch.
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Notre Dame ist nicht irgendeine Kirche, sondern in Frankreich so etwas wie ein Nationalheiligtum. Wohl deshalb wandte sich Staatspräsident Emmanuel Macron sofort nach der Brandnacht am 16. April an die geschockte Nation: In nur fünf Jahren sollte die schwer beschädigte gotische Bischofskirche renoviert und wiederaufgebaut werden, versprach Macron, und zwar "schöner als vorher".

Für das "nationale Projekt" floss denn auch reichlich Geld. Bürokratische Hürden existierten praktisch nicht. So kam es, dass die generalstabsmäßig geplanten Arbeiten bis zuletzt im Zeitplan lagen, offiziell zumindest. Am 7. Dezember soll Notre Dame nun mit einer feierlichen Zeremonie wiedereröffnet werden. Macron will in Anwesenheit zahlreicher Staats- und Regierungschefs eine Ansprache auf dem Vorplatz halten; immerhin gehört die Kathedrale dem Staat. Tags darauf soll Erzbischof Laurent Ulrich eine erste feierliche Messe feiern, bei der auch der neue Altar geweiht wird.

Alte Kirche in neuem Glanz

Wer Notre Dame noch aus der Zeit vor dem Brand kennt, wird staunen: Die Wände sind von jahrhundertealtem Ruß und Dreck befreit. Durch die gereinigten Fenster fällt mehr Licht als vorher, was die frischen Farben und das Blattgold der Wandmalereien zum Strahlen bringt. Auch die 2300 Statuen und 8000 Orgelpfeifen sind frisch geputzt. Erst kürzlich hat man 1500 neue Stühle eingebaut, nicht ohne sie vorher zu segnen. Gut eintausend Kubikmeter Steine mussten bewegt, 2.000 Tonnen Gerüst aufgestellt und wieder abgebaut werden. Fast 250 Unternehmen und Ateliers waren an der Restaurierung beteiligt.

Wer hätte gedacht, dass die zwischen 1163 bis 1345 errichtete Kirche noch einmal zur "Jahrhundertbaustelle" würde? Kosten bis dato: 700 Millionen Euro. In einer beispiellosen Spendensammlung waren rund 840 Millionen Euro zusammengekommen. Mit den verbleibenden 150 Millionen will man die ohnehin nötige Restaurierung der Apsis und der Strebepfeiler angehen. Die Arbeiten beginnen nach der Wiedereröffnung und dauern noch einmal drei Jahre.

"Das Wunder von Notre Dame"

Fünf Jahre liegt die Brandkatastrophe zurück, die damals weltweites Entsetzen auslöste: Die Feuerwehr kämpfte vier Stunden, bis sie den Brand auf den hölzernen Dachstuhl eingrenzen konnte. Das Ausmaß der Zerstörung war nicht so groß wie zunächst befürchtet: Zwar stürzte der Vierungsturm ein und mit ihm drei Gewölbefelder. Im Chor klaffte ein Loch. Doch die gotische Madonna blieb unversehrt, obwohl neben ihr der Vierungsturm herabstürzte. "Das Wunder von Notre Dame", nannte das Barbara Schock-Werner, die deutsche Kathedralen-Expertin seinerzeit im DW-Interview.

"Die Gefahr, dass die ganze Kirche einstürzt, war groß", erinnert sich Schock-Werner, "es hätte nur einen Sturm gebraucht, und der Schaden wäre immens gewesen." Doch Paris hatte Glück im Unglück. Viel verheerender wirkte sich das "Bleiproblem" aus: Vom Bleidach der Notre Dame fielen Platten herab, andere schmolzen. Blei verteilte sich im Gewölbe. Giftiger Bleistaub legte sich auf alles. Die Bauarbeiten wurden erschwert. "Das waren schon ziemlich große Herausforderungen", so Schock-Werner.

Gebäude noch zu feucht?

Gemeinsam mit dem damaligen deutsch-französischen Kulturbeauftragten Armin Laschet koordinierte die ehemalige Kölner Dombaumeisterin die deutschen Hilfen. So konnten vier Obergadenfenster der Basilika in der Kölner Dombauhütte vom Bleistaub befreit und repariert werden. Die Klöppel für die Glocken von Notre Dame lieferte ein Familienbetrieb aus dem niederbayerischen Anzenkirchen.

Die schnelle Restaurierung der Notre Dame nötigt der deutschen Expertin viel Respekt ab. Doch die Mischung aus Zeitdruck und Geld hat auch ihre Schattenseite: "Das Gebäude ist eigentlich noch zu feucht", warnt die Architektin und Kathedralen-Expertin, "man kann nur hoffen, dass die Schlämme (isolierender Wandputz, Anm. d. Red.) im Innenraum hält." Mehr Zeit zum Trocknen hätten wohl auch die frischen Eichenhölzer für den Dachstuhl gebraucht. "Normalerweise lässt man Eiche liegen, bis sie trocken ist und verwendet sie erst dann. Aber das war natürlich dem Zeitdruck geschuldet. Und man kann nur hoffen, dass das gut geht."

"Ein französischer Erfolg"

Noch unklar ist, wie Paris den erwarteten Besucheransturm auf Notre Dame bewältigen will. Frankreichs Kulturministerin Rachida Dati möchte Eintrittsgebühren erheben, die katholische Kirche lehnt das ab. Die Stadt Paris erwägt, die Tiefgarage vor der Kathedrale in ein Besucherzentrum zu verwandeln.

Frankreichs innenpolitisch angeschlagener Präsident Macron verbucht den Kraftakt von Notre Dame, laut Elysée-Palast, jedenfalls als " französischen Erfolg". Die Kathedrale erstrahlt in neuem Glanz - und darin wollen sich am Eröffnungswochenende auch viele der rund 3.000 eingeladenen Gäste sonnen, unter ihnen 50 Staatschefs und Prominente. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier reist ebenso an die Seine wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj.

Im letzten Moment hat - via Truth Social - auch der designierte US-Präsident Donald Trump sein Kommen angekündigt. Macron habe mit der Restaurierung einen "tollen Job gemacht", so Trump. Paris dürfte während der Eröffnungsfeier einer Festung gleichen: rund 6000 Sicherheitskräfte sind im Einsatz.

Item URL https://www.dw.com/de/frankreichs-nationalheiligtum-restauration-in-rekordzeit/a-70846054?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Notre Dame - brennend (links) und während der Wiederaufbaus
Image source abaca/picture alliance || AFP
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Item 29
Id 70939968
Date 2024-12-03
Title Neue Erkenntnisse im Cannabis-Betrugsfall JuicyFields
Short title Neue Erkenntnisse in Cannabis-Betrugsfall
Teaser Vor anderthalb Jahren hatte die DW über einen internationalen Betrugsfall mit medizinischem Cannabis berichtet. Mehrere europäische Medien haben den Millionenbetrug nun erneut untersucht. Was haben sie herausgefunden?
Short teaser Die DW hatte über einen Millionenbetrug berichtet. Journalisten haben den Fall JuicyFields jetzt erneut untersucht.
Full text

Ein Schaden in Höhe von 645 Millionen Euro, Hunderttausende Geschädigte und die Drahtzieher auf der Flucht. Das ist die Geschichte von JuicyFields, einem Berliner Start-up, das zwischen 2020 und 2022 ein internationales Schneeballsystem aufgesetzt hat.

Die Betreiber hatten den Anlegern versprochen, medizinisches Cannabis anzubauen und sie an den Gewinnen zu beteiligen. Doch tatsächlich gab es kaum Pflanzen. Stattdessen nutzten die Drahtzieher die Gelder neuer Kunden, um vermeintliche Gewinne an ältere Anleger auszuzahlen.

Die DW hat den Betrugsfall in einem achtteiligen investigativen Podcast namens Cannabis Cowboysaufgearbeitet. Die Serie wurde auf Deutsch und Englischproduziert und mehrfach ausgezeichnet.

Im April 2024 haben europäische Polizeibeamte dann bei einem internationalen Großeinsatz mit mehr als 400 Beamten mehrere Personen verhaftet, die mit JuicyFields in Verbindung standen.

Journalisten aus mehreren europäischen Ländern haben jetzt nachgelegt und den Fall unter die Lupe genommen - darunter in Dänemark der TV- und Radiosender DR, in Schweden die Zeitung Svenska Dagbladet, in Österreich die Zeitung Der Standard und in Deutschland das Magazin Der Spiegel, die Internetpublikation Correctiv.org und der TV-Sender ZDF.

E-Mails aus dem Gefängnis

Die Recherchen haben im Kern die Ergebnisse des DW-Podcasts zu den Drahtziehern von JuicyFields bestätigt und liefern außerdem neue Details.

Kevin Shakir von Danmark Radio hat dem mutmaßlichen Boss von JuicyFields viel Recherchezeit gewidmet. Der Russe namens Sergej B. wurde im April auf der Dominikanischen Republik festgenommen, in Spanien soll ihm der Prozess gemacht werden. Ihm hat Shakir einen fünfteiligen Podcast gewidmet: "Das Phantom aus Russland".

Shakir hat herausgefunden, dass das Umfeld von Sergej B. schon vor JuicyFields zwei große Betrugsfälle organisiert hat. Einmal ging es um Müll-Recycling, das andere Mal um eine Kryptowährung. Jedes Mal verloren Investoren viel Geld.

"Hier ist einer in der Lage, große Projekte durchzuziehen und doch immer wieder zu verschwinden", sagt Shakir im DW-Gespräch. Auch sei Sergej B. in der Lage gewesen, auf ausgeklügelte Weise große Geldmengen in Kryptowährungen zu bewegen. "Deshalb stellt sich die Frage: Ist dieser Typ wirklich ein Einzeltäter? Oder ist er Teil von etwas Größerem?"

Im Auftrag des Kreml?

War Sergej B. also im Auftrag des Kreml tätig, sozusagen für Wladimir Putin? War JuicyFields ein Projekt, von dem der russische Staat profitiert hat? Auch in Cannabis Cowboys wurde die Frage nach möglichen Hintermännern in Russland gestellt, leider ohne befriedigende Antwort.

Gabriela Keller vom Investigativ-Portal Correctiv.org hat diese Frage genauer untersucht. Die Recherchen haben zwar keine 100-prozentigen Beweise für diese These erbracht, sagt Keller. Doch gebe es eine Reihe von Erkenntnissen, die einen Zusammenhang nahelegen.

Als Beispiel nennt Keller die Geschichte von Vitaly M., der unter dem Decknamen Wassily Kandisky zur Führungsriege von JuicyFields gehörte. Bei ihrer international koordinierten Razzia im April dieses Jahres wollte ihn die Polizei eigentlich verhaften, traf ihn unter seiner Meldeadresse aber nicht an.

Gemeldet war Vitaly M. im Russischen Haus der Wissenschaft und Kultur in Berlin. Diese Einrichtung ist so etwas wie die offizielle Kulturbotschaft des russischen Staates in der deutschen Hauptstadt.

Für Keller deutet das darauf hin, dass Vitaly M. dort Helfer gehabt haben könnte. "Denn irgendwoher musste er ja eine Bestätigung oder eine Mietvertrag haben. Die braucht man, wenn man im Einwohnermeldeamt eine Meldeadresse angibt."

Das Russische Haus habe auf ihre Anfrage aber jegliche Verantwortung zurückgewiesen und gesagt, Vitaly M. müsse Dokumente gefälscht oder falsche Angaben gemacht haben, so Keller zur DW.

Heute lebt Vitaly M. wieder im für ihn sicheren Russland. Auch dort gibt es laut Gabriela Keller Hinweise auf eine Nähe zur Politik: "Er hat kurz nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine eine Drohnenfabrik gegründet. Auf der Webseite ist aktuell das Wappen des russischen Verteidigungsministeriums abgebildet, dazu in großen Buchstaben: 'Der Sieg wird unser sein'."

Der falsche Elitesoldat

Schillernde Details rund um einen schwedischen Anwalt haben die Journalisten Frida Svensson und Erik Wisterberg recherchiert, Investigativreporter bei der schwedischen Zeitung Svenska Dagladet. Das Ergebnis ist als vierteiliger Podcast "Der Retter" auf Schwedisch zu hören. Eine Zusammenfassung auf Englisch gibt es hier.

Der Anwalt Lars Olofsson hatte versprochen, betrogenen Anlegern helfen zu wollen. Mit innovativen Sammelklagen wollte er nicht gegen die eigentlichen Täter vorgehen, sondern all jene, die das Betrugssystem möglich gemacht haben. Dazu zählte er Facebook, wo JuicyFields geworben hatte, und Banken, die das Geld der Anleger an die Cannabis-Plattform überwiesen haben.

Um Teil der Sammelklage zu werden, mussten betrogene Anleger eine Gebühr von anfangs 100, später 150 Euro an Olofsson zahlen. Mehrere tausend Opfer machten mit und zahlten.

Die Recherchen der schwedischen Investigativreporter ergaben nun, dass Teile von Olofsson Lebenslauf nicht der Wahrheit entsprechen.

"Er stellt sich als Super-Anwalt dar, mit 15 Jahren Erfahrung beim Aufdecken internationaler Betrugsfälle. Er sagt, er sei ein ehemaliger Elitesoldat und habe für den schwedischen Militärgeheimdienst gearbeitet", sagt Erik Wisterberg im DW-Gespräch. "Aber nichts von all dem ist wahr."

"In Wirklichkeit hat er eine Zeit im Gefängnis verbracht wegen wirtschaftlicher Vergehen. Auch in diesem Jahr stand er wieder vor Gericht. Seinen Klienten hat er davon aber nichts erzählt", so Wisterberg.

Die beiden Reporter haben den Anwalt mit ihren Ergebnissen konfrontiert. Wegen der Schwere der Vorwürfe hat auch die DW nochmals bei Lars Olofsson nachgefragt. Er ging aber nicht auf die angesprochenen Punkte und die Fragen ein. Stattdessen schrieb er, dass Journalisten nicht zu trauen sei.

Die Verfahren, die Olofsson in Sachen JuicyFields angestrengt hatte, sind im Sande verlaufen. Sie wurden von Gerichten abgewiesen, Olofssons Widersprüche blieben erfolglos.

Im Podcast der schwedischen Journalisten wird Olofsson als ein Glücksritter geschildert, der hofft, vom JuicyFields-Betrug selbst zu profitieren, u.a. durch die Teilnahmegebühren für seine Sammelklagen: "Die Opfer wurden einst von JuicyFields betrogen. Und jetzt sieht es danach aus, als würden sie erneut getäuscht", so Investigativ-Reporter Wisterberg.

Gegen die Festgenommenen ermitteln derzeit die Behörden in Berlin, Madrid und anderen Ländern. Anklage wurde bisher noch nicht erhoben.

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Image caption Maskierte Männer mit Joints melden sich Ende 2022 in einem Video auf der Webseite von JuicyFields zu Wort, mit verstellten Stimmen
Image source JuicyFields
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Item 30
Id 70945663
Date 2024-12-03
Title Droht Frankreich ein Finanz-Orkan?
Short title Droht Frankreich ein Finanz-Orkan?
Teaser Der Sturz der Regierung Barnier könnte Frankreich in eine Wirtschaftskrise stürzen. Zuletzt waren die Zinsen für die Refinanzierung der Staatsschulden gestiegen. Unternehmenspleiten häufen sich.
Short teaser Der Sturz der Regierung Barnier könnte Frankreich laut manchen Ökonomen in die Krise stürzen.
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Eigentlich hatte Frankreichs Regierung gehofft, die Wirtschaft des Landes wieder in ruhigere Fahrwasser steuern zu können. Nachdem die Prognose für das Staatsdefizit dieses Jahres überraschend von zunächst um die fünf auf über sechs Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung geschossen war, legte der frisch ernannte Premierminister Michel Barnier im Oktober einen Plan vor, das Haushaltsloch bis 2029 auf die im Stabilitätspakt der Europäischen Union (EU) vorgegebenen drei Prozent zu senken.

Im Juni hatte die Union ein außergewöhnliches Haushaltsdefizit-Verfahren gegen das Land eröffnet. Einen ersten Teil seines Plans wollte Barnier im Budget für 2025 durchs Parlament bringen, indem er das Gesetz an die Vertrauensfrage koppelt. Das war nötig geworden, weil die Regierung seit den vorgezogenen Parlamentswahlen vom Juli nicht mehr die größte Fraktion im Parlament stellt.

Präsident Macron hatte im Juni das Parlament aufgelöst, nachdem seine Partei in den EU-Parlamentswahlen nur halb so viele Stimmen wie die auf Platz eins gelandete Rechtsaußen-Partei Rassemblement National bekommen hatte. Doch am 4.12.2024 haben die Oppositionsparteien in einem Misstrauensvotum die Regierung gestürzt. Das beschert Frankreich nun eine Regierungskrise und könnte das Land in eine Wirtschaftskrise stürzen.

Von China abgehängt

Dabei schien es um die französische Wirtschaft zuletzt vergleichsweise gut bestellt. Dieses Jahr soll sie um 1,1 Prozent wachsen - das deutsche Bruttoinlandsprodukt soll laut Prognose der Bundesregierung um 0,2 Prozent sinken. Frankreichs Arbeitslosenquote steht bei 7,4 Prozent - was sich für das Land im historischen Vergleich sehen lassen kann. Auch die Inflation liegt bei rund zwei Prozent - vor zwei Jahren überstieg sie noch fünf Prozent.

Doch diese relativ positiven Zahlen könnten nicht über eine grundlegende Schwäche der französischen Wirtschaft hinwegtäuschen, so Denis Ferrand, Chef des Pariser Wirtschaftsforschungsinstituts Rexecode. "Französische - und europäische - Unternehmen haben seit 2019 erheblich an Wettbewerbsfähigkeit im Vergleich zu China verloren", sagt er zu DW. "In Europa sind die Produktionskosten im Schnitt um 25 Prozent gestiegen, in China nur um drei Prozent." Das sei hierzulande vor allem die Folge der zeitweise hohen Inflation, Zinsen und Energiepreise - vor allem nach dem Beginn der russischen Invasion der Ukraine im Februar 2022.

Strukturelle Krise

So herrsche ein "Klima der Zurückhaltung", meint Ferrand: "Wir befragen jedes Vierteljahr 1000 Chefs französischer kleiner und mittlere Unternehmen zu ihrem Investitionsverhalten. Ende Oktober gaben nur 36 Prozent von ihnen an, ihre Investitionen beibehalten zu wollen - 45 Prozent wollten sie verschieben und 18 Prozent gar nicht investieren. Eine solche Tendenz hatte sich zwar schon Anfang des Jahres abgezeichnet, aber die vorgezogenen Parlamentswahlen haben sie extrem verstärkt."

Auch eine Umfrage der britischen Beratungsfirma Ernest & Young (EY) unter 200 internationalen Unternehmenschefs Mitte November zeigte, dass rund die Hälfte von ihnen ihre Investitionsvorhaben in Frankreich reduziert oder verschoben hatten. Dabei ist Frankreich laut EY seit 2019 das Land Europas, dass die meisten internationalen Investitionen anzog.

Zurückhaltung unter Investoren bestätigt auch Philippe Druon, Konkursanwalt bei der Pariser Kanzlei Hogan Lovells. "Es ist zurzeit sehr schwierig, Aufkäufer für Unternehmen im Konkursverfahren zu finden. Davon habe ich im Moment 60 in Arbeit, was enorm viel ist", sagt er zu DW. "Die Zahl der Pleiten nähert sich jener während der internationalen Finanzkrise 2008." Laut Schätzungen sollen dieses Jahr rund 65.000 Unternehmen Konkurs anmelden - im Vergleich zu etwa 56.000 im vergangenen Jahr.

"Das ist zwar auch ein Nachholeffekt - Unternehmen müssen nun die während der Corona-Epidemie gewährten Darlehen zurückzahlen - aber nicht nur", unterstreicht der Experte. "Es handelt sich auch eine strukturelle Krise, zum Beispiel im Autosektor mit dem Übergang zu Elektroautos, aber auch im Immobiliensektor, in dem Büros nach langer Zeit des Home-Offices weniger gefragt sind." Außerdem hätten hohe Zinsen auf dem Kapitalmarkt Investitionen schwieriger finanzierbar gemacht, da Letztere dadurch weniger attraktiv erscheinen.

"Ein monumentaler Fehler"

Doch Anne-Sophie Alsif, Chefökonomin der Pariser Unternehmensberatung BDO, sieht die wirtschaftliche Lage als nicht so dramatisch an - wäre da nicht der politische Faktor. "Unsere Makro-Kennzahlen sind dabei, sich zu verbessern, aber wenn die Regierung fällt und es kein spezifisches Budget für 2025 gibt, könnten wir direkt in eine Wirtschaftskrise schlittern - es wäre eine Katastrophe", sagt sie gegenüber DW. "Das würde Investoren signalisieren, dass Frankreich unfähig ist, einen Plan umzusetzen, um seine Schulden abzubauen."

Nach dem erfolgreichen Misstrauensvotum würde wahrscheinlich der Haushalt 2024 für das nächste Jahr reproduziert. "Aber das war ja das Budget, mit dem unser Haushaltsloch auf über sechs Prozent gestiegen ist", betont Alsif. "Macrons Entscheidung, das Parlament aufzulösen, war ein monumentaler Fehler - nun sind wir gezwungen, mit einer Koalition zu regieren, aber das können wir in Frankreich einfach nicht. Unsere politische Situation ist extrem instabil."

Das relativiert Christopher Dembik, Investmentberater bei der Pariser Filiale der Schweizer Vermögensverwaltung Pictet Asset Management. "Es ist übertrieben zu sagen, dass Frankreich eine Finanzkrise droht", sagt er zu DW. "Das würde ja heißen, dass Frankreich nicht mehr in der Lage wäre, seine Schulden zu refinanzieren - so wie ab 2009 Griechenland."

Eine solche Tendenz sehe man bisher nicht auf den Finanzmärkten, so der Ökonom: "Manager von Amerikanischen Investmentfonds sagen mir, dass sie längst das politische Risiko in ihr Kalkül miteinbezogen haben, und der Spread - also der Unterschied der Zinsen auf zehnjährige Staatsanleihen im Vergleich zu Deutschland - liegt bei etwa 80 Punkten, Frankreich zahlt gerade einmal 0,8 Prozentpunkte mehr Zinsen als Deutschland. Das ist durchaus akzeptabel."

Immer noch "too big to fail"?

Die Zinsen für zehnjährige französische Staatsanleihen liegen zurzeit bei rund drei Prozent. Jedoch überstiegen diese jüngst zum ersten Mal in der Geschichte diejenigen Griechenlands. Und bis zur Ankündigung der vorgezogenen Parlamentswahlen lag der Spread noch bei etwa 50 Punkten.

Ökonom Ferrand vertraut deswegen weniger darauf, dass das Land nicht in eine Finanzkrise rutscht. "Bisher hat Frankreich immer darauf gesetzt, dass es "too big to fail" ist, also zu groß, als dass andere europäische Länder es pleite gehen lassen", sagt er. "Aber in Brüssel verliert man langsam die Geduld mit der französischen Unfähigkeit, die Schulden abzubauen." Letztere sind inzwischen höher als das französische Bruttoinlandsprodukt.

Der Beitrag wurde nach dem Misstrauensvotum vom 4.12.2024 aktualisiert.

Item URL https://www.dw.com/de/droht-frankreich-ein-finanz-orkan/a-70945663?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Nicht nur an der See bei Four d'Argenton schauen viele Franzosen in eine möglicherweise stürmische Zukunft
Image source Fred TANNEAU/AFP
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Item 31
Id 70940081
Date 2024-12-02
Title Volkswagen: Streik in der Krise
Short title Volkswagen: Streik in der Krise
Teaser Autobauer Volkswagen steckt tief in der Krise und jetzt streikt die Belegschaft: Sie fordert mehr Geld, während der Konzern weiterhin Werke in Deutschland schließen und tausende Stellen abbauen will.
Short teaser Die Belegschaft fordert mehr Geld, der Konzern besteht auf Werksschließungen und Entlassungen.
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Zuerst waren es nur wenige, aber dann kamen sie in Scharen: Hunderte von Arbeitern im Volkswagen-Werk in Hannover versammelten sich vor Tor 3, zeigten Plakate mit der Aufschrift "Ihr wollt Krieg, wir sind bereit!" und schwenkten die roten Fahnen der mächtigen Gewerkschaft IG Metall.

In seinem Hannoveraner Werk produziert VW leichte Nutzfahrzeuge, darunter auch den elektrischen Kleinbus ID.Buzz, den Nachfolger des legendären Bulli - die Abkürzung für Bus und Lieferwagen -, der hier mehr als 65 Jahre lang vom Band lief, jetzt aber in der Türkei produziert wird.

Die VW-Arbeiter in Hannover beteiligen sich an einem Streik, der fast alle VW-Werke in Deutschland erfasst.

Große Wut

"Für mich ist das Wichtigste, dass sie diesen Produktionsstandort nicht schließen", sagt Hassan Savas, der seit 24 Jahren für VW arbeitet und sich nun einer Menge von Arbeitern anschließt, die auf dem örtlichen Marktplatz demonstrieren. "Sie sollten Bonuszahlungen abschaffen. Oliver Blume hat 10,3 Millionen Euro verdient und was bekommen wir?", so Savas zur DW.

Hassan Savas ist wütend über die Entscheidung des VW-Managements um den Vorstandsvorsitzenden Oliver Blume, mehrere VW-Werke in Deutschland zu schließen und Tausende von Arbeitsplätzen abzubauen. Einen solchen Schritt hat es in der über 75-jährigen Geschichte des Autobauers noch nicht gegeben und er erfolgt, nachdem der Konzern Anfang des Jahres eine Beschäftigungssicherungsvereinbarung mit den Gewerkschaften aufgekündigt hat, die Entlassungen bis 2049 ausgeschlossen hatte.

Moritz ist Auszubildender im zweiten Lehrjahr und will seinen vollen Namen nicht veröffentlicht sehen. Viele VW-Arbeiter seien "wirklich wütend", sagt er der DW. "Auszubildende sollten mehr Geld bekommen und nach ihrer Ausbildung Verträge erhalten, aber das steht beides auf dem Spiel".

Lohnsteigerungen oder Entlassungen?

Während die Arbeiter im VW-Werk Osnabrück bereits einen neuen Tarifvertrag ausgehandelt haben und sich deshalb nicht am Streik beteiligen, hoffen die VW-Belegschaften an den anderen Standorten noch immer auf einen neuen Abschluss.

In Lohnverhandlungsrunde haben die VW-Arbeiter vor kurzem angeboten, Kosteneinsparungen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro zu unterstützen, falls das Management die Schließung von Werken in Deutschland ausschließt. Allerdings warnten sie ausdrücklich, dass Volkswagen ein historischer Kampf bevorstünde, wenn der Konzern mit drastischen Kürzungen fortfahren wolle.

Die Gewerkschaften fordern eine Lohnerhöhung von mindestens sieben Prozent, das VW-Management drängt dagegen auf Lohnkürzungen von bis zu zehn Prozent. Europas größter Autobauer will außerdem drei Werke schließen, um der sinkenden Nachfrage Rechnung zu tragen, insbesondere der nach Elektrofahrzeugen.

Das Unternehmen ist hart getroffen durch die hohen Herstellungskosten im Inland, eine stockende Umstellung auf Elektrofahrzeuge und die harte Konkurrenz auf dem Schlüsselmarkt China.

Die IG Metall kündigte am Wochenende an, dass die Arbeitskämpfe am Montag mit einer Reihe von sogenannten Warnstreiks, also kurzen Arbeitsniederlegungen, beginnen würden, nachdem das Unternehmen in der vergangenen Woche die Vorschläge der Gewerkschaft zum Schutz der Arbeitsplätze abgelehnt hatte.

Der VW-Konzern, dem zehn Marken von Audi und Porsche bis Skoda und Seat gehören, erklärte in einer Stellungnahme, er "respektiere die Arbeitnehmerrechte" und glaube an einen "konstruktiven Dialog", um "eine dauerhafte Lösung zu erreichen, die kollektiv getragen wird". Das Unternehmen habe aber für die Dauer des Streiks "Maßnahmen ergriffen, um dringende Lieferungen zu gewährleisten".

Die Tarifverhandlungen sollen am 9. Dezember wieder aufgenommen werden. Die Arbeiter versammelten sich in Hannover und sagten, sie unterstützten die Forderung der Gewerkschaft nach dem "größten Streik, den VW je erlebt hat". Die Gewerkschaften sind bereit, die gegenwärtigen Warnstreiks im kommenden Januar noch auszudehnen.

Schwergewicht der deutschen Industrie

Die Streiks bei VW finden statt, während die mächtige deutsche Autoindustrie angesichts sinkender Nachfrage aus Europa und harter Konkurrenz aus China in einer tiefen Krise steckt. Und weil der Wolfsburger Autobauer Deutschlands größter Industriearbeitgeber ist, hat eine Krise bei VW auch Auswirkungen im gesamten Land.

Im Jahr 2023 waren laut dem Verband der Automobilindustrie (VDA) fast 780.000 Menschen in der deutschen Autoindustrie beschäftigt, davon mehr als 465.000 in der Teile- und Ausrüstungsversorgung der größten Automobilhersteller, darunter VW, BMW und Mercedes.

Die Verlangsamung der deutschen Autoproduktion hat inzwischen auch andere Hersteller als VW erreicht. Der Premium-Autobauer Mercedes plant beispielsweise Kostensenkungen in Höhe von mehreren Milliarden Euro. Der Reifenhersteller Continental wird weltweit 7.150 Mitarbeiter entlassen, und der Zulieferer von Elektronikteilen Bosch plant, bis zu 5.550 Stellen abzubauen.

Auch der US-Automobilkonzern Ford hat angekündigt, in Deutschland 2900 Stellen abzubauen. Beim Zulieferer ZF sind 14.000 Stellen gefährdet, bei der Schaeffler-Gruppe, einem weiteren wichtigen Automobilzulieferer, sind es 4700.

Dieser Beitrag wurde aus dem Englischen adaptiert.

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Image caption Die VW-ler sind aufgebracht und - wie hier in Zwickau - streikbereit
Image source Jens Schlueter/AFP via Getty Images
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Item 32
Id 70903506
Date 2024-12-02
Title Wo bleiben die Games aus Afrika?
Short title Wo bleiben die Games aus Afrika?
Teaser Afrobeats sind weltweit erfolgreich. Afrikas Filmindustrie boomt. Jetzt fehlen eigentlich nur noch Videospiele. Aber die Branche tut sich trotz kreativen und engagierten Entwicklerinnen und Studiogründern schwer. Warum?
Short teaser Afrobeats sind weltweit erfolgreich, die Filmindustrie boomt. Jetzt fehlen eigentlich nur noch Videospiele aus Afrika.
Full text

Das hektische Handyspiel "Disney Iwájú: Rising Chef" will Spielerinnen und Spielern die nigerianische Esskultur näherbringen. Sie schlüpfen darin in die Rolle eines Kochs und servieren Streetfood oder andere typische Speisen aus Nigeria, zum Beispiel Jollof (Reisgericht) oder Puff Puff (frittierte Teigbällchen).

Hugo Obi hat das nigerianische Entwicklerstudio "Maliyo Games" gegründet, das sich auf Spiele für Smartphones und Tablets spezialisiert hat und hinter dem Kochspiel steht. "Meine Vision ist es, den Aufstieg der afrikanischen Spieleindustrie zu erleben", sagt er. "Meine größte Motivation besteht darin, anderen den Weg zum Erfolg zu ebnen." Hugo Obi ist in Nigeria aufgewachsen und kam zum Studieren nach London. "Ich bin nach Nigeria zurückgekehrt, weil ich den Menschen ermöglichen wollte, neue Fähigkeiten zu erlernen. In meinem Land und auf dem ganzen Kontinent gibt es viele Leute, die Spiele entwickeln wollen. Aber sie haben nicht die Mittel dazu, weil niemand eine Umgebung geschaffen hat, in der sie das tun können. Ich hatte das Gefühl, das ist etwas, was ich tun könnte."

Im Sommer hat er auf der Gamescom in Köln afrikanische Spiele beworben. Nun ist er als Speaker bei der "Africa Games Week" dabei, die bis 4. Dezember in Kapstadt stattfindet. Dort treffen afrikanische Studioleiterinnen und Spielentwickler auf Branchenkenner und Nachwuchstalente. Ziel der Initiative, die 2018 ins Leben gerufen wurde, ist es, die afrikanische Gaming-Branche zu vernetzten und ihr zum Wachstum zu verhelfen.

Die Geschichte der afrikanischen Spielebranche beginnt 1993

Aktuell gibt es in Afrika rund 100 Studios, schätzt Hugo Obi. Die meisten Menschen in der Spieleentwicklung arbeiteten noch daran, ihre Fertigkeiten weiterzuentwickeln. Nicht alle Studios hätten schon Spiele veröffentlicht. Anfang der 1990er-Jahre wurden die ersten Studios auf dem Kontinent gegründet.

2024 steckt die Branche noch immer in den Kinderschuhen, aber die Begeisterung fürs Gaming wächst stetig. Mittlerweile spielen mehr als 186 Millionen Menschen in Subsahara-Afrika digitale Spiele. Bis 2027 soll die Zahl der Spielenden auf dem gesamten Kontinent laut Prognosen des Statistik-Portals statista auf 212,7 Millionen steigen. Afrika hat eine junge Bevölkerung, und sie wird weiter wachsen. Gespielt wird überwiegend am Smartphone. PCs und Spielekonsolen sind teuer und in Privathaushalten nicht weit verbreitet.

Die Spielenden sind schon da, aber wo bleiben die Spiele?

Die meisten Studios liegen in Nigeria, Kenia und Südafrika. Die Entwicklerinnen und Entwickler programmieren für alle Plattformen, also für Smartphones, PCs und Konsolen, da sie nicht nur die afrikanischen Spielenden im Sinn haben, sondern die ganze Welt bedienen wollen. Bislang gelingt ihnen das allerdings nur selten. Spiele aus Afrika sind außerhalb des Kontinents weitgehend unbekannt. Ein großes Problem sei die mangelnde Distribution, erklärt Bukola Akingbade, Geschäftsführerin des nigerianischen Studios "Kucheza Gaming", dem Marktführer in Afrika. Spiele fertigzustellen und auszuliefern seien die größten Herausforderungen für afrikanische Studios, sagt die Branchenkennerin.

Dem liegen strukturelle Probleme zugrunde. Zum einen gibt es in den meisten Ländern keine Ausbildungsmöglichkeiten für junge Talente. Wer Spiele entwickeln will, muss sich das Programmieren oft selbst beibringen. Zwar gibt es sein einigen Jahren Fortbildungsprogramme für Entwicklerinnen und Entwickler wie "GameUp Africa" oder "GameCamp", gesponsort von Google und Microsoft, aber solche Angebote können ein Studium zum Game Designer oder Game Developer nicht ersetzen.

Da die Spielebranche in Afrika noch jung ist, fehlt es an Erfahrung, an Menschen, die erfolgreiche Spiele entwickelt und vertrieben haben und ihr Wissen an die nächste Generation weitergeben können. Weitere Herausforderungen, vor denen Entwicklerinnen und Entwickler in Afrika stehen, ist die Anschaffung von teuren High-End-PCs, eine oft instabile Stromversorgung und langsames Internet. Hinzu kommt mangelnde Unterstützung seitens der Politik, wie die Teilnehmenden einer Umfrage für den "Africa Games Industry Report 2024" angaben. Eine staatliche Games-Förderung gibt es nicht.

Spiele für ein gutes Leben

Trotzdem will Hugo Obi weitermachen. Denn die Spielebranche biete vielen Menschen Arbeit. "Ich will, dass die Leute Geld verdienen und ein gutes Leben führen können. Und eine globale Industrie ist viel robuster als eine lokale Industrie", sagt er. "Die Spiele, die wir machen, sind für uns eine Gelegenheit, der Welt neue Geschichten zu erzählen. Mit jedem Spiel, das wir machen, werden wir besser darin."

Bukola Akingbade kam eher zufällig über ihre Söhne in die Gaming-Branche. Denn ihre Jungs interessierten sich nicht mehr fürs Fernsehen, nicht für Filme, sondern schauten im Internet anderen Menschen dabei zu, wie sie Videospiele spielten. Das machte Bukola Akingbade neugierig. Sie stellte fest, dass Games für junge Menschen heute dieselbe Rolle einnehmen, die das Fernsehen in den 1980er- und 1990er-Jahren hatte. Daher kommt sie zu dem Schluss: "Wenn wir als Kontinent bei Videospielen keine Stimme haben, werden wir einen erheblichen Teil unserer Teenager-Generation und der Jüngeren verlieren."

"Wir müssen unsere Geschichten erzählen"

An Talenten, die sich Spiele ausdenken, sie gestalten und programmieren können, mangele es nicht, sagt Bukola Akingbade. Sie beobachtet in Nigeria eine große Begeisterung für Videospiele. "Wir müssen unsere Geschichten erzählen und unsere Spiele besser promoten", sagt sie.

Afrika ist reich an Kultur und an Mythen und Erzählungen, die die globale Spielerschaft noch nicht zigmal gehört hat. Das in Kamerun entwickelte und international beachtete Action-Rollenspiel "Aurion: Legacy of the Kori-Odan" hat schon 2016 gezeigt, was möglich ist. Das Spiel greift afrikanische Mode, Musik und Mythen auf und siedelt die Handlung in einem afrikanischen Fantasy-Setting an.

Games aus Afrika können neue Geschichten erzählen, andere Perspektiven einnehmen. Mehr erfolgreiche Spiele aus Afrika wären nicht nur für die Entwicklerstudios aus Afrika ein Gewinn, sondern auch für die Spielerinnen und Spieler auf der ganzen Welt.

Item URL https://www.dw.com/de/wo-bleiben-die-games-aus-afrika/a-70903506?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption "Maliyo Games"-Gründer Hugo Obi will afrikanische Games weltweit bekannt machen
Image source Kristina Reymann-Schneider/DW
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Item 33
Id 70380274
Date 2024-12-01
Title Joe Bidens letzte Auslandsreise führt nach Angola
Short title Joe Bidens letzte Auslandsreise führt nach Angola
Teaser Kurz vor seinem Abtritt von der politischen Bühne macht US-Präsident Joe Biden sein Versprechen wahr und besucht ein Land in Afrika. Die Wahl fiel nicht zufällig auf Angola.
Short teaser Der US-Präsident macht ein Versprechen wahr und besucht ein Land in Afrika: Die Wahl fiel nicht zufällig auf Angola.
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Es ist Joe Bidens erste Afrikareise seit seinem Amtsantritt in Washington im Januar 2021. Und es wird voraussichtlich auch seine letzte Auslandsreise als US-Präsident sein: Am diesem Montag (02.12.2024) wird seine Air Force One auf dem Aeroporto Internacional 4 de Fevereiro landen, dem internationalen Flughafen von Angolas Hauptstadt Luanda. Dann sollen verschiedene Verträge über die politische, militärische und vor allem wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den USA und Angola unterzeichnet werden. Der Besuch war ursprünglich für Oktober geplant, wurde dann aber wegen eines in den USA erwarteten Hurrikans verschoben.

"Diese Reise ist das Ergebnis jahrelanger intensiver diplomatischer Bemühungen des angolanischen Präsidenten", sagt der angolanische politische Analyst Cláudio Silva im DW-Interview. "Es ist zweifellos ein diplomatischer Sieg für João Lourenço, der sich seit Jahren um mehr Anerkennung auf internationalem Parkett bemüht. Nun darf er die Früchte seiner diplomatischen Bemühungen ernten."

Auf der Zielgeraden, kurz vor der US-Präsidentschaftswahl, sei die Zeit gekommen, die Unterschriften unter die Verträge zu setzen, so Silva. Es gehe um konkrete Wirtschaftsprojekte, die lange vorbereitet und von beiden Seiten als prioritär erachtet worden seien.

USA in Angola: Ehrgeizige Wirtschaftsprojekte

Zu den "großen Projekten mit US-Beteiligung" gehören der Bau und der Betrieb der Erdölraffinerie von Soyo im Norden Angolas, sowie das größte Photovoltaik-Projekt in Subsahara-Afrika, das "Rural Electrification Project", das auch mit deutschen Exportkreditgarantien unterstützt wird.

Das wohl wichtigste Vorhaben ist jedoch die Entwicklung des sogenannten "Lobito-Korridors". Dabei geht es um den Ausbau einer Bahnstrecke zwischen der Hafenstadt Lobito an Angolas Atlantikküste und dem Kupfergürtel in Sambia sowie den Kobaltminen im Süden der Demokratischen Republik Kongo. Die Trasse soll also die rohstoffreichen Regionen Zentralafrikas mit einem Seehafen verbinden.

Der Lobito-Korridor ist Teil einer US-Initiative "Partnerschaft für Globale Infrastruktur und Investitionen". Das von Joe Biden ins Leben gerufenen Programm ist eine Reaktion auf die "Neuen Seidenstraße", mit der China versucht, sich global Ressourcen zu sichern und Märkte zu erschließen.

Der Lobito-Korridor nutzt das 1344 Kilometer lange Netz der Benguela-Bahn, das Angola durchquert und mit dem kongolesischen Netz verbunden ist. Der Bau von 550 Kilometern Eisenbahnlinie in Sambia sowie 260 Kilometern Straßen ist ebenfalls geplant. Das Projekt erhält die Unterstützung der USA, der Europäischen Union und der Afrikanischen Entwicklungsbank, die 500 Millionen US-Dollar zum 1,6 Milliarden teuren Projekt beitragen wird.

"Die USA wollen die vielen wertvollen Rohstoffe in der Region nicht kampflos den Chinesen überlassen. Die Frage ist aber, ob die Amerikaner überhaupt mit den Chinesen mithalten können, die sich bereits seit Jahrzehnten in der Region engagieren und sich somit einen Riesenvorsprung erarbeitet haben", sagt Claúdio Silva.

China hat schon in den 1970er-Jahren damit angefangen, massiv in der Region zu investieren. Die chinesische Wirtschaft ist vor allem an Afrikas Rohstoffen interessiert - am Erdöl Angolas, am Kupfer Sambias und am Kobalt Kongos.

Angola ist mit rund 25 Milliarden US-Dollar bei China verschuldet und ist damit der größte Schuldner der Volksrepublik auf dem Kontinent. Dass China auf seine Kosten kommt, ist vertraglich garantiert: Die Schulden Angolas sollen vorzugsweise mit Erdöllieferungen beglichen werden.

USA wollen China in Afrika die Stirn bieten

Während die USA also eine Eisenbahn von Zentralafrika zum Atlantik fördern wollen, ist China bereits dabei, eine neue Strecke zum Indischen Ozean zu errichten: Anfang März 2024 vermeldete die Regierung in Peking den Ausbau der Tanzania Zambia Railway (TAZARA) für eine Milliarde US-Dollar.

Diese 1860 Kilometer lange Bahnlinie wurde vor rund 50 Jahren bereits von China finanziert. Sie führt vom Hafen Daressalam in Tansania bis nach Kapiri Mposhi südlich des sambisch-kongolesischen Kupfergürtels.

Für den Abtransport der Bergbauerzeugnisse gäbe es damit künftig zwei etwa gleich lange Alternativen: zum Atlantik (Lobito) oder zum Indischen Ozean (TAZARA), wobei die chinesisch-finanzierte Bahnlinie längst in Betrieb ist und jetzt sogar aufwendig modernisiert wird.

China, USA, Russland: Angola fährt mehrgleisig

"Der angolanische Präsident möchte mit beiden großen Playern in Afrika zusammenarbeiten und möglichst von der Konkurrenzsituation profitieren. Auch Russland sei im Rennen", sagt Politikanalyst Silva. Die angolanische Seite sei sich ihres geostrategischen Gewichts sehr bewusst und versuche diese Bedeutung und die Konkurrenz zwischen den Playern zu ihrem Vorteil zu nutzen. Es sei aber nicht immer leicht, zwischen den verschiedenen Partnern hin und her zu lavieren, fügt er hinzu.

So sei Präsident João Lourenço Anfang September entgegen vorherigen Ankündigungen nicht persönlich zum China-Afrika-Gipfel gereist. Wahrscheinlich aus Rücksicht wegen der angestrebten privilegierten Partnerschaft mit den USA, mutmaßt Silva, schickte er seinen Außenminister nach Peking.

Wenig später wurde bekannt, dass der für das Frühjahr 2025 geplante USA-Afrika-Gipfel ausgerechnet in Luanda stattfinden werde. Das habe der Führung in Peking wahrscheinlich nicht gefallen, vermutet Cláudio Silva. Trotzdem werde Angola weiterhin versuchen, gute Beziehungen mit allen großen Playern pflegen, so unterschiedlich sie auch sein mögen: seien es die Vereinigten Staaten, China oder Russland.

Diskussion um militärische Zusammenarbeit

"In letzter Zeit wird auch die militärische Zusammenarbeit zwischen den USA und Angola verstärkt", sagt der angolanische Afrikanist Paulo Inglês, der unter anderem an der Bundeswehruniversität München und an der Universität Bayreuth forschte. Im DW-Gespräch äußert Inglês sogar die Vermutung, dass die USA einen Militärstützpunkt im Norden Angolas errichten wollen.

Ein solcher Stützpunkt sei im Sinne der geostrategischen Interessen der Regierung in Washington: "Die Basis ist Teil eines Plans zur Errichtung eines Netzes von US-Militärbasen im Südatlantik. Und Angola ist, wie sollte es anders sein, Teil dieses Netzes", sagt Paulo Inglês.

Eine offizielle Bestätigung für Inglês' These gibt es allerdings nicht: Sowohl Angola als auch die USA bestreiten sogar, konkrete Pläne zur Errichtung eines amerikanischen Militärstützpunkts in Angola zu haben. Laut einer im Juni 2024 an die DW gesendeten Erklärung der US-Botschaft in Luanda gibt es "keine Pläne oder laufenden Maßnahmen zur Errichtung einer US-Militärbasis in Angola".

Dennoch bleibt Inglês bei seiner Aussage: Es werde bereits am Aufbau einer US-Basis in Soyo gearbeitet. Die Großstadt an der Mündung des Kongoflusses liegt in der nordangolanischen Provinz Zaire - in einem Ölgebiet an der Atlantikküste. "Soyo wurde ausgewählt, weil es in der Nähe von der ölreichen Exklave Cabinda und dem Kongo liegt und somit eine strategische Lage hat", sagt der Afrika-Experte.

Was die militärische Zusammenarbeit angehe, sei nicht China, sondern Russland der größte Gegenspieler der USA in der Region, so Inglês. Und er erinnert daran, dass Angola bereits 2014 ein weitreichendes Militärabkommen mit der Regierung in Moskau unterzeichnet habe.

Biden-Besuch ohne Auswirkungen für Angolas Bürger?

"Der Besuch von Präsident Joe Biden in Angola ist ohne Zweifel ein historisches Ereignis, aber über eines sollte man sich im Klaren sein: Dieser Besuch wird das Leben der Bevölkerung leider nicht unmittelbar zum Besseren verändern", sagt der angolanische Experte für internationale Beziehungen, Kinkinamo Tuassamba im DW-Gespräch. Von den amerikanischen Investitionen würden voraussichtlich nur einige wenige Angehörige der angolanischen Elite profitieren. So sei es auch mit den chinesischen Großprojekten gewesen.

"Die Wahrheit ist, dass die angolanische Jugend, die die Mehrheit im Land stellt, weiterhin arbeitslos ist und bleibt. Die großen Investitionen, die die Vereinigten Staaten versprechen, werden das leider nicht ändern", prognostiziert der angolanische Analyst. Es seien immer die Gleichen, die von den großen Projekten profitieren. "Das Geld wird leider nicht bei der einfachen Bevölkerung ankommen", so Tuassamba skeptische Einschätzung.

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Image caption Treffen der Präsidenten Lourenço und Biden im Weißen Haus (im November): Von langer Hand vorbereitet
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Item 34
Id 70882934
Date 2024-11-30
Title Taugt die G20 als globale Allianz gegen Hunger?
Short title Taugt die G20 als globale Allianz gegen Hunger?
Teaser Brasilien übergibt den G20-Vorsitz an Südafrika. Auch das Land am Kap will den Kampf gegen Hunger und Klimakrise fortsetzen. Die nächste Weltklimakonferenz findet 2025 in Brasilien statt. Der Gipfelmarathon geht weiter.
Short teaser Brasilien übergibt den G20-Vorsitz an Südafrika. Das Land am Kap will den Kampf gegen Hunger und Klimakrise fortsetzen.
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Gibt es eigentlich noch einen gemeinsamen Nenner, auf den sich die Weltgemeinschaft einigen kann? Die gute Nachricht lautet: Ja.

Zurzeit scheint dies die jüngst auf dem G20-Gipfel gegründete Initiative "Globale Allianz gegen Hunger und Armut"zu sein. Auf dem Gipfel in Rio de Janeiro hatten sich am 18. und 19. November die Regierungsvertreter der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer getroffen. Die dabei von Brasilien angeschobene Kooperation vereint mittlerweile 82 Länder, die EU und die Afrikanische Union. Hinzu kommen 24 internationale Organisationen, darunter die Weltbank und die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO, sowie 31 Nichtregierungsorganisationen.

An Geld soll es vorerst nicht mangeln. Die interamerikanische Entwicklungsbank (BID) will rund 25 Milliarden US-Dollar bereitstellen, um Projekte für Nahrungsmittelproduktion, soziale Ausgleichsprogramme, Schulspeisungen und Mikrokredite voranzutreiben. Bis 2030 sollen dadurch 500 Millionen Menschen aus der Armut geholt werden.

Hunger ist die Geißel der Menschheit

Deutschland gehörte zu den ersten Unterstützern der Initiative. Entwicklungsministerin Svenja Schulze brachte das Bündnis für globale Ernährungssicherheit in die Initiative ein. Es war vor zwei Jahren im Rahmen des deutschen G7-Vorsitzes gegründet worden.

Die informelle Gruppe der G20-Staaten ist eines der wenigen Foren, in denen sich Regierungsvertreter von Ländern mit Interessenskonflikten noch persönlich begegnen. Ursprünglich 2008 als Reaktion auf die Finanzkrise der 1990er Jahre in Asien gegründet, ist die Gruppe heute ein Forum, in dem der globale Norden und Süden, die G7 und die BRICS-Staaten zusammenkommen.

Flavia Loss de Araujo, brasilianische Expertin für internationale Beziehungen, betrachtet die G20-Präsidentschaft Brasiliens, die am 1. Dezember auf Südafrika übergeht, als Erfolg. "Brasilien erhielt Unterstützung bei den wichtigsten Themen, die es vorschlug: Hunger und Armut. Themen, die von den reichen Ländern stets vernachlässigt wurden", schreibt sie in einem Beitrag für die Online-Plattform The Conversation, einem Forum für den Austausch zwischen Wissenschaft und Journalismus.

"Viel Geld für Verteidigung und Energiewende"

In der Abschlusserklärung des Gipfelshatten die G20-Staaten eingeräumt, dass "die Welt mehr als genug Nahrungsmittel produziert, um den Hunger auszurotten". Es mangele nicht an Wissen, sondern an "politischem Willen, um die Voraussetzungen für einen besseren Zugang zu Nahrungsmitteln zu schaffen".

Lateinamerikaexpertin Claudia Zilla von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mahnt allerdings vor zu großen Erwartungen: "Im Moment fließt viel Geld aus den Industrieländern in die Verteidigung und die Energiewende, erklärte sie gegenüber der DW.

Zwar wurden Energiewende und Klimakrise in der G20-Abschlusserklärung ebenfalls erwähnt, allerdings bleibt es hier bei abstrakten Absichtserklärungen. Die Staaten "bekräftigten" darin, "die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen", und kündigten an, "die Klimafinanzierung aus allen Quellen von Milliarden auf Billionen zu erhöhen".

Vom G20-Gipfel in Rio zur Klimakonferenz in Belém

Angesichts der ernüchternden Ergebnisse der jüngsten UN-Klimakonferenz in Baku kommt auf Brasilien bei diesem Thema auch nach dem Ende der G20 Präsidentschaft eine Menge Arbeit zu. Denn die nächste Klimakonferenz, COP30, findet im November 2025 im brasilianischen Belém statt. Außerdem übernimmt Brasilien 2025 den Vorsitz der BRICS-Staaten.

Brasiliens G20-Nachfolger Südafrika wird während seiner Präsidentschaft das Thema Klimawandel wahrscheinlich fortführen, allerdings mit einem anderen Akzent. Nach Einschätzung von Schuldenexpertin Magalie Masamba von der Universität Pretoria könnte die Finanzierung von Klimaschutzmaßnahmen zum Beispiel mit der wachsenden Überschuldung vieler Länder in der Region verknüpft werden.

Schuldenerlass für Klimaschutz?

"Viele Länder Afrikas sind mit einer gravierenden Schuldenkrise konfrontiert, die Wirtschaftswachstum und Entwicklung bedrohen", schreibt sie in einem Beitrag für den afrikanischen Think Tank APRI. Der G20-Vorsitz Südafrikas sei eine einmalige Chance, Entschuldungsinitiativen mit dem Erreichen der nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs)und den kostspieligen Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel zu koppeln. Mit innovativen Finanzierungsinstrumenten sei dies möglich.

Dauerbrenner Mindeststeuer für Superreiche

Die von Brasilien während der G20-Präsidentschaft favorisierte Idee einer globalen Mindeststeuer für Superreiche, mit der sowohl Klimaschutzmaßnahmen als auch Sozialprogramme gegen Hunger und Armut finanziert werden könnten, dürfte vorerst nur in den Abschlusserklärungen auftauchen.

G20-Koordinator Gustavo Westmann, zuständig für internationale Beziehungen im brasilianischen Präsidialamt, gibt sich deswegen mit kleinen Schritten zufrieden: "Wir haben es geschafft, die Besteuerung von Superreichen als Thema zu etablieren", sagt er im DW-Gespräch. "Mehr allerdings auch nicht."

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Image caption Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva und Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa beim G20-Gipfel in Rio de Janeiro: Brasilien übernimmt 2025 den BRICS-Vorsitz von Russland, Südafrika übernimmt den G20-Vorsitz von Brasilien
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Item 35
Id 70924998
Date 2024-11-30
Title US-Sanktionen jagen russischen Rubel in den Keller
Short title US-Sanktionen jagen russischen Rubel in den Keller
Teaser Russlands Währung bricht ein, nachdem die USA Sanktionen gegen eine der größten Banken des Landes, die Gazprombank, verhängen. Inflation und Zinsen steigen, Fachleute fürchten eine Überhitzung der Kriegswirtschaft.
Short teaser Der Einbruch des Rubels nach US-Sanktionen gegen die Gazprombank setzt das Finanzsystem des Landes weiter unter Druck.
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Der russische Rubel stürzt ab. Mitte dieser Woche näherte sich der Dollar der Marke von 115 Rubel, der Euro kostete bereits mehr als 120 Rubel an der Börse Forex. Damit hat die russische Landeswährung seit Anfang August fast ein Viertel ihres Werts verloren.

Dmitri Pjanow, Topmanager der russischen VTB-Bank, macht neue US-Sanktionen gegen die Gazprombank für den Kursverfall verantwortlich. Die Sanktionen hätten Panikkäufe auf dem Devisenmarkt ausgelöst. Pjanow, rechnet mit einem Anstieg des Leitzinssatzes auf 23 Prozent.

Was steckt hinter den Kursverlusten?

Nicht nur die russische Währung büßt seit Ende des Sommers an Wert ein. Im selben Zeitraum fielen auch die Ölpreise und verringerten damit die Erträge aus dem wichtigsten Exportgut des Landes.

Das erhöht den Druck auf eine Kriegswirtschaft, die bereits unter der Last der massiv steigenden Inflation leidet. Präsident Wladimir Putin hat die Militärausgaben in den vergangenen 18 Monaten drastisch erhöht, um im Krieg gegen die Ukraine die Oberhand zu gewinnen.

Die Verteidigungsausgaben haben sich seit 2021 mehr als verdreifacht und sollen im Haushalt für das kommende Jahr auf einen Rekordwert von 13,5 Billionen Rubel (122 Milliarden US-Dollar bzw. 116 Milliarden Euro) steigen. Dies entspricht einer Anhebung von 25 Prozent.

Die russische Zentralbank geht davon aus, dass die Inflation in diesem Jahr 8,5 Prozent erreichen wird, das angestrebte Inflationsziel würde sich damit verdoppeln. Auch die Zinssätze liegen mit einer Rate im Oktober von 21 Prozent bereits auf einem Rekordhoch.

Der unvermittelte Absturz des Rubels in den vergangenen Tagen lässt sich auf die Sanktionen zurückführen, die die USA am 21. November gegen die Gazprombank verhängten.

Die Bank, eine der größten russischen Banken des Landes, gehört zu den wenigen großen Finanzinstituten des Landes, die bislang von Sanktionen verschont geblieben waren. Sie hat sich zu einer wichtigen Plattform für Zahlungen für russische Energielieferungen entwickelt und ist zugleich der wichtigste Zugangspunkt des Landes zum globalen Finanzsystem.

Der Ausschluss der Bank aus dem US-dominierten globalen Finanzsystem schränkt die Möglichkeiten des Kremls ein, seine Streitkräfte zu finanzieren. Zusätzlich erschwert es den Zugriff auf die Einnahmen aus Rohstoff- und Gaslieferungen an die letzten verbliebenden europäischen Kunden wie die Slowakei und Ungarn.

Die US-Regierung hat zudem damit begonnen, ausländische Banken dazu zu drängen, keine Geschäfte mehr mit Russland abzuschließen. Sie warnt deshalb vor sogenannten "sekundären Sanktionen".

Diese Vergeltungsmaßnahmen drohen Staaten, die sich Russlands System zur Übermittlung von Finanznachrichten (SPFS) anschließen. Das vom Kreml entwickelte System gilt als Alternative zum westlich dominierten SWIFT-System.

"Die russische Zentralbank versucht eiligst Wege zu finden, die Sanktionen zu umgehen", erklärt Anlageberater Chris Weafer. "Wie es scheint, suchen sie noch immer nach einer Lösung."

Weafer hat über 25 Jahre in Russland gearbeitet. Er ist überzeugt, dass die Sanktionen gegen die Gazprombank "gravierende Auswirkungen" auf den Haushalt haben werden, sollten keine Ausweichlösungen gefunden oder von den USA Ausnahmeregelungen für einige Länder gewährt werden.

Der in Moskau ansässige Wirtschaftswissenschaftler Oleg Buklemishev erklärte im Video-Podcast DW Novosti Show, die jüngsten Entwicklungen spiegelten den Druck wider, dem die russische Wirtschaft seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine ausgesetzt sei.

"Das Land leidet und schiebt Ex- und Importe von einer Richtung in die andere. Es trägt gigantische Kosten für Logistik und Vertrieb", sagt er. "All das ist irrsinnig teuer. Ich würde sagen, dass es naiv ist, zu erwarten, dass Russlands Währung und Russland stärker werden."

Wie steht es um die russische Wirtschaft?

Seit der Erhöhung der russischen Verteidigungsausgaben warnen Fachleute vor einer Überhitzung der Kriegswirtschaft . Zwar konnte das Land dank des Ausgabenhochs einen starken Anstieg des BIPs und rekordverdächtig niedrige Arbeitslosenzahlen verzeichnen, der Inflationsdruck aber ist gestiegen.

Von Russland in der letzten Novemberwoche veröffentlichte Zahlen machen einige der Probleme deutlich. So herrscht ein gravierender Arbeitskräftemangel im Land.

Dieser wird nicht nur durch den Einsatz vieler Arbeitnehmer als Soldaten im Krieg gegen die Ukraine verursacht, sondern auch durch die mehr als eine Million gut ausgebildeter Fachkräfte, die Russland wegen des Krieges verlassen haben. Die Reallöhne lagen in Folge im September im Vergleich zum Vorjahr um 8,4 Prozent höher.

Die steigenden Einkommen und Ausgaben führten zu einem starken Preisanstieg für wichtige Konsumgüter wie Butter. Aus Schutz vor Diebstählen liegt Butter in vielen Geschäften mittlerweile in mit Vorhängeschlössern gesicherten Kisten aus.

Was sagt die russische Regierung?

Die Zentralbank begründete ihre Entscheidung, Fremdwährungskäufe einzustellen mit "der Volatilität der Finanzmärkte". Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow führte die Schwankungen des Rubels auf die Stärke des US-Dollars und Bedenken des Marktes wegen der Sanktionen gegen Gazprombank zurück.

Sie seien nicht das Ergebnis "fundamentaler Faktoren" betonte er gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Interfax und fügte hinzu, die Lage werde sich "bald stabilisieren".

Es gibt auch Hinweise darauf, dass ein schwacher Rubel Putins massiven Ausgabeplänen entgegenkommt. Dem Kreml stünden mehr inländische Devisen zur Verfügung, denn Öl- und Gasexporte werden in der Regel in ausländischen Währungen bezahlt.

Der russische Finanzminister Anton Siluanow deutete dies bereits Anfang der Woche an. "Ich sage nicht, dass der Kurs gut oder schlecht ist. Ich sage nur, dass der aktuelle Wechselkurs sehr, sehr gut für Exporte ist", zitieren staatliche Nachrichtenagenturen den Minister.

Weafer zufolge betrachtet die Regierung den Kursverfall des Rubels als Chance, so viele Deviseneinnahmen wie möglich in Rubel umzuwandeln, bevor die große Haushaltserhöhung im Jahr 2025 ansteht.

"Sie wollen das Haushaltsdefizit möglichst niedrig halten", erläutert er. Die Regierung sähe möglicherweise Vorteile darin, dass Exporte wie beispielsweise Dünger für mögliche Käufer billiger werden.

Wie geht es weiter?

Russlands Wirtschaft hat sich schon früher düsteren Prognosen entzogen. Als die USA, die EU und Großbritannien Anfang 2022 Sanktionen gegen das Land verhängten, waren die Staatsoberhäupter überzeugt, dies würde Russlands Wirtschaft lähmen.

Die riesigen Öl- und Gasreserven verschafften dem Land jedoch während des gesamten Jahres 2022 erhebliche Einnahmen. Und dank seiner Fähigkeit, Sanktionen zu umgehen, konnte Russland im Jahr 2023 seine Einnahmen über lange Zeit aufrechterhalten.

Auch wenn Russland Zeit benötigte, Wege zu finden, die Sanktionen zu unterlaufen, war es doch immer wieder in der Lage, genau das zu tun. Während sich die europäischen Länder weitgehend von russischem Öl und Gas abwandten, vertiefte Russland seine Handelsbeziehungen mit China, Indien und anderen Ländern.

Dennoch gibt es Gründe für Moskau, sich Sorgen zu machen. Der fallende Ölpreis trifft die wichtigste Einnahmequelle des Landes. Neueste Daten weisen Fachleuten zufolge auf eine Überhitzung der Wirtschaft hin, die die finanzielle Stabilität gefährdet. Der Kreml steht also unter erheblichem Druck, die Situation so schnell wie möglich unter Kontrolle zu bringen.

Weafer ist der Meinung, ein schwacher Rubel mache es den Behörden schwerer, die Inflation zu bekämpfen. Er warnt jedoch auch, dass die Regierung bei Wertverlusten des Rubels letztlich immer einschritt, um den Wechselkurs zu korrigieren. "Durchaus möglich, dass das das vor Ende des Jahres wieder passiert", vermutet er.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

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Image caption Der russische Rubel verliert drastisch an Wert. Dies verbilligt zwar russische Exporte, verteuert aber Importe und heizt die Inflation an
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Item 36
Id 70922862
Date 2024-11-29
Title Würgt der unruhige Arbeitsmarkt den Aufschwung ab?
Short title Würgt der unruhige Arbeitsmarkt den Aufschwung ab?
Teaser In Deutschland drohen Firmen mit Massenentlassungen. Gleichzeitig beklagen Arbeitgeber einen Fachkräftemangel und werben um ausländische Arbeiter. Wie passt das zusammen oder liegt darin vielleicht auch eine Chance?
Short teaser In Deutschland drohen Massenentlassungen. Was bedeutet das für die Konjunktur?
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Die deutsche Wirtschaft schwächelt - und das wird sich auch so schnell nicht ändern. Besonders besorgniserregend beim Blick auf das kommende Jahr sind die Ankündigungen von Unternehmen aus "Vorzeigebranchen", etwa der Autobauer, der Stahlkocher oder aus der Chemieindustrie, tausende Stellen zu streichen oder Werke ganz zu schließen.

Beispiel Automobilindustrie: So will das Management von Ford Deutschland 2900 Stellen streichen, derzeit sind es noch rund 12.000. Der Autobauer Volkswagen plant neben der Schließung von deutschen Werken den Abbau mehrerer tausend Arbeitsplätze. Die Autozulieferer Bosch, Continental und ZF Friedrichshafen wollen ebenfalls Standorte schließen und Arbeitsplätze abbauen.

Das vom Münchner Ifo-Institut ermittelte Beschäftigungsbarometer sank im zu Ende gehenden Monat November auf 93,4 Punkte, nach 93,6 Zählern im Oktober. Immer mehr Firmen stellen niemanden mehr ein und erwägen stattdessen Entlassungen, erklärt Ifo-Forscher Klaus Wohlrabe: "Die Industrie versucht, der Krise mit einer Mischung aus Kurzarbeit und Arbeitsplatzabbau zu begegnen"

Langsames Siechtum

Ist diese Belastung des Arbeitsmarktes nun eine Folge der schwachen Konjunktur - oder gibt es dafür auch andere Gründe? Und darüber hinaus: Ist der Verlust von Arbeitsplätzen ein Hemmschuh auf dem Weg zu neuem Wirtschaftswachstum - oder ist diese Tendenz vielleicht sogar hilfreich im Kampf um mehr Fachkräfte?

Jedenfalls kann eine höhere Zahl an Erwerbslosen nicht zu mehr Wachstum führen: Steuereinnahmen sinken und staatliche Transferleistungen steigen. Marc Schattenberg, Volkswirt bei Deutsche Bank Research, schreibt dazu in einem Newsletter: "Die gegenwärtige wirtschaftliche Schwäche wird zunehmend auch am Arbeitsmarkt sichtbar. Arbeitsplatzsorgen drohen zudem, die Konsumstimmung stärker zu belasten."

Für Dominik Groll, Arbeitsmarktexperte beim Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW), sind die Arbeitslosenzahlen "ein Symptom für eine ganz breite Entwicklung. Sie steigen schon seit zwei Jahren und gleichzeitig stagniert die Wirtschaft." Der DW gegenüber fasst er zusammen: "Das ist so etwas wie ein langsames Dahinsiechen."

Deutschlands Bruttoinlandsprodukt klebt an der Null-Linie - von Aufschwung keine Spur

Die Stimmung wird immer trüber

Das Ifo-Institut gibt monatlich seinen Geschäftsklimaindex heraus, der bundesweit große Beachtung findet. Auch im Bericht für den November 2024 sucht man vergebens nach dem Licht am Ende des Tunnels: "Die Stimmung der Unternehmen in Deutschland hat sich eingetrübt", stellen die Ökonomen dort fest. Dies sei "vor allem auf die schlechtere Beurteilung der aktuellen Lage zurückzuführen. Die Erwartungen sanken geringfügig. Der deutschen Wirtschaft fehlt es an Kraft."

Bitter für die traditionell stark vom Export abhängige deutsche Wirtschaft sei die "Entwicklung des Auslandsgeschäfts. Am stärksten ist weiterhin die Metallindustrie betroffen, wo deutliche Rückgänge beim Export erwartet werden. Auch in der Automobilbranche rechnen die Unternehmen mit einer Verringerung, aber nicht mehr so stark wie noch im Vormonat. Im Maschinenbau gibt es seit Monaten eine leicht negative Tendenz."

Natürlich war es schon mal schlechter, aber von Hoffnung kündet das Geschäftsklima auch nicht.

Das deutsche Desaster

Auf die Frage, wie es dazu kommen konnte, wird meistens auf die Weltwirtschaft verwiesen. Das will Dominik Groll so nicht gelten lassen: "Das ist ein Deutschland-spezifisches Problem. In vielen anderen Ländern läuft es besser. Das heißt, äußerliche Gründe wie etwa die europäische Zinspolitik oder das internationale Umfeld sei schlecht - das kann nicht die Erklärung sein, dass Deutschland so heraussticht."

Dr. Ralph Solveen, vom Economic Research der Commerzbank, zieht zunächst zwar generelle äußere Umstände als Erklärung heran: "In erster Linie ist dies die Folge einer ungünstigen Konjunktur, also einer schwachen Nachfrage aus dem In- und Ausland." Doch er nennt der DW auch spezifisch deutsche Gründe, wie "die hohen Energiepreise, die zuletzt kräftig gestiegenen Arbeitskosten und die überbordende Bürokratie, die alle zusammen Deutschland als Investitionsstandort unattraktiver machen."

Krisenherd Arbeitsmarkt

Manch ein Optimist sieht in der steigenden Zahl von Entlassungen eine Chance, dem vielbeklagten Fachkräftemangel entgegenwirken zu können. Commerzbank-Ökonom Solveen widerspricht dem vehement. Zwar würden "derzeit auch Fachkräfte entlassen." Hauptsächlich aber, "passieren diese Arbeitsplatzverluste häufig in der Industrie, während die offenen Stellen eher im Dienstleistungssektor zu finden sind, wo andere Fähigkeiten erwartet werden.

Tom Krebs, Ökonomieprofessor an der Universität Mannheim, hat dagegen eigene Vorschläge zur Rekrutierung von Fachkräften. Auf eine entsprechende Frage der DW verwies er etwa auf "gut ausgebildete Frauen mit Kindern, die nur halbtags oder im Mini-Job arbeiten. Hier würde ein Ausbau der Ganztagsbetreuung an Kitas und Schulen helfen."

Eine andere Idee sei innerbetriebliche Weiterbildung. Dabei könnte eine "neue Tätigkeit ohne eine Zeit der Arbeitslosigkeit" erfolgen. Und vor allem ist ihm wichtig, dass zum Beispiel bei Volkswagen nicht die Arbeiter die Schuld an der Schieflage des Konzerns trügen, sondern dass "es klare Managementfehler" gab. Seine Forderung: "Zuerst einmal den gesamten VW-Vorstand austauschen, bevor wir Werksschließungen diskutieren."

Wieder attraktiv werden!

Bei der Analyse der aktuellen Krise ist Dominik Groll vom IfW wichtig, dass "die Schwäche vor allem in der Industrie zu beobachten ist, nicht bei den Dienstleistungen. Und da muss man schon von einer Strukturkrise sprechen." Als ein Beispiel nennt er die Konkurrenz aus Fernost: "Die Geschäftsmodelle, die in der Industrie viele Jahrzehnte erfolgreich waren, geraten unter Druck - unter anderem, weil etwa China die Maschinen, die es bislang aus Deutschland importiert hat, selbst herstellt."

Diese Strukturkrise könne man nur überwinden, wenn der Industrie von der Politik unter die Arme gegriffen werde: "Standortbedingungen müssen auf breiter Front verbessert werden: durch steuerliche Entlastung etwa oder durch Bürokratieabbau."

Ganz ähnlich sieht das auch Ralph Solveen von der Commerzbank. Der DW sagt er: "Das Wichtigste wäre, den Standort Deutschland wieder attraktiver für Investitionen zu machen." Dazu müssten die "Bürokratie abgebaut sowie Energie- und Arbeitskosten gesenkt werden. Letztere umfassen auch die Lohnnebenkosten wie Sozialbeiträge, die drohen, in den kommenden Jahren weiter massiv zu steigen."

Item URL https://www.dw.com/de/würgt-der-unruhige-arbeitsmarkt-den-aufschwung-ab/a-70922862?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/67154319_302.jpg
Image caption Gedränge bei einer Jobmesse der IHK Berlin am Stand der Bundesagentur für Arbeit
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Item 37
Id 67703113
Date 2024-11-29
Title 40 Jahre "Last Christmas": Was der Song mit Ostern zu tun hat
Short title "Last Christmas": Was der Song mit Ostern zu tun hat
Teaser Der Ohrwurm "Last Christmas" von Wham! gehört zu Weihnachten wie Plätzchen und Glühwein. Jetzt feiert er seinen 40. Doch der Song war ursprünglich für ein anderes Fest gedacht.
Short teaser "Last Christmas" gehört zu Weihnachten wie Plätzchen und Glühwein. Doch der Song war mal für ein anderes Fest gedacht.
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Gnadenlos fällt der Song vor Weihnachten über uns her - wir können uns ihm nicht entziehen: Er läuft im Radio, er tropft aus den Lautsprechern der Weihnachtsmärkte, im Supermarkt hat er seinen festen Platz zwischen den Werbespots mit den hauseigenen Weihnachtsschnäppchen. Keine Weihnachtsplaylist ohne "Last Christmas" - und somit auch keine Weihnachtsfeier.

Es gibt den Song auf Spanisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Japanisch, Schwedisch, Portugiesisch und vielen anderen Sprachen und Dialekten - wie etwa Kölsch. Die Coverversionen sind nicht zu zählen - von Salsa bis Metal, von Folk bis R & B. Jedes Jahr kommen neue hinzu, auch von prominenten Künstlerinnen und Künstlern - auch Taylor Swift hat ihn schon gesungen.

Als der Song 1984 erschien, schaffte er es in der Woche zu Weihnachten auf den zweiten Platz der britischen Weihnachtscharts. Der erste Platz ging damals an "Do They Know It’s Christmas?" von der Band Aid. Erst 2021 eroberte "Last Christmas" dann den Spitzenplatz in England. Vor 15 Jahren wurde das Video auf YouTube neu veröffentlicht, hat mittlerweile fast eine Milliarde Aufrufe und belegt damit Platz 31 der Top-Musikvideos aller Zeiten.

Darum geht es in "Last Christmas"

Die Hauptperson (Wham!-Sänger George Michael) lernt an Weihnachten eine Frau kennen, verliebt sich, schenkt ihr sein Herz und eine Brosche. Am nächsten Tag verlässt ihn die Frau. Ein Jahr später gibt es ein Wiedersehen: Eine Gruppe junger Menschen trifft sich in einer verschneiten Hütte, darunter George mit neuer Freundin und besagte Frau mit ihrem neuen Lover (Michaels Wham!-Partner Andrew Ridgeley). Beim Wiedersehen gibt es schmachtende Blicke zwischen den beiden, aber George muss mit ansehen, dass Andrew die Brosche trägt, die er seiner Angebeteten letztes Jahr geschenkt hatte. Er schwört sich: Dieses Jahr will er sich nur noch in jemanden ganz Spezielles verlieben, um sich vor weiteren Tränen zu schützen.

Das Musikvideo dazu ist an 80er-Jahre-Kitsch kaum zu überbieten - das liegt nicht nur an den schmachtenden Blicken der Hauptfiguren, sondern auch am üppig eingesetzten Weichzeichner und an den Fönfrisuren, die damals angesagt waren. Funfact: Das Video entstand im Schweizer Wintersportort Saas Fee. Die Hütte, in der die Handlung spielt, ist im Video nur von außen zu sehen. Hinein kam die Wham-Crew gar nicht, da sich im ganzen Dorf niemand fand, der den Schlüssel hatte. So hat man die Innenaufnahmen im Kulturzentrum von Saas Fee gedreht.

Liebeskummer kann Wunder bewirken

Im Sommer 1984 schrieb George Michael (1963 - 2016) ein paar Zeilen in ein Notizheft - so ist es überliefert - als er, gerade mal 21-jährig, zusammen mit seinem Bandkollegen Andrew Ridgeley im Bus auf dem Weg zu seinen Eltern war. Die beiden waren damals schon mit ihrer Band "Wham!" erfolgreich, hatten mit "Wake Me Up Before You Go-Go" bereits einen Nummer-1-Hit in England und den USA in der Tasche.

Auch Popstars können Liebeskummer haben - und so hatte George Michael die Geschichte seiner eigenen unglücklichen Liebe zu Papier gebracht. Allerdings hieß der ursprüngliche Titel "Last Easter" (Deutsch: Letzte Ostern) und nicht "Last Christmas".

Später im Haus der Eltern, so erzählt Ridgeley dem Sender "Smoothradio" im November 2023, sei George in seinem Zimmer verschwunden und ganz aufgeregt wieder aufgetaucht. Als habe er Gold entdeckt. Er spielte Andrew eine Melodie vor, die zu einem der bekanntesten Popsongs der Welt werden sollte.

"George hatte eine musikalische Alchemie vollbracht und die Essenz von Weihnachten in Musik destilliert", so Ridgeley. Mit der Geschichte einer verratenen Liebe habe er die Herzen berührt, dies sei eine Meisterleitung gewesen. Und so beschloss die Plattenfirma, den Song am 30. November 1984 als Weihnachtslied zu veröffentlichen - und nicht bis Ostern zu warten. Und so wurde aus "Last Easter" kurzerhand "Last Christmas".

Wie sich schnell zeigte, hat der Song einen Nerv getroffen - den Nerv von unzähligen Menschen, die an Weihnachten alleine zu Hause sitzen und um ihre verflossene Liebe trauern. Die Melodie, die Michael sich ausgedacht hat, ist so genial, dass man kaum merkt, dass der Song aus nur vier Akkorden besteht.

Fluchtversuch mit Whamageddon

Aber wie genial der Song auch immer sein mag - er zählt nicht nur zu den erfolgreichsten Weihnachtssongs aller Zeiten, sondern - zusammen mit Mariah Careys "All I want for Christmas" - für viele Menschen auch zu den nervigsten. Entziehen kann man sich diesem Lied in der Weihnachtszeit wohl kaum, dennoch gibt es Versuche:

Auf Facebook findet seit 2016 auf der Comedy-Seite "Whamageddon" jedes Jahr eine Challenge statt, in der dazu aufgerufen wird, alles zu tun, um diesen Song (im Original) zwischen dem 1. und dem 24. Dezember nicht zu hören. Wer dies geschafft hat, darf sich ab dem 24.12. "Überlebender" nennen.

Doch die Gefahr, von "Last Christmas" kalt erwischt zu werden, ist inzwischen enorm gewachsen. Auch in diesem Jahr - Hot Rotation im Radio ist also garantiert. Zudem sorgen die Social Media-Plattformen mit unzähligen Reels und TikToks dafür, dass auch wirklich niemand eine Chance hat, sich dem Lied zu entziehen.

Da hilft nur - zumindest in Deutschland - den Musiksender "Radio Bob" einzuschalten: Die versprechen eine "Last Christmas-freie Zone". Aufzuhalten oder gar auszulöschen ist der Song, der jetzt seinen 40. Geburtstag feiert, nicht - denn Liebeskummer und Weihnachten wird es geben, solange es Menschen gibt.

Dieser Artikel ist eine aktualisierte Fassung.

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Image caption George Michael und Andrew Ridgeley bildeten in den 1980er Jahren das Pop-Duo Wham!
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Item 38
Id 70810953
Date 2024-11-29
Title Fans freuen sich auf Tokio Hotel-Tour: "Ich warte seit 2008 auf euch"
Short title Tokio Hotel auf Tour: "Ich warte seit 2008 auf euch"
Teaser Als Teenieband wurden Tokio Hotel vor gut 20 Jahren über Nacht zu Weltstars. Als erwachsene Männer füllen sie immer noch die Hallen. Auch in Lateinamerika, wo ihre Fans der kommenden Tour entgegenfiebern.
Short teaser Die einstige Teenieband Tokio Hotel füllt immer noch die Hallen. Auch in Südamerika fiebern die Fans der Tour entgegen.
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2001 gründen vier Jungs aus Magdeburg, alle zwischen 13 und 15 Jahren alt, eine Band. Gustav Schäfer am Schlagzeug, Georg Listing am Bass, Tom Kaulitz an der Gitarre; sein Zwillingsbruder Bill Kaulitz tritt als Sänger ans Mikrofon. Ihr Stil: Viel Rock, etwas Gruftie. Die Musik ist eine Mixtur aus Pop und dem Indie- und Emo-Rock der 2000er-Jahre. Dass die Texte auf Deutsch sind, scheint kein Erfolgshindernis zu sein - die vier werden unter den Namen Tokio Hotel zu Weltstars, nicht zuletzt, weil die Musiksender MTV und VIVA sie rauf- und runterspielen.

Zugpferde sind die Kaulitz-Zwillinge; Bill mit seiner androgynen Erscheinung und täglich wechselnder Gruftie-Frisur wird sofort zum Mädchenschwarm, ebenso wie sein Bruder Tom als Hip Hop Kid mit Dreadlocks und Basecap. Die beiden sind noch keine 16 Jahre alt, als sie mit dem Song "Durch den Monsun" quasi über Nacht berühmt werden. Im August 2005 erscheint dann das Debütalbum von Tokio Hotel, das sofort die deutschen Charts erobert - und dann die internationalen. Tokio Hotel werden neben der Band Rammstein zu einem der bekanntesten Pop-Phänomene aus Deutschland.

Tokio Hotel polarisieren

Nicht alle finden diese Band so toll, wie die vielen Millionen Fans es vermuten lassen. Es gibt neben der oftmals hysterischen Schwärmerei auch viel Hass. Bill bietet die größte Angriffsfläche: ein geschminkter Junge mit lackierten Nägeln, der wie ein Mädchen aussieht. 2005 ist das vielen einfach "zu schwul". Die Menschen sind längst nicht so weit, wie sie es 20 Jahre später sein werden, Begriffe wie "queer" und "LGBTQ" gehören noch nicht zum Wortschatz.

Ein weiterer Kritikpunkt ist der Kommerz, der um die vier Teenager aufgebaut wird. Vermarktet wird nicht die Musik, es geht die meiste Zeit um die Aura von Bill Kaulitz. Das und die Tatsache, dass Bill und Tom Zwillinge sind, daraus lässt sich einfach viel Profit schlagen. Und so erscheinen sie auf gefühlt jedem Cover der damals noch angesagten Jugendzeitschrift BRAVO - Instagram und TikTok sind damals noch Science Fiction.

Die vier veröffentlichen mehrere Alben, darunter auch eins auf Englisch. Sie touren durch Deutschland, Europa und schließlich um die ganze Welt. Sie kassieren einen internationalen Award nach dem anderen.

"Versteckt" in Los Angeles

Die Schattenseiten des Megaerfolgs lassen dennoch nicht lange auf sich warten. Einerseits werden die Jungen von kreischenden Fans verfolgt, gejagt, gestalked, andererseits gehasst und gemobbt. Sie können keinen Schritt mehr ohne Schutz gehen, sie werden mehr und mehr abgeschottet. Fans belagern ihr Haus in Hamburg. Leute zelten vor den zwei Meter hohen Zäunen, trotz Security. Im Spätsommer 2010 bricht man bei ihnen ein. Das ist der Moment, an dem die Kaulitz-Brüder, inzwischen 21 Jahre alt, ihre Flucht beschließen. Über Nacht verlassen sie Deutschland und ziehen nach Los Angeles.

Der Umzug in die USA habe sie gerettet, erzählt Bill Kaulitz in der Netflix-Doku "Kaulitz & Kaulitz". Plötzlich können sie ohne schreiende Fanmassen wieder Dinge tun, die in Deutschland nicht mehr möglich waren: einkaufen, ins Kino gehen oder mit dem Hund raus. Die Anonymität der Stadt macht es ihnen möglich.

Die anderen Bandmitglieder, Gustav und Georg, sind in Deutschland geblieben, zeigen aber Verständnis für die Flucht der Zwillinge. Nach wie vor arbeitet die Band zusammen und geht auf Tour, Tokio Hotel ist nicht am Ende. Neue Songs entstehen, wenn auch eher sporadisch. Man arbeitet remote übers Internet oder fliegt für Aufnahmen hin und her. Zwischen den Alben gibt es jahrelange Pausen, die der Freundschaft zwischen den vier Musikern keinen Abbruch tun. Sie ändern ihren musikalischen Stil und verlassen das Rockgenre - stellen aber fest, dass sie mit dem harmlosen Mix aus Elektro, R'n'B und 80er-Jahre-Synthiepop nicht unbedingt punkten können.

Zu Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 kreieren sie eine neue Version ihres berühmtesten Songs - "Durch den Monsun" - und nennen sie "Monsoon 2020". "Damit hat sich ein Kreis geschlossen", sagt Tom Kaulitz. "Wir haben darauf zurückgeschaut, wo wir eigentlich herkommen und was seitdem passiert ist." In großem Stil tun sie dies mit ihrem letzten Album "2001". Auf diesem vereinen sie ihren musikalischen Werdegang - aber auch ihre persönlichen Herausforderungen und Veränderungen vom Anfang bis heute.

Hollywood-Lifestyle auf Netflix

Bill und Tom feiern ihr neues Leben in LA, auch nicht immer ganz unsichtbar - die Medien bekommen es natürlich mit, wenn die Kaulitz-Brüder ihrem Celebrity-Lifestyle frönen. Ganz weg vom Fenster sind sie auch in Deutschland nicht: Sie saßen 2013 und 2023 in den Jurys der TV-Casting-Shows "Deutschland sucht den Superstar" und "The Voice Of Germany", sind regelmäßig in Talk- oder Kochshows zu sehen.

Aus Los Angeles erreicht die Fans fast wöchentlich ein Podcast auf Deutsch - "Kaulitz Hills - Senf aus Hollywood", in dem sie einfach drauflosquatschen. Die Netflix-Serie "Kaulitz & Kaulitz" zeigt die beiden in ihrem Alltag, ob bei der Führerscheinprüfung oder einer Geburtstagsparty.

Die beiden kommen sympathisch rüber; Bill ist das schrille Wesen im 1970er-Glamrock-Style, er liebt den queeren Look und das Extravagante und ist auf der Suche nach der großen Liebe (die er inzwischen in dem deutschen Model Marc Eggers gefunden hat), Tom zeigt sich mit langer Mähne und Vollbart als der besonnene Bruder, dem Familie (verheiratet ist er mit dem deutschen Topmodel Heidi Klum) wichtiger ist als ausschweifende Partynächte in Beverly Hills. Trotz der verschiedenen Lebensentwürfe sind die beiden eineiigen Zwillinge ein unzertrennliches Duo, das unglaublich viel und laut lacht und Zuschauerinnen wie Zuschauer gute Laune bereiten kann.

Lateinamerika-Tour startet

Inzwischen sind die Musiker von Tokio Hotel zwischen 35 und 37 Jahre alt, und ihre Fans sind mit ihnen erwachsen geworden. Im Juni 2024 hat die Band auf dem Deichbrand-Festival im norddeutschen Cuxhaven gespielt. Sina und Janika sind Fans der ersten Stunde und feiern ihre älter gewordenen Idole. "Sie waren schon immer so wie jetzt: authentisch, aber jetzt können sie das gefühlt noch mehr ausleben", sagte Sina dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. "Hier vor der Bühne fühlt es sich an, als wären die Bandmitglieder Freunde, die man sich anschaut", ergänzt ihre Freundin Janika.

Ihre weltweiten Fans haben Tokio Hotel, die in 64 Ländern mit Platin ausgezeichnet worden sind, nicht verloren. Auch in Lateinamerika hat die Band eine große Fanbase. Schon 2008 kassierten Tokio Hotel bei den MTV Latin Awards kräftig Preise. Im selben Jahr war die Band erstmals auf Lateinamerika-Tour - und wollte 2020 wiederkommen. Nachdem die Konzerte wegen der Corona-Pandemie abgesagt wurden, ist es jetzt bald soweit: Die "Beyond The World-Tour 24" startet am 30. November in Los Angeles. Mexiko, Peru, Chile, Brasilien und Argentinien stehen ab dem 6. Dezember mit jeweils einem Konzert auf dem Tourplan. Die Fans können es kaum erwarten, die vier auf der Bühne zu sehen. Ein Fanclub aus Chile macht auf Instagram einen Countdown - mit teils gezeichneten Bildern der Band.

Von Lima bis Buenos Aires bereiten sich die Fans auf eine "Lights Action" vor: Fanclubs riefen auf Instagram alle Konzertbesucherinnen und -besucher dazu auf, bei bestimmten Songs ihre Handys leuchten zu lassen. In Brasilien haben sich für die Aktion direkt mehrere Fanclubs zusammengeschlossen:

Neben der Handy-Lightshow möchten sie die Musiker mit tausenden Bannern überraschen, die die Fans beim Song "Home" hochalten sollen. Auf denen stehen die Worte "You are our home". Wie sehr die lateinamerikanischen Fans die Band herbeisehnen, zeigt der Instagram-Post einer Brasilianerin aus São Paulo. Sie schickt Tokio Hotel ganz viele Herzen: "Ich warte seit 2008 auf euch. Ein Traum wird wahr", schreibt sie. 2025 geht's dann nach Europa, mit teils jetzt schon ausverkauften Hallen.

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Image caption Leadsänger Bill Kaulitz bei einem Tokio Hotel-Konzert im August 2024
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Item 39
Id 70908375
Date 2024-11-28
Title Was kostet es China, der Wirtschaft neuen Schwung zu geben?
Short title Was kostet es China, der Wirtschaft neuen Schwung zu geben?
Teaser China hat ein mehr als zwei Billionen Dollar schweres Konjunkturprogramm angekündigt, um das Wachstum anzukurbeln. Analysten meinen, das reiche nicht. Braucht China eine Art "Marshallplan"?
Short teaser China will mit einem zwei Billionen-Dollar-Konjunkturprogramm das Wachstum ankurbeln. Das reiche nicht, so Analysten.
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Chinas Wirtschaft hat immer noch Mühe, sich von der Pandemie zu erholen - fast zwei Jahre, nachdem Peking seine drakonischen Null-COVID-Maßnahmen aufgehoben hat. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2024 lag das Wirtschaftswachstum mit 4,8 Prozent nur knapp unter Pekings Ziel von fünf Prozent. In den Jahren vor der Pandemie wurden deutlich höhere Wachstumsraten erreicht.

Deflation, schwache Verbrauchernachfrage und ein gewaltiger Immobiliencrash haben den Wachstumskurs des Landes ausgebremst. Auch Handelsspannungen mit den Vereinigten Staaten haben die Exporte gedrosselt. Gerade die Ausfuhren hatten aber Chinas Aufstieg zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt vorangetrieben. Ob der Handel mit den USA während der zweiten Amtszeit von Donald Trump wieder anziehen wird, ist fragwürdig.

"China leidet unter Überproduktion und Unterkonsum", sagte George Magnus, wissenschaftlicher Mitarbeiter am China Centre der Universität Oxford und ehemaliger Chefvolkswirt der UBS, der DW. "[Die chinesische Führung, Anm. d. Red.] hat endlich erkannt, dass die Wirtschaft an Schwung zu verlieren scheint und dass das kein Ausrutscher ist."

Peking versucht gezielte Anreize zu schaffen

Im September pumpte Peking Liquidität in Höhe von 2,7 Billionen Yuan (370 Mrd. US-Dollar, 350 Mrd. Euro) in das Bankensystem, um die Kreditvergabe zu fördern, senkte die Zinssätze und kündigte neue Infrastrukturausgaben und Hilfen für die verschuldete Immobilienbranche an.

Anfang November kündigte die chinesische Regierung eine weitere Finanzspritze in Höhe von zehn Billionen Yuan an. So soll den verschuldeten Regionalregierungen, die in den letzten Jahren hohe Kredite für Infrastruktur- und Wirtschaftsentwicklungsprojekte aufgenommen hatten, geholfen werden.

Diese Maßnahmen lösten eine spektakuläre kurzfristige Rallye bei chinesischen Aktien aus - der CSI 300 Index der größten in Shanghai und Shenzhen notierten Aktien stieg um 35 Prozent. Die Anleger setzten darauf, dass Peking bald weitere Billionen Yuan ankündigen würde, um den Binnenkonsum anzukurbeln.

"Es wurde spekuliert, dass es endlich eine nachfrageseitige Politik zur Unterstützung des Konsums geben würde. Bislang hat sich nichts davon bewahrheitet", sagte Jiayu Li, Senior Associate bei der Beratungsfirma für öffentliche Politik Global Counsel in Singapur, gegenüber der DW.

Keine wirklichen Konjunkturmaßnahmen

Li sagte, das angekündigte Paket sei zwar "beeindruckend", ziele aber hauptsächlich auf bestehende Schulden und könne daher "nicht als neuer Konjunkturimpuls betrachtet werden". Ihrer Meinung nach unterschätze Peking die Schulden der lokalen Regierungen, die mit 14,3 Billionen Yuan angegeben werden. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt die Höhe eher auf 60 Billionen Yuan, was 47,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht.

Die neuen Hilfen sind wesentlich umfangreicher als die im Zuge der Finanzkrise 2008 bis 2009 eingeleiteten, die eine Höhe von etwa vier Billionen Yuan hatten und einen Umfang von fast 13 Prozent des BIP. Die aktuellen Maßnahmen machen etwa zehn Prozent des BIP aus. Während der Finanzkrise gelang es China das BIP-Wachstum trotz des weltweiten Abschwungs bei über acht Prozent zu halten.

Magnus ist der Ansicht, dass das jüngste Maßnahmenpaket nur eine "marginale Auswirkung" auf das Wachstum haben werde, da es den Haushalten der Lokal- und Provinzregierungen Erleichterung verschaffe. Er warnte jedoch davor, dass Peking "nur um den heißen Brei herumredet" und schon bald "radikale" Schritte unternehmen müsse, um viele strukturelle Probleme der Wirtschaft anzugehen.

Weitere US-Zölle könnten China empfindlich treffen

Andere China-Beobachter sind ebenfalls der Meinung, dass die jüngsten Schritte nicht weit genug gehen, zumal Trump bei seiner Rückkehr ins Weiße Haus im Januar mit neuen US-Zöllen auf chinesische Importe gedroht hat. Demnach werde er alle chinesischen Waren, die in die USA eingeführt werden, mit einer zusätzlichen Abgabe von zehn Prozent belegen, was den Gesamtzoll auf 35 Prozent anheben könnte.

Nach einer Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters unter Wirtschaftswissenschaftlern in der vergangenen Woche könnten neue US-Zölle das chinesische Wachstum um bis zu einen Prozentpunkt verringern.

"Der Markt hofft, dass Peking mit weiteren fiskalischen Maßnahmen bis zum nächsten Jahr [wenn Trump sein Amt antritt, Anm.d.Red.] wartet", sagte Li gegenüber der DW und fügte hinzu, dass viele fürchten, dass mögliche Konjunkturmaßnahmen bis dahin noch weniger wirkungsvoll sein könnten.

Chinesische Währung wird wahrscheinlich schwächer werden

Magnus glaubt unterdessen, dass neue Zölle "keine großen Auswirkungen" auf Chinas Wirtschaft haben werden, obwohl sie zu einer weiteren Schwächung des Yuan führen könnten.

Als Trump im März 2018 Zölle erhöht hatte, konnte China einen Teil der negativen Auswirkungen dadurch abmildern, dass es eine Abwertung des Yuan in Kauf nahm, was chinesische Exporte billiger machte. Die Währung fiel um etwa 12 Prozent gegenüber dem US-Dollar und erreichte im August 2019 den tiefsten Stand seit fast einem Jahrzehnt. Washington bezeichnete China daraufhin als "Währungsmanipulator", was monatelang zu noch höheren US-Zöllen führte, bis sich die Spannungen zwischen den beiden Mächten durch Verhandlungen etwas entspannten.

Braucht China einen Marshallplan?

Huang Yiping, Dekan der National School of Development an der Universität Peking und Mitglied des geldpolitischen Ausschusses der People's Bank of China, hat ein viel größeres Konjunkturprogramm gefordert, um die Inlandsnachfrage zu stabilisieren und anzukurbeln.

In einem Interview mit der South China Morning Post forderte er in diesem Monat, Peking solle einen "chinesischen Marshall-Plan" auflegen, ähnlich dem Wirtschaftshilfeprogramm, das die USA nach dem Zweiten Weltkrieg zum Wiederaufbau Europas einführten.

Huang schlägt vor, Chinas überschüssige Industriekapazitäten zu nutzen, um einkommensschwache Länder im globalen Süden beim Aufbau neuer Infrastrukturen und beim Übergang zu erneuerbaren Energien zu unterstützen. Der Vorschlag wird jedoch wahrscheinlich auf Gegenwind aus dem Westen stoßen, wo man schon jetzt über Chinas Einfluss in Afrika, Asien und Lateinamerika besorgt ist.

Wieviel Hilfe ist genug?

Andere Analysten glauben ebenfalls, dass Peking noch erhebliche Summen in die Wirtschaft pumpen müsse - die Rede ist von weiteren fünf Billionen bis 10 Billionen Yuan. Der leitende Wirtschaftswissenschaftler der Union Bancaire Privee (UBP) Asia, Carlos Casanova, erklärte diesen Monat gegenüber Reuters, dass ein Paket von 23 Billionen Yuan erforderlich sei.

Viele Analysten empfehlen außerdem, dass sich künftige Konjunkturmaßnahmen auf Sozialausgaben für Haushalte und mehr Hilfe für den angeschlagenen Immobiliensektor konzentrieren sollten, anstatt auf traditionelle Industrieinvestitionen und Infrastrukturprojekte.

Magnus stimmt zwar zu, dass die Regierung ihre Politik zur Ankurbelung der Binnennachfrage "feinjustieren" werde, ist aber skeptisch, ob sich China schnell von einer produktionsbasierten, exportorientierten Wirtschaft wegentwickeln werde.

Peking werde zwar viel Geld in die Hand nehmen, so Magnus, aber er geht davon aus, "dass die Priorität der Regierung sicherlich nicht darin besteht, das Wachstumsmodell zu ändern, um eine mehr konsumorientierte, wohlfahrtsorientierte Wirtschaft zu werden", bekräftigte er gegenüber der DW.

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert

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Item 40
Id 70901806
Date 2024-11-28
Title HIV-Medikament Lenacapavir - unglaublich sicher und teuer
Short title HIV-Medikament Lenacapavir - unglaublich sicher und teuer
Teaser Lenacapavir schützt sicher vor HIV-Infektionen und muss nur zweimal jährlich injiziert werden. Im Kampf gegen Aids könnte das Medikament zum echten "Gamechanger" werden. Bislang ist es allerdings unbezahlbar.
Short teaser Im Kampf gegen Aids könnte Lenacapavir zum echten "Gamechanger" werden. Bislang ist es allerdings unbezahlbar.
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Als die Lenacapavir-Testergebnisse bei der Welt-Aids-Konferenz im Juli 2024 vorgestellt wurden, war die Fachwelt begeistert: Im Kampf gegen Aids könnte Lenacapavir tatsächlich der lange erwartete "Gamechanger" sein, der den entscheidenden Durchbruch schafft.

"Ich bin total begeistert. Als diese Daten vorgestellt wurden, war im Saal eine elektrisierende Stimmung, die ich selten so erlebt habe. Das ist einfach grandios", sagt Prof. Dr. Clara Lehmann, die Leiterin des Infektionsschutzzentrums der Uniklinik Köln.

Was ist das besondere an Lenacapavir?

Das antiretrovirale Medikament hat eine fast 100-prozentige Wirksamkeit bei der Prävention und auch bei der Behandlung von HIV-Infektionen. Außerdem muss es nur zweimal im Jahr gespritzt werden, was die Verabreichung wesentlich vereinfacht. Anderen Prophylaxen wie Cabotegravir (CAB) werden alle ein bis zwei Monate injiziert; Truvada muss täglich als Tablette eingenommen werden.

Das neue Medikament ist nicht nur komfortabler. Vor allem dort, wo die Versorgung schwierig ist oder familiäre Zwänge und Stigmatisierung gegen eine tägliche Tabletteneinnahme sprechen, kann eine diskrete halbjährliche Injektion eine große Erleichterung sein, so Dr. Astrid Berner-Rodoreda, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Heidelberg Institute of Global Health. Davon würden vor allem Frauen und junge Mädchen profitieren, bei denen die HIV-Inzidenz laut UNAIDS immer noch außerordentlich hoch ist.

Wann erscheint Lenacapavir auf dem Markt?

Das vielversprechende Medikament des Pharmaunternehmens Gilead ist in der EU bereits zur Behandlung von HIV-Patienten zugelassen. Allerdings kann man das Medikament noch nicht kaufen, weil der Hersteller offenbar noch die Zulassung als antivirale Prä-Expositions-Prophylaxe (HIV-PrEP) abwartet. Dies dürfte allerdings bald geschehen.

Ob Lenacapavir dann aber wirklich den langersehnten Wendepunkt im Kampf gegen Aids markiert, ist trotzdem unklar. Denn zum Durchbruch wird Lenacapavir nur, wenn es auch flächendeckend eingesetzt wird. Und dafür müsste das Medikament bezahlbar sein.

Was wird Lenacapavir kosten?

Bislang ist Lenacapavir allerdings unerschwinglich teuer: Für die Behandlung verlangt der US-Pharmakonzern Gilead mehr als 40.000 Dollar pro Person und Jahr. Zum Vergleich: Andere HIV-Prophylaxen kosten im Schnitt 50-60 Euro im Monat, also etwa 600-700 Euro im Jahr.

Gilead rechtfertigt den hohen Preis mit den langjährigen Entwicklungskosten. Das wollen Experten und Aids-Aktivisten aber nicht gelten lassen. Astrid Berner-Rodoreda verweist etwa auf Berechnungen des britischen Pharmakologen Andrew Hill von der Universität Liverpool, der die tatsächlichen Lenacapavir-Herstellungskosten berechnet hat.

Selbst bei einer Gewinnmarge von 30 Prozent dürfe der Preis laut Hill nur bei jährlich 40 Dollar liegen, also ein Tausendstel von dem, was Gilead verlangt.

Wo wird Lenacapavir erhältlich sein?

Gilead verhandelt mit mehreren Generikaherstellern, um das Medikament künftig auch in Ländern mit niedrigem Einkommen günstiger herzustellen und zu verkaufen. Zu dem Lizenzgebiet sollen 120 Länder gehören, darunter auch einige Länder in Sub-Sahara Afrika.

Gleichzeitig aber gehören einige Länder mit mittlerem Einkommen wie Argentinien, Brasilien, Mexiko und Peru möglicherweise nicht zum Lizenzgebiet, obwohl Gilead auch dort das Medikament getestet hat. Dies werfe ethische und auch rechtliche Fragen auf, so Berner-Rodoreda.

Ähnlich sieht dies auch die stellvertretende Direktorin von UNAIDS, Christine Stegling. Bei der Vorstellung des UNAIDS-Jahresberichts sagte sie, dass solche "bahnbrechenden Neuerungen uns nur dann zu einem echten Rückgang der Neuinfektionen führen werden, wenn wir sicherstellen, dass alle Menschen Zugang zu ihnen haben".

Wie funktioniert Lenacapavir?

Lenacapavir ist ein sogenannter Kapsid-Inhibitor: Der Wirkstoff stört die Funktion der kegelförmigen Proteinhülle um das HIV-Erbgut und hemmt die Vermehrung des Virus.

Und das funktioniert - im Gegensatz zu den meisten antiretroviralen Wirkstoffen - in mehreren Phasen im Leben des HI-Virus.

Wie groß ist das HIV-Risiko global noch?

Eigentlich will die Internationale Gemeinschaft die HIV-Epidemie bis 2030 beenden. Aber davon sind wir weit entfernt: Nach wie vor tragen weltweit über 40 Millionen Menschen das Virus in sich. Rund 30 Millionen sind in Behandlung. Das andere Viertel erhält keine antiretrovirale Therapie, welche die Virusmenge im Blut auf nicht nachweisbare Werte reduzieren könnte.

Die Zahl der weltweiten HIV-Neuinfektionen ging zwischen 2010 und 2021 um 22 Prozent zurück. Allerdings infizierten sich 2023 laut dem neuen UNAIDS-Bericht immer noch rund 1,3 Millionen Menschen.

Die größten Rückgänge sind in Subsahara-Afrika und in Südasien zu verzeichnen. Dagegen steigen die Zahlen in Mittel- und Osteuropa, in Zentralasien, Nordafrika und im Nahen Osten weiter an.

"In der Prävention haben wir keine großen Fortschritte gemacht, das muss man wirklich offen sagen. Wenn wir wirklich bis 2030 die Aids-Epidemie beenden wollen, dann müssten wir die Neuinfektionen auf 370.000 nächstes Jahr senken", sagt Astrid Berner-Rodoreda.

Die HIV-bedingten Todesfälle gingen zwischen 2010 und 2021 ebenfalls um fast 40 Prozent zurück. Im vergangenen Jahr starben rund 630.000 Menschen an Aids-bedingten Krankheiten. Das ist der niedrigste Stand seit 2004.

Gibt es Alternativen?

Trotz intensiver Forschung gibt es zwar noch keine Impfung gegen HIV. Aber es gibt inzwischen einige hochwirksame Prä-Expositions-Prophylaxen, die eine HIV-Ansteckung verhindern. Auch wenn sie in der Anwendung nicht ganz so komfortabel sind, konnten die vorhandenen Prä-Expositions-Prophylaxen die HIV-Raten in einigen Ländern bereits deutlich senken.

Bislang haben sich diese günstigeren Mittel aber vor allem in wohlhabenderen Ländern bewährt. In ärmeren Ländern mit teilweise hohen HIV-Raten sind auch diese Prophylaxen oftmals zu teuer. "Nur 15 Prozent der Menschen, die PrEP benötigen, erhielten diese im Jahr 2023", heißt es im UNAIDS-Bericht.

Ausgewählte Quellen:

Global, regional, and national burden of HIV/AIDS, 1990–2021, and forecasts to 2050, for 204 countries and territories: the Global Burden of Disease Study 2021, veröffentlicht: 25.11.24

https://www.thelancet.com/journals/lanhiv/article/PIIS2352-3018(24)00212-1/fulltext

UNAIDS: Take the right path to end AIDS - World AIDS Day report 2024

https://www.unaids.org/sites/default/files/media_asset/take-the-rights-path-to-end-aids_en.pdf

Twice-Yearly Lenacapavir for HIV Prevention in Men and Gender-Diverse Persons

https://www.nejm.org/doi/full/10.1056/NEJMoa2411858

Item URL https://www.dw.com/de/hiv-medikament-lenacapavir-unglaublich-sicher-und-teuer/a-70901806?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Bislang ist Lenacapavir unerschwinglich teuer: Für die Behandlung verlangt der US-Pharmakonzern Gilead mehr als 40.000 Dollar pro Person und Jahr.
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Item 41
Id 70875630
Date 2024-11-28
Title Opernkomponist Giacomo Puccini: Frauenheld und doch ein Feminist
Short title Puccini: Opernkomponist, Frauenheld und doch ein Feminist
Teaser Hätte es vor 100 Jahren Popstars gegeben - Giacomo Puccini wäre einer gewesen. Seine Opernhits wie "Tosca" oder "Madama Butterfly" sind auch heute aktuell, sie gelten als Plädoyers gegen Tyrannei und sexuelle Ausbeutung.
Short teaser Puccinis "Tosca" oder "Madama Butterfly" sind aktuell wie nie - als Plädoyers gegen Tyrannei und sexuelle Ausbeutung.
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Die Nachricht, die gegen 11 Uhr morgens am 29. November 1924 in den Zeitungsredaktionen der Welt eintraf, verbreitete sich wie ein Lauffeuer: Giacomo Puccini, der berühmteste Opernkomponist seiner Zeit, starb in Brüssel an den Folgen einer Kehlkopfkrebs-Operation - kurz vor seinem 66. Geburtstag.

Genauer gesagt: an der postoperativen Behandlung. Das Herz des Kettenrauchers war zu schwach für die radiologische Medizin, die damals noch in den Kinderschuhen steckte.

Zehn Opern in 40 Jahren

Gerade mal zehn Opern komponierte Puccini in seinen vier Schaffensjahrzehnten. Sie reichten, um ihn zum Weltstar zu machen. "Manon Lescaut", "La Bohème", Tosca", "Madama Butterfly", "La fanciulla del West", "Il Trittico" - und natürlich das letzte und für viele größte Meisterwerk "Turandot" - sie alle wurden zu damaligen "Hits".

Hits sind es auch heute noch - nicht nur wegen berühmter Arien wie "Nessun Dorma" (Turandot) oder "È lucevan le stelle" (Tosca). Über zweitausend Mal werden Puccini-Opern jährlich weltweit neu inszeniert, unabhängig von Kriegen und Krisen. Damit liegt der große Italiener weit vor seinen Kollegen Gioacchino Rossini und Richard Wagner. Nur Giuseppe Verdi und Wolfgang Amadeus Mozart werden häufiger auf die Bühne gebracht, jedoch haben sie auch mehr Opern hinterlassen. So ist Puccini mit seinem relativ kleinen Oeuvre rein rechnerisch Spitzenreiter der Branche.

Perfektionist und Tragödienautor

"Ich habe mich eigentlich schon immer gefragt, warum Puccini so erfolgreich ist", überlegt der Kölner Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen im DW-Gespräch. Seine Puccini-Biografie ist soeben beim Laaber-Verlag in der renommierten Reihe "Große Komponisten und ihre Zeit" erschienen.

"Gründe für seinen Erfolg habe ich immer in der Qualität der Musik vermutet, und je mehr ich mich damit beschäftigt habe, desto mehr bin ich auch dahintergekommen, dass es tatsächlich an der Qualität der Musik liegt und nicht am schlechten Geschmack des Publikums, wie viele böse Zungen ja lange Zeit behauptet haben." Bereits seine dritte Oper "Manon Lescaut" bescherte Puccini 1893 den internationalen Durchbruch, bald avancierte er zu einem der erfolgreichsten und auch reichsten Künstler seiner Zeit.

Erfolgsrezept Perfektion

Drei Hauptmerkmale von Puccinis Arbeitsstil lassen sich als Gründe für seinen immensen Erfolg eruieren. Zum einen war der Musiker ein extremer Perfektionist, ein Meister "des Zuspitzens und des Maßhaltens", so Jacobshagen. Oder es ist so, wie der Komponist es einmal selbst treffend formulierte: "Ein guter Musiker muss alles können, aber nicht alles geben." Die technische Präzision seiner Partituren bewundern Dirigenten, Sänger und Orchestermusiker bis heute.

Zum zweiten hatte der Italiener ein gutes Gespür fürs Theatralische. "Puccini ist neben William Shakespeare, Giuseppe Verdi und Henrik Ibsen der meistgespielte Tragödienautor der Welt", stellt der Biograf Jacobshagen fest. Er arbeitete eng mit seinen penibel ausgewählten Librettisten und dem Verleger Giulio Ricordi, dem Motor hinter der Marke Puccini, zusammen. Und so erschuf der Komponist aus den klassischen Opernthemen wie Liebe, Leid und Tod immer wieder neue aufregende und tragische Geschichten.

Zum dritten verfügt Puccinis Musik über die einmalige Fähigkeit, den Hörer drastisch und unmittelbar anzusprechen. Wie es der Musikhistoriker Julian Budden anmerkt: "Kein Komponist kommunizierte so direkt mit seinem Publikum wie Puccini."

Spross einer Musikerdynastie

Nicht selten wird ein Vergleich zwischen Puccini und dem deutschen Komponisten Johann Sebastian Bach gezogen. Tatsächlich entstammte das italienische Operngenie wie auch Bach einer angesehenen und weit verzweigten Kirchenmusikerdynastie. Seit dem frühen 18. Jahrhundert prägten die Puccinis das kulturelle Leben des toskanischen Lucca.

Die beeindruckende Reihe von Puccinis komponierenden Vorfahren eröffnet sein Ururgroßvater, der Kirchenmusiker Giacomo Puccini der Ältere, geboren 1712 und ab 1739 Organist der Kathedrale und Kapellmeister in der damaligen Republik Lucca. Giacomo heiratete die Sängerin Angela Maria Piccinini. Deren Sohn Antonio und dann Enkel Michele waren in den nächsten hundert Jahren Musik-Chefs der Stadt.

Giacomo der Jüngere, das künftige Operngenie, geboren 1858 in Lucca, wuchs unter Musikern auf und wurde bereits mit 14 Jahren als Organist angestellt. Dank der Verwurzelung in der musikalischen Welt genoss er die bestmögliche Ausbildung und fand sehr früh seinen Weg in die Kunst, der ihn allerdings an der Kirchenmusik vorbei zur Oper führte.

Puccini und Mussolini: der Schande knapp entkommen

Den Vergleich mit Bach hält Musikwissenschaftler Jacobshagen jedoch für ideologisch belastet: "Diejenigen Autoren, die diese Parallele zuerst aufbrachten, machten es ja in der Zeit des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus." Es ging darum, eine kulturelle Verbindung zwischen Italien und Deutschland zu fördern, und "Puccini war ein idealer Kandidat, um mit einem der großen Heroes der deutschen musikalischen Vergangenheit in Verbindung gebracht zu werden".

Puccini pflegte nämlich, wie viele Vertreter der italienischen Eliten seiner Zeit, eine gewisse Sympathie für den aufkommenden Faschismus und sah in Mussolini einen Politiker, der "endlich Ordnung schaffen" würde.

Es kam auch zu einem persönlichen Treffen zwischen dem Komponisten und dem "Duce", auf Puccinis Initiative. "Vielleicht ist es also ein Glücksfall gewesen, dass der Komponist 1924 an diesem schrecklichen Krebsleiden gestorben ist", meint Puccini-Experte Jacobshagen im DW-Gespräch. "Denn sonst wären angesichts seiner Prominenz mit Sicherheit sehr viele Fotos in die Welt gekommen, die ihn gemeinsam mit Mussolini gezeigt hätten." Das hätte genügt, um den eigentlich unpolitischen Komponisten nachhaltig zu diskreditieren.

Puccini und Frauen: ein Drama für sich

Zerbrechlich, aber leidensstark und entschlossen - so sind die berühmten Puccini-Heroinen: Cio-Cio-Sun, Tosca, Mimi. Wer so ergreifende weibliche Charaktere schuf und ihnen die übelsten Machos gegenüberstellte, konnte nur ein Frauenversteher sein. Er war aber auch ein Gigolo.

"Puccini war gewiss ein attraktiver Mann", stellt Arnold Jacobshagen fest. Man braucht sich nur einige der Puccini-Bilder anzusehen, um ihm zuzustimmen: Edel und anmutig kommt der stets gut gekleidete Toskaner rüber. Seine Zeitgenössin Alma Mahler-Werfel fand sogar, Puccini wäre "einer der schönsten Menschen", die sie je gesehen habe. Puccini sei ein Don Juan, ein "Typus englischer Gentleman mit romantischem Blut". Alma, selbst eine begehrte Schönheit und die bekannteste Femme Fatale ihrer Zeit, kannte sich da bestens aus.

Um das Bild abzurunden: Der Komponist war ein passionierter Jäger und Technik-Narr. Er frönte seiner Passion mit immer neuen Käufen von Autos, Motorbooten und anderen Wundern des Fortschritts wie etwa einer Bewässerungsanlage für den Garten seiner Villa in Torre del Lago.

Das Operngenie mit starkem Sexappeal führte ein intensives und abwechslungsreiches Liebesleben, ohne viel Rücksicht auf seine Mitmenschen. Erst nach zwanzig Jahren wilder Ehe und auf Drängen seiner Familie heiratete er seine "Hauptgeliebte" Elvira, Mutter seines einzigen Sohnes Antonio. Zahlreiche Affären und Seitensprünge überschatteten diese Beziehung vor und erst recht nach der Eheschließung.

"Für allzu lange Zeit hast du aus mir dein Opfer gemacht, hast meine guten und liebevollen Empfindungen für dich mit Füßen getreten, indem du mich immer in meinen Gefühlen als Mutter und leidenschaftliche Liebhaberin beleidigt hast", schrieb Elvira ihrem Ehemann.

Die gescheiterte Liebe hatte einen tragischen Höhepunkt: Rasend vor Eifersucht, verfolgte Elvira ein Dienstmädchen, Doria Manfredi, und trieb die 23-Jährige in einen qualvollen Selbstmord. Elvira Puccini wurde in einem Prozess der Denunziation und des Rufmordes schuldig gesprochen und von ihrem Mann freigekauft.

Puccinis "Verhältnis zu den Themen Familie und Partnerschaft erweist sich als einigermaßen komplex", resümiert sein Biograf.

Puccini als Prophet

Neben Puccinis hollywoodreifem Privatleben aber ist sein größeres und wichtigeres Vermächtnis seine Kunst. Ein Beweis dafür ist auch deren Aktualität jenseits der Opernbühne, findet Arnold Jacobshagen. So hält er "Madama Butterfly" für einen "Aufschrei gegen sexuelle Ausbeutung und Kolonialismus".

Auch "Tosca" und erst recht "Turandot" seien als Plädoyers gegen Tyrannei und Willkürherrschaft zu verstehen, und heute, in den Zeiten von Donald Trump und Wladimir Putin, aktueller denn je, so der Puccini-Biograf. Puccinis Meisterschaft, Dinge auf den Punkt zu bringen, habe damit auch durchaus eine politische Dimension. Und eine zeitlose.

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Image caption Giacomo Puccini (1858-1924)
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Item 42
Id 70900378
Date 2024-11-27
Title Jobbörsen bringen Geflüchtete und Unternehmen zusammen
Short title Wie Jobbörsen Geflüchtete und Unternehmen zusammenbringen
Teaser Fachkräfte werden in Deutschland dringend gesucht - und viele Geflüchtete suchen Arbeit. In Berlin hat die Job- und Karrieremesse beide Seiten zusammengebracht - ein erster Schritt.
Short teaser Fachkräfte werden in Deutschland gesucht - und viele Geflüchtete suchen Arbeit. Wie beide Seiten zueinanderfinden.
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Latifa hat nichts dagegen, interviewt zu werden. Die afghanische IT-Professorin macht aber gleich klar, dass sie nicht viel Gutes über die Arbeitssuche in Deutschland zu berichten habe und ihren Nachnamen nicht nennen wolle. Latifa hat an der Technischen Universität in Berlin studiert und acht Jahre Erfahrung als Systemadministratorin. Hinzu kommen einige Jahre Berufserfahrung an einer Uni in Afghanistan. Geholfen hat ihr das alles nur wenig bei der Jobsuche in Deutschland. "Ich bin eine qualifizierte Person und habe genug Erfahrung", sagt sie der DW und wirkt frustriert. "Ich habe meinen Master-Abschluss gemacht, mein Fachgebiet auf Daten- und Big-Data-Wissenschaften gewechselt. Ich bin eine flexible Person. Ich kann Herausforderungen meistern und mit ihnen umgehen."

Nachdem sie bei ihrer Rückkehr nach Deutschland zunächst keine Arbeit gefunden hatte, absolvierte Latifa zusätzlich einen Bootcamp-Kurs an einer Universität in Paris, um sich mit den neuesten IT-Tools auf dem Laufenden zu halten und ein weiteres Diplom zu erwerben. "Danach habe ich mich wieder beworben, und wieder: keine Veränderung", sagt sie. "Ich wollte nicht zu Hause sitzen und nur Bewerbungen schreiben. Ich wollte zeigen, dass ich auf dem neuesten Stand und aktiv bin – also habe ich an verschiedenen Projekten gearbeitet."

All dies ist der Grund, warum Latifa hier ist; bei der Job- und Karrieremesse für Geflüchtete in Berlin. Die Messe wird gemeinsam organisiert von der weltweiten Job-Website Indeed und dem deutschen Zweig von Tent, einem Netzwerkdienst, der speziell Einwanderern und Geflüchteten bei der Arbeitssuche hilft. Latifa ist hier, um herauszufinden, was sie tun muss, um doch noch einen guten Job zu finden. "Ich möchte wissen: Was ist die Regel in Ihren Unternehmen? Seit zwei Jahren habe ich nicht einmal eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch bekommen", sagt sie enttäuscht. "Einerseits sagen sie, du musst arbeiten. Andererseits gibt es keine Gelegenheit dazu für uns."

Job-Messe als Start in eine Berufskarriere?

Mit etwas Glück könnte die Messe helfen. Personalvermittler von mehr als 40 großen Arbeitgebern aus verschiedenen Branchen sind vertreten. Darunter DHL, McDonald's, IKEA und Siemens Energy. Es gibt Dolmetscher vor Ort, einen Bereich, in dem Freiwillige den Menschen beim Erstellen von Lebensläufen helfen, und sogar einen Raum für Einzelgespräche.

Die Erfahrung zeigt, dass derartige Messen, wo Interessenten direkt mit Personalvermittlern sprechen können, hilfreich sein können. Ein Personalvermittler eines großen Logistikunternehmens erzählt, ein Problem sei, dass Lebensläufe oft nicht spezifisch genug seien. Für die Unternehmen sei es dann schwierig, solche Anfragen zu bearbeiten. Auf der Messe, sagt der Personalvermittler, hätten sie mehrere Personen gefunden, die für offene Stellen geeignet seien.

Christopher Lorenz ist Unternehmensberater bei Adecco, einer der größten Personalvermittlungsagenturen in Europa. Das Unternehmen ist auf der Messe vertreten. Er sagt, viele Unternehmen hätten Bedenken, wenn die Bewerber nicht gut Deutsch sprächen. "Bei vielen Unternehmen gibt es eine gewisse Angst", sagt er DW. "Sie machen sich Sorgen um Versicherungsfragen, darum, was passiert, wenn Anweisungen nicht richtig verstanden werden. Was ist, wenn es Unfälle gibt?"

Christopher Lorenz ist optimistisch: "Man muss nur mehr Arbeit investieren, um die Kommunikation mit solchen Unternehmen aufzubauen", sagt er. "Aber Sie wissen, wie es ist - alles, was neu in Deutschland ist, ist anfangs schwierig." Adecco, das mit der Bundesagentur für Arbeit zusammenarbeitet, hat sich zum Ziel gesetzt, bis Ende 2025 Arbeit für 10.000 Geflüchtete zu finden. Für 6000 habe er schon einen Arbeitsplatz, erklärt Lorenz.

Deutscher Arbeitsmarkt ist auf Zuwanderung angewiesen

Der deutsche Arbeitsmarkt ist einer aktuellen Studie zufolge langfristig jedes Jahr auf Zuwanderer "in substantiellen Umfang" angewiesen. Um ein ausreichendes Angebot zur Verfügung zu haben, wären bis 2040 jährlich rund 288.000 internationale Arbeitskräfte erforderlich, wie eine Analyse im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung ergibt. Aktuell falle die Erwerbsmigration erheblich geringer aus als benötigt.

Hemmnisse müssten abgebaut und Bedingungen für Migranten verbessert werden, sagt die Stiftungsexpertin für Migration, Susanne Schultz, bei der Präsentation der Studie. Deutschland müsse für ausländische Arbeitnehmer "attraktiver werden" könne sich ein Weiter-so nicht leisten.

Doch Deutschland hat den Ruf, bei Neuanstellungen sehr bürokratisch zu sein. Zwar versuchen sowohl die Regierung als auch die Unternehmen, dies zu ändern. Doch das dauert. Selbst der Einbruch bei der deutschen Wirtschaft scheint die Nachfrage nach Arbeitskräften nur wenig gedämpft zu haben. Der Bedarf bleibt riesig.

In diesem Jahr hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) berufsbezogene Sprachkurse eingeführt – bei denen Lehrer mit Unternehmen sprechen, um herauszufinden, in welchen Bereichen Sprachkenntnisse besonders nachgefragt sind. So könne man Deutschkurse an den tatsächlichen Bedarf und spezifische Erfordernisse anpassen.

Das Logistikunternehmen DHL zum Beispiel hat eine spezielle Sprach-App für seine Mitarbeiter entwickelt. Adecco hat eigene Übersetzungstools und kostenlose berufsbezogene Sprachkurse, die auch online durchgeführt werden können. Das spart Zeit. "Im Bereich Buchhaltung und Bürokommunikation bieten wir Sprachkurse an, in denen die Leute 'Büro-Deutsch' lernen können", sagt Lorenz. "Je mehr die Leute miteinander sprechen können, desto einfacher wird es für alle."

Ein Hindernis, das in Deutschland schwer zu überwinden ist, ist die Anerkennung ausländischer Qualifikationen - insbesondere in bestimmten Sektoren. Ausländische Fachkräfte wie Elektriker haben es beispielsweise sehr schwer im deutschen Arbeitsmarkt; auch weil die deutschen Branchenverbände in diesen Bereichen ihre eigenen Arbeiter schützen wollen.

Es gibt eine gewisse Spannung zwischen Behörden und Branchenverbänden sowie den Unternehmen selbst darüber, wer für was zuständig sein sollte - obwohl alle Seiten die Notwendigkeit erkennen, offener zu sein.

Der demografische Wandel

Christian Schmidt, Direktor von Tent Deutschland, kennt die Klagen der Unternehmer. Sie suchten nach neuen Wegen, beschwerten sich aber weiter über das "deutsche System". "Es gibt strukturelle und administrative Barrieren. Die Prozesse sind zu langsam, aber der entscheidende Faktor ist, dass die Personalabteilungen der Unternehmen einen Schritt voraus sein müssen. Sie können keinen Business-as-usual-Ansatz verfolgen, wenn sie mehr Geflüchtete in ihre Belegschaften integrieren wollen."

Hinzu kommt der beispiellose demografischen Wandel in Deutschland. Bis 2036 werden voraussichtlich etwa 13 Millionen Menschen in Deutschland aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden – das sind bis zu 30 Prozent. Gleichzeitig gibt es eine hohe Zahl von Migranten und Geflüchteten, die nur unzureichend oder gar nicht in den Arbeitsmarkt integriert sind.

"Unternehmen müssen ihre Prozesse ändern", sagt Schmidt. "Und daran arbeiten wir mit ihnen, wie zum Beispiel mit unserem Partner Indeed - damit unvollständige Lebensläufe oder Bewerbungen nicht sofort abgelehnt werden oder die aufgeführten Jobanforderungen tatsächlich mit dem übereinstimmen, was für die Ausübung des Jobs erforderlich ist. Flüchtlinge schneller in den Arbeitsmarkt zu bringen, ist ein Imperativ - für Unternehmen, für die Wirtschaft, für die Gesellschaft, für Flüchtlinge."

Was Latifa betrifft, so wünscht sie sich vor allem eine bessere "Schnittstelle" zwischen potenziellen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. "Wir können für alles Lösungen finden", sagt sie. "Wenn jemand wie ich hier ist - bin ich qualifiziert? Ja. Habe ich Erfahrung? Ja. Brauchen Sie uns zum Arbeiten? Ja. Also lasst uns Lösungen finden!"

Dieser Text wurde aus dem Englischen adaptiert.

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Image caption Job- und Karrieremesse Berlin am 21.11.2024
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Item 43
Id 70828720
Date 2024-11-27
Title Lieferkettengesetz: Beuten deutsche Autobauer serbische Arbeitnehmer aus?
Short title Beuten deutsche Autobauer serbische Arbeiter aus?
Teaser Psychischer Terror und Einsatz gefährlicher Chemikalien - das sind Vorwürfe serbischer Arbeiter gegen Zulieferer deutscher Autobauer. Das deutsche Lieferkettengesetz soll sie eigentlich schützen, aber funktioniert es?
Short teaser Psychischer Terror und Drohungen - serbische Arbeiter leiden unter den Zulieferern deutscher Autobauer.
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Lila Haare, durchzogen von grauen Strähnen, umranden ihr Gesicht. Sie blickt nach unten auf ihre Hände. Sie seien müde von der Arbeit, sagt Mirjana Nešić zur DW. Vor ihrer Schicht nähme sie Schmerztabletten, die aber kaum noch helfen würden. Der Druck im Werk sei hoch.

Mirjana spricht von "psychischer Folter", von unerreichbaren Normen, vom Verbot auf die Toilette zu gehen. Serbische Medien berichteten sogar, dass Arbeiter Windeln während der Arbeit tragen müssten. "Mir wird schlecht, wenn ich dort reingehe", erzählt Mirjana. Nach der Schicht brauche sie Medikamente zum Einschlafen.

Seit dreizehn Jahren arbeitet die Fünfzigjährige an der Produktionslinie bei der südkoreanischen Firma Yura in Leskovac, Serbien. Sie stellt Autokabel her, gut möglich, dass diese einmal in einem schicken Mercedes landen.

Mirjanas Erfahrung ist kein Einzelfall. Es gibt zahlreiche Medien und Gewerkschaften, die berichten, nicht nur der Zulieferer Yura, sondern auch das chinesische Unternehmen Linglong und der deutsche Zulieferer Leoni beuteten serbische Arbeitnehmer aus. Sie alle liefern an deutsche Autobauer, wie Mercedes, Audi, Volkswagen oder BMW.

Es herrscht Angst

Eigentlich ist seit 2023 das deutsche Lieferkettengesetz in Kraft, dass Arbeiterinnen wie Mirjana schützen soll. Unternehmen haben demnach die Pflicht, auf die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutz über die gesamte Lieferkette hinweg zu achten. Dazu zählt das Recht auf Arbeits- und Gesundheitsschutz, das Recht auf faire Löhne sowie das Recht, Gewerkschaften zu bilden.

In einer Korrespondenz der Unabhängigen Gewerkschaft der Metallarbeiter Serbiens mit Mercedes und Audi in diesem Jahr beschuldigte die Gewerkschaft das Unternehmen Yura, diese Rechte verletzt zu haben. Demnach seien Arbeiter oft erschöpft, würden miserabel bezahlt, seien gefährlichen Chemikalien ausgesetzt. Darüber hinaus werde das Streikrecht sowie das Recht auf gewerkschaftliche Versammlung verletzt.

Predrag Stojanović, der sich in der Metallarbeitergewerkschaft engagiert, hat das selbst erlebt, erzählt er der DW. Als er sich während der Corona-Pandemie für Schutzmaßnahmen einsetzte, wurde er entlassen. Stojanović klagte dagegen und gewann den Rechtsstreit. Er und Mirjana gehören zu den wenigen Arbeitern, die sich überhaupt trauen, mit der Presse zu sprechen. Mirjana streikte im Juni dieses Jahres mit etwa der Hälfte der Arbeiter im Werk in Leskovac: "Kolleginnen fragten mich, wie ich mich das trauen kann. Denken Sie etwa, keiner von uns hat Angst?" Aber es ginge nicht mehr so weiter, sagt Mirjana.

Audi und Mercedes gehen Hinweisen nach

Yura liefert an den deutschen Autobauer Audi, der zum Volkswagen-Konzern gehört, und an Mercedes. Audi antwortete der DW auf die Vorwürfe, die Umstände bei Yura "zu prüfen". Mercedes entgegnete, sie nähmen die Sache sehr ernst. Nachdem sie von den Vorwürfen erfahren haben, hätten sie auf eine Erklärung des Lieferanten gedrängt. Zusätzlich habe man ein unabhängiges Audit-Unternehmen beauftragt, ein international anerkanntes Nachhaltigkeits-Assessment durchzuführen. Im Falle von Missständen würden Maßnahmen ergriffen. Yura hat auf die Vorwürfe bis zum Redaktionsschluss nicht geantwortet.

Unzureichende Informationen

Das deutsche Lieferkettengesetz ermöglicht Betroffenen, Gewerkschaften und NGOs gegen Menschenrechtsverletzungen oder Umweltverstöße vorzugehen. Beim Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle in Deutschland, kurz BAFA, kann Beschwerde eingereicht werden. Das Amt kann auch selbst aktiv werden, wenn es Hinweise erhält, beispielsweise durch Presseberichte. Das Bundesamt überprüft die Vorwürfe und könnte Bußgelder gegen betroffene deutsche Unternehmen verhängen.

Nach Abschluss der Prüfung erhalten die Beschwerdeführer eine Rückmeldung. Die Gewerkschaft der Metallarbeiter hat ihre Beschwerde wegen der Ausbeutung bei Yura im Juni 2024 beim BAFA eingereicht, aber bisher noch keine Rückmeldung erhalten.

Annabell Brüggemann, Legal Advisor bei der Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), sagt der DW, sie kenne das aus eigenen Beschwerdeverfahren. Das BAFA prüfe zwar die Vorwürfe, aber die Betroffenen würden nicht in das Verfahren einbezogen. "Einige Fälle laufen bereits seit über einem Jahr, aber wir wissen nicht, was das BAFA von den Unternehmen verlangt“, erklärt Brüggemann.

Das BAFA gibt an, dass bisher 221 Beschwerden eingegangen sind, davon drei aus Serbien. 161 wurden als unbegründet eingestuft, damit bleiben 60 "aktive" Beschwerden. Bisher hat das BAFA keine einzige Sanktion verhängt.

Lautes Medienecho in Serbien

Serbische Medien wie N1, die Wochenzeitung Vreme , das Nachrichtenportal Južne und Gewerkschaften berichten, dass weitere Zulieferer Arbeitskräfte ausnutzen, wie etwa das deutsche Zuliefererunternehmen Leoni - die Leoni AG gehört seit September 2024 mehrheitlich dem chinesischen Konzern Luxshare - und der chinesische Reifenhersteller Linglong.

Leoni beliefert den bayrischen Automobilhersteller BMW und Linglong den Volkswagen-Konzern. Die DW hat mit zwei Arbeitern von Leoni gesprochen, die ebenfalls von ausbeuterischen Arbeitsbedingungen sprechen. Eine Arbeiterin bei Leoni aus Prokuplje erzählte, ihr Arbeitsalltag sei "psychischer Terror", es gebe ein "geringes Gehalt, absurde Normen und Schikanen."

Prüfen und Abwiegeln

Leoni bestreitet die Vorwürfe der Arbeitnehmer und entgegnet gegenüber der DW, dass "in jeder Organisation dieser Größenordnung vereinzelt unverantwortliche Personen gegen interne Regeln und Anweisungen verstoßen“ würden. Dies werde, so heißt es, streng disziplinarisch bis hin zur Kündigung geahndet.

BMW teilte mit, dass es die Vorwürfe sehr ernst nehme, diesen nachgehe und - nach der DW-Anfrage - eine Stellungnahme von Leoni verlangt habe.

Volkswagen entgegnete in einer kurzen Antwort, man äußere sich nicht zu "einzelnen potenziellen" Anschuldigungen gegen Lieferanten. Man würde jedoch allen Hinweisen gründlich und unverzüglich nachgehen.

Was fehlt im Gesetz?

Ein Problem sei, so Annabell Brüggemann, dass Arbeitnehmer häufig nichts von dem Lieferkettengesetz wissen, und auch nicht, "ob sie Teil der Lieferkette eines deutschen Unternehmens sind."

Zudem sei das Gesetz verwässert, verglichen mit dem, was ursprünglich geplant gewesen sei, sagt Hendrik Simon, Politikwissenschaftler am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ): "Es fehlt beispielsweise völlig eine Klausel zur zivilrechtlichen Haftung“.

Hoffen auf Brüssel

Das würde sich mit dem europäischen Lieferkettengesetz, das in diesem Jahr verabschiedet wurde, ändern. Opfer hätten dann die Möglichkeit, Unternehmen vor Zivilgerichten in den EU-Mitgliedstaaten auf Schadensersatz zu verklagen. EU-Recht genießt grundsätzlich Anwendungsvorrang gegenüber dem nationalen Recht.

Trotz der Missstände sehen die Experten, mit denen die DW gesprochen hat, im Lieferkettengesetz viel Potential. Entscheidend sei aber, wie stark das BAFA das Gesetz durchsetze. Zudem spiele die transnationale Vernetzung von Gewerkschaften und Zivilgesellschaft eine große Rolle, damit über Beschwerdemöglichkeiten informiert und Druck ausgeübt werden könnte.

Die Leoni-Arbeiterin hat trotzdem das Gefühl, dass sich nichts für sie ändern wird. "Ich werde alles dafür tun, um einen anderen Job zu finden."

Diese Recherche wurde durch Journalismfund Europe unterstützt.

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Image caption Eine Arbeiterin in der Produktionsstätte des Leoni-Werks in der Nähe von Niš, Serbien
Image source Jelena Djukic Pejic/DW
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Item 44
Id 70890042
Date 2024-11-27
Title Kaum bekannt: Pakistans überraschende Solar-Revolution
Short title Kaum bekannt: Pakistans überraschende Solar-Revolution
Teaser In Pakistan wurden in sehr kurzer Zeit sehr viele Solaranlagen installiert. Doch der explosionsartige Anstieg der Solarkraft birgt auch Gefahren. Bereitet Pakistans Regierung dem Solar-Boom bald ein Ende?
Short teaser In Pakistan wurden in sehr kurzer Zeit sehr viele Solaranlagen installiert. Doch der Solar-Boom birgt auch Gefahren.
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Der Ausbau der Solarenergie in Pakistan gleicht einer Explosion: Allein im Jahr 2024 wird das Land seine Solarkapazität schätzungsweise um 17 GW erhöhen – das entspricht mehr als einem Drittel der gesamten Kapazität der Stromerzeugung. Möglich wird das durch sehr billige Solartechnologie aus China, die ins Land importiert wird.

Pakistans Solarausbau sei "wahrscheinlich der extremste, der in jemals in einem Land in dieser Geschwindigkeit stattgefunden hat", sagt Dave Jones, der als Energieanalyst bei der britischen Denkfabrik Ember die globale Energiewende verfolgt. Laut Jones' Team wird das Entwicklungsland Pakistan neben großen, reichen Volkswirtschaften wie China, den USA und Deutschland zu den führenden Ländern bei der Installation von Solaranlagen gehören.

Doch Hauptreiber des Solarausbaus ist nicht etwa der pakistanische Staat, es sind die privaten Verbraucher, die Unternehmen und die Industrie. Alle wollen die günstige, erneuerbare Sonnenkraft möglichst schnell als Alternative zur unberechenbaren und teuren staatlichen Energieversorgung nutzen und installieren eigene Solaranlagen.

Das unzuverlässige pakistanische Stromnetz ist durch schlechte Infrastruktur und Unterversorgung geprägt. Millionen von Menschen müssen mit der ständigen Unsicherheit leben, ob sie dann wirklich Strom haben, wenn sie ihn brauchen. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine hat die Energiepreise ebenso in die Höhe steigen lassen wie überhöhte Investitionen in Wärmekraftwerke. Für Kredite des Internationalen Währungsfonds musste die Regierung zudem die staatlichen Energiesubventionen kürzen.

Es ist unklar, wie viel Solarkapazität bis Ende 2024 genau installiert sein wird, da staatliche Stellen angesichts des Tempos der privat betriebenen Umstellungnicht alles dokumentieren können. Aber für Haushalte im ganzen Land bringt die Energiewende schon jetzt eine Erleichterung. "Jetzt ist es für die Menschen in Pakistan kein Problem mehr, Strom für ihren Tagesbedarf zu produzieren", berichtet Jones.

Solarstrom von Pakistans Dächern: Lebensretter bei Hitzewellen

Als Shafqat Hussains Mutter während eines 28-stündigen Stromausfalls, der mit einer Hitzewelle zusammenfiel, fast starb, beschloss er, sich das zunutze zu machen, was seine Mutter fast das Leben gekostet hatte: die Sonne.

"In diesem Land gibt es keine Alternative", sagt Hussain, der mit seinen drei Kindern, seiner Frau und seinen Eltern im Zentrum von Islamabad lebt.

Die Stromausfälle seien vor allem in den Sommermonaten ein großes Problem", erzählt Hussain. "Wenn du keinen Strom hast, kannst du die Klimaanlage vergessen. Ihre Ventilatoren funktionieren nicht. Die Kühlschränke sind nicht in Betrieb. Man hat nicht einmal kaltes Wasser zu trinken."

Hussains Mutter musste zwei Tage im Krankenhaus bleiben, um sich von dem Hitzschlag zu erholen, den sie an jenem heißen Sommertag ohne Strom im Haus erlitten hatte. Nach diesem Schlüsselerlebnis beschloss Hussain, Sonnenkollektoren auf seinem Dach zu installieren. Ein Kollege empfahl ihm, bei einem lokalen Unternehmen zu kaufen, das die Paneele aus China importierte.

Seitdem sank die Stromrechnung der Familie um etwa 80 Prozent, einen Stromausfall gab es nicht mehr. Sie freuten sich jetzt über das "neu gewonnene Gefühl an Sicherheit", sagt Hussain.

Pakistanischer Solar-Boom bereitet dem Stromnetz Schwierigkeiten

Der Solar-Boom bringt Pakistan auf einen besseren Weg, sein angestrebtes Klimaziel von 60 Prozent Erneuerbarer Energie bis 2030 zu erreichen. Doch der massive Ausbau der Solarkraft bringt auch Komplikationen mit sich.

Da immer mehr Menschen ihren eigenen Energiebedarf tagsüber mit Solarstrom decken, ist der Nachfrage an Strom aus dem Netz erheblich zurückgegangen. Und das bereitet den Betreibern des wichtigsten nationalen Stromnetzes erhebliche Probleme.

"Die Kraftwerke wurden so geplant und finanziert, dass sie eine Mindestanzahl von Stunden laufen", erklärt Energieexperte Jones. Da diese Mindeststunden nicht mehr verbraucht werden, werde der Strom für die verbleibenden Verbraucher erheblich teurer, so Jones. Zudem führe die gesunkene Nachfrage auch zu grundsätzlichen Problemen im Netz, da die Betreiber nur schwer vorhersagen könnten, wie viel Energie sie wann liefern müssten.

Sollte die pakistanische Regierung diese Auswirkungen des privaten Solar-Booms als zu störend einstufen, könnte das den Aufschwung abwürgen, warnt Jones. "Es besteht die Gefahr, dass Pakistan ein generelles Verbot für weitere Solaranlagen verhängt."

Sinkende Herstellungskosten beflügeln chinesische Solarexporte

Die Solar-Revolution in Pakistan ist nur möglich, weil die Kosten für Solarmodule drastisch gesunken sind. Allein in den letzten 15 Jahren hat sich ihr Preis um 90 Prozent verringert. Die meisten billigen Solarmodule werden von China verkauft, dem weltweit führenden Hersteller von Photovoltaikmodulen. Innerhalb von vier Jahrzehnten hat sich die Solarenergie in den meisten Ländern der Welt von einer der teuersten zu einer der billigsten Stromquellen entwickelt.

Pakistan ist nicht das einzige Land, das die kostengünstige Alternative nutzt. Im Laufe des Jahres 2024 beobachtete Jones' Team bei Ember eine hohe Zahl chinesischer Solarexporte nach Saudi-Arabien, auf die Philippinen, in die Vereinigten Arabischen Emirate, nach Thailand, Südafrika und Oman.

"Sie ist transformativ und erschwinglich", sagt Azeem Azhar über die Solartechnologie. Der Autor, Unternehmer und Gründer der Technologie-Forschungsgruppe Exponential View vergleicht den exponentiellen Kostenrückgang der Solartechnologie mit der Revolution in der Computertechnik in den 1980er Jahren. "Was wir damals sahen, war eine Ausbreitung der Computertechnik in allen unseren Volkswirtschaften sowie eine Demokratisierung dieser Technologie", so Azhar.

Die nächste Schwelle der pakistanischen Energiewende werde die Batteriespeicherung sein, prognostiziert Azhar. Während Solarmodule tagsüber Strom erzeugen können, würden Batterien es den Haushalten ermöglichen, Energie für den nächtlichen Gebrauch zu speichern.

"Wir haben die Preise für Batterien noch nicht so weit gesenkt, dass wir uns auf die Batteriespeicherung verlassen können. Aber das wird in den nächsten Jahren geschehen. Die Preise für Batterien werden sehr, sehr stark sinken", so Azhar.

Dieser Artikel ist eine Auskopplung aus einer Folge des DW-Podcasts Living Planet. Hier geht es zur Podcast-Version (englisch) : Die versteckte Solarrevolution, die Experten verblüfft

Adaption aus dem Englischen: Jeannette Cwienk

Item URL https://www.dw.com/de/kaum-bekannt-pakistans-überraschende-solar-revolution/a-70890042?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Pakistan erlebt einen regelrechten Solarboom - Privatleute installieren Solarmodule auf ihren Dächern
Image source Manaf Sadique/DW
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Item 45
Id 70898235
Date 2024-11-27
Title VW trennt sich von umstrittenem Werk in China
Short title VW trennt sich von umstrittenem Werk in China
Teaser Volkswagen steht schon lange wegen seines wirtschaftlichen Engagements in der Uiguren-Provinz Xinjiang in der Kritik. Von Menschenrechtsverletzungen ist die Rede. Nun zieht sich der VW-Konzern aus Xinjiang zurück.
Short teaser Der Standort war umstritten. Von Menschenrechtsverletzungen ist die Rede. Nun zieht sich VW aus Xinjiang zurück.
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VW war in der Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas unter Druck geraten, weil Menschenrechtler immer wieder eine systematische Unterdrückung der dort lebenden Uiguren beklagen. Dem Unternehmen war sogar vorgeworfen worden, in Xinjiang von Zwangsarbeit zu profitieren. Nun hat sich der deutsche Automobilkonzern von dem Standort getrennt.

Das Werk in Urumqi, das mit dem chinesischen Staatskonzern SAIC als Partner betrieben wurde, sei verkauft worden, teilte Volkswagen mit. Käufer ist das chinesische Staatsunternehmen SMVIC, das im Gebrauchtwagengeschäft tätig ist.

Der Standort Urumqi kratzte am Image von Volkswagen. Aus der Region gibt es seit längerem Vorwürfe, dass der chinesische Staat die uigurische Minderheit mit Zwangsarbeit und in Umerziehungslagern drangsaliert. Die chinesische Regierung weist diese Vorwürfe zurück. Nicht nur Menschenrechtsorganisationen, sondern auch Investoren kritisierten, dass Volkswagen dort einen Standort und eine Teststrecke betreibt. Medienberichten zufolge war es bei deren Bau vor mehreren Jahren zu Zwangsarbeit gekommen.

Umstrittene Untersuchung

Mit einer Untersuchung ging VW den Vorwürfen nach. Der Konzern beauftragte ein Beratungsunternehmen, die Arbeitsbedingungen in dem Werk zu untersuchen. Im Dezember teilte die Prüfer mit, man habe keine Hinweise auf oder Belege für Zwangsarbeit bei den Mitarbeitenden finden können.

Kritiker bemängelten, die Anonymität der befragten Mitarbeiter in der Untersuchung sei nicht ausreichend geschützt worden. Die Beratungsfirma, die den Bericht verfasst hatte, räumte Schwierigkeiten beim Sammeln der nötigen Daten wegen der verpflichtenden Zusammenarbeit mit den chinesischen Behörden ein. Auch war die Turpan-Teststrecke nicht Teil der Überprüfung.

Die Vorwürfe von Menschenrechtlern haben beim Verkauf des Werks aber jetzt offenbar keine Rolle gespielt. Das Werk in Urumqi sowie die Teststrecken in Turpan und Anting seien "aus wirtschaftlichen Gründen" im Zuge einer strategischen Neuausrichtung "veräußert worden", teilte VW in Peking mit. Volkswagen hatte das Werk zusammen mit dem Autobauer SAIC als Joint-Venture betrieben. Über die Zukunft des Werkes war monatelang verhandelt worden. Seit 2019 werden in Xinjiang keine Autos mehr gebaut.

Die Wolfsburger verlängerten zugleich am Dienstag ihren Kooperationsvertrag mit SAIC um weitere zehn Jahre bis 2040. Zwischen dem Rückzug aus Xinjiang, der vor wenigen Tagen besiegelt worden sei, und der Vertragsverlängerung bestehe allerdings kein Zusammenhang, hieß es bei Volkswagen.

AR/kle (dpa, afp, rtr)

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Image caption Das VW-Fabrik in der chinesischen Region Xinjiang (Archivbild)
Image source Mark Schiefelbein/AP Photo/picture alliance
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Item 46
Id 70879880
Date 2024-11-27
Title Nan Goldin: Wie der Nahostkonflikt die Kunst überschattet
Short title Nan Goldin: Wie der Nahostkonflikt die Kunst überschattet
Teaser Die Fotografin wirft Israel Völkermord vor. Dafür wird sie gefeiert und verurteilt. Die Kulturszene gerät nicht das erste Mal zwischen die politischen Fronten. Und doch gibt es Hoffnung auf Dialog.
Short teaser Die Fotografin wirft Israel Völkermord vor - und die Kulturszene gerät wieder einmal zwischen die Fronten.
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"Nicht nur Deutschland, die ganze Welt ist derzeit gespalten, was den Nahostkonflikt angeht," sagt Meron Mendel, Direktor der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank. Er ist einer, der auf Dialog setzt zwischen den unterschiedlichen Positionen.

Das ist nicht einfach durchzusetzen, der Ton in der Gesellschaft ist rauer geworden. Auch in Deutschland. Es gibt Menschen, die bei jeder Kritik an Israel direkt Antisemitismus wittern, und es gibt propalästinensische Aktivisten, die Kulturveranstaltungen stören.

So geschehen vor ein paar Tagen in Berlin. Die US-Amerikanerin Nan Goldin, eine der renommiertesten zeitgenössischen Fotografinnen weltweit, war angereist, um ihre schon seit drei Jahren geplante Retrospektive "This Will Not End Well" in der Neuen Nationalgalerie zu eröffnen. Es ist eine Wanderausstellung, Berlin ist nach Stockholm und Amsterdam bereits die dritte Station. Bei der Eröffnungsrede ging es aber weniger um Kunst.

Vorwürfe an Israel und Deutschland

Nan Goldin machte an dem Abend der Ausstellungseröffnung ihre Haltung zum Nahostkonflikt deutlich. "Ich habe beschlossen", sagte sie, "diese Ausstellung als Plattform zu nutzen, um meiner moralischen Empörung über den Völkermord in Gaza und im Libanon Ausdruck zu verleihen."

Goldin beklagte den Verlust Zehntausender Menschenleben, die in den vergangenen knapp 13 Monaten einen gewaltsamen Tod gestorben seien. Und sie erhob Vorwürfe gegen Deutschland und die staatliche Solidarität mit Israel. Deutschland sei die Heimat der größten palästinensischen Diaspora Europas so die Künstlerin, dennoch würden Proteste dieser Menschen mit Polizeihunden bekämpft. "Haben Sie Angst, das zu hören, Deutschland?"

Goldin ist Jüdin, ihre Großeltern entkamen Ende des 19. Jahrhunderts den antisemitischen Pogromen in Russland. "Ich bin mit dem Wissen über den Nazi-Holocaust aufgewachsen. Was ich in Gaza sehe, erinnert mich an die Pogrome, denen meine Großeltern entkommen sind", sagte sie und ergänzte: "Die gesamte Infrastruktur Palästinas ist zerstört worden. Die Krankenhäuser, die Schulen, die Universitäten, die Bibliotheken. Es ist auch ein kultureller Völkermord. Warum kannst du das nicht sehen, Deutschland?"

Propalästinensische Aktivisten jubeln Goldin zu

Bei vielen Besucherinnen und Besuchern kam die Rede Goldins gut an. "Ihre furchtlosen Worte der Fürsorge und Klarheit fanden überall in diesem Land Widerhall, das gegenwärtig die ganze Kraft des Gesetzes, der Medien, der kulturellen und akademischen Einrichtungen einsetzt, um die palästinensische Solidaritätsbewegung zum Schweigen zu bringen und zu kriminalisieren", schrieb ein User auf Instagram. "Es fühlte sich an wie das erste Mal seit langer Zeit, dass wir in Deutschland durchatmen konnten."

Viele Aktivisten waren mit Kufiyas und Palästinafahnen erschienen, "Viva Palästina-Rufe" schallten durch den Saal - und auch vor dem Museum fanden sich Protestierende ein, ein Banner mit der Aufschrift "Staatsräson ist Genozid" wurde ausgerollt. (Die deutsche Politik spricht von der besonderen Verantwortung Deutschlands für Israel als "Staatsräson", Anm. d. Red.) Weder Nan Goldin noch das propalästinensische Künstlerkollektiv Arts and Culture Alliance Berlin haben bisher auf Anfragen der DW reagiert.

Meron Mendel sieht einen Wandel in der propalästinensischen Protestbewegung: "Wir sehen gerade, dass die Proteste jetzt weniger um die Forderung gehen, den Krieg zu beenden oder einen Waffenstillstand zu erreichen, sondern in den meisten Fällen darum, was unter Antizionismus zu verstehen ist: nämlich die Vorstellung, dass Israel als Staat keine Berechtigung hat und alles - von "The River to the Sea (zu Deutsch: "Vom Fluss bis ans Meer", gemeint ist vom Jordan bis ans Mittelmeer, jenes Gebiet, das sowohl Israel als auch die besetzten Palästinensischen Gebiete - das Westjordanland, Ostjerusalem, Gaza - umfasst, Anm. der Red.) - "Palästina sei", so Mendel gegenüber der DW. Das läge auch daran, wie Israel in großen Teil der Welt gesehen werde: nämlich sozusagen als ein kolonialer Staat - der letzte Vorposten des Westens im globalen Süden.

Abgesagte Ausstellungen gerechtfertigt?

Propalästinensische Stimmen in Deutschland, argumentieren die Aktivisten, würden unterdrückt, Ausstellungen propalästinensischer Künstlerinnen und Künstlern reihenweise gecancelt. Auch Nan Goldin sprach diesen Punkt an. "Wir hatten tatsächlich nach dem 7. Oktober einige Fälle, wo palästinensische oder propalästinensische Künstler 'gecancelt' wurden", sagt Meron Mendel. "Es wurden Ausstellungen abgesagt, es wurden Konferenzen abgesagt, es wurden Menschen ausgeladen." So zum Beispiel die südafrikanische Künstlerin Candice Breitz, selbst Jüdin, der fälschlicherweise vorgeworfen wurde, einen Brief des BDS unterzeichnet zu haben. (Das Kürzel BDS steht für die gegen Israel gerichtete Boykottbewegung "Boycott, Divestment, Sanctions", Anm. d. Red.). Sogar eine Preisverleihung wurde verschoben - an die palästinensische Autorin Adania Shiblibei der Frankfurter Buchmesse 2023.

In mehreren Fällen seien diese Entscheidungen falsch gewesen, es habe Menschen getroffen, die keine antisemitischen Positionen vertreten, sagt Mendel. Es gab aber auch Fälle, wo es eine gewisse Berechtigung gegeben habe, Leute auszuladen: "Wenn es um Menschen ging, die beispielsweise das Massaker der Hamas am 7. Oktober als Befreiungsaktion gesehen haben und damit auch selbst implizit zu Gewalt aufgerufen haben."

Schon lange wird in Deutschland debattiert, ab wann man als antisemitisch gilt. Kürzlich hat der Deutsche Bundestag eine Antisemitismus-Resolution verabschiedet. Der Titel: "Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken". "Also diese Resolution ist nicht mehr als eine Wiederholung der Resolutionen, die schon 2017 mit der Übernahme dieser IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance, Anm. d. Red.)-Definition und 2019 mit dem sogenannten BDS-Beschluss verabschiedet wurde", sagt Meron Mendel. "Insofern ändert diese Resolution an der Situation so gut wie nichts. Diesen Stillstand, Boykott und Gegen-Boykott, das hatten wir schon spätestens seit der documenta."

Kritiker der Resolution bemängeln, dass sie für ein Klima der Selbstzensur und des Misstrauens sorge. Ins Feld führen sie unter anderem, dass die Resolution die sogenannte IHRA-Definition von Antisemitismus verwendet, die sehr weit ausgelegt werden kann. So werden dort beispielsweise "Vergleiche der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten" als antisemitisch definiert. Demnach kann auch die Haltung Nan Goldins, Gaza erinnere sie an die Pogrome, denen ihre Großeltern entkommen seien, als antisemitisch verstanden werden.

Die Debatten werden immer hitziger geführt - das zeigte sich eben auch bei der Ausstellungseröffnung in der Neuen Nationalgalerie. Als der Museumsdirektor Klaus Biesenbach ans Mikrofon trat, um Nan Goldin etwas zu entgegnen, war er wegen der lautstark skandierenden Aktivisten kaum zu verstehen. Der Mann, der eigentlich für Kunst zuständig ist, wurde plötzlich zum Repräsentanten eines Staates, der sich schwertut im Umgang mit den Protesten gegen Israel.

Freie Meinungsäußerung geht im Tumult unter

Er las vergebens gegen den Tumult an. Am Dialog, so wurde später von Politkern beklagt, seien die Störer nicht interessiert gewesen. Als sie den Saal verlassen hatten, wiederholte Biesenbach seine Rede. Als Museum sei man der Freiheit der Kunst und der freien Meinungsäußerung zutiefst verpflichtet, auch wenn wir mit dieser Meinung nicht einverstanden sind", sagte Biesenbach. "Ebenso wichtig ist unser Engagement für die Würde jedes einzelnen Menschen, was eine entschiedene Ablehnung jeder Art von Antisemitismus, Islamophobie, Rassismus und aller anderen Formen von Hass, Bigotterie und Gewalt erfordert." Die Neue Nationalgalerie distanziere sich klar von den Aussagen der Protestierenden. "Das Existenzrecht Israels steht für uns außer Frage. Der Angriff der Hamas auf den jüdischen Staat am 7. Oktober 2023 war ein grausamer Terrorakt, der durch nichts zu rechtfertigen ist." Er ergänzte: "Gleichzeitig fühlen wir mit der Zivilbevölkerung im Gazastreifen und im Libanon mit, deren Leid nicht übersehen werden darf. Alle Menschen im Nahen Osten haben das Recht, ohne Angst und mit der Gewissheit ihrer Sicherheit zu leben. Wir setzen uns für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts ein."

Kultur, so Biesenbach in einem Statement, sei der Ort in unserer Gesellschaft, an dem man debattieren und diskutieren könne - aber nicht kämpfen.

Verhärtete Fronten

Das sieht auch Mendel so. Bezüglich des Tumults bei der Ausstellungseröffnung meint er: "Gut, man kann diese Aktion unterschiedlich bewerten. Man kann sagen: Das war ein Akt des Protestes, und Protest darf auch laut sein und darf auch mal stören." Aber danach, so sein Angebot, sollte man sich zusammensetzen und den Dialog ermöglichen zwischen den unterschiedlichen Positionen. Deswegen hatte die Neue Nationalgalerie zum Symposium "Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung" geladen.

Palästinenser und Israelis, Zionisten, Antizionisten, Juden und Nichtjuden - jeder sollte hier offen seine Meinung vertreten können, so wie Nan Goldin bei ihrer Eröffnungsrede. "Es war ja klar, dass sie eine dezidierte propalästinensische antiisraelische Position einnehmen wird und trotzdem wurde ihr die Bühne gegeben, und sie durfte alles sagen, was sie wollte", sagt Meron Mendel.

Nan Goldin lehnte die Teilnahme am Symposium allerdings ab. Einige propalästinensische Aktivisten versuchten sogar, die Veranstaltung zum Kippen zu bringen. "Sie haben nicht nur Podiumsgäste bedroht und angefeindet, sondern auch Mitarbeiter der Neuen Nationalgalerie", sagt Mendel. "Sie wurden auch als Nazis beschimpft und ihnen wurde mit Konsequenzen gedroht. Von daher sehen wir, dass hier Extremisten von beiden Seiten genau die gleichen Waffen benutzen: Waffen des Boykotts und Cancelns, um die zivilisierte, die konstruktive Diskussion zu verhindern."

Trotz mehrerer Absagen war das Symposium ein Erfolg, findet Mendel: "Es war nicht das Ziel, dass wir am Ende des Tages mit Konsens rauskommen", sagt er, aber man habe respektvoll miteinander geredet. "Und insofern stellt sich die Frage: Wem geben wir die Aufmerksamkeit? Denjenigen, die laut schreien, die zum Boykott aufrufen und Gewalt ausüben? Oder schenken wir unsere Aufmerksamkeit den 500 Menschen, die interessiert und kontrovers miteinander gesprochen haben?"

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Image caption Die US-Fotografin Nan Goldin kritisierte während einer Ausstellungseröffnung das Vorgehen Israels in Gaza
Image source Fabian Sommer/dpa/picture alliance
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Item 47
Id 70880495
Date 2024-11-26
Title Asiens chronische Luftverschmutzung macht krank
Short title Asiens chronische Luftverschmutzung macht krank
Teaser Schmutzige Luft belastet die Gesundheit massiv und erhöht das Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden oder an Krebs zu erkranken. Dennoch unternehmen einige Regierungen in Asien zu wenig für saubere Luft.
Short teaser Schmutzige Luft erhöht etwa das Risiko für Schlaganfälle und Krebsrisiko. Dennoch unternehmen einige Länder zu wenig.
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Die 100 am stärksten verschmutzten Städte der Welt liegen allesamt in Asien, 83 davon allein in Indien. In ganz Südasien ist Luftverschmutzung nach wie vor stark verbreitet.

Im November 2024 wurde den Bewohnern der großen indischen Städte, einschließlich der Hauptstadt Neu-Delhi, sowie in Teilen von Pakistan geraten, in ihren Häusern zu bleiben. Aufgrund des Smogs wurden Schulen geschlossen und Bauarbeiten im Freien unterbrochen.

Eine solch starke Luftverschmutzung ist in den bevölkerungsreichsten und am dichtesten bebauten Städten der Welt durchaus üblich. Luftverschmutzung ist dort allgegenwärtig: ob man nun durch eine Stadt voller Fabriken läuft, im Berufsverkehr feststeckt und selbst in ländlichen Gegenden, in denen noch mit Holzöfen geheizt wird.

Für viele Menschen in diesen am stärksten betroffenen Teilen der Welt ist es eine gewaltige Herausforderung, geeignete Vorsichtsmaßnahmen gegen die Luftverschmutzung zu ergreifen.

Wann wird Luftverschmutzung zu Smog?

Smog ist ein Kunstwort aus "smoke" (Rauch) und "fog" (Nebel) und beschreibt sehr gut, wie dieser schmutzige, chemische Dunst entsteht.

Smog entsteht, wenn sich bodennahe Schadstoffe wie Ozon, Feinstaub, Sulfate, Nitrate und andere giftige Chemikalien durch die Sonneneinstrahlung mit Nebel verbinden.

Warum sind Smog und Luftverschmutzung gefährlich?

Bei Verbrennungsprozessen - sei es in einer Fabrik, im Automotor oder im Holzofen, werden giftige Gase in die Atmosphäre freigesetzt.

Im Rauch und in den Gasen befinden sich oftmals mikroskopisch kleine Partikel - auch Feinstaub genannt - der aus komplexen chemischen Verbindungen entstehen und die leicht eingeatmet werden können.

Feinstaub wird jeweils entsprechend seiner Größe bezeichnet:

- PM10 für Partikel mit einer Größe von 2,5-10 Mikrometern

- PM2.5 für Partikel von 2,5 Mikrometern oder weniger

- PM0.1 für ultrafeine Partikel von weniger als 100 Nanometern

Diese Partikel sind winzig. Zum Vergleich: Ein menschliches rotes Blutkörperchen hat einen Durchmesser von etwa 6-8 Mikrometern und passt entsprechend in den Größenbereich von PM10.

Bakterien, wie beispielsweise der krankheitsverursachende E. coli-Typ, sind etwa 3 Mikrometer groß, also etwas größer als PM2.5.

Die ultrafeinen PM0.1-Partikel sind kleiner als die Viren, die die Grippe und HIV verursachen.

Die Feinstaub-Partikel bestehen aus giftigen Gasen, Schwermetallen und flüchtigen organischen Verbindungen. Beim Einatmen können sie über die Lunge leicht in den Blutkreislauf gelangen und dort langfristige Schäden verursachen.

Welche Auswirkungen hat Luftverschmutzung auf die Gesundheit?

Das Einatmen von Feinstaub und Schadstoffgasen wird seit langem mit einem schlechten Gesundheitszustand sowie einer Reihe von Krankheiten in Verbindung gebracht.

Wer kurzfristig Smog ausgesetzt ist, dessen Lungenfunktion wird beeinträchtigt. Akute Erkrankungen wie Asthma und andere Atemwegsprobleme können sich verschlimmern.

Längerfristig können durch den Smog Erkrankungen wie Krebs, Schlaganfall, Herz- und obstruktive Lungenerkrankungen wie Asthma auftreten. Bei obstruktiven Atemwegserkrankungen sind die Bronchien in der Lunge stark verengt.

Das kann Menschen in jedem Alter betreffen, besonders gefährdet sind jedoch Kinder und Personen über 65 Jahre.

Im Mai 2024 ergab eine Studie über schadstoffarme Zonen in Deutschland, dass Kinder, die bis zu ihrem ersten Lebensjahr saubere Luft geatmet haben, ab ihrem fünften Lebensjahr weniger Medikamente benötigten.

"Die Belastung durch Luftverschmutzung in dieser sehr frühen Lebensphase kann längerfristige Auswirkungen haben, wenn die Kinder älter werden", so Hannah Klauber, die Leiterin der Studie.

"Es gibt im Grunde keine unbedenklichen Werte für Feinstaub, so dass jeder Anstieg des Feinstaubs zu negativen Auswirkungen auf die Gesundheit führt", so Klauber.

Obwohl sich Klaubers Studie nur auf Deutschland konzentriert, seien ähnliche Ergebnisse auch in anderen Teilen der Welt zu finden, versichert Klauber.

Wie kann man sich vor Smog zu schützen?

Auf die Luft am Wohnort hat der Einzelne wenig Einfluss. Die wirksamste Schutzmaßnahme ist deshalb, Orte mit starker Feinstaub- und Stickstoffdioxidbelastung zu meiden.

In einigen Städten mit hoher Luftverschmutzung, wie Neu-Delhi und Lahore, haben die Behörden Vorschriften erlassen, die Aktivitäten im Freien einschränken. Dazu gehören Schulschließungen, Fahrverbote für Autos und andere Fahrzeuge, sowie ein Verbot von Arbeiten im Freien.

Laut Rajib Dasgupta, Professor für öffentliche Gesundheit an der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi, können Einschränkungen von Aktivitäten im Freien oder Schulschließungen nur Notlösungen sein.

"Das kann man nicht wirklich durch persönliche oder haushaltsbezogene Interventionen in den Griff bekommen. Es erfordert staatliches Handeln, und zwar ein sehr umfangreiches, sektorübergreifendes Handeln", so Dasgupta gegenüber der DW.

Was unternehmen die Länder gegen Luftverschmutzung?

Auf der ganzen Welt werden Maßnahmen ergriffen, um strengere Grenzwerte für die Luftverschmutzung festzulegen. Die Europäische Union hat sich im Juni 2024 auf neue Standards geeinigt.

Auch in Asien werden in einigen der am stärksten betroffenen Gebiete Maßnahmen ergriffen, die zu einer Verringerung der Luftverschmutzung beitragen sollen.

Die chinesischen Behörden führten 2013 einen Plan zur Elektrifizierung des öffentlichen Nahverkehrs ein. Dadurch sind Smog und Luftverschmutzung zwar deutlich zurückgegangen, aber die Werte liegen immer noch über den weltweit empfohlenen Luftqualitätswerten.

Auch Indien hat neue Maßnahmen zur Luftreinhaltung ergriffen, doch Dasgupta kritisiert die mangelnden Fortschritte: "Die Staaten scheinen nicht in der Lage zu sein, die Dinge in den Griff zu bekommen. Und das liegt nicht an fehlendem Geld, sondern an mangelndem Willen."

Der Artikel ist ursprünglich auf Englisch erschienen.

Redaktion: Zulfikar Abbany

Adaption: Alexander Freund

Ausgewählte Quellen:

Globale Luftqualitätsrichtlinien der WHO (2021) https://iris.who.int/handle/10665/345329

Studie: Killing Prescriptions Softly, veröffentlicht von Klauber, Hannah, Felix Holub, Nicolas Koch, Nico Pestel, Nolan Ritter, und Alexander Rohlf im American Economic Journal, Economic Policy (2024) DOI: 10.1257/pol.20210729

Item URL https://www.dw.com/de/asiens-chronische-luftverschmutzung-macht-krank/a-70880495?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/70851693_302.jpg
Image caption Smog besteht aus giftigen Gasen, Schwermetallen und flüchtigen organischen Verbindungen
Image source Akhtar Soomro/REUTERS
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Item 48
Id 70882034
Date 2024-11-26
Title Abstinenz als politischer Akt: Warum Frauen Enthaltsamkeit wählen
Short title 4B-Bewegung: Warum Frauen den Sex-Boykott wählen
Teaser Inspiriert von südkoreanischen Feministinnen verzichten Frauen in den USA auf Sex mit Männern - als Zeichen gegen Frauenhass. Die 4B-Bewegung geht viral.
Short teaser Inspiriert von südkoreanischen Feministinnen verzichten Frauen in den USA auf Sex mit Männern. Was treibt sie an?
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Als Christine Ivans aus Seattle Männern abschwor, fiel es ihr erst mal schwer. Im Alter von 30 Jahren beschloss die Verkaufsmanagerin, die Prioritäten in ihrem Leben neu zu definieren: Was, wenn sie ihre Energie nicht in die Suche nach einem Ehemann, sondern in sich selbst investierte?

Ein paar Monate vergingen. Dann ein paar Jahre. Acht Jahre später sagt Christine: "Ich bin glücklich. Ich wurde befördert, habe eine Gehaltserhöhung bekommen und meine mentale Gesundheit hat sich verbessert."

Aber erst vor ein paar Jahren, als sie auf TikTok die 4B-Bewegung kennenlernte, wurde Christine klar, dass sie mit ihrer Entscheidung keineswegs allein ist. "Die vier 'Neins'", erklärt sie im DW-Gespräch. "Keine Heirat, keine Kinder, keine Dates oder sexuellen Beziehungen mit Männern - alles Dinge, die ich seit einiger Zeit praktiziere."

Abstinenz neu definiert

Die 4B-Bewegung, die um 2016 herum in Südkorea entstanden ist, hat es schon vor geraumer Zeit auf US-amerikanische Bildschirmen geschafft. Anfang des Jahres zum Beispiel, als Schauspielerin und It-Girl Julia Fox in einer Podcast-Episode erklärte, seit über zwei Jahren abstinent zu leben - aus politischen Gründen.

Ihre Entscheidung sei eine Reaktion auf die verschärften Abtreibungsmaßnahmen in den USA infolge der Aufhebung von Roe v. Wade gewesen. Roe v. Wade war eine Grundsatzentscheidung zum Abtreibungsrecht, die der Oberste Gerichtshof der USA im Jahr 1973 fällte. Diese gab Frauen grundsätzlich das Recht, über Abbruch oder Fortführung einer Schwangerschaft zu entscheiden. 2022 wurde das Urteil gekippt. Seitdem gibt es in den USA keinen bundesweiten Schutz des Rechts auf einen Schwangerschaftsabbruch mehr. "Wenn uns die Rechte an unserem Körper weggenommen werden, ist das meine Art, sie zurückzuholen", so Fox in einer Episode des Zach Sang Podcasts im Mai.

Nach den US-Wahlen Anfang November ging die Bewegung viral. Eine halbe Million Suchanfragen verzeichnete Google innerhalb der ersten fünf Tage. Auf TikTok teilen tausende Frauen ihre Abstinenz-Geschichten oder rasieren sich vor der Kamera den Kopf (kurzes Haar gilt als eines der Erkennungsmerkmale von 4B-Aktivistinnen in Südkorea).

Die feministische Autorin Mingyeong Lee, die seit den Anfängen der 4B-Bewegung dabei ist, ist glücklich darüber. "Ich habe darauf gewartet, dass das endlich passiert! Es hat acht Jahre gedauert, euch (Anm. d. Redaktion: US-Frauen) zu erreichen", sagt sie in einem Videocall aus Südkorea. "Wenn es um ihre Rechte geht, kämpfen Frauen in den USA und in Südkorea ähnliche Kämpfe", sagt Mingyeong.

Motiv: Frauenhass

2016 ermordete ein Mann eine Frau auf der Toilette einer Karaoke-Bar in Seoul. Das Motiv: Frauenhass. Der Täter sagte später aus, Frauen hätten ihn sein ganzes Leben lang ignoriert. Der Femizid löste in Südkorea eine neue feministische Welle aus, geführt von jungen Frauen, die den Frauenhass im Land anprangern - online und auf den Straßen.

Doch der Femizid war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die patriarchalische Kultur, gegen die 4B-Aktivistinnen wie Mingyeong ankämpfen, sitzt immer noch tief in den Knochen Südkoreas. Gewalt und Belästigung von Frauen sind weit verbreitet, etwa durch Spionagekameras in öffentlichen Toiletten, digitale Sexualverbrechen oder Sexismus am Arbeitsplatz. 2019 waren laut Südkoreas Oberster Staatsanwaltschaft neun von zehn Opfern von Gewaltverbrechen wie Mord, Vergewaltigung und Raubüberfällen Frauen.

"Frauen wurden angegriffen, weil sie wie Feministinnen aussehen"

Die neue feministische Bewegung fand zwar gerade bei jungen Frauen viel Zuspruch, doch auch Ablehnung, erklärt Seohee Lee, Studentin und 4B-Aktivistin der DW. "Frauen, die kurze Haare tragen, wurden als psychisch krank abgestempelt, belästigt und sogar körperlich angegriffen, weil sie wie Feministinnen aussehen", sagt sie. Bei dem Begriff 'Feministinnen' hebt sie ihre Hände und deutet Anführungszeichen in der Luft an. Ihre Stimme klingt besorgt. Seohee sagt, dass es bei der Bewegung nicht um Rache oder Bestrafung geht, sondern um Sicherheit und Gemeinschaft für Frauen. "Koreanische Frauen widersetzen sich den Bedrohungen des Patriarchats auf eine stille und doch effektive Weise."

"Frauen werden wie Reproduktionsmaschinen behandelt"

Autorin Mingyeong ist 32 Jahre alt. Wegen des sozialen Drucks hätte sie vor nicht allzu langer Zeit fast einen Mann geheiratet, wie sie erzählt. Mittlerweile identifiziert sie sich als lesbisch. Wie viele 4B-Aktivistinnen entdeckte sie im Laufe ihrer Zugehörigkeit zur Bewegung ihre queere Seite.

Kinder möchte sie nicht. Als Mingyeong das Licht der Welt erblickte, wurden in Südkorea weibliche Föten noch häufig abgetrieben, obwohl das Land bereits 1988 ein Gesetz erlies, das es Ärzten verbot, werdenden Eltern das Geschlecht ihres Kindes zu verraten. Trotzdem hat Südkorea heute die niedrigste Geburtenrate der Welt. Präsident Yoon Suk-yeol schiebt das nicht auf den Frauenhass im Land oder auf die Tatsache, dass Südkorea den größten Gender-Pay-Gap unter den OECD-Ländern hat, sondern auf den Feminismus. Mingyeong sieht das anders: "Koreanische Frauen wollen keine Babys, weil das hier ein grausamer Ort für Frauen ist. Wenn wir Mädchen zur Welt bringen, werden sie weder sicher noch glücklich sein."

"Es gibt wichtigeres als Frauenrechte"

Über achttausend Kilometer entfernt, in Seattle, schaut Christine Ivans bestimmt in die Kamera und erklärt, dass auch sie keine Kinder will. Wie Mingyeong und Seohee stellte auch sie eines Tages fest, dass zu viele Männer in ihrem Leben nicht die gleiche Achtung für Frauenrechte pflegen wie sie. Einer von ihnen: ihr Vater.

Obwohl er beinahe seine Frau wegen einer Risikoschwangerschaft verloren hätte, wählte Christines Vater, ein treuer Republikaner, am 5. November 2024 Trump. Dieser brüstet sich heute damit, drei der fünf Richter am Obersten Gerichtshof nominiert zu haben, die 2022 für die Aufhebung des Rechts auf Abtreibung stimmten. Die darauffolgenden Einschränkungen von Abtreibung in mehreren US-Staaten nannte er "wunderbar zu beobachten".

Die Vorstellung, schwanger zu werden und keinen Zugang zu einer sicheren Abtreibung zu haben, macht ihr Angst. "Mein Vater sagt, dass ihm Frauenrechte wichtig seien. Aber wenn es ums Wählen geht, sagt er: 'Da gibt es wichtigere Dinge.'"

"Wenn Influencer Slogans wie 'your body, my choice' (auf Deutsch: "Dein Körper, meine Entscheidung") im Internet verbreiten, ist so etwas wie die 4B-Bewegung der nächste logische Schritt", so Christine. Der Slogan, den sie zitiert, stammt von dem rechtsextremen und frauenverachtenden Influencer Nick Fuentes, er ging kurz nach der Wahl von Trump viral.

Es sind nicht nur leere Worte: Laut einer nationalen Umfrage zu Gewalt gegen Frauen werden zwei von zehn Frauen in den USA irgendwann in ihrem Leben vergewaltigt, und fast die Hälfte erlebt andere Formen sexueller Gewalt. Frauen wie Christine lassen sich von den Widerstandsmethoden südkoreanischer Feministinnen inspirieren. "Sex ist eine Sprache, die Männer verstehen", meint Christine. "Die 4B-Bewegung sagt: 'Hey, ich nehme dir das weg, bis du mir zuhörst.' Nicht als Strafe, sondern um Aufmerksamkeit zu erregen."

"Empfinden US-amerikanische Frauen das Gleiche?"

Die Aktivistin Seohee Lee freut sich darüber, dass US-amerikanische Frauen sich ihrem Widerstand anschließen. Sie fragt sich, ob sich Frauen in den USA jetzt auch so fühlen, wie sie sich damals gefühlt hat, als Südkorea den Mann zum Präsidenten wählte, der das Ministerium für Geschlechtergleichstellung abschaffen wollte?

Seohee ist nicht überrascht, dass Feministinnen und enthaltsame Frauen in den USA jetzt Anfeindungen ausgesetzt sind. Sie kennt das nur zu gut aus ihrem Heimatland, wo viele Frauen sich nicht trauen, sich offen als Feministinnen zu bezeichnen. Viele Männer verabscheuen sie, nur weil sie sich als Feministin bezeichnen würde, meint Seohee Lee.

Redaktion: Rayna Breuer

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Image caption Südkoreanische Feministinnen bei einem Protest gegen Spycams 2018
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Item 49
Id 70857976
Date 2024-11-26
Title El Salvador plant ein Wirtschaftswunder
Short title El Salvador plant ein Wirtschaftswunder
Teaser El Salvadors Präsident Nayib Bukele hat große Pläne, vor allem die Wirtschaft seines Landes will er in Schwung bringen. Die Hoffnungen sind groß, die Bedenken allerdings auch.
Short teaser El Salvador will die Wirtschaft in Schwung bringen. Die Hoffnungen sind groß, die Bedenken auch.
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Es herrscht ein riesiges Getümmel in der schmucken neuen Zentralbibliothek "Binaes" in El Salvadors Hauptstadt. Das futuristisch anmutende gläserne Gebäude - gegenüber der Kathedrale und neben dem Präsidentenpalast in San Salvador - ist so etwas wie ein Familientreffpunkt geworden: Kinder lesen oder spielen, Eltern sehen dabei zu. Die Buchauswahl ist beeindruckend. Finanziert wurde das ganze aus China und ist Teil eines Modernisierungsprojektes für das historische Zentrum in San Salvador.

Präsident Nayib Bukele will allerdings nicht nur den Stadtkern, sondern gleich sein ganzes Land umkrempeln. Er verspricht nicht weniger als ein Wirtschaftswunder: "Unser nächstes Ziel ist es, dass die Welt El Salvador mehr wegen seines Wirtschaftswunders als wegen seines Sicherheitswunders wahrnimmt. Das wird noch einige Jahre dauern, aber wir sind auf dem richtigen Weg."

Sicherheitslage stabilisiert

El Salvador ist von einem der unsichersten zum sichersten Land Lateinamerikas geworden - sagen zumindest die offiziellen Zahlen. Von fast 4000 Morden im Jahr 2017 ging die Zahl auf unter 80 in den ersten Monaten des laufenden Jahres zurück. Die Regierung ließ während eines von 2022 bis heute andauernden Ausnahmezustandes mehr als 80.000 mutmaßliche Bandenmitglieder der gefürchteten Mara-Gangs festnehmen.

Der Begriff "Mara" umfasst viele verschiedene kriminelle Banden, die in ganz Zentralamerika agieren. Sie machen ihre Geschäfte hauptsächlich mit Waffen-, Drogen- und Menschenhandel sowie durch Prostitution.

Bei Nichtregierungsorganisationen ist dieser Weg umstritten, weil sich auch tausende Unschuldige unter den Inhaftierten befinden sollen, demokratische Grundrechte ausgehebelt und Restriktionen unter dem Ausnahmezustand nicht nur gegen bewaffnete Gangmitglieder angewendet worden sein sollen.

Industrie ist zuversichtlich

Der überwiegende Teil der salvadorianischen Bevölkerung aber fühlt sich geradezu befreit. Das gilt auch für kleine und mittelständische Industriebetriebe, die plötzlich keine Schutzgelder an die gefürchteten Mara-Banden mehr zahlen müssen. "Viele große deutsche Unternehmen fühlten sich gezwungen, wegen der schlechten Sicherheitslage das Land zu verlassen", sagt Karla Klaus von der deutsch-salvadorianischen Handelskammer im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Kleinere Betriebe mussten einen Teil ihrer Einnahmen für Sicherheitsmaßnahmen aufgeben, das Geld fehlte dann für Investitionen. In einer eigenen Umfrage der Kammer unter den rund 150 Mitgliedsbetrieben ist die Zuversicht nun deutlich größer: Sie erwarten ein Wirtschaftswachstum. "Zahlreiche Firmen erwägen jetzt, zu investieren. In die Versorgung mit erneuerbaren Energien, in die Modernisierung des Maschinenbestandes und es gibt auch Überlegungen, neues Personal einzustellen", berichtet Klaus von einer "Aufbruchstimmung".

Auch der US-amerikanische IT-Gigant Google hat vor wenigen Monaten einen Firmensitz in San Salvador eröffnet. Und will nach eigenen Angaben mithelfen, das Land zu digitalisieren und zu modernisieren. Der moderne Glasbau ist ein Symbol dafür, dass es tatsächlich klappen könnte mit dem Aufschwung.

Umstrittenes Großprojekt

Die Regierung hofft auf eine Sogwirkung und setzt zudem auf den Tourismus: Unter anderem auf das Projekt "Surf City II", das Wassersportler aus der ganzen Welt anziehen soll. Es ist ein neuer, zweiter Pazifik-Flughafen geplant, der die Touristen direkt an die Nähe der Strände bringen soll. Investoren wollen neue Hotels bauen. Die Zielgruppe: Touristen aus westlichen Ländern und aus dem Süden der USA, der vergleichsweise kurzen Anreise wegen. Und natürlich die internationale Surfer-Szene.

Umweltschützer aber warnen, das Projekt könne die einzigartige Natur der Region gefährden oder gar zerstören. Bukele wirbt für das Projekt, der Staat will 100 Millionen US-Dollar in die Infrastruktur investieren:"Wir haben hier einen der beeindruckendsten Strände des Landes, ein Gebiet, das von allen früheren Regierungen verlassen wurde", sagte Bukele schon vor zwei Jahren. "Surfer sagen mir, dass es einer der besten Surfstrände der Welt ist. Es gibt nicht einmal eine richtige Straße, um ihn zu erreichen." Die Straßen seien Schotterpisten und neben dem Strand Punta Mango wären auch die Strände in der Umgebung nicht erschlossen, so Bukele.

Zweifel an den Versprechen

Ines Klissenbauer, Mittelamerika-Expertin des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat, befürchtet im Gespräch mit der Deutschen Welle, dass der "ökologische Schaden dieses Projektes so groß wäre, das eine nachhaltige Umsetzung eigentlich nicht möglich ist." Es sei der Versuch Bukeles, für das hochverschuldete Land Kapital ins Land zu bekommen.

El Salvadors einzige echte Oppositionspolitikerin im Parlament ist ebenfalls skeptisch. Claudia Ortiz von der sozialdemokratisch ausgerichteten Partei Vamos verweist auf die ähnlich groß angekündigte Bitcoin-Strategie des Landes. "Bitcoin ist Teil eines autoritären Projekts und Teil eines Systems, in dem öffentliche Mittel nach eigenem Ermessen und ohne jegliche Transparenz verwendet werden", kritisiert Ortiz im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Zwar gebe es in den Geschäften Hinweise, dass Bitcoin als Zahlungsmittel akzeptiert wird, doch der Durchschnittsbürger könne sich das gar nicht leisten: "Die wirtschaftlichen Probleme El Salvadors und die wirtschaftlichen Bedürfnisse der Bevölkerung werden nicht dadurch gelöst, dass Bitcoin zum gesetzlichen Zahlungsmittel gemacht wird", sagt Ortiz.

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Image caption Die von China finanzierte neue Zentralbibliothek in San Salvador, der Hauptstadt von El Salvador
Image source Tobias Käufer/DW
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Item 50
Id 70863944
Date 2024-11-25
Title Kann ein globales Plastikabkommen Vermüllung stoppen?
Short title Kann ein globales Plastikabkommen Vermüllung stoppen?
Teaser In der letzten Verhandlungsrunde für ein weltweites Plastikabkommen geht es um die schnelle Eindämmung der zunehmenden Plastikverschmutzung. Doch Öl- und Gaskonzerne könnten eine Einigung vereiteln.
Short teaser Die letzte Verhandlungsrunde für ein globales Plastikabkommen soll die zunehmende Plastikverschmutzung rasch eindämmen.
Full text

Nach zweijährigen Gesprächen bemühen sich die Länder um den Abschluss eines verbindlichen globalen Abkommens zur Begrenzung der Plastikflut. Vertreter aus rund 175 Ländern treffen sich diese Woche zur letzten Verhandlungsrunde in Busan (Südkorea) und versuchen die sehr großen Meinungsverschiedenheiten über den Umgang mit Plastikmüll zu überwinden.

Angesichts des Ausmaßes der Plastikkrise wäre ein Vertrag laut UN-Umweltprogram UNEP das bedeutendste multilaterale Umweltabkommen seit dem Pariser Klimaabkommen von 2015.

"Es ist eine Versicherungspolice für diese und zukünftige Generationen, damit sie mit Plastik leben können und nicht daran zugrunde gehen", sagte Inger Andersen, Leiterin des UN-Umweltprogramms, im Jahr 2022, als sich die Nationen erstmals darauf einigten, einen Vertrag zur Beendigung der Plastikverschmutzung zu schließen.

Im Jahr 2019 wurden weltweit rund 350 Millionen Tonnen Plastikmüll erzeugt. Nur neun Prozent davon wurden recycelt, der Rest wurde verbrannt, landete auf Mülldeponien oder in der Umwelt.

Einmal weggeworfen, können langlebige Kunststoffprodukte wie Einwegtrinkhalme hunderte von Jahren in der Umwelt verbleiben und Ökosysteme und die Nahrungskette kontaminieren. Da etwa 99 Prozent der Kunststoffe aus fossilen Brennstoffen gewonnen werden, verschärft die Kunststoffproduktion auch die Klimakrise.

Reduzierung der Plastikproduktion als zentrale Herausforderung

Umweltschützer fordern die Länder auf, die globale Plastikproduktion bis 2040 um 40 Prozent zu reduzieren – ein Vorschlag, den Ruanda und Peru während der letzten Gesprächsrunde im kanadischen Ottawa im April unterbreitet haben.

Dies könnte durch verschiedene Minderungsmaßnahmen über den gesamten Lebenszyklus von Kunststoffen geschehen. Dazu gehören die Reduzierung der Plastikproduktion, die Beseitigung giftiger und vermeidbarer Einwegplastikprodukte und die Neugestaltung von Verpackungen, um sie wiederverwendbarer, biologisch abbaubarer und vollständig recycelbar zu machen.

Multinationale Unternehmen, die Plastikverpackungen für ihre Produkte verwenden, werben für mehr Plastikrecycling als Lösung für die Krise, unter anderem durch effizienteres chemisches statt mechanisches Recycling.

Gruppen wie die Umweltorganisation Greenpeace fordern jedoch, dass sich das Abkommen auf eine rasche Verringerung der Kunststoffproduktion konzentrieren sollte.

Laut bisherigen Prognosen wird sich die Plastikproduktion bis 2050 voraussichtlich verdreifachen, unter anderem weil die Herstellung von neuem Kunststoff billiger ist als das Recycling - vor allem aber angesichts des Überangebots an Fracking-Gas in Ländern wie den USA.

Auch die fossile Industrie baut die Produktion von Neuplastik als ihren nächsten großen Wachstumsmarkt aus, um die durch die Energiewende verlorenen Umsätze zu ersetzen. Das Recycling kann mit der explosionsartigen Zunahme der Produktion nicht Schritt halten.

"Wir haben ein Überangebot und einen Überfluss an Kunststoffen", sagt Christina Dixon, Leiterin der Ozean-Kampagne bei der in New York ansässigen Environmental Investigation Agency (EIA), die sich für das Abkommen einsetzt.

Wird der Plastikvertrag reichen?

Eine Reduktion der Plastikproduktion um 40 Prozent bis 2040 reiche nicht aus, meinen Experten - vor allem nicht, um das Pariser Klimaabkommen einzuhalten.

Die Produktion von Plastik verschmutzt die Atmosphäre mit viel CO2. Um innerhalb der 1,5-Grad-Grenze zu bleiben, müsse laut Greenpeace die Plastikproduktion bis 2040 um 75 Prozent sinken.

In einem von der EIA in Auftrag gegebenen Bericht der Umweltwissenschaftler von Eunomia Research and Consulting heißt es, dass die Reduktion der Plastikproduktion um 40 Prozent bis 2040 nur dann zu einer deutlichen CO2-Reduzierung führen würde, wenn es zugleich mit einer Erhöhung der weltweiten Recyclingraten auf 63 Prozent verbunden wäre. Und zudem reiche all dies nicht aus, um das 1,5-Grad-Limit einzuhalten.

Der Bericht stellt auch fest, dass der Kunststoffsektor beispielsweise durch den Einsatz von erneuerbaren Energien dekarbonisiert werden müsste und die Produktion zugleich im Jahr 2025 ihren Höhepunkt erreichen müsse.

Doch während die endgültige Verhandlungsfrist näher rückt, sind sich die Länder immer noch uneins darüber, wie weit die Regeln gehen sollen.

Ölförderländer sind gegen Beschränkungen der Kunststoffproduktion

Viele Länder, die über den Umfang und die Ambitionen des Plastikabkommens entscheiden werden, haben konkurrierende Interessen.

Unter der Führung von Ruanda und Norwegen haben sich mehr als 60 Länder einer "High Ambition Coalition" angeschlossen, die die gesamte Kunststoffproduktion bis 2040 beenden will.

Laut Christina Dixon von der EIA haben sich jedoch einige Länder während der vier Verhandlungsrunden als "sehr schwierig" erwiesen und "wollen überhaupt keine Einigung erzielen".

Erdölproduzierende Länder wie der Iran, Russland und Saudi-Arabien konzentrieren sich auf ein verstärktes Recycling, nicht auf Produktionskürzungen bei Kunststoffen. Sie wollen stattdessen einen zukünftigen Markt für fossile Brennstoffe erhalten.

Daniela Duran Gonzalez, eine leitende Juristin des in Washington DC ansässigen Center for International Environmental Law, sagte während der letzten Runde der Vertragsgespräche, dass es bei den Verhandlungen nicht um einen "Abfallvertrag", sondern um "die Zukunft der fossilen Brennstoffe" gehe.

Die USA, ein Kunststoff-, Öl- und Gasriese, änderten nach den letzten Vertragsverhandlungen ihren Kurs und unterstützen nun ein Ziel zur Plastikreduktion. Diese Haltung könnte sich mit der neuen Regierung von Donald Trump wieder ändern. Der designierte Präsident hat seit langem angekündigt, die Klimapolitik zurückzufahren und die Produktion fossiler Brennstoffe auszuweiten.

"Angesichts dessen, was unter der vorherigen Trump-Regierung passiert ist, halte ich es für ziemlich unwahrscheinlich, dass Trump den Vertrag ratifizieren wird", sagt Dixon.

Doch die Länder des Globalen Südens und die EU-Mitgliedstaaten halten den Traum vom Plastikabkommen am Leben.

Griffins Ochieng, Programmkoordinator des in Kenia ansässigen Zentrums für Umweltgerechtigkeit und Entwicklung, erklärte bei einem Briefing vor den abschließenden Vertragsverhandlungen, dass die afrikanischen Länder "ein Ende der Plastikverschmutzung über den gesamten Lebenszyklus" fordern.

Die Reduzierung der Plastikproduktion werde dabei von zentraler Bedeutung sein, ebenso wie die "Eliminierung" schädlicher Chemikalien, sagte er.

Obwohl es möglich ist, dass in Busan keine Einigung über einen Vertragstext erzielt wird, besteht Dixon darauf, dass die Verhandlungsführer das "große globale Verlangen auf einen verbindlichen Vertrag" widerspiegeln sollten.

Adaption aus dem Englischen: Gero Rueter

Redaktion Jennifer Collins

Item URL https://www.dw.com/de/kann-ein-globales-plastikabkommen-vermüllung-stoppen/a-70863944?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Plastik bedroht Gesundheit und Klima: Plastikmüll im Citarum-Fluss (Indonesien)
Image source Timur Matahari/AFP/Getty Images
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Item 51
Id 70834640
Date 2024-11-25
Title 40 Jahre Band Aid: Hilfe auf Augenhöhe?
Short title 40 Jahre Band Aid: Hilfe auf Augenhöhe?
Teaser "Do They Know It's Christmas" feiert sein 40. Jubiläum. Der Benefiz-Song brachte einst Millionensummen für Afrika ein. Doch es gibt auch heftige Kritik. Einige Musiker distanzieren sich inzwischen von dem Song.
Short teaser Der Benefizsong "Do They Know It's Christmas" brachte Millionen für Afrika ein. Doch er steht heftig in der Kritik.
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1984 wurde das afrikanische Land Äthiopien von einer verheerenden Dürre heimgesucht, die den größten Teil der Ernten vernichtete. Fast acht Millionen Menschen waren von einer Hungersnot betroffen, Schätzungen zufolge sind zwischen 500.000 und einer Million Menschen daran gestorben. Die Bilder der Verhungernden, vor allem die der Kinder, gingen um die Welt und lösten eine beispiellose Spendenbereitschaft aus. Eine BBC-Reportage zeigte schonungslos das Leid der Menschen.

Unter den TV-Zuschauern war auch der britische Musiker Bob Geldof, der sofort beschloss, tätig zu werden. Zusammen mit seinem Musikerkollegen Midge Ure (Sänger von Ultravox) rief er eine Allstar-Band zusammen, um einen Benefiz-Song für die Opfer der Hungerkatastrophe zu produzieren. Die Gesangsaufnahmen begannen am 25.11.84 - wenige Tage später stand die Single "Do They Know It's Christmas" in den Plattenläden. Begleitet von einem Musikvideo mit allen Mitwirkenden.

Eine derartige Ansammlung von Stars aus der allerersten Reihe hatte man selten gesehen: Sting, Paul Young, Boy George, George Michael, Phil Collins, Annie Lennox, Duran Duran, Spandau Ballet, U2, Bananarama und viele mehr. Die Single übertraf die Hoffnungen der Produzenten und wurde zu Weihnachten die Nummer eins in zahlreichen Ländern - unter anderem auch in Deutschland.

USA for Africa

In den US-Billboard Charts landete der Song aus Übersee auf Platz 13. Hier schaute man mit großen Augen auf den Hit der britischen Allstars. Der Entertainer und Friedensaktivist Harry Belafonte machte sich Gedanken darüber, dass Weiße Schwarze retten wollen - aber dass Schwarze ja eigentlich ihre eigenen Leute vor dem Hunger retten müssten. Und so übernahm Belafonte die Idee von Bob Geldof und holte im Januar 1985 Lionel Richie, Michael Jackson und Quincy Jones als Produzenten ins Boot. In wenigen Tagen entstand "We Are The World", eingesungen von den größten US-amerikanischen Stars jener Zeit - Schwarzen und Weißen. Auch Bob Geldof war bei den Aufnahmen zugegen und schwor das Starensemble auf ihre Aufgabe ein, indem er von den schrecklichen Zuständen berichtete. "Ich will euch nicht runterziehen, aber vielleicht könnt ihr das, was ihr fühlt und wieso ihr heute hier seid, in diesem Song zum Ausdruck bringen."

Das Resultat ist bekannt. Für den unfassbaren Erfolg sorgten unter anderem Bruce Springsteen, Stevie Wonder, Bob Dylan, Tina Turner , Cyndi Lauper, Al Jarreau, Diana Ross, Dionne Warwick, Willie Nelson und viele weitere Superstars.

Nackt im Wind

Geldofs Idee, Superstars für einen guten Zweck im Studio zu versammeln, machte Schule. Und so blickte auch die deutsche Musikszene Anfang 1985 in dem Benefizsong "Nackt im Wind" mit sorgenvoller Miene nach Afrika - alle, die damals die Hits machten, waren dabei. Herbert Grönemeyer, BAP, Wolf Maahn, Nena, Heinz Rudolf Kunze, Alphaville, Klaus Lage, Udo Lindenberg, Peter Maffay.

Viele von diesen Musikern fanden sich 2014 erneut im Studio ein, um eine deutsche Version von "Do They Know It's Christmas" einzuspielen - zum 30-jährigen Jubiläum des Originalsongs.

"Do They Know It's Christmas" wurde in den vergangenen vier Jahrzehnten mehrmals neu aufgelegt - immer wieder mit angesagten Stars der britischen und irischen Musikszene.

Falsches Bild von Afrika

Bei aller Begeisterung für die Benefizprojekte gab es von Anfang an allerdings auch Kritik, unter anderem an der Textzeile "Do they know it's Christmas" (Wissen sie, dass Weihnachten ist). Es sei absurd, Äthiopiern, die kulturell zu den ältesten Christen der Welt zählen, zu unterstellen, sie wüssten nicht, dass Weihnachten sei, so der Vorwurf. Dies sei herabwürdigend und zeige eine kolonialistische, westlich zentrierte Sichtweise. Es suggeriere, dass einst unterdrückte, kolonisierte oder ausgebeutete Bevölkerungen in anderen Erdteilen wie Afrika ohne die Hilfe von Weißen keine funktionierende Gesellschaft oder Wirtschaft aufbauen könnten.

Midge Ure wischte dies angesichts der enormen Spendensumme von mehr als acht Millionen britischen Pfund (auf heute umgerechnet waren das mehr als 13 Millionen Euro) - vom Tisch. Es sei nie auf den Song angekommen, sondern auf das, was er bewirkt habe, schreibt er in seiner Autobiografie "If I Was…".

Die Kritik hielt sich dennoch über die Jahre - ob bei der 2004er Version mit Paul McCartney, Robbie Williams und Dido, oder auch bei der 2014er-Version. Geldof rief erneut Musiker zusammen, um diesmal für die Opfer des grassierenden Ebola-Virus Spenden zu generieren. Der Text von "Do They Know It's Christmas" war entsprechend umgeschrieben worden.

"Weißer-Retter-Komplex"

Auch der britisch-ghanaische Musiker Fuse ODG war eingeladen und fand die Idee gut. Trotzdem hatte er ein ungutes Gefühl aufgrund der Texte und Videos vorangegangener Benefiz-Songs. "Ich fürchtete, dass dies zur ständigen negativen Darstellung des afrikanischen Kontinents im Westen beitragen würde," schrieb er 2014 im britischen "Guardian".

Fuse erklärte, dass Aktionen wie "Band Aid" zwar Mitleid erzeugen und zu Spenden führten, aber vor allem schädliche Stereotypen über Afrika festigten und damit Wirtschaftswachstum, Investitionen und Tourismus auf dem Kontinent abwürgen würden.

Und nun, zehn Jahre später, ist Fuse immer noch stocksauer über das, was gerne als "Weißer Retter-Komplex" bezeichnet wird. Auf Instagram macht er kurz vor der Veröffentlichung der Sonderedition von Band Aid 40 seinem Ärger Luft und sagt unter anderem: "Wir möchten als Afrikaner nicht, dass andere Leute unsere Geschichte erzählen."

Jetzt nimmt auch Ed Sheeran Abstand

Mit Ed Sheeran hat Fuse nun einen weißen Mitstreiter. Er schließt sich der Argumentation an und möchte seinen Namen in Zukunft nicht mehr darunter setzen, wenn es um stereotype Darstellungen Afrikas und seiner Bevölkerung gehe. Sheeran war vor zehn Jahren noch dabei, gemeinsam mit One Direction, Angélique Kidjo, Chris Martin (Coldplay), Bono, Sinéad O'Connor und weiteren Stars.

Sheeran möchte aber in der neuen Version nicht mehr vorkommen. Was nicht ganz einfach ist: Denn "Do They Know It's Christmas" 2024 unter dem Projektnamen Band Aid 40 ist ein bereits fertiggestelltes, zusammengemixtes Stück aus den Versionen der letzten vier Jahrzehnte. Wenn er gefragt worden wäre, schrieb Sheeran auf Instagram, hätte er "respektvoll abgelehnt".

Indes wird Bob Geldof nicht müde, den Song und die Idee dahinter zu verteidigen. So sagte er zum TV-Sender 1News: "Dieser kleine Popsong hat Hunderttausende, wenn nicht Millionen Menschen am Leben erhalten."

Dennoch denken Radiostationen wie etwa der schweizerische Rundfunk SRF derzeit sehr genau darüber nach, ob sie das Lied in ihr diesjähriges Weihnachtsprogramm aufnehmen oder nicht.

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Image caption November 1984: Bob Geldof holt Superstars für den guten Zweck ins Studio
Image source Brian Aris/Band Aid/PA Wire/picture alliance
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Item 52
Id 70859551
Date 2024-11-24
Title Warum das "Gedächtnis" der Fettzellen Abnehmen erschwert
Short title Warum das "Gedächtnis" der Fettzellen Abnehmen erschwert
Teaser Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass sich Fettzellen an früheres Übergewicht "erinnern". Das könnte erklären, warum es so schwer fällt, nach einer Diät nicht wieder zuzunehmen.
Short teaser Fettzellen "erinnern" sich an früheres Übergewicht. Fällt es darum so schwer, nach einer Diät nicht wieder zuzunehmen?
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Sein Gewicht zu halten kann schwierig sein. Da hat man monatelang erfolgreich Diät gehalten und Sport getrieben - und dann muss der Körper hart kämpfen, damit die verlorenen Kilos nicht wieder zurückkehren.

Eine neue Studie erklärt warum: Das "Gedächtnis" der Fettzellen ist schuld. Denn Fettzellen verfügen über ein biologisches Erinnerungsvermögen, das sich an vergangenes Übergewicht erinnert und versucht, diesen Zustand wiederherzustellen - diese Forschungsergebnisse wurden in der Fachzeitschrift "Nature" veröffentlicht.

Die Forschenden stellten fest, dass sich bei einer Gewichtszunahme nicht die Anzahl der Fettzellen ändert, sondern die Art, wie die vorhandenen Fettzellen Nährstoffe speichern. Dieses "Gewichtsgedächtnis" kann sich noch Jahre nach einem Gewichtsverslust an das verlorene Gewicht erinnern.

"Unsere Studie gibt einen Hinweis darauf, warum es so schwierig ist, nach einer Gewichtsabnahme sein Gewicht zu halten. Das bedeutet, dass man gegen diese Erinnerungen 'ankämpfen' muss, um sein Gewicht zu halten", sagt Ferdinand von Meyenn, einer der Ko-Autoren der Studie und Assistenzprofessor am Departement Gesundheitswissenschaften und Technologie der ETH Zürich.

Fettzellen bewirken Jo-Jo-Effekt

Dem "Gedächtnis der Fettzellen" kamen die Forschenden auf die Spur, als sie das Fettgewebe von Personen vor und nach einer Operation zur Gewichtsreduktion untersuchten. Sie verglichen es mit dem Fettgewebe von Menschen, die nicht an Fettleibigkeit litten.

Dabei stellten sie fest, dass bei der Gruppe der Fettleibigen einige Gene im Fettgewebe aktiver waren als in der Kontrollgruppe. Diese genetischen Veränderungen waren noch lange nach der Gewichtsreduktionsbehandlung wirksam.

Daraus folgerten die Forschenden, dass sich das molekulare Gedächtnis in den Fettzellen auf epigenetische Veränderungen des Genoms zurückführen lässt.

Epigenetische Veränderungen finden statt, wenn Umweltfaktoren die Gene beeinflussen. Das bedeutet, dass eine schnelle Gewichtszunahme nicht unbedingt auf erbliche Faktoren zurückzuführen ist, sondern auch durch Ereignisse in unserem Leben ausgelöst werden kann.

Nährstoffe werden anders gespeichert

In weiteren Untersuchungen stellten die Forschenden fest, dass die Fettzellen von übergewichtigen Mäusen anders auf Nahrung reagierten als die Fettzellen von Mäusen ohne Übergewicht.

"Bei Mäusen konnten wir beobachten, dass ehemals übergewichtige Mäuse schneller an Gewicht zulegten, wenn sie eine kalorienreiche Ernährung erhielten. Indirekte Hinweise für ein solches Gedächtnis fanden wir auch beim Menschen", erklärt Laura Hinte, Ko-Autorin der Studie und Expertin für Ernährung und metabolische Epigenetik an der ETH Zürich.

Das legt nahe, dass die Erinnerung an die Fettleibigkeit die Fettzellen dazu veranlasst, sich schneller zu vergrößern und mehr Nährstoffe aufzunehmen. "Das erklärt, warum viele Menschen feststellen, dass sie nach einer Diät schneller wieder zunehmen, als sie zuvor abgenommen haben," erläuert Penny Ward, Gastprofessorin am King's College London.

Die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in Zürich versuchten auch, Mäuse auf Diät zu setzen, damit diese an Gewicht verlieren. Das Gedächtnis der Mäuse, die zuvor übergewichtig waren, erinnerte sich an ihr früheres Übergewicht und sie nahmen schneller wieder zu als die Mäuse in der Kontrollgruppe.

"Dieses Gedächtnis scheint die Zellen darauf vorzubereiten, schneller auf eine zucker- oder fettreiche Ernährung zu reagieren", schreibt von Meyenn der DW. "Das könnte mit der Gewichtzunahme nach einer Diät in Zusammenhang stehen."

Evolutionäre Vorteile

Die Autoren der Studie halten es für wahrscheinlich, dass auch andere Faktoren im Körper zum Jo-Jo-Effekt beitragen.

"Die Erinnerung der Fettzellen [an das Übergewicht] erklärt die schnelle Gewichtzunahme nicht allein", erläutert von Meyenn. "Sollten ähnliche Mechanismen in den Gehirnzellen existieren, die zum Beispiel die Nahrungsaufnahme steuern, könnte das dazu beitragen, den Jo-Jo-Effekt bei der erneuten Gewichtszunahme zu erklären."

Aus evolutionärer Sicht ergebe das Sinn, ist von Meyenn überzeugt. Menschen und andere Tiere sind darauf eingestellt, ihr Körpergewicht zu halten, nicht, es zu verlieren, denn im Laufe der Geschichte war Nahrungsmittelknappheit eine häufige, immer wieder auftretende Herausforderung.

"Auf gesellschaftlicher Ebene könnte dies für Menschen, die mit Fettleibigkeit zu kämpfen haben, ein Trost sein. Für ihre Schwierigkeiten, eine Gewichtsabnahme zu halten, ist möglicherweise nicht nur mangelnde Willenskraft oder Motivation verantwortlich, sondern das tiefere Zellgedächtnis, das sich aktiv gegen Veränderungen wehrt", meint von Meyenn.

Wie lange erinnern sich die Fettzellen?

Möglicherweise verblasst das Gedächtnis der Fettzellen mit der Zeit, doch wie lange dies dauert, können die Autoren der Studie nicht sagen.

"In dem Zeitraum, den wir betrachtet haben – zwei Jahre bei Menschen und acht Wochen bei Mäusen – hielten die Veränderungen in den Zellen des Fettgewebes an. Möglicherweise werden die Erinnerungen ausgelöscht, wenn das Gewicht über einen längeren Zeitraum gehalten wird", erklärt Hinte der DW.

Menschliche Fettzellen haben eine Lebensdauer von etwa zehn Jahren, es ist also möglich, dass die Erinnerung an die Fettleibigkeit in den Zellen nach zehn Jahren erlischt. Zurzeit gibt es keine pharmakologischen Möglichkeiten, die Fettzellen dazu bringen könnten, ihre Erinnerung an die Speicherung von Nährstoffen zu "vergessen".

Ko-Autorin Ward glaubt, dass es in Zukunft möglich sein könnte, adipöses Gewebe zu reprogrammieren, so dass es nicht zu einer erneuten Gewichtszunahme kommt, sobald eine Diät beendet oder Medikamente zur Gewichtsabnahme abgesetzt werden.

"Es ist jedoch noch ein weiter Weg, bis diese Beobachtungen genutzt werden können, um Behandlungsmethoden zur Deprogrammierung dieser Veränderungen zu entwickeln und zu testen", schreibt sie in einer E-Mail an die DW.

Möglicherweise reiche es aus, ein reduziertes oder gesundes Körpergewicht lange genug zu halten, bis das "Gedächtnis" vergessen hat, doch dafür, fügt Ward hinzu, seien weitere Studien erforderlich.

Item URL https://www.dw.com/de/warum-das-gedächtnis-der-fettzellen-abnehmen-erschwert/a-70859551?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Kampf mit Übergewicht: Einmal verlorene Pfunde sind allzu oft nicht für immer verloren
Image source Ian Iankovskii/Zoonar/picture alliance
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Item 53
Id 70859120
Date 2024-11-23
Title COP29: 300 Milliarden Dollar im Jahr sollen das Klima retten
Short title COP29: 300 Milliarden Dollar im Jahr sollen das Klima retten
Teaser Die Klimakonferenz in Baku hat nach zwei zähen Wochen ihr Ende gefunden. Bis zuletzt wurde um die Klimafinanzierung gerungen. Staats- und Regierungschefs glänzten durch Abwesenheit. Was hat die COP29 gebracht?
Short teaser Bis zuletzt wurde in Baku um die Klimafinanzierung gerungen. Staats- und Regierungschefs glänzten durch Abwesenheit.
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Die letzten Stunden eines UN-Gipfels sind stets die längsten, aber die entscheidenden. Das war bei der Klimakonferenz COP29 in Baku nicht anders. Es brauchte mehrere Verlängerungen, bis eineinhalb Tage nach dem geplanten Ende die wichtigste Frage geklärt war - wenngleich nicht zur allgemeinen Zufriedenheit: In den kommenden zehn Jahren sollen 300 Milliarden US-Dollar jährlich von den Industrienationen für Klimaschutz und die notwendige Anpassung an die Klimafolgen bereitgestellt werden.

Gefordert - und von der Wissenschaft für nötig befunden - war mehr als das Vierfache. Und so zeigte sich in der Hauptstadt von Aserbaidschan einmal mehr, dass Klimakonferenzen nach einem sehr eigenen Muster funktionieren. Und selten passte der Austragungsort so gut zum Verlauf der eigentlichen Verhandlungen wie dieses Jahr. Zwei Wochen hetzten Ministerinnen, Aktivisten, Staatschefinnen und Unterhändler in den düsteren Tunneln des Olympiastadions von Baku von einem Treffen zum nächsten, von Verhandlungsräumen zu Diskussionsrunden. Fenster gibt es in den Stadion-Katakomben keine, ebenso wenig wie Tagesslicht. Dafür aber unendlich viele Abzweigungen und Türen, die zum Verlaufen einladen oder in Sackgassen enden.

Gleiches galt für die Verhandlungen auf dem Gipfel, denn zäher und orientierungsloser hätten sie kaum sein können. Erst spät am Samstag zeigte sich Licht am Ende des Tunnels. Zeitweilig hatten Inselstaaten und die ärmsten Länder (LDC’s) aus Protest den Verhandlungsraum verlassen. Auch die deutsche Staatssekretärin und Sondergesandte für Klimawandel, Jennifer Morgan, verließ schnaubend den Saal. Es ging nichts mehr. Weder wurde verhandelt noch wusste selbst die erfahrensten Delegationen, was gerade Stand der Dinge war.

"Nichts geht mehr"

Eine Gemengelage, die Klimakonferenzen zum Scheitern bringt. “Nichts geht mehr”, hieß es von Vertretern eines Entwicklungslandes zur DW. Die Zeit spiele gegen sie. Und damit sind die Länder gemeint, die sich von der Klimakonferenz deutlich mehr Unterstützung beim Klimaschutz erhofft hatten - die Länder des globalen Südens.

Es ging also um Geld, deutlich mehr Geld, als bisher an Entwicklungsländer gezahlt wurde. Zahlen sollen vor allem Industrieländer, denn sie sind hauptverantwortlich für die erderwärmenden Treibhausgasemissionen und damit für den Klimawandel. Bekommen sollen es die Entwicklungsländer, die besonders unter Dürren, Überflutungen, Stürmen und dem Anstieg des Meeresspiegels leiden. Die Kosten für diese Klimafolgen übersteigen häufig ihre finanziellen Möglichkeiten.

Allerdings: Das Thema Geld ist immer schwierig - auch auf der diesjährigen Klimakonferenz. Doch nun steht ein Deal zur neuen Klimafinanzierung.

Worauf sich die Staaten auf der COP in Baku geeinigt haben

Der verabschiedete "Fahrplan von Baku nach Belem zur Erreichung von 1,3 Billionen“ ist ein Minimalkonsens mit dem kaum eine Partei glücklich sein dürfte. Auch wenn die Industriestaaten ihre Klimahilfen für ärmere Staaten tatsächlich verdreifachen. Denn als Gesamtziel wird die Summe von 1,3 Billionen US-Dollar genannt, an der aber auch Entwicklungsbanken und private Geldquellen beteiligt werden sollten, ebenso wie andere Geberländer als nur die Industriestaaten.

"Die Kunst des Verhandelns besteht darin, den richtigen Kompromiss zu finden, der von niemandem aktiv abgelehnt wird", sagte So LI Shuo , Direktor des China Climate Hub des Asia Society Policy Institutes zur DW. "Es wird nie darum gehen, eine Zahl zu finden, die irgendjemand oder alle von ganzem Herzen annehmen werden."

Von ganzem Herzen kann bei der Abschlusserklärung in der Tat nicht die Rede sein. Im Gegenteil: Viele Entwicklungsländer sind empört. "Wir, die besonders gefährdeten Länder, sitzen im Vergleich zu den Industrieländern in einem ganz anderen Boot," sagt Cedric Schuster, der samoanische Vorsitzende der Gruppe. "Nach dem Ende dieser COP29 können wir nicht einfach in den Sonnenuntergang segeln. Wir werden buchstäblich untergehen. Verstehen Sie das? Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass unsere Inseln untergehen!"

Wissenschaft: "Mehr Klimafinanzierung gleich mehr Klimastabilität"

Dabei sprechen die wissenschaftlichen Zahlen eine klare Sprache. Ein Bericht der High-Level-Group (IHLEG), einer Runde von Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, der während der diesjährigen COP in Aserbaidschan erschien, warnt vor einer Verzögerung und Verfehlung des Finanzierungsziels. Denn das würde "einen steileren und potenziell kostspieligeren Weg zur Klimastabilität" bedeuten. "Je weniger die Welt jetzt erreicht, desto mehr werden wir später investieren müssen", heißt es in dem Bericht.

Die Investitionen in allen Bereichen des Klimaschutzes müssen in allen Staaten steigen. Bis 2030 würden durchschnittlich 6,5 Billionen US-Dollar pro Jahr benötigt, um die Klimaziele in den Industrienationen, in China und den am wenigsten entwickelten Ländern zu erreichen.

Neben dem Schutz von Menschenleben vor Klimakatastrophen geht es in der Studie über die Klimafinanzierung auch um wirtschaftliche Vorteile, die rasche Investitionen in den Klimaschutz bieten können. Und es geht darum, wie die Gelder am besten verteilt werden sollten. Afrikanische Länder verfügten beispielsweise über rund zwei Drittel der günstigsten Standorte für die Nutzung von Solarenergie weltweit, sie erhalten jedoch jährlich weniger als zwei Prozent der globalen Investitionen in erneuerbare Energien.

Wer sollte für den Klimaschutz zahlen?

Bisher zahlten die Industriestaaten gemeinsam jährlich 100 Milliarden Dollar für die internationale Klimafinanzierung. Reiche Länder wollten, dass große und finanzstarke Emittenten wie China und Saudi-Arabien ebenfalls ihren Beitrag leisten. Offiziell gelten diese Staaten laut UN-Definition immer noch als Entwicklungsländer und gehören nicht zu der Runde der Geberländer. Somit mussten sie bislang auch keine festen Zusagen in Sachen Klimafinanzierung machen.

China, von dem viele hofften, es könnte eine wichtigere Rolle in der internationalen Klimapolitik einnehmen, verwies bislang auf seine freiwilligen Zahlungen. Nach eigenen Angaben hat die Volksrepublik seit 2016 rund 24,5 Milliarden US-Dollar an Klima-Finanzmitteln bereitgestellt. Auch Vertreter von Umweltorganisationen gaben zu bedenken, dass China allein schon durch seinen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien viel für den weltweiten Klimaschutz tue. Laut der Internationalen Energieagentur (IEA) stammt ein Drittel der weltweiten Investitionen in erneuerbare Energien aus China. Allerdings stößt auch kein Land so viel Treibhausgase aus wie China.

Kohlenstoffkompensation: emittierende Länder können sich freikaufen

Bei den umstrittenen Kohlenstoffmärkten erzielten die Verhandler eine Einigung, die es umweltverschmutzenden Ländern erlauben würden, Kohlenstoffkompensationen zu kaufen. Befürworter sagen, die neuen Regeln würden Investitionen in Ländern mit lokalem Einkommen ankurbeln, wo die Kohlenstoffprojekte in der Regel angesiedelt sind. Kritiker sagen jedoch, die Kompensationen könnten zur Verschleierung der Klimaziele verwendet werden.

"Diese Entscheidungen wurden hinter verschlossenen Türen getroffen", sagte Tamra Gilbertson vom Indigenous Environmental Network gegenüber DW. "Wir wissen, dass andere Kohlenstoffmärkte bei der Bekämpfung des Klimawandels und der Emissionen völlig versagt haben."

Alle reden über Geld, doch was ist mit den Treibhausgasen?

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen hatte am offiziell letzten Tag der Konferenz noch betont: "Klimafinanzierung funktioniert nicht ohne CO2-Minderung." Die Folgen und Schäden durch den Klimawandel ließen sich schlicht nicht mehr bezahlen, wenn man die Erdüberhitzung nicht bei etwa 1,5 Grad stoppe, warnte die Ministerin.

Dabei hatte man sich bei der Klimakonferenz im vergangenen Jahr darauf geeinigt, sich nach und nach von den fossilen Energien zu verabschieden. Die sogenannten Like-Minded-Countries, darunter China und Indien, wie auch die afrikanischen Verhandlungsgruppen, wollten sich aber auf dieser COP von Anfang an auf das Finanzierungsziel konzentrieren.

"Wir sind die Länder, die den größten Teil in der Waagschale haben," sagt Tina Stege, die Klimabeauftragte der Marshallinseln. "Anfällige kleine Inselstaaten und die am wenigsten entwickelten Länder werden den Preis dafür zahlen. Sie haben keine Sicherheit, dass der mickrige Betrag, der hier aufgeboten wird, unseren Ländern wirklich zugute kommt."

Die COP29 wurde oft als "Finanz-COP" bezeichnet. Sie hat gezeigt, welche Herausforderungen vor einem globalen Konsens im Klimaschutz zu bewältigen sind. Sie zeigt auch, wo dieses Format an seine Grenzen stößt, weshalb Reformforderungen laut wurden. In einem offenen Brief an die Vereinten Nationen erklärte eine Gruppe von Wissenschaftlern und ehemaligen Staats- und Regierungschefs, die COP sei "nicht mehr geeignet". Man müsse von Verhandlungen zur Umsetzung übergehen, um "die vereinbarten Verpflichtungen einzuhalten sowie die dringend nötige Energiewende und den Ausstieg aus fossilen Energien zu gewährleisten".

Redaktionelle Mitarbeit: Jeannette Cwienk, Rolf Breuch

Item URL https://www.dw.com/de/cop29-300-milliarden-dollar-im-jahr-sollen-das-klima-retten/a-70859120?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Es ist geschafft: Auf der UN-Klimakonferenz in Baku gab es eine Einigung - doch sie bietet nicht nur Anlass zu Freude
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Item 54
Id 70864050
Date 2024-11-23
Title USA erheben Anklage gegen Modi-Verbündeten Gautam Adani
Short title USA erheben Anklage gegen Modi-Verbündeten Gautam Adani
Teaser US-Justizbehörden erheben Anklage wegen Bestechung gegen den indischen Tycoon Gautam Adani. Für Solarverträge sollen Schmiergelder in dreistelliger Millionenhöhe geflossen sein. Was bedeutet das für die Regierung Modi?
Short teaser US-Justizbehörden erheben Anklage wegen Bestechung gegen den indischen Tycoon Adani. Was bedeutet das für Premier Modi?
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Der indische Milliardär und Unternehmer Gautam Adani muss sich vor der US-amerikanischen Justiz verantworten. Der Vorsitzende der Unternehmensgruppe Adani Group wird beschuldigt, mehr als 250 Millionen US-Dollar (238 Millionen Euro) an Schmiergeldern bezahlt zu haben, um an Aufträge im indischen Energiesektor zu kommen.

Laut der Anklage der US-Bundestaatsanwalt für den östlichen Distrikt von New York wurden indischen Regierungsangestellten Schmiergeldzahlungen angeboten, um dem Unternehmen "lukrative Lieferverträge im Bereich Solarenergie" mit staatlichen Stromversorgungsunternehmen zu sichern. "Den Angeklagten wird vorgeworfen, ein ausgeklügeltes Programm zur Bestechung indischer Regierungsbeamter ausgearbeitet zu haben, um sich Verträge im Wert von Milliarden US-Dollar zu sichern", teilte Breon Peace, US-Staatsanwalt für New York, in einer Stellungnahme mit.

"Null Toleranz" gegen Korruption?

Ihre Zuständigkeit für den Fall begründen die US-Strafverfolger mit einem mutmaßlichen Betrug an US-Investoren, bei denen Adani Kapital eingesammelt habe. Sie hätten nichts von den vorgeworfenen Schmiergeldzahlungen gewusst und seien deshalb getäuscht worden. Die New Yorker Staatsanwaltschaft verweist auf die Geschäftsberichte der Adani-Group, in denen eine "Null Toleranz-Politik" gegenüber Korruption beschrieben wird.

Die Unternehmensgruppe stand bereits wegen Börsenmanipulation in der Kritik. Entsprechende Vorwürfe hatte im Januar 2023 Hindenburg Research erhoben. Das US-amerikanische Investment-Unternehmen veröffentlichte damals einen Bericht, in dem Vorwürfe des Bilanzbetrugs und der Marktmanipulation durch die Adani Group aufgelistet worden waren. In Folge des Berichts verloren die börsennotierten Unternehmen der Adani-Gruppe dramatisch an Marktwert. Dem riesigen Industriekonzern werden enge Beziehungen zur indischen Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) und Premierminister Narendra Modi nachgesagt.

Indiens Opposition kritisiert Modi

Indische Abgeordnete fordern eine Untersuchung der Finanzgeschäfte von Adani sowie der Auswirkungen von Projekten der Gruppe auf die Umwelt und die lokale Bevölkerung Indiens.

Rahul Ghandi, Vorsitzender der oppositionellen Kongresspartei, warf der Regierung Modi vor, Adani vor Ermittlungen und Verhaftungen zu schützen. "Wir haben das Thema immer wieder zur Sprache gebracht", sagte Ghandi auf einer Pressekonferenz, bei der er seine Forderung nach einer Untersuchung der Aktivitäten der Adani Group durch einen Gemeinsamen Parlamentarischen Ausschuss wiederholte.

"Es bestätigt, was wir immer gesagt haben. Der indische Premierminister schützt Adani und ist gemeinsam mit Adani in Korruption verwickelt. Das wird hier deutlich", sagte der Oppositionspolitiker. "In den USA ist es jetzt ziemlich klar und erwiesen, dass Adani sowohl US-amerikanisches als auch indisches Recht gebrochen hat. In den USA wurde gegen ihn Anklage erhoben, und ich frage mich, warum Adani in diesem Land immer noch frei herumläuft."

Welche Verbindungen bestehen zur Regierung?

Zudem forderte Gandhi eine Überprüfung von Madhabi Puri Buch, der Leiterin der indischen Börsenaufsichtsbehörde "Securities and Exchange Board of India" (SEBI). "Adani sollte umgehend verhaftet und die Rolle seiner 'Beschützerin' Buch sollte untersucht werden", sagte er.

Die indische Oppositionsabgeordnete Sagarika Ghose betont gegenüber der DW, die Regierung müsse auf die wiederholten Forderungen nach einer formellen Untersuchung des Verdachts der Börsenmanipulation und Bestechung reagieren. "Es ist kein Geheimnis, dass die Regierung Modi aktiv die Adani Group auf Kosten anderer Unternehmensgruppen fördert. Wir stehen hinter der indischen Unternehmerschaft, unterscheiden aber klar zwischen Wirtschaftsförderung und Vetternwirtschaft", erklärte sie, und fragt: "Wird Narendra Modi jetzt, da die USA seinen Lieblingsunternehmer anklagen, sein Schweigen brechen?"

Die kommunistische Partei Indiens (Communist Party of India) erklärte in einer Stellungnahme, die Regierung Modi könne sich nicht länger hinter einer Nebelwand verstecken. Sie forderte eine Untersuchung der von den USA erhobenen Bestechungsvorwürfe gegen Adani durch das Central Bureau of Investigation, Indiens zentraler Untersuchungsbehörde.

Börsenkurse brechen ein

Die Adani Group weist die Vorwürfe gegen ihren Vorsitzenden Gautam Adani zurück. "Die Anschuldigungen des US-Justizministeriums und der Börsenaufsichtsbehörde SEC gegen den Vorsitzenden von Adani Green entbehren jeder Grundlage und werden zurückgewiesen", schreibt die Unternehmensgruppe in einer Erklärung. "Alle verfügbaren Rechtsmittel" würden ausgeschöpft.

Viele Investoren reagieren jedoch bereits auf den Bericht und verkaufen ihre Anteile an der Adani Group. Die Auswirkungen der Vorwürfe sind in der gesamten Unternehmensgruppe zu spüren. Die Aktien der börsennotierten Unternehmen der Gruppe verloren zwischen zehn und 20 Prozent an Wert. Knapp 30 Millionen US-Dollar oder 28,5 Millionen Euro des Marktwerts wurden damit laut Daten der Nachrichtenagentur Reuters vernichtet.

Als Hindenburg Research im Januar 2023 seinen Bericht veröffentlichte, fiel der Marktwert von Adani um mehr als 100 Milliarden US-Dollar (95 Milliarden Euro). Die Gruppe sagte daraufhin einen geplanten Börsengang in Höhe von 2,5 Milliarden US-Dollar (2,4 Milliarden Euro) ab.

Sieben in Indien börsennotierte Unternehmen führen "Adani" in ihrem Namen. Dazu gehören Firmen in den Bereichen Energietechnik, grüne Energie und dem Betrieb von Häfen. Zur Gruppe zählen außerdem Zementhersteller, Flughafenbetreiber, Kohleminen und eine Digital-Marketing-Agentur.

Die Finanzierung der Adani Group über die LIC und die State Bank of India, der größten Bank Indiens, lässt Bedenken lautwerden hinsichtlich möglicher Folgen für die finanzielle Stabilität der Institutionen und für die Ersparnisse von Millionen indischen Bürgern. Die LIC, einer Versicherungsgruppe und Investmentgesellschaft, die sich mehrheitlich im Besitz der indischen Regierung befindet, hält Beteiligungen in Höhe von einem bis neun Prozent an fünf Unternehmen der Adani Group.

"Die Menschen dachten, ihr Geld sei bei Banken und Institutionen des öffentlichen Sektors sicher untergebracht", sagt Ram Gopal Yadav, Abgeordneter der sozialistischen Partei Samajwadi Party.

Kann Modi dem Sturm standhalten?

Indiens Regierungspartei BJP spielt das Thema herunter und verweist darauf, dass die Anklage in den USA keine Beweise enthielte. "Bei den in der Anklageschrift erhobenen Vorwürfen handelt es sich um Anschuldigungen. Bis zum Beweis ihrer Schuld gilt für Angeklagte jedoch die Unschuldsvermutung", betonte Amit Malviya, der die Abteilung Soziale Medien der BJP leitet, auf der Plattform X. "In sämtlichen Staaten, die hier erwähnt werden, war zu diesem Zeitpunkt die Opposition an der Macht. Bevor Sie hier also Vorhaltungen machen, sollten Sie Antworten geben zu den Schmiergeldern, die die Kongresspartei und ihre Verbündeten angenommen haben."

Modi wird von vielen als enger Verbündeter Adanis betrachtet, dessen Geschäftsinteressen häufig mit den Wachstumszielen der Regierung übereinstimmen. Bereits in der Vergangenheit musste sich die Regierung Modi Fragen über ihre Verbindungen zu großen Unternehmen gefallen lassen. Die Anklage könnte die Sorgen der Öffentlichkeit über Korruption und Staatsführung lauter werden lassen.

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

Item URL https://www.dw.com/de/usa-erheben-anklage-gegen-modi-verbündeten-gautam-adani/a-70864050?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Unternehmenszentrale der Adani Group in Ahmedabad, der Heimatstadt von Gautam Adani
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Item 55
Id 70857437
Date 2024-11-23
Title Musk in der Trump-Regierung: Eine Entscheidung voller Interessenskonflikte
Short title Musk in der Trump-Regierung: Zahlreiche Interessenskonflikte
Teaser Trump setzt Elon Musk an die Spitze des neuen Ressorts namens "Regierungseffizienz" - das ist gelinde gesagt problematisch. Denn kann der reichste Mann der Welt tatsächlich unabhängig sein, wenn er Staatsausgaben kürzt?
Short teaser Musk wird Leiter eines Ressorts, das Staatsausgaben senken soll. Kann der reichste Mann der Welt dabei unabhängig sein?
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Medien haben viel über die aufblühende Freundschaft zwischen dem designierten Präsidenten Donald Trump und dem reichsten Mann der Welt, Elon Musk, berichtet.
Was zunächst wie eine seltsame Verbindung schien, hat sich zu einer beruflichen Chance für Musk entwickelt. In der vergangenen Woche sah man die beiden in Palm Beach, beim Schwergewichtskampf der Ultimate Fighting Championship (UFC) in New York und Fastfood von McDonald's futternd in einem Jet.

Vor der Wahl kündigte Trump an, dass er den in Südafrika geborenen Musk eine Kommission für Regierungseffizienz leiten lassen würde. Letzte Woche machte Trump diese Ankündigung konkreter: Er bestätigte, dass die neue Behörde Department of Government Efficiency (DOGE) heißen wird, also ein Ressort namens "Regierungseffizienz". Musk bekommt dabei Unterstützung von einem weiteren wohlhabenden Unternehmer: Vivek Ramaswamy.

Was ist Musks neuer Job?

Es ist ein ganz neues Ressort, also weiß niemand genau, welche Aufgaben oder welche Befugnisse es umfassen wird. Wahrscheinlich wird es sich um eine kleine beratende Gruppe handeln, die außerhalb der Regierung tätig ist und keine wirklichen Regulierungsbefugnisse hat. Was sie jedoch haben dürfte, ist Einfluss - und ein lautstarkes Sprachrohr in Gestalt von Musk.

Das Ressort mit dem dystopischen Namen "Department of Government Efficiency" strebt an, die Ausgaben der US-Regierung um 2 Billionen Dollar (1,9 Billionen Euro) zu senken. Der Abbau von Bürokratie, Regulierungen und "überflüssigen Ausgaben" soll die US-Regierung nachhaltig entschlacken.

Musk ist dafür bekannt, die Kosten in seinen eigenen Unternehmen zu senken. Aber das Kürzen von Regierungsausgaben wird eine große Herausforderung. Das Vorhaben soll bis Juli 2026 abgeschlossen werden.

"Musk hat keine wirkliche Erfahrung mit Regierungen, außer dabei sie zu verklagen oder Verschwörungstheorien über sie zu verbreiten", sagte Donald Moynihan, Professor für öffentliche Verwaltung an der Ford School of Public Policy der Universität Michigan.

"Die US-Regierung muss modernisiert werden, aber alles, worüber Musk spricht, ist Kosten zu senken und Menschen zu bestrafen, mit denen er nicht einverstanden ist", sagte Moynihan der DW. "Seine einfache mathematische Gleichung geht aber nicht auf."

2023 lag das US-Regierungsbudget bei 6,1 Billionen Dollar. Ein Drittel davon floss in die Sozialversicherung und Medicare - Programme, die Trump laut eigenen Aussagen unangetastet lassen will. Laut dem überparteilichen Congressional Budget Office handelt es sich insgesamt nur bei 1,7 Billionen Dollar um Ermessensausgaben, also Ausgaben, die nicht gesetzlich oder vertraglich fixiert sind und durch die Abgeordneten abgelehnt werden könnten.

SpaceX und ein milliardenschwerer Interessenkonflikt?

Musk sollte bereits mit der Führung seiner sechs Unternehmen wie Tesla, SpaceX und X (ehemals Twitter) ziemlich ausgelastet sein. Die neue Position in der US-Regierung birgt dabei zahlreiche Interessenkonflikte. Insbesondere, weil einige seiner Unternehmen staatliche Subventionen erhalten und zum Teil direkte Verträge mit der US-Regierung bestehen. Das heißt, es handelt sich bei einigen seiner Unternehmen um staatliche Auftragsnehmer. Zudem nutzen Musks Unternehmen auch Innovationen und Technologien, die regulatorische Grenzen sprengen.

"Ich kann mich an keinen anderen Fall erinnern, in dem jemand - mit so klaren und offensichtlichen Interessenskonflikten - einem öffentlichen Amtsträger Ratschläge zum Budget, zur Struktur und zur Entlassung von Mitarbeitern erteilt, obwohl sie seine Geschäfte direkt betreffen", sagte Moynihan. "Das ist geradezu karikaturhaft korrupt.“

Im Laufe der Jahre hat SpaceX Milliarden an den Verträgen mit der NASA und dem Verteidigungsministerium verdient. So etwa für den Start von Satelliten, die Versorgung der Internationalen Raumstation oder der Nutzung des Starlink-Satellitennetzwerks.

In den letzten zehn Jahren beliefen sich diese SpaceX-Verträge auf mehr als 15 Milliarden Dollar, wie die New York Times errechnete. Allein im letzten Jahr schlossen Musks Unternehmen 100 verschiedene Verträge mit 17 US-Regierungsbehörden im Gesamtwert von 3 Milliarden Dollar ab.

Weitere Interessenkonflikte?

Musk hat eine ganze Serie von öffentlichen Auseinandersetzungen mit US-Regierungsbehörden und anderen Regulierungsbehörden hinter sich. Eine Untersuchung durch die US-Börsenaufsicht SEC führte 2018 zu einer Anklage wegen Wertpapierbetrugs. Musks Rücktritt als Vorsitzender von Tesla war Teil der späteren Einigung.

Tesla hat enorme Steuererleichterungen und andere Anreize von verschiedenen US-Staaten erhalten. Auf US-Regierungsebene hat Tesla zwar nur kleinere Regierungsaufträge zur Lieferung einiger Fahrzeuge. Musk könnte Trump jedoch davon überzeugen, Steuervergünstigungen für Elektrofahrzeuge beizubehalten, um den Verkauf zu steigern. Zudem könnte Musk darauf drängen, Zölle bei Konkurrenten zu erhöhen, die Fahrzeuge in Mexiko oder anderswo herstellen.

Und das ist längst nicht alles: Musk könnte die Aufsichtsbehörden beeinflussen, die Teslas Vorstoß zum selbstfahrenden Auto genauer unter die Lupe nehmen wollen. Ebenso könnte er versuchen, Emissionsregelungen beizubehalten, die es Tesla ermöglichen, Umweltgutschriften im Wert von Milliarden Dollar an andere Autohersteller zu verkaufen, die nicht genügend Elektrofahrzeuge produzieren.

Bei den anderen Musk-Unternehmen - xAI, The Boring Co, Neuralink und X - bestehen zwar keine Verträge mit der US-Regierung. Das ändert aber nichts daran, dass es die Möglichkeit gäbe von der Nähe zu Trump zu profitieren. Die Nähe würde dabei helfen, künstliche Intelligenz voranzutreiben oder auch den Social-Media-Konkurrenten TikTok zu blockieren.

Ein plötzliches Ende der ungewöhnlichen Freundschaft?

Trump ist nicht der erste Präsident, der versucht Ausgaben zu kürzen oder Effizienz-Experten hinzuziehen. Doch der Unterschied ist diesmal, wen der designierte Präsident einbezieht und welche Möglichkeiten der persönlichen Bereicherung es dabei gibt.

Bisher äußerte sich Trump vorsichtig und betonte, dass Musk kein offizieller Teil der Exekutive sein würde und nur "außerhalb der Regierung Ratschläge und Anleitungen geben und mit dem Weißen Haus und dem Office of Management & Budget zusammenarbeiten würde, um umfassende Strukturreformen voranzutreiben.“

Dies ist entscheidend, denn das Bundesgesetz verbietet es Personen, sich an Regierungsangelegenheiten zu beteiligen, bei denen ein finanzielles Eigeninteresse besteht.

Aber, ganz egal wie Musks offizieller Titel lauten wird - große Kürzungen benötigen letztendlich die Unterstützung und Zustimmung des Kongresses. Das heißt, trotz allem werden die Abgeordneten am Ende die endgültige Entscheidung treffen.

Unter
Strich bleibt der unberechenbarste Teil bei dem Ganzen Trump selbst. Er ist dafür bekannt, Lieblinge auszuwählen und sie plötzlich fallen zu lassen. Und den reichsten Mann der Welt fallen zu lassen, könnte eines Tages der Ego-Boost schlechthin für Trump sein.

Trump und Musk seien zwei große Persönlichkeiten, die das Rampenlicht lieben, sagt Moynihan, doch Trump könne es nicht ertragen, in den Schatten gestellt zu werden. "Diese ungewöhnliche Beziehung aufrechtzuerhalten, wird ungefähr so schwierig sein, wie Billionen zu kürzen."

"In gewisser Weise könnte die Berufung Musks in ein Beratungsgremium als Herabstufung angesehen werden, da nicht klar ist, ob es überhaupt etwas bewirken wird", bringt es Donald Moynihan auf den Punkt.

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert

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Image caption Beobachter spekulieren bereits, wie lange die Bromance zwischen Trump und Musk halten wird
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Item 56
Id 70860659
Date 2024-11-22
Title Mühsame Annäherung: Kongos Kobalt und Europas Rohstoffhunger
Short title Mühsame Annäherung: Kongos Kobalt und Europas Rohstoffhunger
Teaser Die enormen Bedarfe an Rohstoffen für Elektromobilität haben Kongo in eine bessere Verhandlungsposition gebracht. Europa setzt auf Rohstoffsicherheit. Doch die Realitäten vor Ort sind andere.
Short teaser Der Hunger nach Rohstoffen für Elektromobilität hat Kongo in eine bessere Verhandlungsposition gebracht.
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Brüssel, im Sommer 2024. In einem Büro des Europäischen Parlaments steht die französische Abgeordnete Marie-Pierre Vedrenne von der liberalen Fraktion Renew Europe und erklärt ihre Position zur europäischen Rohstoffpolitik.

"Wir haben ein Interesse, zusammenzuarbeiten", sagt Vedrenne im DW-Interview. "Frankreich, Deutschland und die ganze EU müssen gemeinsam handeln, um eine Versorgung der EU zu schaffen, die sicher und nachhaltig ist. Die Fördermethoden sollen unserer Vision gerecht werden, keine Ressourcen auszubeuten und nicht dazu beizutragen, dass Kinder unter schrecklichen Bedingungen arbeiten müssen."

7000 Kilometer weiter südlich, nahe der südkongolesischen Bergbaustadt Kolwezi, steht Paul Zagabe Banze in einer Kupfer- und Kobaltmine. Er hält zwei Brocken Erzgestein in die Kamera, die Baseballcap als Schutz gegen die glühende Sonne über dem bärtigen Gesicht. Hier wird von Hand gearbeitet, 50 Kilogramm schwere Säcke mit Gestein auf dem Rücken getragen. Kinder sind keine zu sehen.

Die Männer hinter ihm sorgen mit rastlosen Schlägen der schweren Hämmer für eine rhythmische Untermalung. "Wir Bergarbeiter wissen nicht, was dieses Kupfer und Kobalt für einen Nutzen hat", sagt er. "Die Weißen kaufen das. Wir verkaufen es, aber wir wissen nicht, was sie damit machen." Als könnte er es selbst nicht glauben, sagt er den Satz gleich noch einmal.

Kein Weg vorbei an Kongos Kobalt

Zwischen den staubig-roten Abbruchkanten in Kongos Bergbaugebieten und dem Gewirr aus klimatisierten Gängen im politischen Zentrum Europas liegen Welten. Die Brücke sind die Rohstoffe. Als Bestandteil von Batterien ist Kobalt ein zentraler Rohstoff für die Energiewende - die sich die europäische Politik zum Anliegen gemacht hat mit dem Versprechen, bis 2050 klimaneutral zu werden.

Tatsächlich entfallen auf den Kongo heute mehr als zwei Drittel der weltweiten Kobaltproduktion. Mit dem zentralafrikanischen Land steht und fällt die weltweite Produktion. Nach einem Tiefpunkt von 800 Tonnen Jahresertrag im Jahr 1994 hat sich das Volumen bis 2020 auf 98.000 Tonnen mehr als verhundertfacht, während der Ertrag in der restlichen Welt sich etwas mehr als verdoppelt hat - ein vergleichsweise sanfter Anstieg.

Abhängigkeiten umgekrempelt

Europa sucht, der Kongo bietet - so einfach ist die Gleichung in diesem Kontext nicht. Cecilia Trasi, Analystin für Energie und Klima beim europäischen Thinktank Bruegel, ordnet ein: "Die Mehrheit der weltweiten Kobaltreserven liegt im Kongo, aber verarbeitet werden drei Viertel davon in China. Wenn wir das Kobalt nutzen wollen, müssen wir uns also an China wenden."

Auch die Europaabgeordnete Vedrenne zeigt sich der Schieflage bewusst - und versucht gleich eine Erklärung: China beherrsche zurzeit die ganze Wertschöpfungskette der Rohstoffe, von der Extraktion über die Veredelung und Weiterverarbeitung bis hin zum Recycling. Gerade im Kongo bediene sich China ausbeuterischer Methoden - "mit dem Willen, keine lokale Wertschöpfung in Afrika aufzubauen, auch wenn das das Ziel sein sollte", findet die liberale Abgeordnete.

So treten europäische Akteure in Kongos Kupfergürtel kaum in Erscheinung. Stattdessen kommt das Kobalt über den Weltmarkt nach Europa - nach Veredelung in China und meist fünf bis sechs Zwischenstationen, wie Expertin Trasi schätzt.

Dass europäische Länder nicht unbedingt Wunschpartner für den Kongo sind, ist für Simon Tuma Waku nur folgerichtig. Der Geschäftsmann und Funktionär, der 2002 als Bergbauminister nach Jahren des Kriegs das erste Bergbaugesetz auf den Weg brachte, vergleicht das Verhältnis der afrikanischen Länder zu ihren ehemaligen Kolonialmächten mit jungen Erwachsenen, die sich von ihren Eltern emanzipieren. "Genau das passiert jetzt. All diese afrikanischen Länder sagen: Ihr müsst jetzt auch unsere Gefühle, unsere Wünsche bedenken. Auch wenn ihr uns helft, Geld gebt oder was auch immer: Zwingt uns nicht auf, was ihr für unser Bestes haltet. Sondern fragt uns: Was wollt ihr tun? Und wir sagen euch, wie ihr euer Geld investieren könnt."

Kongos neues Selbstbewusstsein

Und Kongo geht in großen Schritten voran. Der Fokus auf Rohstoffe ist nicht neu. Vor mehr als hundert Jahren förderten Sklaven in der Privatkolonie des belgischen Königs Leopold unter menschenunwürdigen Bedingungen Kautschuk für den europäischen Bedarf. Nach der Unabhängigkeit installierte Diktator Mobutu Sese Seko ein System, in dem durch Verstaatlichung, fehlende Investitionen und ausbeuterische Vetternwirtschaft kaum Gewinne übrigblieben und die Produktion zuletzt deutlich einbrach. Erst unter Joseph Kabila, dem Vorgänger des aktuellen Präsidenten Félix Tshisekedi, mehrten sich die Bemühungen, die Branche zu regulieren, wichtige Unternehmen zu umwerben und gar mit dem benachbarten Sambia zusammenzuarbeiten - mit dem Ziel, selbst in die Batterieherstellung einzusteigen.

"Wir haben eine wichtige Entscheidung getroffen, den Bergbausektor für Privatinvestoren zu öffnen, um ihn vor dem Verfall zu bewahren, weil der Staat nicht so große Gewinne erzielte", sagt Tuma Waku am Rande einer belebten Bergbaumesse in der südkongolesischen Metropole Lubumbashi.

Der heutige Geschäftsmann lobt sein eigenes Bergbaugesetz von 2002 als Startpunkt für die Wiederbelebung des Sektors. Die Kulisse von Hochglanzmaschinen und internationalen Gästen scheint ihm Recht zu geben. Inzwischen gilt eine neue Fassung des Gesetzes von 2018. Die setzt einen Fokus auf die Umweltverträglichkeit der Branche.

Europa arbeitet weiter an seinen Idealen

Bei genauem Hinsehen finden sich dann tatsächlich Spuren europäischer Projekte im Kongo: Ein groß angelegtes Infrastrukturprojekt soll die Bergbaustadt Kolwezi direkt mit Lobito in Angola verbinden, neue Straßen und Stromtrassen entstehen. So soll der Anschluss an den Atlantischen Ozean und damit an Europa verbessert werden - ein Stück Selbstständigkeit und Entscheidungsmacht für den Kongo.

Wir fragen in Brüssel bei Jutta Urpilainen nach. Als scheidende EU-Kommissarin für internationale Partnerschaften hat sie viel in die Beziehungen zu Afrika investiert. "Es ist wichtig, zu verstehen, dass die Welt, in der wir leben, zunehmend vernetzt ist", sagt Urpilainen. Europa lege zurzeit eine starken Fokus auf Verteidigung, laufe dabei aber Gefahr, sich geopolitisch zu isolieren.

Urpilainen beschwört aber auch die Erfolge. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten hätten unter dem Schlagwort "Team Europe" zu neuem Selbstbewusstsein gefunden. Mit der Global Gateway Initiative, einer europäischen Gegeninitiative zu Chinas Neuer Seidenstraße, investiert Europa vor allem in strategische Infrastrukturmaßnahmen wie den Lobito-Korridor. "Es ist wichtig, in Entwicklungszusammenarbeit zu investieren. Es ist wichtig, dass Europa ein Champion für Klimafinanzierung und menschliche Entwicklung und für globale Investitionen bleibt." Das sei es, was auch afrikanische Partner erwarteten.

Doch alle Infrastruktur-Bemühungen Europas können es nicht zum Partner Nummer eins des Kongo aufsteigen lassen. An den Exporten des Landes hält China den Löwenanteil, weitere Länder bringen sich in Position. Und nach den Regeln der früheren Kolonialmächte zu spielen, liegt den Mächtigen in Provinzen und Unternehmen fern. Auch die Fortschritte des neuen Bergbaugesetzes bleiben auf dem Papier: Die Regierung mache keine Anstalten, das eigene Gesetz auch anzuwenden, beklagen lokale Nichtregierungsorganisationen.

In der Mine bei Kolwezi gibt sich Paul Zagabe Banze zufrieden. Er lebe gut mit seiner Frau und seinen vier Kindern. Die Rechnung stimme - mit der Kraft, die Gott ihm gegeben habe.

Mitarbeit: Jan Philipp Scholz, Johannes Meier, Kahozi Kosha

Hinweis der Redaktion: Eine Aussage von EU-Kommissarin Jutta Urpilainen wurde nachträglich präzisiert.

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Image caption Industrielle Tagebaue, aber auch kleine Minen sind in der Region um Kolwezi viele zu finden - doch Europa liegt ihnen als Absatzmarkt fern
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Item 57
Id 70821431
Date 2024-11-22
Title Thomas Manns "Zauberberg": Die Welt wird unbehaglich
Short title Thomas Manns "Zauberberg": Die Welt wird unbehaglich
Teaser Eine gespaltene Gesellschaft, Existenzängste und das Gespenst des Krieges: Thomas Manns Roman "Der Zauberberg" ist auch 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung erschreckend aktuell.
Short teaser Der Roman "Der Zauberberg" ist auch 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung erschreckend aktuell.
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Die Zimmer sind komfortabel, die Aussicht ist grandios, das Essen deliziös. Eingehüllt in Wolldecken verbringen die gutbetuchten Gäste ihre Tage mit Liegekuren auf den Balkonen. Willkommen im "Berghof", einem abgelegen Luxussanatorium in den Schweizer Alpen, wo Tuberkulose-Kranke sich Heilung von der frischen Luft versprechen. Das ist der Schauplatz, den Thomas Mann für seinen Roman "Der Zauberberg" gewählt hat.

Die Geschichte beginnt im Jahr 1907. Der Hamburger Kaufmannssohn und angehende Ingenieur Hans Castorp reist zum Berghof, um seinen kranken Cousin zu besuchen. Eigentlich will er nur drei Wochen bleiben, am Ende werden daraus sieben Jahre. Das Kuriose dabei: Hans Castorp selbst ist eigentlich gesund. "Doch er wird von dem Sanatorium-Leben regelrecht aufgesaugt", erklärt der Literaturwissenschaftler Kai Sina gegenüber der DW. "Die Patienten, ihre philosophischen Debatten und ihre Gepflogenheiten, die strengen Gesundheitsroutinen, luxuriöse Mahlzeiten und zwanghaftes Fiebermessen: Er wird ein Teil dieser Welt."

Eine Epoche radikaler Umwälzungen

Das völlig abgeschottete Sanatorium ist ein Mikrokosmos, der die Krise einer sich wandelnden Gesellschaft offenbart. Die Wende zum 20. Jahrhundert ist eine Epoche radikaler Umwälzungen. Die Industrialisierung hat das Leben grundlegend verändert, religiöse Gewissheiten werden zunehmend von der Wissenschaft in Frage gestellt, nationalistische und sozialistische Bewegungen sind gleichermaßen auf dem Vormarsch.

Der Verlust traditioneller Werte und die Orientierungslosigkeit führen zu Spannungen und Aggressionen - auch bei der illustren Runde im Berghof. "Es lag in der Luft", heißt es im Roman. Hans Wißkirchen, Präsident der Thomas-Mann-Gesellschaft, präzisiert dieses Gefühl: "Man spürt eine ungeheure Unbehaglichkeit, eine Angst vor der Zukunft", sagt er der DW. "Das Personal wird beschimpft, man schlägt sich, die verrücktesten Ideen tauchen auf, die Leute drehen im wahrsten Sinne des Wortes ab."

Die "große Gereiztheit"

Wäre da nicht die altertümliche Sprache, man könnte meinen, nicht Thomas Mann, sondern ein zeitgenössischer Autor habe dieses Werk verfasst. Denn die "große Gereiztheit, der Kipppunkt", wie Caren Heuer es nennt, sei auch heute überall zu spüren. "Sie brauchen am Sonntagabend nur irgendeine beliebige Talkshow anschalten", so die Direktorin des Buddenbrookhauses in Lübeck (einstiges Wohnhaus der Großeltern Thomas Manns, benannt nach seinem berühmten Roman, Anm. d. Red.). "Da sehen Sie, dass man sich ins Wort fällt, einander nicht anhört, sondern es geht darum, Meinungen rauszuhauen."

Auch Thomas Manns Romanheld Hans Castorp trifft auf fanatische Verfechter unterschiedlicher Ideologien, die sich erbittert streiten. Da ist zum einen der Humanist Lodovico Settembrini, zum anderen der erzreaktionäre Jesuit Leo Naphta. In ihren Dialogen prallen Liberalismus und Fortschrittsglaube und die Begeisterung für ein totalitäres Regime als einzig richtige Gesellschaftsform aufeinander. Beide Männer buhlen um Castorps Gunst, der hin- und hergerissen ist zwischen ihren Ideen. Am Ende kommt es zum Pistolenduell zwischen den beiden Rivalen, bei dem Settembrini den Schuss auf Naphta absichtlichlich in die Luft feuert. Der wiederum kann die Schmach nicht ertragen und erschießt sich aus Wut selbst. Und damit rollt die Welle der Gewalt an.

Vom Kriegsfan zum Verfechter der Demokratie

Als Thomas Mann den Zauberberg schreibt, hat er seine eigene politische Wandlung im Blick. Die ersten Zeilen brachte er 1913 zu Papier, zwölf Jahre später beendete er sein Werk - unterbrochen vom Ersten Weltkrieg. Begonnen habe er das Buch als überzeugter Kriegsfan, sagt Kai Sina. "Thomas Mann hat sich mitreißen lassen von der Kriegseuphorie, die damals viele Intellektuelle, Künstler und Schriftsteller umgetrieben hat. Und 1918, als der Krieg verloren war, fand er sich auf völlig verlorenem Posten wieder."

Fortan wurde er einer der sprachgewaltigsten Kämpfer gegen den Faschismus. "Was mich an Thomas Mann am meisten beeindruckt", so Sina, "ist sein Mut zur Selbstrevision, seine ehrliche und aufrichtige Bereitschaft, einmal gefasste Ansichten immer wieder auf den Prüfstand zu stellen. Und der Zauberberg bildet genau das in sich ab."

Die Spannungen und Gefahren, die später zum Untergang der Weimarer Republik führen sollten - Deutschlands erstem Versuch einer echten parlamentarischen Demokratie, der mit der Machtergreifung der Nazis endete, all das schwingt hier schon mit. 1933 verlässt Thomas Mann Deutschland mit seiner Familie und zieht in die Schweiz. Von 1938 bis 1952 lebt er in den USA, kehrt dann in die Schweiz zurück. Er setzt sich für Toleranz und menschliche Würde ein, bis er 1955 stirbt.

Der Roman war ein "Zufall"

Kaum zu glauben, dass der Autor ursprünglich nur eine humoristische Kurzgeschichte als Gegenstück zu seiner Novelle "Tod in Venedig" im Sinn hatte. Das Sanatorium als Schauplatz wählte er, weil seine Frau Katia 1912 selbst drei Wochen wegen einer Tuberkulose-Diagnose in einer solchen Klinik verbrachte. "Das ist das Verrückte daran, dass so große Geschichten, über die wir jetzt noch reden und wo man sich denkt, er hat jahrelang gesessen und überlegt, wie mache ich das - dass das Zufall ist", sagt Hans Wißkirchen, der Präsident der Thomas-Mann-Gesellschaft.

Heraus kam am Ende ein Jahrhundertroman mit über 1000 Seiten. Doch es geht nicht nur um Ideologien im Zauberberg, sondern auch um den Tod- schließlich verlassen die meisten Insassen das Sanatorium im Sarg. Es gab zu der Zeit noch kein Antibiotikum. Es geht aber im Umkehrschluss auch um einen unbändigen Lebenshunger und natürlich um die Liebe.

Homosexuelle Anspielungen und ein "Weltfest des Todes"

Hans Castorp ist der geheimnisvollen Russin Clawdia Chauchat verfallen, die ihm eine einzige Liebesnacht gewährt. Sie erinnert ihn an einen Kameraden aus der Jugend. Der Literaturwissenschaftler Kai Sina sieht darin einen Anspielung Thomas Manns auf seine eigene homoerotische Neigung. "Die Frage, was ein Mann ist, was eine Frau ist, was männlich, was weiblich ist und was jeweils als anziehend empfunden, als attraktiv, erotisch attraktiv gefunden wird, das kommt hier alles irgendwie ins Schwimmen gewissermaßen", sagt er. Nach außen hin war der spätere Literaturnobelpreisträger ein aufrechter heterosexueller Bürger mit Frau und sechs Kindern, sein Verlangen nach Männern durfte er, wenn überhaupt, nur im Geheimen ausleben - und in seinen Büchern.

Hans Castorp mag auf weitere Gunstbezeichnungen der schönen Russin hoffen, doch beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges verlassen die Patienten fluchtartig den Berghof. Castorp schließt sich einem Freiwilligenregiment an; seine Spur verliert sich auf dem Schlachtfeld. Am Ende des Zauberbergs fragt Thomas Mann: "Wird aus diesem Weltfest des Todes … einmal die Liebe steigen? "

Der Roman wird ein weltweiter Erfolg, übersetzt in 27 Sprachen. Isabel García Adánez hat den Zauberberg ins Spanische adaptiert. Ihr Fazit: "Es ist ein Jahrhundert vergangen, und wir sind immer noch die Gleichen und lösen Konflikte mit Kriegen."

Gleichzeitig ergänzt sie: "Es geht zwar um sehr ernste Dinge, aber das Buch selbst ist ein vergnügliches Erlebnis. Und es ist nicht notwendig, drei Doktortitel zu haben, um Zugang zu Mann zu haben, denn in Thomas Mann steckt viel Ironie und viel Humor."

Falls sich jemand von der Aussicht auf eine Lektüre von 1000 Seiten erschlagen fühlt, ein kleiner Rat: Man kann immer mal ein paar Seiten überblättern, der Geschichte tut das keinen Abbruch.

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Image caption Die Zukunft des Zauberberg-Helden Hans Castorp ist ungewiss
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Item 58
Id 70050364
Date 2024-11-22
Title 85 Länder gehen ins Rennen um den Auslands-Oscar
Short title 85 Länder gehen ins Rennen um den Auslands-Oscar
Teaser Deutscher Oscar-Kandidat ist der iranische Regisseur Rasoulof. Der im Berliner Exil lebende Filmemacher, der im Mai zu Fuß aus dem Iran geflohen war, tritt mit dem hochgelobten Film "The Seed of the Sacred Fig" an.
Short teaser Deutscher Oscar-Kandidat ist der iranische Regisseur Rasoulof. Er tritt mit seinem Film "The Seed of the Sacred Fig" an.
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Mohammed Rasoulof hat die erste Hürde im Rennen um die begehrte Trophäe genommen. Sein Film "The Seed of the Sacred Fig" (deutscher Titel: "Die Saat des heiligen Feigenbaums") erfüllt die Richtlinien für den Wettbewerb in der Sparte "Bester Internationalen Film" - so wie 84 weitere Filme, teilte die
Oscar-Akademie im kalifornischen Beverly Hills mit. Am 7. Dezember wird sich zeigen, ob sich der iranische Filmemacher weiter Hoffnung machen kann, denn dann wird die 15 Titel umfassende Shortlist für die Kategorie des Auslands-Oscars verkündet. Aus dieser Shortlist werden im Januar wiederum fünf Filme ausgewählt.

Thriller über staatliche Gewalt und Zensur

Rasoulof wurde 2024 bereits bei den Filmfestspielen in Cannes mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet - sein Film wurde von den Massenprotesten im Iran im Jahr 2022 inspiriert. Nachdem die 22-jährige Jina Mahsa Amini von der sogenannten Sittenpolizei verhaftet worden war, weil sie angeblich ihren Hijab nicht ordnungsgemäß getragen hat, kam sie im Gewahrsam der Sicherheitskräfte zu Tode. Dies löste noch nie dagewesene Proteste im Iran aus. Rasoulof hörte die Demonstrationen von seiner Gefängniszelle aus - und entwickelte die Idee zu einem Thriller über staatliche Gewalt, Paranoia und Zensur.

Geheime Dreharbeiten und abenteuerliche Flucht

Nach den geheimen Dreharbeiten - das iranische Regime hatte dem Regisseur 2017 verboten, Filme zu drehen - musste Rasoulof die Produktion verlassen und zu Fuß über die iranische Grenze fliehen. Damit konnte er sich gerade noch vor einer weiteren Strafe retten - denn kurz zuvor war er zu acht Jahren Haft und Peitschenhieben verurteilt worden, weil er das Regime und dessen aggressive Reaktion auf die Pro-Demokratie-Proteste kritisiert hatte.

Nach seiner Flucht beantragte Rasoulof in Deutschland Asyl. Sein Reisepass war im Iran beschlagnahmt worden, doch da er vor einigen Jahren schon einmal eine Zeit lang in Deutschland gelebt hatte, waren seine Daten bei den deutschen Behörden bereits hinterlegt.

Der Regisseur entschied sich zudem für Deutschland, weil "The Seed of the Sacred Fig" in Hamburg von Andrew Bird geschnitten wurde, der auch mit dem deutsch-türkischen Regisseur Fatih Akin zusammenarbeitet.

Als im Jahr 2020 Rasoulofs Film "There is No Evil" (deutscher Titel: "Doch das Böse gibt es nicht") bei den Internationalen Filmfestspielen in Berlin den Goldenen Bären gewann, konnte der Regisseur Deutschland nicht besuchen. Denn auch dieser Film war ein rotes Tuch für das iranische Regime, handelte er doch von der Todesstrafe in dem Land. Rasoulof hatte ihn gedreht, als er schon wusste, dass ihm eine Haftstrafe drohte.

Iranisch-deutsche Zusammenarbeit

Die in München ansässige Gesellschaft "German Films" vermarktet deutsche Filme weltweit. Sie benennt zudem die unabhängige Jury, die für die Auswahl des nationalen Oscar-Beitrags verantwortlich ist. Und diese hat bereits mehrfach eine gute Nase bewiesen: Oscars gab es unter anderem für "Die Blechtrommel" (1979) von Volker Schlöndorff, "Das Leben der Anderen" (2006) von Florian Henckel von Donnersmarck und "Im Westen nichts Neues" (2022) von Edward Berger, die alle für den Besten Internationalen Film ausgezeichnet wurden. In diesem Jahr hat die Jury "The Seed of the Sacred Fig" aus 13 Filmen ausgewählt.

Die Tatsache, dass der Film von der Hamburger Firma Run Way Pictures produziert, von einer norddeutschen Filmförderung unterstützt wurde und einen deutschen Verleih hat, ermöglichte es, Rasoulofs Film in die Auswahl aufzunehmen - ein "herausragendes Werk eines der großen Regisseure des Weltkinos", so die Jury. "Wir sind sehr glücklich, Rasoulof in unserem Land in Sicherheit zu wissen. Und wir freuen uns, dass er Deutschland bei den Oscars 2025 vertreten wird."

In einer Erklärung des Regisseurs und seiner Produzenten hieß es damals, die Auswahl zeige, wie stark der interkulturelle Austausch in einer freien und offenen Gesellschaft sein kann.

Ein Dissident im Exil

"The Seed of the Sacred Fig" handelt von Iman, einem Ermittler des iranischen Revolutionsgerichts, der dem Regime gegenüber loyal ist, aber beginnt, die Willkür und Schnelligkeit der Todesurteile, die er unterzeichnen muss, in Frage zu stellen. Zu Hause werden Imans Teenager-Töchter in die Proteste hineingezogen, die durch den Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini im Gefängnis ausgelöst wurden, was für große Spannungen in der Familie sorgt.

In Cannes sagte Rasoulof, dass es ihm bei "The Seed of the Sacred Fig" vor allem darum ging, trotz der Repressalien durch das iranische Regime weiter Filme zu machen und seine Geschichten zu erzählen. "Und nichts konnte mich davon abhalten."

Die Oscarverleihung findet am 2. März 2025 statt. Auch andere Länder haben sich mit hochkarätigen Filmen beworben, darunter Österreich mit dem Mystery-Thriller "Des Teufels Bad", Italien mit dem Historiendrama "Vermiglio" und Frankreich mit der Musikkomödie "Emilia Pérez".

Adaption aus dem Englischen: Silke Wünsch / Dieser Artikel wurde am 22.11.2024 aktualisiert.

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Image caption Mohammad Rasoulof darf sich Hoffnungen auf einen Oscar machen
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Item 59
Id 70845480
Date 2024-11-22
Title China - neue Führungsrolle in der globalen Klimapolitik?
Short title China - neue Führungsrolle in der globalen Klimapolitik?
Teaser Mit der Wiederwahl von Donald Trump verlassen die USA die Bühne der internationalen Klimapolitik. Könnte China diese Lücke füllen? Daheim setzt Peking zwar auf die Erneuerbaren, aber auch auf Kohlekraft.
Short teaser Unter Donald Trump verlassen die USA die Bühne der internationalen Klimapolitik. Könnte China diese Lücke füllen?
Full text

Der aktuelle UN-Klimagipfel, die COP29, im aserbaidschanischen Baku geht in die heiße Phase. Den Staaten bleibt nur noch wenig Zeit, um sich auf eine Abschlusserklärung zu einigen. Und dabei ruhen derzeit offenbar alle oder doch viel Hoffnungen auf China.

Die Volksrepublik könnte die Gunst der Stunde nutzen und die Lücke in der Klimapolitik schließen, die sich mit der Wiederwahl von Donald Trump derzeit abzeichnet, so die Idee. Der designierte US-Präsident hatte bereits angekündigt, dass er bei seinem Wiedereintritt ins Weiße Haus aus dem Pariser Klimaabkommen aussteigen will.

"Ich denke, es ist sicherlich ein wichtiger Moment und eine große Chance für China, diese Führungslücke zu schließen", sagt Yao Zhe, politischer Analyst bei Greenpeace Ostasien und verweist auf Chinas Fortschritte bei der Dekarbonisierung und die Fähigkeit des Landes, die Kapazität seiner Technologie auszuweiten.

Kein Land produziert mehr Treibhausgase als China

Als weltweit größter Treibhausgasemittent und zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt müsse China ein positives Signal setzen, drängen die Verhandlungsführer. Die Volksrepublik solle ehrgeizigere Ziele bei der Treibhausgasreduktion festlegen - und Verantwortung in der internationalen Klimafinanzierung übernehmen.

Vorrangiges Ziel des diesjährigen UN-Klimagipfels ist es, ein neues Finanzierungsziel festzulegen - das so genannte New Collective Quantified Goal on Climate Finance (NCQG). Das Geld soll den Entwicklungsländern bei der Bewältigung des Klimawandels helfen.

Führende Wirtschaftswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler schätzen, dass die ärmeren Länder bis zum Ende des Jahrzehnts jährlich mindestens eine Billion Dollar benötigen, um ihre Emissionen zu reduzieren und die Auswirkungen extremer Wetterbedingungen bewältigen zu können.

Die Industrieländer sind für den größten Teil der historischen Emissionen verantwortlich, welche die Erde überhitzen und so den Klimawandel verursachen, daher sollen sie in den Fonds einzahlen. Delegierte aus den USA, der EU und einigen Entwicklungsländern fordern jedoch, dass auch reiche Schwellenländer wie China oder die Golfstaaten einen Beitrag leisten sollten. Obwohl China eine große Volkswirtschaft ist, wird es von den Vereinten Nationen formal noch immer als Entwicklungsland eingestuft.

Was trägt China schon zu Klimaschutz und Klimafinanzierung bei?

Entwicklungsländer, die zu den größten Verursachern von Emissionen gehören und in der Lage sind, sich an der Klimafinanzierung sollten dies tun, so Rizwana Hasan, Chef-Verhandlerin des Umweltministeriums der Übergangsregierung von Bangladesch. "China kann einen Beitrag leisten, andere können einen Beitrag leisten, auch Indien kann in gewissem Umfang einen Beitrag leisten", sagte Hasan gegenüber der DW.

Chinas Vertreter auf der COP29 machten jedoch deutlich, dass man sich weiterhin nur auf freiwilliger Basis an der Klimafinanzierung beteiligen wolle. So zahlen die Industriestaaten bereits gemeinsam jährlich 100 Milliarden Dollar für die internationale Klimafinanzierung. Dazu hatten sie sich bereits vor diesem Klimagipfel verpflichtet. China jedoch nicht.

Die Volksrepublik hat nach eigenen Angaben seit 2016 rund 24,5 Milliarden US-Dollar an Klima-Finanzmitteln bereitgestellt. Peking hat auch stark in Solar- und Windenergie sowie in Elektrofahrzeuge investiert, gleichzeitig aber auch die Kohlekraft ausgebaut.

Auf die Frage, ob Peking verpflichtet werden sollte, einen Beitrag zum NCQG zu leisten, sagte Adonia Ayebare, Vorsitzende der G77-Koalition der Entwicklungsländer und der China-Gruppe, zur DW: "Sie leisten bereits einen Beitrag. Sie sind Teil der G77. Sie haben die größten Solaranlagen der Welt. Sie produzieren sie und wir kaufen sie."

Ähnlich sieht es auch Niklas Höhne, Experte für Klimapolitik bei der gemeinnützigen Denkfabrik NewClimate Institute. China gelte zwar nicht offiziell als Beitragszahler der internationalen Klimafinanzierung, doch de facto sei das Land bereits ein solcher. "Sie finanzieren eine Menge Projekte außerhalb ihres Landes. Im Moment sind es mindestens drei Milliarden Dollar pro Jahr", so Höhne.

Würden solche Beiträge anerkannt, könnte dies für Länder wie China "eine starke Motivation sein, die Diskussionen [um die Abschlusskundgebung des Gipfels – Anm.d.Red.] zu lösen", vermutet Celine Kauffmann, vom IDDRI, einem unabhängigen Forschungsinstitut mit Schwerpunkt auf nachhaltiger Entwicklung.

Chinas Klimapolitik - ein widersprüchliches Bild

Ein weiterer wichtiger Grund für den Druck auf China, nun Führungsstärke zu zeigen und neue Emissionsziele festzulegen, sei die zentrale Rolle, die das Land bei den weltweiten Treibhausgasemissionen spiele, so Höhne. "China ist ist für ein Viertel der aller Treibhausgasemissionen verantwortlich. Wenn also die chinesischen Emissionen zurückgehen, dann erreichen damit die gesamten Treibhausgasemissionen ihren Höhepunkt und gehen zurück."

China produziert derzeit etwa doppelt so viele Emissionen wie die USA, die der zweitgrößte Verschmutzer sind, und ist für 90 Prozent der globalen CO2-Zunahme seit 2015 verantwortlich.

Im Pariser Abkommen werden die Industrieländer aufgefordert, aufgrund ihrer unverhältnismäßig hohen Emissionen in der Vergangenheit die Führung bei den Klimaschutzmaßnahmen zu übernehmen. Laut einer Analyse der im Großbritannien ansässigen Plattform für Klimawissenschaft und -politik Carbon Brief, übertreffen Chinas eigene historische Emissionen jedoch inzwischen die der Europäischen Union.

China ist führend beim Ausbau von Ökostrom

Die Volksrepublik ist aber auch weltweit führend bei Investitionen in und den Ausbau von Ökostrom . Im Jahr 2023 investierte das Land 273 Milliarden Dollar in saubere Energie, gefolgt von Europa, das etwa halb soviel ausgab.

Laut der Internationalen Energieagentur (IEA) stammt ein Drittel der weltweiten Investitionen in erneuerbare Energien aus China. Das Land habe im Jahr 2023 alleine so viele PV-Anlagen in Betrieb genommen hat wie die gesamte Welt im Jahr 2022 zusammen. Laut IEA steigerte China seine Windkraftkapazität im vergangenen Jahr um 66 Prozent. Und fast zwei Drittel aller Neuzulassungen von Elektroautos erfolgen demnach in China.

Im September 2020 erklärte der chinesische Präsident Xi Jinping, das Land wolle den Anstieg seiner Treibhausgasemission seiner CO2-Emissionen vor 2030 stoppen und bis 2060 klimaneutral werden.

Kohleproduktion in China auf Rekordniveau

Gemäß dem jüngst veröffentlichten Climate Change Performance Index (CCPI) rangiert China hinsichtlich seiner Fortschritte bei Klimaschutzmaßnahmen jedoch nur auf Platz 55 der 67 bewerteten Länder.

Zwar sei die Volksrepublik ein Zentrum für erneuerbare Energien und stehe kurz davor, den weiteren Anstieg seiner Treibhausgasemission zu stoppen. Dennoch habe China keine ausreichenden Klimaziele und sei weiterhin stark von fossilen Brennstoffen abhängig, so der CCPI-Bericht. Den größten Teil seiner Energieproduktion bestreite China mit dem Verbrennen von Kohle. Die Kohleproduktion erreichte laut IEA im Jahr 2023 ein Rekordhoch.

Um die Erderwärmung unter dem Schwellenwert von 1,5 Grad Celsius zu halten, müsse die Welt die globalen Treibhausgasemissionen bis 2030 drastisch senken, sagt Niklas Höhne.

"Deshalb hofft jeder, dass China ein Ziel für eine deutliche Reduzierung der Treibhausgasemissionen bis 2030 vorschlagen wird. Und das kann es auch, denn China baut die erneuerbaren Energien wirklich sehr, sehr schnell aus."

Redaktion: Jennifer Collins

Informationen vom UN-Klimagipfel: Tim Schauenberg

Adaption aus dem Englischen: Jeannette Cwienk

Item URL https://www.dw.com/de/china-neue-führungsrolle-in-der-globalen-klimapolitik/a-70845480?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Chinas Energieversorgung der Gegensätze: Kohlekraft und Solarenergie
Image source Tingshu Wang/REUTERS
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Item 60
Id 70812620
Date 2024-11-22
Title Eine Banane wird zur millionenschweren Kunst
Short title Eine Banane wird zur millionenschweren Kunst
Teaser Eine an die Wand geklebte Banane ist bei Sotheby's in New York versteigert worden - und hat dabei den sensationellen Preis von 6,2 Millionen Dollar erzielt. Erfolg einer provokanten Idee.
Short teaser 6,2 Millionen Dollar für eine an die Wand geklebte Banane? Maurizio Cattelans Kunstwerk macht neugierig.
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Würden Sie eine Banane für mehrere Millionen Euro kaufen? Das klingt verrückt, doch genau das hat jemand in New York gerade getan. Das Werk des in Italien geborenen Konzeptkünstlers Maurizio Cattelan mit dem Titel "Comedian" besteht im Wesentlichen aus einer Banane. Sie ist nicht aus massivem Gold, sondern eine ganz normale, essbare Banane. Der Künstler hat sie lediglich mit einem Stück Klebeband an der Wand befestigt. Jetzt wurde dieses Kunstwerk bei Sotheby's in New York versteigert für 6,2 Millionen Dollar, das sind umgerechnet rund 5,9 Millionen Euro. Die Schätzungen, die zuvor angestellt wurden, lagen bei 1,5 Millionen Dollar.

Nun vergammeln Bananen ja bekanntermaßen. Doch keine Sorge: Die Person, die die Banane ersteigert hat, erhält keineswegs eine verschimmelte oder gar konservierte Frucht, sondern eine frische Banane, dazu eine Rolle Klebeband, eine ausführliche Anleitung zur Ausstellung des Werks und ein Echtheitszertifikat. Maurizio Cattelan, bekannt für seine satirischen und provokativen Arbeiten, sorgte mit diesem Werk bereits 2019 auf der Kunstmesse Art Basel Miami Beach für Aufsehen. Die Galerie Perrotin verkaufte drei Exemplare zu Preisen zwischen 120.000 und 150.000 Dollar.

Augenzwinkernder Kommentar zum Konsumverhalten

In einem Interview mit der Zeitschrift "The Art Newspaper" sagte Cattelan 2021: "Für mich war 'Comedian' kein Witz, sondern ein aufrichtiger Kommentar und eine Reflexion darüber, was wir schätzen." Auf Kunstmessen, so der Künstler, herrschten Eile und Geschäft. Da habe er sich überlegt: "Wenn ich schon auf einer Messe sein muss, kann ich auch eine Banane verkaufen, so wie andere ihre Bilder verkaufen." Er wolle innerhalb des Systems spielen. "Aber nach meinen eigenen Regeln."

So war Cattelans "Comedian" eine Zeit lang in aller Munde und mischte die Kunstwelt auf. Kritiker sprachen von einem "brillanten Kommentar zum Konsumverhalten und zur Kunst an sich". Andere hielten es für eines der schlechtesten Werke, die je auf der Kunstmesse ausgestellt wurden.

Ähnlich wie bei den NFTs ("Non-fungible Token"), die am Kunstmarkt zeitweise in Mode waren, kauft man hier nicht das tatsächliche, physische Werk aus den Händen des Künstlers, sondern die Idee des Künstlers für das Kunstwerk. Darum geht es schließlich bei der Konzeptkunst.

David Galperin, Leiter der Abteilung für zeitgenössische Kunst in Nord- und Südamerika beim Auktionshaus Sotheby's, erklärte dazu vorab: "Wenn 'Comedian' im Kern den Begriff des Wertes von Kunst in Frage stellt, dann wird die Versteigerung des Werkes erst recht die ultimative Verwirklichung seiner grundlegenden konzeptionellen Idee sein - die Öffentlichkeit wird endlich ein Mitspracherecht bei der Entscheidung über seinen wahren Wert haben."

Eine Banane auf einer anderen Ebene

Einer von Cattelans Kollegen, der georgische Performance-Künstler David Datuna, erkannte schon in während der Kunstmesse Art Basel Miami Beach 2019 in dem Werk einen Nährwert: Er löste die Banane von der Wand und biss hinein. Er nannte das eine Form der künstlerischen Intervention, die er "Hungry Artist" nannte. In einem Interview mit der Zeitung "The Guardian", das auf Datunas Aktion folgte, kritisierte Datuna, dass das Werk für so viel Geld verkauft wurde, sagte aber über Cattelan: "Ich halte ihn für ein Genie. In der Kunst geht es um Komödie, um Spaß, um Tragödie, um Gefühle. Er hat das sehr gut gespielt. Ich liebe die Banane von Andy Warhol, aber ich denke, Cattelan hat die Banane auf eine andere künstlerische Ebene gehoben."

Auch der US-amerikanische Popkünstler Andy Warhol, der ursprünglich aus der Werbebranche stammte, fertigte seine Kunst bisweilen aus gewöhnlichen Haushaltsgegenständen, darunter Bananen. Das Bild einer Banane verwendete er für ein Plattencover der Band Velvet Underground. Im Gegensatz zu Cattelan sah Warhol sein Werk als endlos reproduzierbar und für einen Massenmarkt geeignet.

Wie es sich für Warhol gehört, hat er sein ikonisches Bananenbild nie urheberrechtlich schützen lassen und damit andere Künstler auf den Plan gerufen. Einer der Nachahmer ist der Deutsche Thomas Baumgärtel, der seit 1986 seine Version von Warhols Banane auf die Fassaden von mehr als 4000 Museen und Galerien in aller Welt gesprüht hat und die gelbe Frucht damit zu einer Art Symbol für die Kunst selbst gemacht hat.

Eine Banane ist eine Banane – oder?

Die Banane, wie überhaupt Obst, ist in der Kunst seit jeher ein großes Thema. Die Banane stand wegen ihrer speziellen Form nicht selten für männliche Sexualität - wie das Werk von Warhol andeutet. Aber auch in Werken der mexikanischen Malerin Frida Kahlo spielte die Banane eine Rolle. Ihrer tropischen Herkunft wegen würzt die Banane bis heute so manche Kunst mit einem Hauch des Exotischen - jedenfalls bei europäischen Künstlern.

Beide Elemente kommen in "Consumer Art" zum Tragen, einer Video- und Fotoarbeit aus den 1970er-Jahren der polnischen Künstlerin Natalia LL. Sie ließ ein Modell vor laufender Kamera langsam und suggestiv verschiedene Lebensmittel verspeisen, darunter auch eine Banane. LL's Werk wirkte nicht nur wegen seiner sinnlichen Anmutung provokant. Das polnische Nationalmuseum sah sich veranlasst, es 2019 aus einer Ausstellung zu entfernen und erntete weitverbreiteten Spott. Es kam hinzu, dass Bananen zur Entstehungszeit des Werks in Polen - das Land gehörte damals zum sowjetisch dominierten Ostblock - ein kaum erschwingliches Luxusgut waren.

Angesichts des Klimawandels und Pilzbefalls, der Bananenpflanzen droht, was die Preise in die Höhe treibt, könnte die Frucht schon bald wieder zu einem exotischen Luxusgut werden. Das wäre dann der Moment, in dem Maurizio Cattelans Millionen-Dollar-Banane auf einmal gar nicht mehr so absurd erscheint.

Aus dem Englischen adaptiert von Stefan Dege / aktualisiert am 21.11.

Item URL https://www.dw.com/de/eine-banane-wird-zur-millionenschweren-kunst/a-70812620?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Man nehme Banane und Klebeband, fertig ist das Kunstwerk "Comedian" von Maurizio Cattelan
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Item 61
Id 70795023
Date 2024-11-21
Title Wie Künstliche Intelligenz die Kunstszene durcheinanderwirbelt
Short title Wie KI die Kunstszene durcheinanderwirbelt
Teaser Wäre AI-Da ein Mensch, würde sie jubeln: Ihr Porträt des Mathematikers Alan Turing erzielte beim Auktionshaus Sotheby's eine Million Euro. Doch sie ist ein Roboter - was heißt das für Kunst und Kunstmarkt?
Short teaser Ein Gemälde der Roboterfrau AI-Da wurde zum Rekordpreis versteigert - was heißt das für Kunst und Kunstmarkt?
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Ein männliches Gesicht füllt die halbe Leinwand aus, in der anderen sieht man die Vergrößerung eines Auges. Düstere Grau-, Braun- und Schwarztöne dominieren das 2,2 Meter hohe Gemälde, das ein Porträt des britischen Mathematikers Alan Turing (1912-1954) darstellt. Zum ersten Mal haben Käufer beim Londoner Auktionshaus Sotheby's für ein Bild eines KI-gesteuerten Roboters um die Wette geboten. Als der Hammer fiel, übertraf der Kaufpreis - knapp 1,1 Millionen US-Dollar (rund eine Million Euro) - alle Erwartungen. Die Sotheby's-Experten hatten es auf ein Fünftel geschätzt.

Ihre Vorsicht war offenbar unberechtigt. Doch was sagt die Kunstmarktsensation über Werke aus, die von Künstlicher Intelligenz (KI) erzeugt wurden? Sind sie solche Summen wert? Gerät menschengemachte Kunst absehbar ins Hintertreffen? Mehr noch: Handelt es sich bei dem wandfüllenden Werk "AI-God" (übersetzt KI-Gott), das Sotheby's in seiner Online-Auktion anbot, überhaupt um Kunst? Die Debatte darüber ist in vollem Gange, seit KI-Anwendungen für Sprache, Musik und Bild Furore machen.

KI-Kunst: Wer ist der Künstler?

Einer, den das Auktionsgeschehen in London überrascht hat, ist Henrik Hanstein, Chef des traditionsreichen Kunsthauses Lempertz in Köln. "Damit hätte ich nicht gerechnet", sagt er im DW-Gespräch. Dass ein KI-Gemälde ein Kunstwerk ist, hält er längst nicht für ausgemacht. "KI-Kunst wird kreiert durch Maschinen, also durch Computer, die mit Daten von anderen Kunstwerken arbeiten. Damit tue ich mich sehr schwer", so der international renommierte Kunstmarktexperte.

Tatsächlich entstand "AI God" von bionischer Hand, sprich: von der eines Roboters: Die humanoide Roboterkünstlerin Ai-Da war es, die das Porträt Turings malte. Er gilt als Vater der modernen Computerwissenschaft - ein passendes Motiv also. Ai-Da trägt den Namen der britischen Mathematikerin Ada Lovelace (1815-1852) und wurde 2019 an der Universität Oxford entwickelt.

Die seelenlose Roboterdame mit der Pagenfrisur hat Kameras in den Augen, einen Roboterarm und kann dank eines KI-Sprachmodells auch reden. Die algorithmusgesteuerte Maschine hat schon mehrere Kunstwerke geschaffen, so auch ein Porträt von Queen Elizabeth II. (1926-2022). Für das Porträt von Alan Turing malte sie mehrere Bilder, die zu einem neuen zusammengesetzt wurden.

"AI God" sei das erste Kunstwerk eines humanoiden Roboters, das versteigert wurde, heißt es bei Sotheby‘s. Der Rekordpreis markiere einen "Moment in der Geschichte der modernen und zeitgenössischen Kunst" und spiegele die "wachsende Schnittmenge zwischen Künstlicher Intelligenz (KI) und globalem Kunstmarkt" wider. Kunstmarktexperte Hanstein sieht das wesentlich skeptischer: "Die siebenstellige Summe geht natürlich als Meldung um die ganze Welt", sagt er, "aber man darf das nicht überbewerten, dass kann ein Zufallstreffer sein."

Können KI-Werke Kunst sein?

Dass KI-generierte Arbeiten Kunst sein können, will Hanstein aber nicht völlig ausschließen - auch wenn er nicht glaubt, dass ein Museum Derartiges ausstellen würde. "Man darf nicht vergessen, dass Künstler sich immer auch neuester Möglichkeiten und Techniken bemächtigt haben", sagt der Auktionator, "also ob das von Holz auf Leinwand ging, von Kupfer auf Papier und heute Leinwand und dann Acryl. Oder nehmen Sie die Plainair-Malerei (Malerei unter freiem Himmel bei natürlichen Lichtverhältnissen, Anm. d. Red.)." Kunst könne ihrer Zeit voraus sein. "Das war ja zuletzt auch mit den NFTs so (Non-Fungible Token, digitale Besitznachweise von immateriellen Gütern, Anm. d. Red.). Darum gab es einen Hype und irrsinnige Preise". Heute, nur wenige Jahre danach, sei der NFT-Markt tot und "Schnee von gestern".

Die Frage nach dem Urheberrecht

Bei KI-Kunst plädiert Hanstein für Geduld - und mahnt gleichzeitig zu Vorsicht: "Man muss Experimente zulassen", findet er, müsse sie aber auch genau abwägen. Dann werde sich schon zeigen, was auf Dauer Bestand hat. "Der Kunstmarkt ist sehr kritisch. Sammler und Kuratoren erkennen Qualität sehr schnell." Für wichtiger hält der Kunstexperte diese Frage: Wem gehört eigentlich ein KI-generiertes Kunstwerk? Dem Programmierer? Dem Provider? Oder den Künstlern, bei denen sich die KI bedient hat? Auch darüber diskutieren Urheberrechtler längst kontrovers. "Wer ist bei KI-Kunst in Wirklichkeit der Künstler?", fragt Hanstein.

"Da fehlt die Hand!"

Offen bleibt zur Zeit auch, wer von der Wertsteigerung eines Werkes profitiert. In den Ländern der Europäischen Union gilt, anders als etwa in den USA, seit rund 20 Jahren das sogenannte Folgerecht. Es sorgt dafür, dass der Künstler bei einem Weiterverkauf seines Werks am Erlös beteiligt wird. Aber wie soll das bei einem KI-Werk gehandhabt werden, dessen künstlerischer Urheber nicht feststeht? "Darüber werden jetzt wohl Gerichte entscheiden", so Hanstein.

Aber auch hier setzt der erfahrene Auktionator ganz auf das Gespür der Sammler. "Wenn Sie ein Bild auf der Auktion haben, das nicht signiert ist, - und es kann das tollste Bild sein -, dann ist das ein Handicap und das Werk ist schwerer zu verkaufen." Das gelte auch für KI-generierte Bilder. "Da fehlt die Hand!", unterstreicht Hanstein. "Ob ein Computer so kreativ sein kann wie ein Künstler, der seiner Zeit voraus ist, das wage ich zu bezweifeln. Aber ich lasse mich gerne überraschen." Das Aufkommen von KI-Kunst werde seiner Ansicht nach weder unseren Begriff von Kunst revolutionieren noch den Kunstmarkt.

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Image caption Die Roboterkünstlerin AI-Da posiert vor ihrem Werk
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Item 62
Id 62734835
Date 2024-11-20
Title Depression in der Liebe: Herausforderung für die Beziehung
Short title Depression in der Liebe: Herausforderung für die Beziehung
Teaser Menschen können an der Depression ihrer Partner zerbrechen. Über Selbstfürsorge, einen offenen Umgang mit der Krankheit und wie eine Beziehung eine Depression überstehen kann.
Short teaser Eine Depression kann auch Lebenspartner belasten. Wie es gelingen kann, eine Depression zu überstehen.
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Die Depression, sagt Stefanie, ist so, als hätte man im Bauch ein schwarzes Loch, das alle Energie aufsaugt. Manchmal fühle es sich auch an wie ein Overall aus Blei. Schon seit ihrer Kindheit wird sie von der Depression begleitet. Wenn sie darüber spricht, hört ihr Verlobter Florian neben ihr aufmerksam zu. Auch er ist in der Beziehung von Stefanies Depression betroffen und musste erst lernen, mit ihrer Krankheit umzugehen.

Sie sitzen an diesem Tag zusammen auf dem Balkon der Wohnung in Darmstadt, in der sie nun schon seit einiger Zeit leben. Als sie sich kennenlernten, wusste Stefanie bereits lange von ihrer Depression und weihte Florian schnell ein. "Ich bin damit immer offen umgegangen", sagt sie.

"Es kann Angehörige an ihre Grenzen bringen"

Zu jeder Person, die wie Stefanie an einer Depression erkrankt ist, gehören meist Angehörige. Familie. Freunde. Partner, so wie Florian. Sie sind ein wichtiges Puzzleteil für die Betroffenen, um eine depressive Phase zu bewältigen. Doch auch für sie kann die Depression schwierig sein. "Es belastet mich natürlich", sagt Florian. Wenn er sieht, dass es seiner Verlobten schlecht geht, nimmt er sie in den Arm, versucht, für sie da zu sein. "Das ist wirklich eine ganz, ganz große Hilfe", sagt Stefanie und sieht ihn lange an. Florian erzählt, er habe genug eigene Kraft entwickelt, damit es ihn nicht allzu negativ beeinflusst.

Aber vielen Partnern und Partnerinnen ergeht es anders, wenn ihre engsten Vertrauten keine Hoffnung und keine Energie mehr haben oder abweisend sind. Häufig denken Partner, verantwortlich für die Genesung der betroffenen Person zu sein. 73 Prozent der Befragten einer Studie aus dem Jahr 2018 entwickeln Schuldgefühle gegenüber ihren erkrankten Partnern. Die meisten fühlen sich, als wüssten sie nicht genug über eine Depression. Dieselbe Studie zeigt, dass sich 84 Prozent der Erkrankten während ihrer Depression aus sozialen Beziehungen zurückziehen. Zurückweisungen der Betroffenen sind jedoch meist nicht persönlich gemeint, sondern der Krankheit geschuldet.

Die Symptome einer Depression wie eine gedrückte Stimmung, Interessenverlust und Antriebslosigkeit sind oft verbunden mit der Schwierigkeit, Entscheidungen zu treffen. Für Stefanie war es wichtig, eine Diagnose zu haben: "Zu wissen, dass es Symptome einer Erkrankung sind und keine Charakterschwächen."

Die Symptome einer Depression können eine Beziehung enorm belasten. "Es kostet viel Kraft und das kann die Angehörigen an ihre Grenzen bringen", sagt Christine Rummel-Kluge, Psychologin und Leiterin der Psychiatrischen Institutsambulanz der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Uniklinikums Leipzig. "Deshalb ist es auch wichtig, dass sie auf sich selbst achten, ihre eigenen Grenzen wahrnehmen und schauen, was sie eben leisten können und was nicht mehr geht." Nicht selten kommt es zu Trennungen. In einer depressiven Phase sei es aber besser keine weitreichenden Entscheidungen zu treffen. "In der Depression wird alles anders wahrgenommen und sehr negativ gesehen", sagt Rummel-Kluge. Das könne aber wieder anders gesehen werden, wenn die Depression vorbei ist.

Auch Partner können sich Hilfe suchen

Die Psychologin rät, sich professionelle Hilfe zu suchen. Das gilt für Betroffene, aber auch für Angehörige. Obwohl laut Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) etwa 280 Millionen Menschen mit einer Depression leben, gibt es nach wie vor gesellschaftliche Vorurteile. Viele Betroffene sprechen nicht über die Erkrankung, nur jeder vierte Betroffene wird adäquat behandelt. Dabei könne es wichtig sein - für Betroffene, aber auch für Angehörige -, sich mit anderen auszutauschen. "Das Gefühl, dass man da nicht allein ist mit so einer Situation, ist natürlich sehr hilfreich", erklärt Rummel-Kluge.

Mehr Offenheit im Umgang mit Depressionen - das ist das Konzept der MUT-Tour, einer Selbsthilfegruppe, bei der Stefanie und Florian gemeinsam mitfuhren. Stefanie ist seit 2017 auch freie Mitarbeiterin bei der MUT-Tour. Meistens fahren die Teilnehmenden bei den Touren über mehrere Tage zu zweit auf Tandems. Auf verschiedenen Routen. Quer durch Deutschland. "Es war ein Stück Leichtigkeit. Ich bin sowieso gerne in einer Gruppe unterwegs", erzählt Stefanie. Auch gerne draußen und mit Zelt. "Dass mein Partner noch dabei war, war besonders schön." Sie ist froh, dass Florian diese Erfahrung mit ihr geteilt hat. Viele Angehörige aus ihrem Umfeld meiden das Thema. Florian nicht. "Das hat mir viel bedeutet."

"Gelebte, aktive Selbsthilfe." So beschreibt Franziska Radczun, eine der Organisatorinnen, die MUT-Tour. Sie ist selbst Angehörige von psychisch Erkrankten und weiß deshalb, wie sich Angehörige von Menschen mit Depression fühlen können. Oft fehlten Angehörigen wie ihr nämlich Bezugspersonen außerhalb der Beziehung, bei denen sie sich "einfach mal entladen dürfen, auch unangenehme Dinge ansprechen können und auch diese ganzen Scham- und Schuldgefühle ablegen dürfen."

Viele würden es verschweigen, mit sich herumtragen, bis alles zusammenbricht. "Dann sind sie nur leider auch keine Hilfe mehr für die Betroffenen." Bei der MUT-Tour sei es egal, ob man angehörig oder betroffen sei. Sie will Angehörigen zeigen, dass ihre Stimme zählt, dass es wichtig ist, sich auch um sich selbst zu kümmern, dass sie sich gehört und gesehen fühlen. "Aus einer psychischen Krise geht es gemeinsam besser hinaus", sagt sie.

Die Tour ist nur eines der zahlreichen Hilfsangebote, die es mittlerweile für Betroffene und Angehörige gibt. Psychosoziale Beratungsstellen wie die Caritas oder die Diakonie bieten je nach Region zum Beispiel entlastende Gespräche für Angehörige an und in vielen Städten können sieSelbsthilfegruppen finden.

Wie die Beziehung die Depression übersteht

"Hast du mal mit Freunden darüber gesprochen?", fragt Stefanie ihren Partner Florian, als sie erzählen, wie sie als Paar mit der Depression umgehen. Er schüttelt den Kopf. "Nein, das wäre mir zu privat gewesen, mit anderen über dich zu sprechen."

Ihm persönlich helfen andere Strategien. "Ich versuche generell, negative Emotionen für mich selbst zu vermeiden”, sagt Florian, "aber ich bin auch eher ein rationaler Mensch." Oft versuche er, das Thema so wissenschaftlich wie möglich zu betrachten, einfach für seine Verlobte da zu sein, sie zu entlasten, wo er kann. Florian lernte erst mit der Zeit, mit der Depression seiner Partnerin umzugehen: "Viele - und ich auch - haben am Anfang das Bedürfnis, den Menschen helfen zu wollen oder gute Ratschläge zu geben", sagt er. Doch Sätze wie "Reiß dich mal zusammen" helfen den Betroffenen nicht. Sie können sich in diesen Momenten nicht zusammennehmen, nicht optimistisch sein. Das ist Teil der Krankheit. Angehörige könnten eher versuchen, die Betroffenen mit ihren Gefühlen ernst zu nehmen und verständnisvoll zu sein, schreibt die Deutsche Depressionsliga. "Man sollte es nicht verschweigen", sagt Florian, "sondern als Krankheit akzeptieren." Dazu gehöre auch, dass man sich als Angehöriger informiere und gemeinsam mit seiner Partnerin Lösungen findet.

Für Stefanie geht es in diesen Phasen vor allem darum, mit ihrem Partner zu sprechen: "Ich versuche, zu erklären, warum ich so emotional bin", sagt Stefanie, "sodass Florian mich besser einschätzen kann." Auch Psychologin Rummel-Kluge rät zum offenen Gespräch in einer Beziehung. Es helfe, sich gut abzusprechen. "Zum Beispiel mit einer Art Krisenplan, um vorbereitet zu sein für ein eventuelles nächstes Mal." Was den Betroffenen bei der letzten Episode geholfen hat, könne auch in einer neuen Phase helfen.

Was die beiden glücklich macht? Besonders die Vorfreude auf das Kind, denn Stefanie ist schwanger. Bei einigen Paaren - das zeigt die Befragung der Deutschen Depressionshilfe auch - hat die Depression die Beziehung sogar vertieft und gefestigt. Ähnliches berichtet Stefanie: "Ich habe durch Florian viel Stärkung erfahren. Und wir sind uns einig, wie wir damit umgehen." Die Depression habe sie viel Kraft gekostet, aber auch gestärkt. Sie machen sich als Paar immer wieder bewusst, was sie zusammen haben.

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Item 63
Id 70819143
Date 2024-11-20
Title Klimaschutz: Bei CO2-Emissionen zeichnet sich Wendepunkt ab
Short title Klimaschutzranking: Erneuerbare boomen, noch zu viel Fossile
Teaser Gute Nachrichten von der Weltklimakonferenz: Der Höhepunkt der globalen CO2-Emissionen soll bald erreicht sein. Grund: Der Boom erneuerbarer Energien. Doch noch tun die Staaten zu wenig für die Abkehr von Öl und Gas.
Short teaser Gute Nachrichten von der Weltklimakonferenz: Der Höhepunkt der globalen CO2-Emissionen soll bald erreicht sein.
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Erneuerbare Energien sind in vielen Ländern auf der Überholspur- vor allem in den Industrie- und Schwellenländern. Allerdings halten laut aktuellem Klimaschutzranking noch zu viele Staaten an fossilen Brennstoffen fest.

Veröffentlicht wird das Länderranking über Klimaschutzmaßnahmen, der sogenannte Climate Change Performance Index, seit 2005 jedes Jahr zur Weltklimakonferenz. Verfasst wird er von der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch, dem Climate Action Network (CAN), einem Dachverband von mehr als 1500 umweltpolitischen Nichtregierungsorganisationen in 130 Ländern, und dem NewClimate Institute mit Sitz in Köln und Berlin.

Bewertet werden im Klimaschutzindex 63 Länder plus die Europäische Union – und damit die Länder, die für 90 Prozent der weltweiten Emissionen verantwortlich sind.

"Erneuerbare Energien: kostengünstig und sicher"

"Die Welt befindet sich an einem Wendepunkt. Der Höhepunkt der globalen Emissionen ist in greifbarer Nähe. Jetzt ist es entscheidend, dass wir einen schnellen Emissionsrückgang einleiten. Eine drastische Reduzierung der Emissionen ist die einzige Maßnahme, die weitere gefährliche Folgen des Klimawandels verhindern kann. Die Zeit läuft", sagte Co-Autor Niklas Höhne vom NewClimate Institute bei der Vorstellung des Berichts auf der Weltklimakonferenz in Baku.

"Große Teile der Welt haben erkannt, dass Erneuerbare Energien eine kostengünstige und sichere Wahl für die Energieversorgung sind", sagt Hauptautor Jan Burck von Germanwatch. "Vor allem im Stromsektor sind Erneuerbare Energien auf der Überholspur. Hinzu kommt eine zunehmende Elektrifizierung der Mobilitäts-, Wohn- und Industriesektoren."

Zugleich zeigt der Klimaschutzindex, wie groß der Widerstand der fossilen Lobby ist. In den USA sei dieser mitentscheidend dafür gewesen, "Trump zurück ins Weiße Haus zu hieven", sagt Höhne. Auch gehörten die vier letztplatzierten im Klimaschutzranking - Iran, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Russland - zu den größten Öl- und Gasproduzenten der Welt. "Der Anteil Erneuerbarer in ihrem jeweiligen Energiemix liegt unter drei Prozent. Dort ist keine Abkehr vom fossilen Geschäftsmodell erkennbar", so Höhne.

"Guter" Klimaschutz in Marokko, Teilen der EU, den Philippinen, Indien und Chile

Bewertet werden von den Expertinnen und Experten die Fortschritte der Länder bei der Reduktion von Treibhausgasen, beim Ausbau Erneuerbarer Energien, beim Energieverbrauch und in der Klimapolitik. Durch klar festgelegte Kriterien sind die Länder in ihrem Engagement für den Klimaschutz vergleichbar.

Die ersten drei Plätze beim Klimaschutzranking bleiben wie schon so oft leer, denn keines der untersuchten Länder tut genug zur Einhaltung des Pariser Klimaabkommens und erreicht die Bewertung "sehr gut".

Mit Rang 4 nimmt Dänemark unter den 63 Ländern und der EU wie den Vorjahren den vordersten Platz ein, dahinter folgen die Niederlande und Großbritannien.

Großbritannien ist in diesem Jahr einer der größten Aufsteiger im Ranking und konnte sich im Vergleich zum Vorjahr um 14 Positionen verbessern. Der Grund liegt im Ausstieg aus der Kohle in diesem Jahr und der Zusage der neuen Labour-Regierung, keine neuen Lizenzen für fossile Brennstoffprojekte zu vergeben. Großbritannien ist damit zugleich ein Vorreiter unter den großen Industrienationen (G7).

Ebenfalls ein "gut" erhalten noch Norwegen, Schweden, Luxemburg, Estland und Portugal, außerdem das bevölkerungsreichste Land der Welt, Indien, sowie die Philippinen, Marokko und Chile.

EU, Deutschland, Ägypten und Brasilien nur "mäßig" beim Klimaschutz

Die EU als Ganzes kann ihre Vorjahresplatzierung ungefähr halten (Rang 17) und erhält ein "mäßig". Die Klimaschutzpläne des sogenannten Green Deals der EU bewerten die Autorinnen und Autoren als großen Fortschritt in der Klimapolitik. Allerdings reichten die bisher ergriffenen Maßnahmen noch nicht aus.

Die größte Volkswirtschaft der EU, Deutschland, erhält ebenfalls ein "mäßig" (Rang 16) und verschlechterte sich im Vergleich zum Vorjahr um zwei Plätze. "Obwohl bei den Erneuerbaren Energien erhebliche Fortschritte erzielt wurden, führt die politische Untätigkeit im Verkehrs- und Gebäudesektor noch immer zu hohen Emissionen", sagt Co-Autorin Thea Uhlich.

Mit "mäßig" wurden zudem neun weitere Länder Europas bewertet sowie Ägypten und Nigeria in Afrika, Brasilien, außerdem Kolumbien in Amerika sowie Vietnam, Thailand und Pakistan in Asien.

USA und China: Gipfel der CO2-Emissionen erreicht?

China und die USA verschmutzen die Atmosphäre weltweit am stärksten mit dem Treibhausgas CO2 (Kohlendioxid) und bekommen die Bewertung "sehr schlecht".

"Während Bidens Inflation Reduction Act und andere Maßnahmen in den USA positive Impulse für Erneuerbare setzen konnten, sind die Emissionen pro Kopf mit 15,8 Tonnen CO2-Äquivalent pro Jahr noch immer sehr hoch", erklärt Höhne.

Zudem sei die die Wahl von Donald Trump "sicher keine gute Nachricht", so Höhne. "Aber wie stark eine künftige Trump-Regierung die Klimapolitik zurückwerfen wird, bleibt abzuwarten. Auch Trump kann den Boom der erneuerbaren Energien nicht aufhalten."

"In China erleben wir einen beispiellosen Boom bei den Erneuerbaren Energien und der Höhepunkt der Emissionen scheint nahezu erreicht zu sein. Das wäre ein echter Meilenstein und ein wichtiger Treiber weltweit", sagt Jan Burck von Germanwatch. Im ersten Quartal dieses Jahres sanken dort die CO2-Emissionen erstmals und das ohne Konjunkturflaute.

"Aber um die immensen Emissionen des Landes nachhaltig und zügig zu senken, brauchen wir jetzt eine klare Abkehr von fossilen Energien, erklärt Burck. Diese sei zwar noch nicht zu erkennen, doch das könne sich mit dem anstehenden neuen Fünf-Jahres-Plan ändern. "Für China ist das eine Riesenchance, internationales Ansehen zu gewinnen - gerade im Kontrast zur künftigen Regierung der USA."

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Image caption Vorbild Dänemark: 83 Prozent des Stroms erzeugen Erneuerbare Energien, geheizt wird zunehmend mit Wärmpumpe, die Mobilität wird elektrisch
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Item 64
Id 62627433
Date 2024-11-19
Title Tödliches Methanol: So giftig ist gepanschter Alkohol
Short title Tödliches Methanol: So giftig ist gepanschter Alkohol
Teaser Immer wieder vergiften sich Menschen durch den Konsum von illegal gebranntem Schnaps. Das Problem heißt Methanol. In geringerer Dosis macht es blind, zu viel Methanol wirkt tödlich.
Short teaser Immer wieder sterben Menschen durch mit Methanol verunreinigten Schnaps. Was passiert dabei im Körper?
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Kumi Kumi, Lotoko oder Waragi - all diese Namen stehen für illegale alkoholische Getränke, die in Kenia, der Demokratischen Republik Kongo und Uganda hergestellt werden. Und sie haben noch etwas gemeinsam: Sie alle enthalten Methanol und ihr Verzehr kann tödlich sein.

Methanol gehört zur Stoffgruppe der Alkohole und ist eine klare, farblose Flüssigkeit, die in der chemischen Industrie verwendet und beispielsweise für die Herstellung von Brennstoffzellen eingesetzt wird.

Obwohl sich Ethanol und Methanol in ihrer chemischen Struktur sehr ähnlich sind, unterscheiden sie sich in ihrer toxikologischen Wirkung enorm: Trinken sollte man Methanol auf keinen Fall.

Was ist gepanschter Alkohol?

Trotzdem kommt es immer wieder zu oft tödlichen Zwischenfällen mit gepanschtem - also mit Methanol versetztem - Alkohol. Der Stoff kann auf verschiedene Wege in den Trinkalkohol gelangen. Die Trinkenden selbst merken davon nichts, weil Methanol und Ethanol geschmacklich nicht zu unterscheiden sind.

Methanol entsteht als Nebenprodukt bei der Herstellung von Trinkalkohol. Während des Destillierungsprozesses verdampft und kondensiert Methanol vor Ethanol. Deshalb sollte dieses erste Destillat unbedingt ausgesondert werden, um zu verhindern, dass das spätere Endprodukt mit Methanol verunreinigt ist. Darauf ist in der privaten Hinterhof-Brennerei allerdings nicht unbedingt Verlass.

Eine andere Form des Panschens ist die illegale Beimischung von im Vergleich zu Ethanol billigerem Methanol, um den Alkoholgehalt und die berauschende Wirkung des Getränks zu steigern. 2009 starben drei Jugendliche aus Deutschland während einer Klassenfahrt in der Türkei, weil sie Wodka getrunken hatten, der mit Methanol versetzt war.

Was passiert bei einer Methanolvergiftung?

"Methanol an sich, wenn es völlig unverändert in ihrem Körper bliebe, wäre gar nicht schlimm", sagt Dr. Carsten Schleh, Toxikologe und Autor des Buches "Vorsicht, da steckt Gift drin!". Das Problem seien die Abbauprodukte des Methanols.

Das Enzym Alkoholdehydrogenase ist für den Abbau von Ethanol zuständig, baut aber auch Methanol ab, wenn es sich im Körper befindet. So wird aus dem Methanol erst Formaldehyd und dann Ameisensäure. "Die Ameisensäure greift den Sehnerv an und kann zu Erblindung führen. Sehstörungen gehören zu den ersten gravierenden Symptomen einer Methanolvergiftung", erklärt Schleh.

Ob es beim Verlust der Sehkraft bleibt oder die Ameisensäure bis zum Organversagen und schließlich zum Tod führt, sei hauptsächlich eine Frage der Dosis, so Schleh.

Allerdings sind die Stoffwechselprozesse bei allen Menschen unterschiedlich, sodass genaue Angaben von Grenzwerten schwierig sind. Forschende nehmen an, dass der Konsum von 5 bis 10 ml reinen Methanols zu Erblindung führt. Ab 20 bis 30 ml kann das Trinken tödlich sein.

Was tun bei einer Methanolvergiftung?

"Wenn ich in einer vergilbten Plastikflasche eine klare Flüssigkeit angeboten bekomme, die stark alkoholisch riecht, würde ich Abstand nehmen", sagt der Toxikologe Schleh auf die Frage, wie sich eine Methanolvergiftung verhindern lässt.

Für den Fall, dass das Glas bereits geleert wurde und erste Vergiftungserscheinungen offensichtlich werden, sollte sofort ein Krankenwagen gerufen werden. "Im Krankenhaus wird der Magen ausgepumpt und man bekommt das Medikament Fomezipol, das die Alkoholdehydrogenase hemmt und somit den Abbau in Ameisensäure blockiert", sagt Schleh.

Eine weitere Maßnahme ist die Gabe von Ethanol. Das klingt seltsam, hat aber einen ähnlichen Effekt wie das Medikament: der Abbau von Methanol in die hochgiftige Ameisensäure wird gestoppt. "Die Alkoholdehydrogenase hat eine höhere Affinität zu Ethanol und baut deshalb bevorzugt diesen Alkohol ab", erklärt Schleh.

Von einer derartigen Eigentherapie rät Carsten Schleh allerdings trotzdem ab - eine Ethanolvergiftung könne ebenfalls fatale Folgen haben.

Item URL https://www.dw.com/de/tödliches-methanol-so-giftig-ist-gepanschter-alkohol/a-62627433?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Klarer Alkohol aus einer Plastikflasche? Lieber dankend ablehnen: Geschmacklich sind Ethanol und Methanol nicht zu unterscheiden
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Item 65
Id 70713042
Date 2024-11-19
Title Soll die fossile Energieindustrie für Klimaschäden zahlen?
Short title Soll die fossile Energieindustrie für Klimaschäden zahlen?
Teaser Dürren, Wirbelstürme und Überschwemmungen - der menschengemachte Klimawandel kostet Menschenleben und Milliarden. Wie kann einer der größten Mitverursacher, die Energieindustrie, an den Kosten beteiligt werden?
Short teaser Der Klimawandel kostet Milliarden. Wie kann die Energieindustrie als Mitverursacher an den Kosten beteiligt werden?
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Durch den Anstieg von CO2 in der Atmosphäre heizt sich unser Klima auf. Das stammt zu fast 90 Prozent aus der Verbrennung von Kohle, Öl und Gas. Darum fordern Umweltschützer und Experten, dass fossile Unternehmen Verantwortung übernehmen und Entschädigungen für ihre Verantwortung an der Klimakrise zahlen sollen.

"Rund 70 Prozent der weltweiten Emissionen gehen auf etwa 100 große fossile Brennstoffunternehmen zurück", sagt Marco Grasso, Professor für politische Geographie an der Universität Mailand-Bicocca, der auch über Klimagerechtigkeit schreibt.

Grasso verfasste mit Kollegen 2023 eine bahnbrechende Studie dazu. Sie rechneten aus, dass 21 Öl-, Kohle- und Gaskonzerne, darunter Saudi Aramco, ExxonMobil, Shell und BP, zwischen 2025 und 2050 gemeinsam 209 Milliarden Dollar (193 Milliarden Euro) an Reparationszahlungen pro Jahr aufbringen müssten. Grundlage für die Berechnung sind die historischen Emissionen der von den Firmen geförderten Brennstoffe.

Unternehmen der fossilen Brennstoffindustrie hätten eine "moralische Verantwortung" für Klimaschäden aufzukommen, so Grasso, da sie seit langem "um den Zusammenhang zwischen der Verbrennung ihrer Produkte und den Auswirkungen auf das Klimasystem wissen".

Dennoch hätten einige Unternehmen ihr Verhalten "in keiner Weise" geändert und stattdessen Klimaleugnungs- und Desinformationskampagnen "finanziert und orchestriert".

Ein im April veröffentlichter Bericht des US-Kongresses mit dem Titel "Denial, Disinformation, and Doublespeak: Big Oil's Evolving Efforts to Avoid Accountability for Climate Change" (Leugnen, Desinformation und Doppelzüngigkeit: Die Bemühungen von Big Oil, sich der Verantwortung für den Klimawandel zu entziehen), kommt zu einer ähnlichen Schlussfolgerung: "Die Unternehmen für fossile Brennstoffe bestreiten nicht, dass sie seit mehr als 60 Jahren wissen, dass die Verbrennung fossiler Brennstoffe den Klimawandel verursacht - und haben dennoch jahrzehntelang daran gearbeitet, das öffentliche Verständnis zu untergraben und die zugrunde liegende Wissenschaft zu leugnen."

Umweltverschmutzer zur Kasse bitten

Es gibt eine lauter werdende Debatte über mögliche rechtliche oder regulatorische Mechanismen, mit denen Öl-, Gas- und Kohlekonzerne gezwungen werden könnten, sich an der Finanzierung der Folgeschäden zu beteiligen.

Bei den Rekordüberschwemmungen in Pakistan im Jahr 2022 beispielsweise, die nach Angaben der World Weather Attribution (WWA) wahrscheinlich durch den Klimawandel verschlimmert wurden, kamen mindestens 1700 Menschen ums Leben. Hinzu kamen Schäden und wirtschaftliche Verluste in Höhe von rund 30 Milliarden US-Dollar. Die WWA ist eine Initiative internationaler Wissenschaftler, sie untersuchen den Einfluss der Erderwärmung auf Extremwetter.

In neueren Studien haben Wissenschaftler und Regierungsvertreter eine Klimaschadenssteuer auf die Öl- und Gasproduktion in den größten Volkswirtschaften der Welt vorgeschlagen. Die Steuer wäre eine Abgabe von fünf Dollar pro Tonne CO2, die Kohle-, Öl- und Gasunternehmen bei der Förderung fossiler Brennstoffe zu entrichten hätten.

Ziel ist es, bis zum Jahr 2030 insgesamt 720 Milliarden Dollar zur Unterstützung klimagefährdeter Gemeinschaften zu generieren. Das Geld soll in den Verlust- und Schadensfonds fließen. Letztes Jahr wurde dieser auf der UN-Klimakonferenz in Dubai eingerichtet, um Ländern nach Klimakatastrophen zu helfen.

Bereits eine "kleine Steuer" für sieben der weltgrößten Fossil-Konzerne würde die Mittel im Fonds für Schäden und Verluste verzwanzigfachen, so eine neue Analyse der Umweltorganisation Greenpeace. Die Organisation fordert eine langfristige Steuer auf die Öl- und Gasförderung, die im Laufe der Zeit steigen soll, ebenso wie Steuern auf Übergewinne.

Die Analyse untersuchte die Schadenshöhe verschiedener Extremwetterereignisse, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind. Alleine eine Steuer auf das von Shell im Jahr 2023 geförderte Öl "könnte beispielsweise einen Großteil der Schäden durch den Taifun Carina abdecken". Der Taifun traf im Juli 2024 die Philippinen, China, Taiwan und Nordkorea und verursachte Schäden in Höhe von 2,49 Milliarden Dollar.

Bislang leisten die großen Ölkonzerne nur "einen sehr geringen Beitrag" zu den bestehenden Klimafonds, die überwiegend aus öffentlichen oder staatliche Mittel finanziert werden, sagt Carl-Friedrich Schleussner.

Schleussner ist wissenschaftlicher Berater der Berliner Denkfabrik Climate Analytics und verfasste mit Kollegen 2023 eine Studie zu den Gewinnen und Klimaschäden von 25 großen Öl- und Gaskonzernen. Zwischen 1985 und 2018 verdienten diese demnach 30 Billionen Dollar. Zugleich verursachten die von ihnen geförderten Brennstoffe jedoch Klimaschäden in Höhe von rund 20 Billionen Dollar durch den Verlust von Häusern, zerstörter Infrastruktur und verringerter Artenvielfalt.

Die Autoren argumentieren, dass die fossilen Konzerne es sich leisten könnten, diesen Betrag als Entschädigung zu zahlen und trotzdem einen Gewinn von 10 Billionen Dollar verbuchen.

"Sie haben das Geld", sagt Schleussner. Er fügt hinzu, dass die Rekordgewinne aus fossilen Brennstoffen, die nach der russischen Invasion in die Ukraine im Jahr 2022 erzielt wurden, wieder in Projekte für fossile Brennstoffe reinvestiert werden.

Einige Experten sind der Meinung, dass die Abschaffung der staatlichen Subventionen für fossile Brennstoffe eine bessere Umverteilung der Gewinne der großen Konzerne bewirken würde, um für die Klimaschäden aufzukommen.

Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) beliefen sich die weltweiten Subventionen für fossile Brennstoffe im Jahr 2022 auf sieben Billionen Dollar, was 7,1 Prozent des BIP entspricht. Dies ist ein Anstieg von zwei Billionen Dollar gegenüber 2020. Der Grund für die höhere Subvention von fossilen Brennstoffen liegt an gestiegenen Preisen für Öl-, Gas und Kohle durch den russischen Überfall auf die Ukraine.

Der Abbau solcher Subventionen und ihre Umleitung in Fonds für Verluste und Schäden wäre wirksamer als Gesetze, die große Ölkonzerne zur Zahlung von Entschädigungen zwingen, sagt Grasso.

Ölkonzerne schweigen zu Klimaentschädigungen

Die DW hat die beiden großen Mineralölkonzerne Shell und BP um eine Stellungnahme gebeten, ob sie bereit wären für die Klimaschäden zu zahlen, die durch die Verbrennung von Öl und Gas entstehen.

"Wir sind uns einig, dass die Welt dringende Klimamaßnahmen braucht", erklärt das niederländische Unternehmen Shell in seiner Stellungnahme.

"Shell spielt eine wichtige Rolle bei der Energiewende, indem es die heute benötigte Energie liefert und gleichzeitig dazu beiträgt, das kohlenstoffarme Energiesystem der Zukunft aufzubauen", heißt es in der Erklärung weiter.

Das Unternehmen gibt an, zwischen 2023 und 2025 zehn bis 15 Milliarden Dollar in "kohlenstoffarme Energielösungen" zu investieren. Dabei sieht Shell das Flüssiggas (LNG) als "kritischen Brennstoff", der notwendig für die Energiewende sei.

Laut der Umweltorganisation Global Witness hat Shell im Jahr 2021 nur rund 1,5 Prozent seiner Gesamtausgaben in erneuerbare Energien wie Wind- und Solarkraft investiert. Bis zur Veröffentlichung dieses Artikels reagierte Shell nicht auf die DW-Nachfrage zu dieser Zahl.

Das britische Unternehmen BP lehnte eine Stellungnahme ab und äußerte sich nicht zu seiner Bereitschaft für Klimaschäden zu zahlen.

Der neue Klimafonds könnte "weit hinter den Erwartungen zurückbleiben"

In diesem Sommer stimmte der US-Bundesstaat Vermont dafür, Öl- und Gasunternehmen zu zwingen, Entschädigungen für ihre historischen Emissionen klimaschädlicher Treibhausgase zu zahlen.

Einen Monat später initiierte Aserbaidschan, Gastgeber der Klimakonferenz, einen Aktionsfonds für die Klimafinanzierung in das große Ölunternehmen potentiell jährliche Beiträge zahlen.

"Dies wird der erste Fonds sein, an dem sowohl Länder, die fossile Brennstoffe produzieren, als auch Unternehmen aus den Bereichen Öl, Gas und Kohle beteiligt sind", erklärte der Chefunterhändler der COP29, Yalchin Rafiyev. Der Fonds wird Maßnahmen zur Eindämmung und Anpassung an den Klimawandel finanzieren und die Folgen klimabedingter Naturkatastrophen bekämpfen, fügt er hinzu.

Doch die Initiative, die auf freiwilligen Beiträgen beruht, sagt wenig darüber, wie die fossilen Brennstoffunternehmen davon überzeugt werden sollen, in den Fonds einzuzahlen. Und die Größenordnung sei "weit unterdurchschnittlich", kritisiert Schleussner.

Rafiyev räumte bei einem Vorbereitungstreffen zur Klimakonferenz ein, dass der Fonds realistischerweise nur "Hunderte von Milliarden" zur Bekämpfung der Ursachen und Auswirkungen des Klimawandels aufbringen werde, obwohl jährlich Billionen von Dollar benötigt würden.

Um die notwendigen Mittel zur Bezahlung der Klimaschäden aufzubringen, fordern UN-Generalsekretär António Guterres und andere eine Sondersteuer auf die Gewinne der Ölkonzerne.

Die internationale Nichtregierungsorganisation Actionaid rechnete aus, dass 36 Unternehmen, darunter 14 Großkonzerne für Öl, Gas und Kohle in den zwei Jahren bis Juni 2023 zusätzlich zu ihren normalen Gewinnen noch 424 Milliarden US-Dollar (383 Milliarden Euro) an unerwarteten Gewinnen erzielt haben.

Eine Steuer von 90 Prozent auf diese unerwarteten Gewinne würde fast 382 Milliarden US-Dollar einbringen. Das wäre dem Bericht zufolge fast 20 mal mehr als das, was 2021 weltweit für die Anpassung an den Klimawandel ausgegeben wurde.

Ein Zwang zur Zahlung von Klimareparationen - auch über eine neue Steuer - könnte laut Schleussner die Ölindustrie davon abhalten in neue Öl- und Gasförderung zu investieren, die Klimaschäden weiter verstärken. "Wenn sie zahlen, könnte das die Gleichung ändern", sagt er.

Adaption aus dem Englischen: Gero Rueter

Redaktion: Tamsin Walker

Item URL https://www.dw.com/de/soll-die-fossile-energieindustrie-für-klimaschäden-zahlen/a-70713042?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Über 200 Tote nach Überschwemmungen in Spanien. Extremwetter nehmen durch den Klimawandel zu
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Item 66
Id 51296092
Date 2024-11-18
Title Welttoilettentag 2024: Die Geschichte des stillen Örtchens
Short title Welttoilettentag 2024: Die Geschichte des stillen Örtchens
Teaser Aufs Klo muss jeder. Doch darüber reden - das macht kaum jemand gern. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass der Toilettengang nicht immer ein Tabuthema war.
Short teaser Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass der Toilettengang nicht immer ein Tabuthema war.
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Was oben reinkommt, muss unten auch irgendwann wieder raus. Zumindest ein Teil davon. Dieser physiologische Vorgang läuft bei jedem Menschen auf der Welt ab. Wir alle müssen früher oder später das Klo aufsuchen - oder eben das, was gerade da ist.

Denn während für die meisten Menschen in Deutschland das eigene WC selbstverständlich ist, sieht es weltweit anders aus: Den Vereinten Nationen zufolge leben 3,5 Milliarden Menschen ohne angemessene Sanitärversorgung. Millionen von Menschen erledigen ihr Geschäft im Freien. Krankheiten breiten sich leichter aus und Trinkwasser wird verunreinigt. Hunderttausende sterben jährlich daran. Die UN sprechen daher von einer weltweiten Hygienekrise, auf die mit dem Welttoilettentag am 19. November aufmerksam gemacht werden soll.

Von wegen "stilles Örtchen"

Dass Fäkalien gründlich entsorgt gehören, war den Menschen bereits vor Tausenden von Jahren bewusst. Die ältesten bisher bekannten Toiletten bauten die Sumerer im Zweistromland (Mesopotamien) 3500 bis 3000 v. Chr. Sie bestanden aus tiefen Gruben, die von ineinander gestapelten Keramikröhren ausgekleidet wurden, auf denen sich der Benutzer niederließ. Die festen Ausscheidungen blieben in dem Behältnis, Flüssiges sickerte durch Löcher in der Wandung nach außen. Ein Spülsystem gab es nicht.

Auch die Babylonier und Assyrer bauten zwischen 3000 bis 500 v. Chr. bereits Klos aus zwei kleinen Mauern mit einem schmalen Zwischenraum für die Fäkalien. Mit dem Badewasser wurden diese in Kanäle gespült.

Doch diese Arten von Toiletten tauchten nur vereinzelt auf. Erst mit den alten Griechen und Römern wurde das stille Örtchen populär. Ärmeren Haushalten diente ein Fass als Klo, in das man den Inhalt der Nachttöpfe auskippte. Reichere Römer besaßen schon ein Privatklo. Die meisten Menschen nutzten allerdings öffentliche Latrinen mit ständiger Wasserspülung für 50 bis 60 Personen. Gesellig wie es dort war, wurde nicht selten das ein oder andere Geschäft besprochen - womit klar sein dürfte, woher der Ausdruck "sein Geschäft verrichten" stammt.

Albrecht Dürer: gerügt für Klobau

Mit dem Zerfall des Römischen Reichs verschwand auch die gehobenere Klokultur. Das gemeine mittelalterliche Volk erledigte seine Notdurft im Nachttopf und entleerte diesen auf der Straße.

Burgbewohner hatten eine kleine Toilettennische in der Burgmauer, sogenannte Abtritterker - doch war die Entsorgung des dort verrichteten Geschäfts ebenfalls unhygienisch: Kot und Urin landeten im Burggraben; Pest-, Cholera- und Typhusepidemien waren die Folge.

Generell waren Toiletten rar gesät im Mittelalter - sowohl private als auch öffentliche. Der Maler Albrecht Dürer wurde von der Stadt Nürnberg sogar dafür gerügt, dass er eine Toilette in seine Küche eingebaut hatte. Das war Anfang des 16. Jahrhunderts. Es gab noch keine Kanalisation, und so landeten seine Exkremente in der Gosse und stanken. Als berühmter Stadtbewohner kam er gerade nochmal um eine Geldstrafe herum.

Edler Auftritt und üble Gerüche

Auch in der Neuzeit verbesserte sich die Toilettensituation nicht wirklich. Das einfache Volk nutzte den Stall oder das Feld, um sich zu erleichtern. Und auch der Adel am Hofe des französischen Königs Ludwig XIV. schien auf Privatsphäre und Hygiene nicht viel Wert zu legen. Bei 2000 Zimmern im Schloss von Versailles gab es gerade mal ein eingebautes Klo. Stattdessen setzte sich seine Hoheit auf einen Leibstuhl, plauderte währenddessen mit hochrangigen Besuchern und ließ anschließend das Geschäft auf einem riesigen Misthaufen entsorgen. Veranstaltete der Sonnenkönig eines seiner berühmt berüchtigten Schlossfeste, so erleichterten sich die edlen Gäste - na klar - im Schlosspark.

Verzögerter Erfolg für das Klo mit Spülung

Ende des 18. Jahrhunderts boten ​​Männer und Frauen mit langen Umhängen Passanten an, für die Verrichtung ihres Geschäftes unter ihren Mantel zu schlüpfen - gegen ein entsprechendes Entgelt natürlich. Es sollte noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dauern, bis sich das Klo mit Spülung in Europa durchzusetzen begann. Zwar erfand es der britische Dichter Sir John Harington bereits 1596, doch vermochten seine Landsleute die Vorteile dieses Wasserklosetts scheinbar nicht zu erkennen. Sein Bauplan geriet vorerst in Vergessenheit.

Erst als der britische Erfinder Alexander Cummings 200 Jahre später ein Patent darauf anmeldete und dem Ganzen ein doppelt gekrümmtes Abflussrohr, einen sogenannten Siphon, zur Eindämmung des Geruchs hinzufügte, war der Weg für die Verbreitung des Klos mit Spülung geebnet: Das Spülklo konnte Ende des 19. Jahrhunderts seinen Siegeszug durch die europäischen Großstädte antreten. So wurde schließlich auch dafür gesorgt, dass Flüsse und Bäche von der menschlichen Notdurft verschont blieben.

Und heute? Noch immer existieren eklatante Unterschiede auf der Welt, was die sanitäre Versorgung angeht. Das lässt sich an der Verschiedenheit der Debatten zu dem Thema ablesen - während etwa Indiens Premierminister Modi den Bau von Toiletten einst zum Wahlkampfthema machte, streitet man in Industrienationen wie Deutschland oder den USA über Transgender-Toiletten und kämpft für Urinale für Frauen, damit auch die künftig im Stehen pinkeln können. Und während Frauen in manchen Weltregionen Angst haben müssen, beim Gang aufs Klo vergewaltigt zu werden, haben Frauen in Japan die Qual der Wahl bei der richtigen Melodie aus den Lautsprechern ihrer High-Tech-Toilette - mit Geruchssauger und beheizter Klobrille.

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Item 67
Id 70811313
Date 2024-11-18
Title COP29: Halbzeit beim UN-Klimagipfel – Erfolg noch möglich?
Short title COP29: Halbzeit beim UN-Klimagipfel – Erfolg noch möglich?
Teaser Die Folgen der Klimakrise werden immer drastischer – doch woher soll das Geld für globalen Klimaschutz und Anpassung kommen? Der UN-Klimagipfel in Baku brachte noch keine Einigung. Können die G20 helfen?
Short teaser Wer zahlt für globalen Klimaschutz und Anpassung? Auf der COP in Baku gab es noch keine Einigung. Können die G20 helfen?
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Die aktuelle UN-Klimakonferenz, die COP29 in Aserbaidschans Hauptstadt Baku, geht in die entscheidende zweite Woche. Im Mittelpunkt steht dieses Jahr vor allem die Zukunft der internationalen Klimafinanzierung.

Doch bei ihren Verhandlungen haben die Delegationen aus fast 200 Staaten bisher herzlich wenig erreicht, zur Halbzeit des internationalen Klimagipfels gibt es kaum Fortschritte. Die Verhandlungen steckten "ganz klar fest", sagte ein französischer Diplomat am Wochenende in Baku. UN-Klimasekretär Simon Stiell forderte alle Delegierten mit Nachdruck auf, "das Theater zu beenden" und zu "ernsthaften Verhandlungen" überzugehen.

COP29: Warum globale Klimafinanzierung so wichtig ist

Hauptaufgabe der diesjährigen Weltklimakonferenz ist, die internationale Klimafinanzierung für die Zeit nach 2025 festzulegen. Damit sollen die armen Länder des globalen Südens beim Klimaschutz und der Anpassung an die Folgen der Erderwärmung unterstützt werden. Die Entwicklungsländer haben bislang deutlich weniger Treibhausgase produziert als die Industrienationen, sind aber besonders stark von den Folgen der Erderwärmung betroffen. Eine wirtschaftliche Entwicklung im Stil der Industrieländer würde die globale Treibhausgas-Konzentration extrem steigen lassen.

Für den angepeilten neuen globalen Rahmen zur Klimafinanzierung wurde zwar am Wochenende ein neuer Textentwurf vorgelegt. Doch zentrale Fragen bleiben darin weiterhin offen. Nach Schätzung von Expertinnen und Experten ist für eine Unterstützung mindestens eine Billion Dollar pro Jahr durch die Industrienationen notwendig. Einige Entwicklungsländer fordern bereits 1,3 Billionen Dollar. Bisher haben sich Staaten wie die EU-Länder, die USA und Japan lediglich dazu verpflichtet, 100 Milliarden Euro pro Jahr zu zahlen, also nur ein Zehntel davon.

Mehr private Investitionen zur Klima-Rettung?

"Die erste Woche der Konferenz hat nicht geleistet, was nötig gewesen wäre, um jetzt optimistisch auf die zweite Woche zu blicken", kritisiert Jan Kowalzig, Experte für Klimawandel und Klimapolitik bei der Menschenrechtsorganisation Oxfam. "Beide Schlüsselthemen der COP29, mehr Ehrgeiz im Klimaschutz und solide Unterstützung für die einkommensschwachen Länder, sind von gegensätzlichen Positionen und Blockaden gezeichnet", so Kowalzig zur DW.

Bei den Verhandlungen geht es aber nicht nur um die Höhe der Summe, sondern auch um die Art der Finanzierung. So wollen die Industrieländer stärker als bisher private Investitionen für die Klimafinanzierung heranziehen. Auch Finanzinstrumente, wie Abgaben auf den Flug- oder Seeverkehr sowie auf Finanztransaktionen – oder auch auf Gewinne der fossilen Brennstoffindustrie, werden diskutiert.

Sollen reiche Schwellenländer mehr für den Klimaschutz zahlen?

Und die Industriestaaten wollen, dass reiche Schwellenländer wie China oder die Golfstaaten künftig nicht als Begünstigte, sondern als Geberländer zählen. Das forderte auch der deutsche Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Die Grünen) in Baku. Nach der Absage von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist der Vizekanzler der ranghöchste Vertreter der Bundesregierung beim Klimagipfel. Sein Standpunkt: "Die Länder und die Unternehmen, die mit der Gewinnung und dem Verkauf fossiler Energien ein Vermögen verdient haben, sollten zur Finanzierung der Länder beitragen, die jetzt unter der globalen Erwärmung leiden", sagte Habeck auf Nachfrage der DW.

Doch die Schwellenländer zeigten in Baku dazu bisher wenig Bereitschaft. Die Position der Industrieländer im Bezug auf neue Geber und mehr private Investitionen lenke nur davon ab, dass eine direkte Unterstützung für die einkommensschwachen Länder nötig sei, kritisiert Jan Kowalzig.

COP29: Klimakonferenz in schwierigen Zeiten

Doch mit den USA dürfte ein möglicher Geldgeber künftig vermutlich wegfallen - schließlich hat der künftige US-Präsident Donald Trump bereits angekündigt, nach seinem Amtsantritt im Januar die Mitgliedschaft der USA im Pariser Klimaschutzabkommen aufzukündigen . Einige andere Regierungen könnten diesem Schritt folgen. So ist die argentinische Delegation bereits aus Baku abgereist.

Umweltorganisationen monieren nicht nur die bislang mangelnden Fortschritte auf der Konferenz, sie kritisieren auch die starke Präsenz von Lobbyistinnen und Lobbyisten der Öl- und Gasindustrie. Insgesamt sollen ihren Angaben zufolge mehr als 1700 Teilnehmende mit Verbindungen zur fossilen Brennstoffwirtschaft dort anwesend sein. Gastgeber Aserbaidschan selbst ist eng mit der Öl- und Gaswirtschaft verflochten. Präsident Ilham Alijew bezeichnete fossile Energieträger vergangene Woche als "Gottesgeschenk". Seine Regierung möchte deren Förderung noch ausbauen.

Verhilft der G20-Gipfel in Brasilien der COP in Baku zum Durchbruch?

Angesichts der schwierigen Umstände in Baku richten sich derzeit auch Appelle an den G20-Gipfel der führenden Industrienationen, der bis diesen Dienstag im brasilianischen Rio de Janeiro stattfindet. So rief UN-Generalsekretär António Guterres die G20-Staaten zu mehr "Führungsstärke" bei den Klimaverhandlungen auf. "Ein erfolgreiches Ergebnis der COP29 ist immer noch in Reichweite. Aber es wird Führungsstärke und Kompromisse erfordern, insbesondere von den G20-Ländern", sagte Guterres in Rio.

Auch Rachel Cleetus von der Vereinigung Besorgter Wissenschaftler aus den USA, die sich für Abrüstung und Umweltschutz einsetzt, zeigte sich im Gespräch mit der DW hoffnungsvoll. Es könnte beim G20 Gipfel in Brasilien aus den großen Volkswirtschaften "einige hilfreiche Durchbrüche in der Klimapolitik geben", die die Verhandlungen auf der COP29 vorantreiben könnten.

Redaktion: Jennifer Collins

Item URL https://www.dw.com/de/cop29-halbzeit-beim-un-klimagipfel-erfolg-noch-möglich/a-70811313?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Halbzeit bei der COP29 - doch wichtige Fragen sind noch nicht geklärt
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Item 68
Id 70781857
Date 2024-11-18
Title Regierungskrise: Die Klimabilanz der Ampel
Short title Regierungskrise: Die Klimabilanz der Ampel
Teaser Wegen der Regierungskrise ist noch-Kanzler Olaf Scholz nicht bei der Klimakonferenz in Aserbaidschan. Was hat die Ampelkoalition in der Klimapolitik bewegt? Und was bedeutet ihr Ende für die Verhandlungen in Baku?
Short teaser Bei der Klimakonferenz in Baku ist noch-Kanzler Olaf Scholz nicht dabei. Die Klimabilanz der Ampel ist gemischt.
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Nach drei Jahren Streit unter den Regierungsparteien scheiterte die bisherige Koalitionsregierung in Deutschland - auch an unterschiedlichen Auffassungen zur Klimapolitik.

In einem Grundsatzpapier zur Wirtschaftswende hatte der inzwischen Ex-Finanzminister Christian Linder (FDP) konträr zur Koalitionsvereinbarung eine neue Wirtschaftspolitik gefordert und damit das Aus der Koalition eingeleitet. Lindner will Deutschlands Klimaziele aufweichen, Subventionen und Umweltregulierungen streichen, ebenso die gesetzliche Verpflichtung zum Kohleausstieg. Kurz darauf war Lindner entlassen, die Regierungskoalition nach drei Jahren Geschichte. Bis zuNeuwahlen Anfang des Jahres regieren nun SPD und Grüne als Minderheitsregierung.

Dabei sah die Klimapolitik zu Beginn der Koalition nach einem ambitionierten Kompromiss verschiedener Lager aus. Man wolle "die Umstellung des Energiesystems auf Erneuerbare Energie forcieren, die Industrie umbauen und uns damit endlich auf den 1,5-Grad-Pfad begeben," sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck 2021 zum Koalitionsvertrag.Rückblickend eine optimistische Einordnung.

Was hat die Ampel fürs Klima geschafft?

Drei Jahre nach Amtsantritt ist die Bilanz gemischt. Von 27 geplanten Gesetzen, die dem Umwelt- und Klimaschutzgesetz und der nachhaltigen Transformation der Wirtschaft dienen sollten, sind inzwischen nur neun vollständig umgesetzt worden.

Die Überarbeitung des Klimaschutzgesetzes - nach langem Streit im Sommer 2023 auf den Weg gebracht - sollte das Fundament der deutschen Klimapolitik der nächsten Jahre werden. Das Ziel: schon ab 2045 klimaneutral zu wirtschaften, statt erst ab 2050. Noch in diesem Jahrzeht will Deutschland seine Emissionen statt um 55 Prozent um 65 Prozent senken. Bis 2040 sollen es dann 88 Prozent weniger im Vergleich zu 1990 seiin. Doch das reicht laut Kritikern nicht aus. Darum klagt die Umweltschutzorganisation BUND derzeit vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Gesetz und für mehr Klimaschutz.

"Deutschland ist eigentlich überhaupt nicht auf dem 1,5-Grad-Pfad, weil wir Klimaziele haben, die dem wissenschaftlichen Stand der Dinge nicht gerecht werden", sagt Tina Löffelsend, Klimaschutzexpertin beim BUND. Deutschlands Verpflichtung, das 1.5 Grad Ziel des Pariser Klimaabkommens einzuhalten, sei mit dem neuen Klimaschutzgesetz der Bundesregierung nicht zu erreichen.

Die Analyse der Experten von Climate Action Tracker, einem Verbund von Nichtregierungsorganisationen, sieht den Klimaschutz durch das Gesetz geschwächt. Zugunsten eines allgemeinen Ziels wurden die rechtlich bindenden jährlichen Ziele für einzelne Bereiche wie Verkehr, Gebäude, Energie oder Landwirtschaft wurden abgeschafft. Dadurch sind die einzelnen Ministerien nicht mehr für den Klimaschutz in ihrem Bereich zuständig und es müssen auch keine Sofortmaßnahme durchgeführt werden, wenn die Ziele verfehlt werden, kritisieren Umweltverbände. Laut Climate Action Tracker sei es so nahezu unmöglich, bis 2045 Nett-Null Emissionen zu erreichen.

Dagegen ist Dirk Messner, Präsident des Bundesumweltamtes (UBA), zuversichtlich, dass Deutschland seine Klimaziele bis 2030 einhalten wird. "Aber nicht in allen Sektoren stehen wir glänzend da." Es müsse mehr passieren, gerade im Verkehrssektor um beim Abbau klimaschädlicher Subventionen, so Messner in einer Presserklärung zu den deutschen Klimazielen.

"Ein bisschen Licht und sehr viel Schatten"

Mit Bezug auf Deutschlands Klimapfad sieht Claudia Kemfert, Ökonomin am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin, "ein bisschen Licht, aber auch sehr viel Schatten". Kemfert spricht sich für drastischeren Klimaschutz aus. Ihre Bilanz der Ampelregierung fällt gemischt aus. "Gerade im Bereich des Ausbaus der erneuerbaren Energien wurde viel auf den Weg gebracht und auch gut auf den Weg gebracht. Im Bereich Solarenergie, aber auch Windenergie wurden wichtige Rahmenbedingungen deutlich verbessert," so Kemfert.

Der Anteil erneuerbarer Energien im deutschen Strommix liegt inzwischen bei über 60 Prozent. 2021 waren es 43 Prozent. Ziel sind 80 Prozent bis 2030. "Das wäre ein wichtiger Meilenstein zu Erreichung der Klimaziele”, so Kemfert.

Auch beim Ausbau der Ladeinfrastruktur und der Anzahl der E-Autos auf deutschen Straßen wollte die Bundesregierung Tempo machen. Bis 2030 sollen 15 Millionen E-Autos in Deutschland fahren. Derzeit sind es inklusive Hybrid-Modell gerade mal 2,3 Millionen. Währenddessen steckt Autobauer Volkswagen in der Krise, es drohen Werksschließungen. Die Förderungen beim Kauf von E-Autos wurde im Zuge des Verfassungsgerichtsurteils zur Schuldenbremse, Ende 2023, abrupt gestrichen.

VW-Konzernchef Oliver Blume fordert derweil erneute Unterstützung aus der Politik, zum Beispiel beim Ausbau der Ladeinfrastruktur. Die Sektorziele zur Emissionminderung im Bereich Verkehr werden deutlich verfehlt, ebenso im Gebäudesektor.

Heizungsgesetz: Schlechte Kommunikation, zu wenig Wärmepumpen

Hier wollte vor allem Wirtschaftsminister Habeck mit dem sogenannten Heizungsgesetz einen großen Wurf landen. Das Gesetz stieß in der Bevölkerung und beim Koalitionspartner FDP auf starken Widerstand und geriet zum öffentlichen Debakel. Man einigte sich auf einen Kompromiss, bis 2030 sollen damit 6 Millionen Öl- und Gasheizungen durch Wärmepumpen ersetzt werden. Dass Gesetz sei "besser als sein Ruf, aber in der Kommunikation katastrophal", so Kemfert. Derzeit gebe es 1,8 Millionen neuen Wärmepumpen, das reiche natürlich nicht.

Andere Gesetzesvorhaben, etwa zur klimaresilienten Waldwirtschaft, der Dienstwagenbesteuerung und mehr Meeresschutz wurden teils erst begonnen, oder ganz über Bord geworfen. Auch das Klimageld kam nicht. Es sollte als sozialverträglichen Ausgleich für steigende CO2-Preise an Tankstellen, der Industrie oder Landwirtschaft dienen. Entlastet wurden die Verbraucherinnen und Verbraucher lediglich durch das Wegfallen einiger Abgaben (EEG-Umlage), die zur Förderung der Erneuerbaren Energien erhoben wurde. Gleichzeitig sind die Energiepreise in den vergangenen Jahren im Zuge des Ukraine-Krieges deutlich gestiegen.

Energiekrise abgefangen, Rekordrückgang bei den Emissionen

Die Klimabilanz der Bundesregierung lässt sich nicht ohne die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine bewerten. Das seien Sonderbedingungen gewesen, die es nicht möglich gemacht haben, alles aus dem Koalitionsvertrag umzusetzen, so Kemfert vom DIW.

"Es ist anzuerkennen, dass das gut gelungen ist, diese [Energie-]Krise abzufangen”, lobt auch Löffelsend vom BUND.

Deutschland hatte damals schnell reagiert, rasch neue Terminals für den Import von Flüssiggas an der Nordsee bauen lassen und Verträge mit verschiedenen Ländern geschlossen, um Importe aus Russland zu ersetzen. Dadurch habe man aber auch eine Überkapazität geschaffen, "die uns alle noch teuer zu stehen kommen wird", so Löffelsend. Ebenso wie Kohle und Öl, ist Flüssiggas ein fossiler Brennstoff, der durch Verbrennen die Erderwärmung antreibt. Viele Industrien sind immer noch darauf angewiesen.

Messner vom UBA sieht auch Fortschritte trotz der Krise. "Mit Ausbruch des Kriegs gegen die Ukraine hatten viele die Sorge, dass wir eine Renaissance der Kohle und anderer fossiler Energieträger sehen werden. Wir wissen heute, dass das nicht passiert ist. Das liegt vor allem am sehr erfolgreichen Ausbau der erneuerbaren Energien."

2023 sanken deutschen Emissionen um rund 10 Prozent, der stärkste Rückgang seit 1990. Das liegt laut UBA aber nicht nur an der Klimapolitik Deutschlands, sondern auch an der schlechten Konjunktur, gestiegenen Herstellungskosten und Produktionsrückgängen.

Bürokratie und Verwaltung als Hindernis für mehr Klimaschutz

Hochkonjunktur hat derzeit weder die deutsche Wirtschaft noch das Thema Klimaschutz und Energiewende bei Unternehmen. Laut einer Umfrage der Deutschen Industrie- und Handelskammer sehen rund 60 Prozent der befragten Unternehmen zu viel Bürokratie und zu wenig Planbarkeit bei der Energiepolitik als Hindernis für mehr Klimaschutz im Betrieb – Tendenz steigend.

"Sie haben teilweise 100-Mann-Betriebe, die müssen drei Leute alleine dafür einstellen, um Berichtspflichten im Bereich Nachhaltigkeit zu erfüllen,” sagt Sebastian Bolay, Bereichsleiter Energie, Umwelt, Industrie bei der Deutschen Industrie- und Handelskammer.

Es brauche eine unbürokratische Klimapolitik, nicht eine, die noch mehr aufbürde. Hier greift das kürzlich beschlossene Bürokratieentlastungsgesetz nicht. Über die Hälfte der Unternehmen sehen sich von zu langsamen Genehmigungsverfahren ausgebremst.

Hinzu kämen laut Bolay die hohen Strompreise. "Insbesondere in der Industrie gibt es eigentlich kaum noch Unternehmen, die eine positive Auswirkung durch die Energiewende auf ihr eigenes Geschäft sehen."

Daher planen 37 Prozent aller Industriebetriebe Produktionseinstellungen oder Kürzungen oder haben damit bereits begonnen.

Die Klimabilanz der Bundesregierung wird auch durch das Urteil des Bundersverfassungsgerichts zur Schuldenbremse geschmälert. 60 Milliarden Euro aus dem Corona-Notfallfond dürfen demnach nicht mehr für staatliche Investitionen in den Klimaschutz genutzt werden, das entschied das Gericht im November 2023. Dadurch mussten zentrale Klima-Investitionen in die Wirtschaft und Infrastruktur entweder aus dem knappen Haushalt finanziert, gekürzt oder ganz gestrichen werden.

Ist Deutschland auf der Klimakonferenz in Baku handlungsfähig?

Bundeskanzler Scholz reist wegen der Regierungskrise nicht selbst zur internationalen Klimakonferenz nach Baku.

Auf dem Gipfel geht es vor allem darum, ein neues Finanzierungsziel für Entwicklungsländer zu vereinbaren. Vor allem ärmere Länder brauchen Unterstützung bei der Anpassung und der Bewältigung von Klimakatastrophen. Zahlen sollen reiche Länder, die hauptsächlich für den Klimawandel verantwortlich sind.

"Es geht um ein kollektives Ziel aller, was es an Unterstützung für die einkommensschwachen Länder geben soll. Und das betrifft Deutschland nicht direkt,” sagt Jan Kowalzig, Experte für Klimafinanzierung bei Oxfam. Deutschland verhandele als Teil der EU-Delegation und nicht als Einzelland.

Trotz der gescheiterten Regierung in Berlin sei Deutschland bei den Verhandlungen nicht geschwächt, so die Staatssekretärin und Sonderbeauftragte für internationale Klimapolitik Jennifer Morgan zur DW. Man sei ein starker Teil des Team-Europas: "Wir haben ein volles Mandat der bestehenden Minderheitsregierung”, so Morgan. Deutschland stünde zu seinen Klimaverpflichtungen.

Da Deutschland bisher eine Führungsrolle in der Klimapolitik innehatte, könnte das Fehlen klarer Signale zu den deutschen Klimaambitionen und die Neuwahlen im Februar allerdings die Partnerländer in ihrem eigenen Klimaschutz zurückhalten, fürchtet Kowalzig.

Um die das 1.5 Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens einzuhalten, müssten weltweit bis zum Ende des Jahrzehnts 42 Prozent weniger Emissionen ausgestoßen werden. Davon ist man derzeit weit entfernt.

Item URL https://www.dw.com/de/regierungskrise-die-klimabilanz-der-ampel/a-70781857?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Ein bisschen Licht und viel Schatten: Ein Fazit der Klimapolitik der gescheiterten Ampelkoalition.
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Item 69
Id 70724450
Date 2024-11-16
Title Antibiotikaresistent: Top 8 der gefährlichsten Bakterien der Welt
Short title Top 8 der gefährlichsten Bakterien der Welt
Teaser Bakterien sind überall. Einige sind harmlos, andere hilfreich und manche sind ziemlich gefährlich. Vor allem, wenn kein Antibiotika mehr gegen sie wirkt. Diese acht Bakterien sollten Sie kennen.
Short teaser Bakterien sind überall, einige sind sogar gut für uns. Aber andere sind antibiotikaresistent und deshalb gefährlich.
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Millionen von Menschen sterben jährlich an den Folgen einer bakteriellen Infektionen. Selbst dann, wenn diese Infektionen mit Antibiotika behandelt werden. Denn die Medikamente wirken in vielen Fällen nicht mehr, weil die Bakterien resistent geworden sind.

Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) war die bakterielle Antibiotikaresistenz im Jahr 2019 für 1,27 Millionen direkte Todesfälle weltweit verantwortlich. Schätzungsweise 4,95 Millionen Todesfälle stehen in Zusammenhang mit solchen Resistenzen.

Der Unterschied zwischen Antibiotikaresistenz und antimikrobieller Resistenz

Dieser Artikel fokussiert sich auf die Resistenz von Bakterien gegen Antibiotika. Im Gegensatz dazu bezieht sich der Begriff "antimikrobielle Resistenz" (AMR) auf alle Arten von Mikroben – also winzige Lebewesen oder Organismen. Dazu gehören Bakterien, aber auch Parasiten, Viren und Pilze, die sich so angepasst haben, dass sie gegen gängige medizinische Behandlungen resistent sind.

Das Problem: Die vorhandenen Medikamente wirken weniger gut oder gar nicht mehr – Alternativen sind oft nicht vorhanden. So können selbst gut behandelbare Erkrankungen wie Harnwegsinfektionen fatal sein.

Wie die Weltgesundheitsorganisation Bakterien als gefährlich einstuft

Die WHO stuft Bakterien anhand verschiedener Kriterien ein:

  • Sterblichkeitsraten
  • Inzidenz (Anzahl der Infektionen)
  • Nicht-tödliche Gesundheitsbelastung
  • Entwicklung der Resistenz
  • Übertragbarkeit
  • Vermeidbarkeit
  • Behandlungsmöglichkeiten
  • Pipeline (neue Medikamente in der Entwicklung)

Die Bakterien erhalten für jedes Kriterium eine Punktzahl und werden dann in eine Rangfolge gebracht. Die Liste für 2024 der WHO enthält 24 prioritäre Krankheitserreger. Hier sind die acht wichtigsten.

Die acht wichtigsten bakteriellen Krankheitserreger

1. Klebsiella pneumoniae

Klebsiella ist eine Bakterienart, die im Darm und in menschlichen Fäkalien vorkommt. Klebsiella pneumoniae kann Lungenentzündungen, Blutvergiftungen und Infektionen von Wunden verursachen. Gelangt das Bakterium ins Nervensystem, kann das zu einer sogenannten Meningitis, einer Hirnhautentzündung, führen.

In Krankenhäusern kann sich Klebsiella pneumoniae zu einem sogenannten Superkeim entwickeln. Superkeime verbreiten sich schnell und sind multiresistent: Behandlungen mit verschiedenen Antibiotika schlagen fehl.

Klebsiella pneumoniae ist allerdings auch resistent gegen Carbapeneme, sogenannte Reserveantibiotika. Sie werden erst eingesetzt, wenn alle anderen Behandlungen versagt haben. Ein unkritischer Einsatz dieser Antibiotika fördert allerdings die Entstehung von Resistenzen.

2. Escherichia coli (E. coli)

Wie Klebsiella-Bakterien kommen auch Escherichia coli (E. coli)-Bakterien in der Regel im Darm von menschlichen und Tieren vor. Sie sind aber auch in der Umwelt, in Lebensmitteln und im Wasser zu finden.

Die meisten Arten von E. coli sind harmlos. Einige können allerdings Krankheiten verursachen, darunter Durchfall, Harnwegsinfektionen, Lungenentzündung und Sepsis. Die E. coli -Konzentrationen in der Pariser Seine hatten während der Olympischen Sommerspiele 2024 in Frankreich zu hitzigen Debatten geführt.

E. coli ist resistent gegen Cephalosporine der sogenannten dritten Generation - ein häufig verschriebenes Antibiotikum, das auch zur Behandlung von sexuell übertragbaren Infektionen wie Gonorrhö eingesetzt wird. E. coli ist auch gegen Carbapeneme resistent.

3. Acinetobacter baumannii

Bereits 2012 bezeichneten Forscher Acinetobacter baumannii als einen "aufkommenden opportunistischen bakteriellen Erreger", der mit Krankenhausinfektionen in Verbindung gebracht wird.

Das Infektionsrisiko steigt, je länger Patienten im Krankenhaus liegen müssen. Besonders gefährdet sind Personen, deren Immunsystem geschwächt ist. Acinetobacter baumannii ist ebenfalls Carbapenem-resistent.

4. Mycobacterium tuberculosis

Mycobacterium tuberculosis (TB) verursacht Tuberkulose – eine potenziell tödliche, bakterielle Infektion der Lunge. Manche Stämme dieses Bakteriums sind multiresistent, sprechen also auf verschiedene Medikamente nicht mehr an.

Im Jahr 2023 starben 1,25 Millionen Menschen an TB, darunter 161.000 HIV-Infizierte.

"Die Tuberkulose ist wahrscheinlich wieder die weltweit führende Todesursache durch einen einzelnen Infektionserreger, nachdem sie drei Jahre lang von der Coronavirus-Erkrankung (COVID-19) abgelöst wurde", heißt es bei der WHO.

Mycobacterium tuberculosis ist resistent gegen Rifampicin - ein Antibiotikum, das zur Behandlung von Infektionen wie TB und Lepra eingesetzt wird.

5. Salmonella Typhi

Salmonella Typhi verursacht Typhus, eine durch hohes Fieber gekennzeichnete, lebensbedrohliche Krankheit. Sie betrifft vor allem Menschen, die in Regionen mit mangelhaften sanitären Einrichtungen, verunreinigtem Wasser und Lebensmitteln leben - wie in Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas.

Nach Schätzungen der US Centers for Disease Control and Prevention (CDC) erkranken jedes Jahr weltweit etwa neun Millionen Menschen an Typhus. Salmonella Typhi ist resistent gegen Fluorochinolon – ein Breitbandantibiotikum mit zahlreichen Nebenwirkungen. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) hat deshalb veranlasst, die Verwendung von Fluorochinolon einzuschränken.

6. Shigella Arten

Es gibt vier Arten von Shigella: Shigella sonnei, Shigella flexneri, Shigella boydii und Shigella dysenteriae. Shigella-Bakterien verursachen Durchfall, Bauchschmerzen und Fieber.

Sie verbreiten sich über verunreinigte Lebensmittel und Wasser, sind aber auch sexuell übertragbar. Shigellen sind Fluorchinolon-resistent.

7. Enterococcus faecium

Enterococcus faecium lebt in der Darmflora, die auch als Mikrobiom bezeichnet wird. Bei Menschen mit Diabetes oder einem chronischen Nierenleiden kann das Bakterium schwere Erkrankungen verursachen.

Enterokokken können zu Harnwegsinfektionen und Infektionen des Nervensystems führen, wenn sie in Teile des Körpers außerhalb des Darms gelangen.

Enterokokken sind resistent gegen Vancomycin – ein Antibiotikum, das auch zur Behandlung von Infektionen eingesetzt wird, die durch Staphylokokken verursacht werden. Staphylokokken sind ebenfalls gegen viele Antibiotika resistent.

8. Pseudomonas aeruginosa

Pseudomonas aeruginosa führt zu Infektionen im Blut, der Lunge, den Harnwegen und anderen Teilen des Körpers, häufig nach Operationen in Krankenhäusern. Besonders gefährdet sind Menschen mit einem durch Krankheiten oder Medikamente geschwächten Immunsystem.

Pseudomonas aeruginosa-Bakterien sind multiresistent, auch gegen Carbapeneme.

Quellen:

2024 WHO Bacterial Priority Pathogens List (WHO BPPL), World Health Organization https://www.who.int/publications/i/item/9789240093461

German Center for Infection Research, glossary https://www.dzif.de/en/glossar

National (US) Human Genome Research Institute, glossary https://www.genome.gov/genetics-glossary

Item URL https://www.dw.com/de/antibiotikaresistent-top-8-der-gefährlichsten-bakterien-der-welt/a-70724450?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Das Bakterium Mycobacterium tuberculosis verursacht Tuberkulose und gehört zu den gefährlichsten Erregern weltweit
Image source NIH-NIAID/IMAGE POINT/BSIP/picture alliance
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Item 70
Id 66873802
Date 2024-11-15
Title Alzheimer Medikament: EMA gibt grünes Licht für Lecanemab
Short title Alzheimer Medikament: EMA gibt grünes Licht für Lecanemab
Teaser Weltweit sind Millionen Menschen von Demenz betroffen – eine Erkrankung, für die es bisher keine Heilung gibt. Die Hoffnung vieler ruht auf neuen Medikamenten wie Lecanemab.
Short teaser Weltweit sind Millionen Menschen von Demenz betroffen. Die Hoffnung vieler ruht auf neuen Medikamenten wie Lecanemab.
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Seit Jahrzehnten suchen Forschende weltweit nach einem Medikament gegen Alzheimer – bislang allerdings mit bescheidenem Erfolg. Große Hoffnungen ruhen auf dem Wirkstoff Lecanemab.

Lecanemab ist ein monoklonaler Antikörper, der im Frühstadium einer Alzheimer-Erkrankung eingesetzt werden kann. Das Medikament kann die Erkrankung nicht heilen, sondern ihr Fortschreiten verlangsamen.

2023 wurde Lecanemab von der US-amerikanischen Arzneimittelbehörde FDA zugelassen. Die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) lehnte die Zulassung im Juli 2024 jedoch ab, da das Risiko schwerer Nebenwirkungen der Behörde zu groß erscheint.

Nach erneuter Prüfung spricht sich die EMA nun für die Behandlung mit Lecanemab aus – allerdings nur für bestimmte Patienten, bei denen die Gefahr schwerer Nebenwirkungen geringer ist.

Immer mehr Menschen sind vom Alzheimer betroffen

Weltweit sind etwa 55 Millionen Menschen von Demenzerkrankungen betroffen, zu denen auch Alzheimer gehört. Zwei Drittel der Erkrankten leben in Entwicklungsländern. Angesichts der alternden Bevölkerung wird diese Zahl bis 2050 auf etwa 139 Millionen steigen, besonders dramatisch in China, Indien, Südamerika und den afrikanischen Ländern südlich der Sahara.

Komplexe Abläufe im Gehirn

Die Entwicklung wirksamer Medikamente ist auch deshalb so schwierig, weil längst noch nicht alle Abläufe im Gehirn bei einer Alzheimer-Erkrankung geklärt sind. Dazu gehört auch die Frage, warum Gehirnzellen bei Alzheimer-Erkrankten absterben.

Im Gehirn Betroffener sammeln sich viele abnormale Proteine namens Amyloid und Tau an, aber in welchem direkten Zusammenhang diese beiden Proteine stehen, war bislang unklar.

Zusammenhang bei Zelltod enträtselt

Nun glauben belgische und britische Forschende dieses Rätsel gelöst zu haben. Laut einer neuen im Science Magazin veröffentlichten Studie besteht ein direkter Zusammenhang zwischen abnormen Proteinen, die sich im Gehirn ansammeln, und der "Nekroptose", eine Art des Zelltodes.

Normalerweise sorgt die Nekroptose vor allem bei Immunreaktionen oder Entzündungsvorgängen dafür, unerwünschte Zellen zu beseitigen, damit neue Zellen gebildet werden können. Wenn die Nährstoffversorgung zusammenbricht, schwellen Zellen an, wodurch deren Plasmamembran zerstört wird, die Zelle entzündet sich und stirbt ab.

Laut der Studie entzünden sich bei Alzheimer-Patienten die Gehirnzellen, weil sich abnormales Amyloid in den Zwischenräumen der Neuronen ablagert. Dadurch verändert sich die innere Chemie der Zelle.

Das Amyloid verklumpt zu "Plaques" und das Tau-Protein lagert sich zu Faserbündeln, den sogenannten "Tangles" zusammen. Durch dieses Zusammenspiel beginnen die Gehirnzellen das Molekül MEG3 zu produzieren. Wenn es dem Forschungsteam gelang, das MEG3 zu blockieren, dann überlebten auch die Gehirnzellen.

Dafür hatten die Forschenden menschliche Gehirnzellen in die Gehirne genetisch veränderter Mäusen transplantiert, die besonders große Mengen an abnormalem Amyloid produzieren.

"Zum ersten Mal erhalten wir einen Hinweis darauf, wie und warum Neuronen bei der Alzheimer-Krankheit absterben. Seit 30-40 Jahren wird viel spekuliert, aber niemand war in der Lage, die Mechanismen genau zu bestimmen", so der an der Studie beteiligte Prof. Bart De Strooper vom britischen Dementia Research Institute.

Hoffnung für neue Medikamente

Die Forschenden der KU Leuven in Belgien und vom britischen Dementia Research Institute am University College London hoffen, dass diese neuen Erkenntnisse auch ganz neue Ansätze für die Entwicklung von Alzheimer-Medikamenten liefern können.

Die Hoffnung ist nicht unbegründet, denn in jüngster Zeit wurde Medikamente wie Lecanemab entwickelt, die sich gezielt gegen das Eiweiß Amyloid richten. Wenn es gelingt, mit entsprechenden Medikamenten das MEG3-Molekül zu blockieren, dann kann auch das Absterben der Gehirnzellen aufhalten werden.

Item URL https://www.dw.com/de/alzheimer-medikament-ema-gibt-grünes-licht-für-lecanemab/a-66873802?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Bislang war der Zusammenhang der Proteine Amyloid und Tau im Gehirn von Alzheimer-Patienten unklar.
Image source Jens Wolf/dpa/picture-alliance
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Item 71
Id 70781410
Date 2024-11-15
Title Berlin: Erstes Kolonialismus-Denkmal eingeweiht
Short title Berlin: Erstes Kolonialismus-Denkmal eingeweiht
Teaser Lange existierte in Deutschland kein Denkmal, das an die Gräuel der Kolonialzeit erinnert. Jetzt ist das anders: In Berlin wurde erstmals ein Gedenkort eröffnet, der Wunden heilen soll und zum Dialog einlädt.
Short teaser In Berlin wurde erstmals ein Gedenkort eröffnet, der an die Gräuel der Kolonialzeit erinnert.
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Das "Dekoloniale Denkzeichen" ist ein Ort, um sich mit dem kolonialen deutschen Erben auseinanderzusetzen. Ein Ort für die Völker, die unter der Kolonialherrschaft leiden mussten und teilweise immer noch die Nachwehen dieser Zeit spüren. Und ein Ort, der dazu beitragen will, die Wunden der Vergangenheit zu heilen.

Symbol des Gedenkens ist eine Bronzeskulptur mit dem Titel "EarthNest", entworfen vom Künstlerkollektiv "The Lockward Collective". Der unterirdische Teil des Kunstwerks beherbergt Erde aus ehemaligen Kolonien, der in violetten Tönen beleuchteten oberirdische Kegel steht für die heilende Kraft der kolonialen Wunde.

Das "EarthNest" steht zwischen den beiden Hauptgebäuden des "Berlin Global Village". In dem "Eine-Welt-Zentrum", wie es sich nennt, arbeiten rund 50 verschiedene Vereine und Initiativen zu Themen wie globale Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit.

Erinnern an die "Kongo-Konferenz"

Seit dem 15. November ist die Skulptur für die Öffentlichkeit zugänglich. Dieses Datum markiert ein historisches Ereignis, das das internationale Machtgleichgewicht für immer verändern sollte: die Eröffnung der Berliner Konferenz, auch bekannt als "Kongo-Konferenz", vor 140 Jahren. Vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 saßen die imperialistischen Mächte Europas zusammen, teilten Afrika unter sich auf, besiegelten ihre Besatzungsrechte und einigten sich auf Regeln für den Handel auf dem Kontinent.

Das Denkzeichen repräsentiert nicht nur einen physischen Ort des Gedenkens, sondern dient auch als Plattform für den Austausch und Dialog. Hier sollen Heilung und Versöhnung möglich werden. Zusätzlich lässt eine Audio-Reihe die Besucherinnen und Besucher tief in die Geschichten und Erfahrungsberichten von Communities aus ehemaligen Kolonien eintauchen.

Internationaler Wettbewerb

Die Bronzeskulptur "EarthNest" wurde aus 244 Vorschlägen als Gewinnerentwurf für das Dekoloniale Denkzeichen ausgewählt. Künstlerinnen und Künstler aus allen Erdteilen hatten sich an dem anonymen Kunstwettbewerb beteiligt, der von einem umfangreichen Bildungsprogramm zum Thema Dekolonisierung flankiert wurde.

Die Jury unter der Leitung des nigerianischen Künstlers und Kunsthistorikers Chika Okeke-Agulu und der in Kolumbien geborenen Künstlerin Maria Linares sprach den Sieg schließlich dem Lockward Collective zu. Dahinter verbirgt sich das Künstlerkollektiv Jeannette Ehlers, eine in Kopenhagen lebende Künstlerin dänischer und trinidadischer Abstammung, und Patricia Kaersenhout, eine Multimedia-Künstlerin surinamischer Abstammung, die in Amsterdam und Frankreich zu Hause ist. Sie arbeiteten mit dem Berater Rolando Vàzquez und dem Architekten Max Bentler als technischem Berater zusammen.
Das Kollektiv sieht seine Bronzeinstallation als "ein Werk der dekolonialen Heilung, ein Gemeinschaftstempel, der Communities zusammenbringt, um ihre Geschichte zurückzugewinnen."

Unterstützung aus der Politik

Kulturstaatsministerin Claudia Roth betonte die Bedeutung des Denkmals für die deutsche Erinnerungskultur: "Das dekoloniale Denkmal wird einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung unserer kolonialen Vergangenheit und ihrer Folgen für die Gegenwart leisten, und ich bin froh, das Projekt finanziell und ideologisch unterstützt zu haben." Für die Realisierung des Kunstwerks stellte ihr Ministerium 750.000 Euro bereit, die andere Hälfte des Projekt-Budgets von 1,5 Millionen Euro kam vom Land Berlin.

"EarthNest ist ein kraftvolles Symbol für eine neue Erinnerungskultur in unserer Stadt. Berlin übernimmt eine Vorreiterrolle in der Dekolonisierung des öffentlichen Raums und wir sind stolz darauf, dieses Projekt unterstützt zu haben", sagte Sarah Wedl-Wilson, Staatssekretärin bei der Senatskulturverwaltung Berlin.

Das EarthNest sei ein "lebendiges Denkzeichen, das Menschen zusammenbringt und den dekolonialen Dialog fördert“, betonte Akinola Famson, Vorstandsmitglied des Berlin Global Village. Die Arbeit sei zudem "ein Meilenstein für die Diaspora-Communities und schafft einen Raum, der zum Nachdenken anregt und das Thema Dekolonisierung der Nord-Süd-Beziehungen langfristig in Berlin verankert."

eg/ suc /sd (Global Village, epd)

Item URL https://www.dw.com/de/berlin-erstes-kolonialismus-denkmal-eingeweiht/a-70781410?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption So sieht das erst koloniale Denkmal in Berlin aus. Sein Name: EarthNest
Image source Sedat Mehder
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Item 72
Id 70780296
Date 2024-11-14
Title Trump will Lee Zeldin als Chef für US-Umweltbehörde: Wer ist das?
Short title Trump will Zeldin als Chef für die US-Umweltbehörde
Teaser Donald Trump will den früheren republikanischen Abgeordneten Lee Zeldin zum Leiter der US-Umweltschutzbehörde EPA ernennen. Zeldin wird voraussichtlich Dutzende von Umweltschutzbestimmungen aufheben.
Short teaser Lee Zeldin soll Leiter der US-Umweltschutzbehörde EPA werden und wird voraussichtlich den Umweltschutz ausbremsen.
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Der designierte US-Präsident Donald Trump hat den früheren New Yorker Kongressabgeordneten Lee Zeldin zum zukünftigen Leiter der US-Umweltschutzbehörde (EPA) ernannt. Der Republikaner werde, so Trump, "die Macht der amerikanischen Wirtschaft entfesseln" und zwar durch "rasche Deregulierungsentscheidungen".

Gleichzeitig erklärte Trump dass Zeldin "die höchsten Umweltstandards, einschließlich der saubersten Luft und des saubersten Wassers auf dem Planeten", aufrechterhalten werde.

Der 44-jährige Zeldin ist ein loyaler Anhänger Trumps und hatte nach dessen Wahlniederlage 2020 im Kongress gegen die Bestätigung des Wahlergebnisses gestimmt. Auf der Social-Media-Plattform X schrieb er, es sei eine "Ehre", Trumps Kabinett beizutreten. Zeldin versprach "die Vorherrschaft der USA im Energiebereich wiederherzustellen, unsere Autoindustrie wiederzubeleben, um amerikanische Arbeitsplätze zurückzubringen und die USA zum Weltmarktführer für künstliche Intelligenz zu machen" und gleichzeitig "den Zugang zu sauberer Luft und sauberem Wasser zu schützen."

Wie steht Zeldin zum Umweltschutz?

Im Kongress waren Zeldins Rhetorik und sein Verhalten "sehr kritisch und feindselig" gegenüber der Regulierungsbefugnis der EPA bei Klimathemen, so Barry Rabe, Professor für Umwelt und öffentliche Ordnung an der University of Michigan, gegenüber der DW.

In Zeldins Amtszeit könnten "fast alle wichtigen Interpretationen" der Regierung Joe Bidens zum Clean Air Act, einem Gesetz aus dem Jahr 1963, das die Luftverschmutzung reduzieren und kontrollieren soll, in Frage gestellt werden. "Da geht es um Elektrofahrzeuge, erneuerbare Energien zur Stromerzeugung und möglicherweise Methanvorschriften bei Öl und Gas", so Rabe.

Die League of Conservation Voters, eine NGO, die das Abstimmungsverhalten von Abgeordneten zu Umweltthemen verfolgt, gibt Zeldin für seine bisherige politische Laufbahn einen Wert von 14 Prozent. Im Jahr 2022 befürwortete er einen Änderungsantrag, der das Budget der US-Umweltschutzbehörde (EPA) gekürzt hätte, stimmte für den Ausstieg der USA aus dem Pariser Klimaschutzabkommen und entschied sich gegen Investitionen für die Erhaltung und Wiederherstellung der amerikanischen Tierwelt. Er stimmte jedoch 2021 für Maßnahmen gegen PFAS .PFAS ist der Sammelbegriff für mehrere tausend unterschiedlicher Industriechemikalien, die besonders lange in der Umwelt bleiben und Gesundheitsprobleme wie Krebs und Fruchtbarkeitsstörungen auslösren können.

Warum hat Trump Lee Zeldin ausgesucht?

"Zeldin ist sehr wortgewandt. Er ist sehr entscheidungsfreudig", sagt Rabe und fügt hinzu, dass Trump offenbar erfahrene Leute ins Boot holt, die es gewohnt sind, auf Konfrontationskurs zu gehen, die ihm gegenüber loyal sind und die gut im Fernsehen sind.

Bei einem Auftritt bei Fox News, einem konservativen amerikanischen Kabelfernsehsender, machte Zeldin kürzlich seine wirtschaftsfreundliche Vision für die EPA deutlich. Er sagte, die Umweltbehörde werde es den USA ermöglichen, eine Vormachtstellung im Energiesektor anzustreben. "Vom ersten Tag an und in den ersten 100 Tagen haben wir die Möglichkeit, Vorschriften abzubauen, die die Unternehmen dazu zwingen, sich abzumühen."

Was könnte Zeldin an der Spitze der EPA tun?

Zeldin könnte zwar einige Vorschriften zurücknehmen, aber nicht so einfach vom Kongress beschlossene Maßnahmen rückgängig machen, sagt Rabe.

Wenn der Kongress die Finanzierung der Infrastruktur wie etwa Ladestationen für Elektrofahrzeuge, die Sanierung von Öl- und Gasbohrungen oder den sogenannten Inflation Reduction Act beschließt, der zum Teil Anreize für grüne Energie schafft, ist das Teil der Gesetzgebung. "Es ist viel schwieriger für einen Präsidenten, das zu stoppen oder rückgängig zu machen", sagt Rabe.

Mit einer inzwischen bestätigten republikanischen Mehrheit in beiden Häusern des US-Kongresses - dem Repräsentantenhaus und dem Senat - sei es "durchaus möglich, dass es zu einer Kehrtwende und zur Aufhebung einiger dieser politischen Maßnahmen kommt".

Trump hat bereits angekündigt, dass er seine neuen Kabinettsmitglieder durch Vertagungen ernennen will und damit so die Kontrolle und Gegenkontrolle des Senats umgehen will. Die US-Verfassung erlaubt es Präsidenten, vorübergehende Ernennungen für bis zu zwei Jahre vorzunehmen, wenn der Senat nicht tagt. Dies wurde ursprünglich zu einer Zeit eingeführt, als die Kammer noch nicht so häufig tagte.

"Was wir jetzt sehen, ist ein bedeutender Test von Donald Trump, wie weit er gehen kann", sagt Rabe. "Er fängt bereits an, die Grenzen der Macht des Präsidenten zu verschieben, insbesondere in einer Zeit, in der ihm möglicherweise freundlichere Gerichte zur Verfügung stehen."

Trump könne versuchen, einige EPA-Mittel einzufrieren und Gelder, die für den Klimaschutz bestimmt sind, zu beschlagnahmen, fügt Rabe hinzu. Er glaube jedoch nicht, dass Trump den Inflation Reduction Act komplett rückgängig machen werde, da viele Gelder an republikanische Bundesstaaten gingen.

Wird die EPA entkernt?

Die meisten der über 15.000 Mitarbeiter der EPA können nicht einfach entlassen werden. Wie in vielen anderen US-Behörden sind auch hier nur die Spitzenkräfte politisch ernannte Fachleute. Die meisten Mitarbeiter gelten als unpolitische Angestellte, die weiterarbeiten, egal wer der Präsident ist.

Trump möchte jedoch einige dieser Stellen in politische Arbeitsplätze umwandeln, was es einfacher machen würde, Mitarbeiter zu entlassen und durch Loyalisten zu ersetzen. Trump kündigte an, dass er eine Durchführungsverordnung (Schedule F) von 2020 wieder auf den Weg bringen wird. Diese ermöglicht es Mitarbeiter als politisch einzustufen, so den Kündigungsschutz zu entziehen und Bundesbedienstete zu entlassen.

Zeldin könnte unter Trumps Anweisung auch "einen Frontalangriff auf die Behörde starten und versuchen, die Leute zu vertreiben", sagt Rabe.

Im Wahlkampf hat Trump vorgeschlagen, Teile der Bundesbehörden aus der US-Hauptstadt zu verlegen. Berichten zufolge diskutiert Trumps Team nun die Verlegung des EPA-Hauptquartiers an einen Ort außerhalb von Washington, DC.

Trump hat schon während seiner ersten Amtszeit etwas Ähnliches getan, als er das Bureau of Land Management nach Colorado verlegt hat. Viele Mitarbeiter gingen damals in den Vorruhestand oder kündigten, um den Umzug zu vermeiden.

"Die Symbolik dabei ist, dass man näher an die Menschen herankommen will, was auch immer das bedeutet", sagt Rabe. "In der Realität geht es darum, Wege zu finden, das Personal zu reduzieren und zu entkernen."

Wie reagieren Umweltexperten auf Zeldins Nominierung?

Umweltorganisation und Gewerkschaften, die EPA-Angestellte vertreten, schlagen Alarm.

"Während der letzten Trump-Regierung wurden wir Zeugen massiver Schäden an der Arbeit der EPA", sagt Nicole Cantello, Präsidentin der AFGE Local 704, einer Gewerkschaft, die etwa eintausend EPA-Mitarbeiter vertritt.

"Die Trump-Administration hat systematisch und absichtlich die Fähigkeit der EPA untergraben, die Öffentlichkeit vor toxischer Verschmutzung zu schützen. Die EPA-Führung hat Verweise auf den Klimawandel von der Website der Behörde gestrichen, unsere Mitarbeiter daran gehindert, fundierte wissenschaftliche Arbeit zu leisten, und uns die Möglichkeit genommen, Durchsetzungsmaßnahmen gegen Umweltverschmutzer zu ergreifen", betont Cantello.

Unter Trump habe die Behörde ihre Fähigkeit verloren, den Amerikanern Zugang zu sauberem Wasser und sauberer Luft zu garantieren, fügt Cantello hinzu. Die EPA habe ihre Rolle als die Behörde aufgegeben, die am besten für die Bekämpfung des Klimawandels gerüstet sei.

"Die Botschaft unserer Gewerkschaft an Herrn Zeldin ist: Wir beobachten ihn. Gehen Sie mit gutem Beispiel voran. Weichen Sie deutlich von Trumps bisherigem Erbe bei der EPA ab", sagt Cantello.

Ben Jealous, Geschäftsführer der amerikanischen Umweltorganisation Sierra Club, bezeichnete Zeldin als "unqualifiziert" und fügt hinzu, er würde sich an die Umweltverschmutzer verkaufen. "Unser Leben, unser Lebensunterhalt und unsere gemeinsame Zukunft können sich Lee Zeldin nicht leisten – oder irgendjemanden, der eine Mission ausführen will, die im Widerspruch zur Mission der EPA steht", sagt er.

Der Artikel wurde aus dem Englischen von Gero Rueter adaptiert. Redaktion: Jennifer Collins

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Image caption Donald Trump will Lee Zeldin an die Spitze der US-Umweltschutzbehörde setzen
Image source Matt Rourke/AP/picture alliance
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Item 73
Id 70700159
Date 2024-11-13
Title Gladiatoren: Das Kolosseum als Vorläufer des Reality-TV?
Short title Gladiatoren: Das Kolosseum als Vorläufer des Reality-TV?
Teaser Der Kinostart von "Gladiator II" wird weltweit mit Spannung erwartet. Aber warum fasziniert das Thema Gladiatoren noch immer? Was die antike Tradition mit dem Reality-TV gemein hat.
Short teaser "Gladiator II" kommt weltweit in die Kinos. Was die antike Tradition der Gladiatoren mit dem Reality-TV gemein hat.
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Der Film "Gladiator", ein Blockbuster des britischen Starregisseurs Ridley Scott aus dem Jahr 2000, war ein monumentales Epos, das zahlreiche Preise und Nominierungen erhielt. 24 Jahre später kommt nun weltweit die Fortsetzung in die Kinos - ebenfalls unter Regie des mittlerweile 86-jährigen Scott, der auch Kultfilme wie "Alien" (1979), "Blade Runner" (1982) und zuletzt "Napoleon" (2023) gedreht hat.

Heldengeschichten haben die Menschheit seit jeher interessiert - in ganz verschiedenen Ausprägungen. Und wenn man genauer hinsieht, lassen sich einige Parallelen zwischen der antiken römischen Tradition der Gladiatoren und gegenwärtigen Reality-Fernseh-Shows ausmachen.

Gebt dem Volk "Brot und Spiele"

"Panem et circensem", Brot und Spiele - dieser Ausdruck wird dem römischen Dichter und Satiriker Juvenal zugeschrieben. Er war überzeugt, man könne die Menschen leicht manipulieren, wenn man sie nur ausreichend mit Nahrung versorgt und ihnen genug Unterhaltung bietet. Juvenal warf der römischen Bevölkerung vor, sich nicht genug für Politik zu interessieren und sich stattdessen an oberflächiger Unterhaltung zu ergötzen. In der Tat war der Kampf der Gladiatoren eines der "großartigsten politischen Instrumente seiner Zeit", sagt der Historiker Alexander Mariotti, der als Gladiatoren-Experte passenderweise in der Nähe des Kolosseums in Rom wohnt.

Der römische Kaiser Vespasian, der das riesige Amphitheater einst in Auftrag gab, hatte die Macht in schwierigen Zeiten übernommen: Rom hatte gerade einen Bürgerkrieg hinter sich und befand sich in Aufruhr. "Vespasian war ein Mann des Volkes, und ihm war klar, dass er einen Weg finden musste, um die Menschen für sich zu gewinnen", so Mariotti gegenüber der DW. "Die Römer verteilten sogar Getreide während der Spiele - das war das 'Brot'. Und die 'Zirkusspiele' waren diese aufwendigen Veranstaltungen im Kolosseum."

Reality-TV - moderne "Zirkusspiele"?

Olivia Stowell ist Doktorandin an der Universität Michigan und erforscht die Geschichte der Reality-Shows. Sie sieht eine Verbindung zwischen Gladiatorenkämpfen und Sendungen wie "Survivor" (Die Kandidaten der TV-Show werden auf einer verlassenen Insel oder in der Wildnis ausgesetzt, um dort als Robinson Crusoe des 21. Jahrhunderts zu überleben, Anm. d. Red). In beiden Fällen konkurrieren Menschen um die Gunst der Zuschauer.

Die 1948 erstmals ausgestrahlte Show "Candid Camera" (eine US-Fernsehserie aus dem Jahr 1948, bei der Reaktion von Leuten auf inszenierte Szenen mit versteckter Kamera gefilmt wurden, Anm. d. Red.) wird oft als erste Reality-TV-Sendung bezeichnet, ergänzt Stowell und fügt schmunzeln hinzu: "Aber ich sollte meine Vorgeschichte des Reality-TV ausweiten, ich sollte mit dem Kolosseum beginnen!“

Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Fernsehsendung wie "Survivor" sich in der Regel freiwillig melden - anders als die Gladiatoren in der Antike. Doch das ist nicht ganz richtig. Zu Beginn waren die meisten von ihnen tatsächlich Sklaven oder Kriminelle, die zum Kampf in der Arena gezwungen wurden. Als die Spiele beliebter wurden, meldeten sich aber zunehmend mehr Menschen freiwillig bei den "Gladiatorenschulen" an. Dort wurden sie professionell ausgebildet - und zu echten Helden, die römische Tugenden wie Mut und Stärke verkörperten.

"Wir wissen, dass um 75 v. Chr. etwa die Hälfte aller Gladiatoren freie Menschen waren. Und sie wurden großzügig dafür bezahlt: Sie bekamen 2000 Sesterzen als Antrittsprämie. Zum Vergleich: Der Jahreslohn eines römischen Soldaten betrug 900 Sesterzen", erklärt Mariotti. Es war also eine Möglichkeit, Geld zu verdienen.

Tod oder Ruhm - ein Glücksspiel

Die Gladiatoren wussten, dass sie ihr Leben riskierten. Aber es gab auch die Chance, reich und berühmt zu werden. "Sie waren die sexuell begehrtesten Sportler ihrer Zeit", sagt Mariotti. "Sie standen ganz unten in der Gesellschaft, wurden aber zugleich bewundert." Man dürfe nicht vergessen, fügt der römische Historiker hinzu, "dass es in der Antike sehr viel schwieriger war, seinen sozialen Status zu verändern" - siegreiche Kämpfer jedoch konnten darauf hoffen.

Teilnehmer von Reality-Shows riskieren nicht unbedingt ihr Leben, aber auch sie müssen auch etwas opfern, sagt Olivia Stowell. Nämlich "Privatsphäre - und zu einem gewissen Grad auch ihre Würde." All das in der Hoffnung auf Ruhm und Reichtum.

Eine beliebte Methode, um die Reality-Stars unter Druck zu setzen und mehr Spannung zu erzeugen: Schlafentzug und die großzügige Bereitstellung von Alkohol, so dass Hemmungen schneller fallen. Oft sind sie zudem - ähnlich wie die Gladiatoren - von der Außenwelt abgeschnitten und damit auch von Menschen und Orten, die ihnen Halt und Kraft geben könnten. Berühmte Beispiele für solche Shows sind "Der Bachelor", "Survivor" oder "Big Brother".

Show-Produzent - das Oberhaupt in der Arena?

Vergleicht man Gladiatoren und Teilnehmer einer modernen Reality-Show miteinander, stellt sich die Frage: Wer ist der Kaiser in dieser modernen Variante? "Ich denke, das sind wir - die Showmacher", sagt Sagar More, Produzent und Regisseur aus Mumbai in Indien - einem Land, in dem Reality-Shows boomen. More hat Regie bei zehn Staffeln der in Indien extrem populären Reality-Show "Roadies" geführt. Mitmachen würde er selbst nicht, wie er ganz ehrlich zugibt. "Niemals: Ich weiß, was die Leute bei mir durchmachen müssen."

"Roadies" begleitet junge Leute 30 Tage lang auf ihrer Reise durch verschiedene Teile des Landes, wo sie sich unterschiedlichen Aufgaben stellen müssen. "Wir schaffen Situationen, in denen die Teilnehmenden an ihre körperliche, sozialen und mentalen Grenzen kommen. Mit der Zeit sind die Herausforderungen immer schwerer und damit auch intensiver geworden", sagt er.

More weist auch daraufhin, dass es in der Regel eine Unmenge an Filmmaterial gäbe. Es läge in der Hand der Redakteure und Redakteurinnen zu entscheiden, was ausgestrahlt wird und was nicht. Eine machtvolle Position, denn "sie können den Verlauf einer Geschichte tatsächlich verändern", so More. Das wichtigste Kriterium im Entscheidungsprozess: die Zuschauer zu unterhalten.

Die Gunst des Publikums

Im alten Rom war es der Kaiser, der direkten Einfluss auf das Schicksal der Gladiatoren hatte. Aber auch er hatte das Publikum im Blick - um seine eigenen Popularität nicht zu gefährden. Verlor einer der Gladiatoren seine Waffe und hob den Finger - die Geste, mit der um Gnade gebeten wurde - forderte der Kaiser in der Regel die Menge auf, durch Handzeichen oder Rufe zu signalisieren, ob der Gladiator begnadigt oder hingerichtet werden sollte.

In Reality-Shows wird nicht über Leben oder Tod entschieden. Aber es gibt Sendungen, bei denen die Zuschauer entscheiden, wer bleiben darf und wer nicht. Trotz aller Beliebtheit beim Publikum gibt es in den letzten Jahren auch scharfe Kritik an diese Art der Fernseh-Unterhaltung - sei es wegen schlechter Arbeitsbedingungen am Set oder der Propagierung von Schönheitsidealen, die der Gesundheit schaden. Besonders in den Fokus gerückt ist das Thema der psychischen Gesundheit. Teilnehmer solcher Shows haben oft über Einsamkeit, Ängste und sogar Depressionen gesprochen, die sie während und nach den Dreharbeiten erlebten.

Gladiatorenkämpfe wurden zu Beginn des 5. Jahrhunderts verboten, aber auch heute noch ziehen Filme über sie viele Menschen an. Der erste "Gladiator"-Film von Ridley Scott spielte weltweit rund 457 Millionen Dollar (419 Millionen Euro) ein. Und es wird erwartet, dass auch die Fortsetzung einen ähnlichen Erfolg erzielen wird. Um es mit Juvenal zu sagen: Brot und Spiele braucht das Volk. Und deswegen werden Reality-Shows wohl weiterhin ein treues Publikum haben.

Dieser Artikel basiert auf einer Podcast-Episode von Charli Shield, Rachel Stewart und Sam Baker. Der englischsprachigen DW-Podcast "Don't Drink the Milk: The curious history of things" ist auf unserer Website zu hören - oder auf jeder beliebigen Podcastplattform.

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Item 74
Id 59662624
Date 2024-11-13
Title COP29: CO2-Emissionen und Klimawandel in 10 Grafiken
Short title COP29: CO2-Emissionen und Klimawandel in 10 Grafiken
Teaser Die UN-Klimakonferenz COP29 in Baku rückt die Klimakrise einmal mehr in den Fokus. Wie entwickeln sich die CO2-Emissionen? Wer sind die größten Verschmutzer? Wie verändert sich unser Planet? Die wichtigsten Fakten.
Short teaser Wie entwickeln sich die CO2-Emissionen? Wie verändert sich unser Planet? Die wichtigsten Fakten zu UN-Klimakonferenz.
Full text

Die Staats- und Regierungschefs der Welt diskutieren zum 29. Mal über die Ursachen und Auswirkungen des Klimawandels. Die folgenden fünf Fragen und Antworten zeigen, wie sehr sich unser Planet bereits verändert hat.

#1 Welche Region emittiert am meisten CO2?

Immer mehr Regierungen verpflichten sich, ihre Wirtschaft in den nächsten 10 bis 30 Jahren kohlenstoffneutral umzugestalten.

Doch während sich die Emissionen in Europa und Amerika stabilisieren, steigen sie in Asien und Afrika an. Die folgende Grafik zeigt, wie groß der wirtschaftliche Umschwung sein müsste, um kohlenstoffneutral zu werden.

Doch nur auf die absolute Menge an Emissionen zu schauen reicht nicht. Denn vor allem in asiatischen Ländern ist die Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsen – und mehr Menschen bedeuten auch einen höheren Ressourcenverbrauch.

Setzt man die CO2 Emissionen in Bezug zur Bevölkerungsgröße, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Dann führen in der Rangliste der größten Emittenten westliche Länder wie die USA und Australien aber auch Staaten in anderen Teilen der Welt, darunter Russland, Saudi-Arabien, Oman, Katar und die Mongolei.

Wer ist also in der Verantwortung, den wichtigsten Teil zur CO2-Reduktion beizutragen? Experten argumentieren, dass nicht alle Nationen gleichermaßen verantwortlich gemacht werden sollten, und dass Wirtschaftskraft und Wohlstand berücksichtigt werden müssen.

Schlüsselt man die Pro-Kopf-Emission der Länder nach Einkommensgruppen auf (siehe nachfolgende Grafik) zeigt sich: je höher das durchschnittliche Einkommen, desto höher die Emissionen pro Kopf.

Dabei stehen Länder innerhalb der einzelnen Gruppen sehr unterschiedlich da – und die Unterschiede sind umso größer, je höher die Einkommensgruppe ist. Länder mit hohem Einkommen und hohen Emissionen, wie dem globalen Emissionsspitzenreiter Katar, stoßen pro Kopf viel mehr CO2 aus als Länder wie Deutschland oder Frankreich, obwohl sie in der gleichen Einkommensgruppe liegen.

Und Länder wie Indien und China haben zwar niedrige Pro-Kopf-Emissionen, doch ihre klimapolitischen Entscheidungen haben wegen ihrer riesigen Bevölkerungszahlen (Kreisgröße) große Auswirkungen.

#2 Was sind die größten Quellen von Treibhausgasemissionen?

Der Energie-Sektorist mit einem Anteil von 28% die größte Quelle der weltweiten Treibhausgas-Emissionen.
Wirtschaftskraft und CO2-Emissionen hängen eng zusammenhängen, darum ist es wenig überraschend, dass der Industriesektor für den zweitgrößten Anteil (22%) verantwortlich ist.

Vor allem die Abholzung von Wäldern hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer mehr zugenommen. In Russland, Brasilien und die Kanada wurden 2023 die größten Waldflächen abgeholzt. Der große Anstieg in Kanada im Vergleich zu 2022 ist auf großflächige Waldbrände zurückzuführen.

Das Abholzen von Wäldern ist nicht nur deshalb problematisch, weil das zuvor in Boden und Bäumen gespeicherte CO2 in die Atmosphäre gelangt, sondern auch, weil Wälder und Böden sogenannte "Kohlenstoffsenken" sind, die CO2 aus der Atmosphäre aufnehmen. Das macht sie zu einem mächtigen Instrument im Kampf gegen den Klimawandel.

#3 Wie haben sich CO2-Emissionen in den vergangenen Jahrhunderten verändert?

Seit Beginn der Industrialisierung haben die CO2-Emissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe immer weiter zugenommen. Anfangs war das nicht so problematisch: Mit jeder Tonne CO2, die Menschen produzierten, nahm die Erde zunächst mehr Kohlendioxid auf – in natürlichen "Kohlenstoffsenken" wie Wäldern und Ozeanen.

Inzwischen produzieren Menschen aber deutlich mehr CO2 und andere Treibhausgase, als die Ökosysteme des Planeten auf natürliche Weise aufnehmen können. Damit steigt die Menge an CO2, das in der Atmosphäre eingeschlossen bleibt, stetig an (roter Bereich in der folgenden Grafik).

#4 Wie sehr hat sich die Erde bereits erwärmt?

Die anwachsende Menge von CO2-Partikeln in der Atmosphäre schirmen den Planeten ab: Sonnenlicht und -wärme kommen zwar hinein, aber nicht wieder hinaus. Im Treibhaus Erde wird es so immer wärmer.

Verglichen mit dem Durchschnitt des 20. Jahrhunderts, ist die globale Temperatur inzwischen um 1.2 Grad Celsius angestiegen – besonders stark in den vergangenen fünf Jahren.

1.2 Grad im globalen Durchschnitt bedeutet drastische Änderungen auf lokaler Ebene. Denn der Durchschnitt von "nur" einem Grad wird ermittelt aus allen Temperatur-Abweichungen auf der Welt: Extreme Hitze und extreme Kälte an unterschiedlichen Orten können sich hier rechnerisch ausgleichen. So war beispielsweise der September 2024 rund zwei Grad wärmer als der September 1956.

Solche Temperaturanstiege verschieben auch den globalen Durchschnitt nach oben und haben weitreichende Konsequenzen: extreme Hitzeinseln, ausfallende Ernten und häufigere, schwerere Fluten und Stürme.

Zu den deutlichsten Auswirkungen gehört auch der Anstieg des Meeresspiegels: wärmere Temperaturen lassen Eiskappen und Gletscher schmelzen und erhöhen damit die Gesamtwassermenge in den Ozeanen.

#5 Wie stark ist der Meeresspiegel bereits angestiegen?

Nach Angaben der Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation (CSIRO), der staatlichen Wissenschaftsbehörde Australiens, ist der Meeresspiegel in den vergangenen 140 Jahren um fast 25 cm gestiegen. Etwa ein Drittel dieses Anstiegs fand allein in den vergangenen 25 Jahren statt.

Der Anstieg des Meeresspiegels findet weltweit statt, aber der Trend verstärkt sich in der Arktis, die sich schneller erwärmt als andere Regionen.

Dabei trägt die thermische Eigenschaft des Wassers, sich bei Erwärmung auszudehnen, ebenfalls zum Anstieg des Meeresspiegels bei.

Ähnlich wie beim globalen Temperatur-Anstieg, gibt es auch beim globalen Meeresspiegel-Anstieg regionale Unterschiede: Einige Gebiete sind stärker betroffen als andere.

Während die Gezeitenpegel in Westkanada und Nordchile beispielsweise gleichbleibende oder sogar sinkende Meeresspiegel anzeigen, verzeichnen die Inselstaaten im südlichen Pazifik und im Indischen Ozean einen alarmierenden Anstieg der Pegel – eine Bedrohung, die dazu führen könnte, dass sie buchstäblich unter den Wellen versinken.

Dieser Artikel und die Grafiken wurden 2024 aktualisiert. Er erschien erstmals 2021 zur COP26. Redaktion: Anke Rasper

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Image caption Mehr als 100 Jahre C02-Emissionen von Industrie und Verkehr haben den Planeten verändert
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Item 75
Id 70712445
Date 2024-11-12
Title Kohle, Öl und Gas - wer finanziert den Ausbau der Fossilen?
Short title Kohle, Öl und Gas - wer finanziert den Ausbau der Fossilen?
Teaser Die Folgen des Klimawandels werden immer spürbarer. Dennoch fließen weltweit Billionen in den Ausbau fossiler Energieträger. Und es winken Rekordgewinne. Doch was steck hinter den Fossil-Projekten?
Short teaser Trotz Klimakrise fließen weltweit Billionen in den Ausbau fossiler Energie. Wer steckt hinter den Fossil-Projekten?
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Auf dem letzten Klimagipfel vergangenen Dezember beschlossen die Regierungen den "Anfang vom Ende" der fossilen Ära. Die Vereinbarung über den "Ausstieg" aus Kohle, Öl und Gas auf der COP28 kam in einem Jahr, in dem nicht nur die Treibhausgasemissionen, sondern auch die Temperaturen Rekordhöhen erreichten – beides verursacht durch die Nutzung fossiler Energieträger.

Doch während sich die Staats- und Regierungschefs zum diesjährigen Klimagipfel, der COP29, auf den Weg in Aserbaidschans Hauptstadt Baku machen, fließen Billionen von Dollar in die Entwicklung fossiler Brennstoffe. Zwar geben einige große Öl- und Gasunternehmen an, ihre Produktion langfristig drosseln zu wollen. Doch aktuell gibt es einen Trend, die Produktion an Öl und Gas weiter zu steigern, das zeigen Untersuchungen der Denkfabrik Carbon Tracker.

Warum ist das so und was sind die Folgen für das Klima?

"Erschreckende" Expansionspläne bei Kohle, Öl und Gas

"Wenn wir uns die Produktion ansehen, können wir definitiv sagen, dass die Öl- und Gasindustrie so groß ist wie nie zuvor", sagt Nils Bartsch von Urgewald, einer deutschen Nichtregierungsorganisation (NGO) für Umwelt und Menschenrechte. Er hat eine Datenbank über die Öl- und Gasindustrie entwickelt. Das Ausmaß der aktuellen Expansionspläne sei "wirklich erschreckend", so der Wirtschaftswissenschaftler.

Die Internationale Energieagentur (IEA) mahnt: Wenn die Menschheit ihre Emissionen bis 2050 auf ein Netto-Null-Niveau bringen will, dürften keine neuen Öl- oder Gasfelder oder Kohleminen entstehen. Dennoch sind schätzungsweise 96 Prozent der Öl- und Gasunternehmen in 129 Ländern mit der Erkundung und Erschließung neuer Reserven beschäftigt – das geht aus Daten von Fossil-Unternehmen hervor, die Urgewald veröffentlicht hat.

Laut der NGO würde eine Umsetzung der Pläne etwa 230 Milliarden Barrel bisher ungenutzte Öl- und Gasvorkommen freilegen. Und bei deren Förderung und Verbrennung würden 30-mal so viele Treibhausgase freigesetzt, wie derzeit in der gesamten Europäischen Union pro Jahr.

Die Datenbank von Urgewald zeigt deutliche Aktivitäten in Ländern wie Südafrika, Namibia, Mosambik und Papua-Neuguinea, in denen bisher gar kein oder nur wenig Öl und Gas gefördert werden. Es bestehe die Gefahr, dass diese Länder in einer Zukunft mit fossilen Brennstoffen gefangen sein könnten, fürchtet die NGO.

Die Datenbank zeigt auch, dass 40 Prozent der erfassten Unternehmen neue Kohleminen oder die dazugehörige Infrastruktur entwickeln oder erweitern.

Wie die Fossil-Unternehmen jüngst Rekordgewinne machten

Laut der in den USA ansässigen Nichtregierungsorganisation Oil Change International sind nur fünf Länder - die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Norwegen und Großbritannien - für mehr als die Hälfte der bis 2050 geplanten neuen Öl- und Gasförderung verantwortlich. Davon entfallen ein Drittel allein auf die USA.

Die Branche hat einige lukrative Jahre hinter sich mit Rekordgewinnen im Jahr 2022. Die Gewinne stiegen von durchschnittlich 1,5 Billionen Dollar in den vorangegangen Jahren auf 4 Billionen Dollar, nachdem die Energiepreise nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine in die Höhe schnellten.

Seither haben die Öl-und Gaskonzerne noch nie dagewesene 111 Milliarden Dollar an ihre Aktionäre ausgeschüttet, so eine Analyse der NRO Global Witness. Das ist 158-mal mehr als die Summe, die auf dem UN-Klimagipfel 2023 für die vom Klimawandel besonders gefährdeten Nationen zugesagt wurde.

Seit 2021 sind laut Urgewald die jährlichen Investitionsausgaben der Fossil-Industrie für die Öl- und Gasexploration um 30 Prozent gestiegen.

"Astronomische" Subventionen für fossile Energien

Die Summen, die durch staatliche Subventionen in die Branche fließen, seien "astronomisch", erklärt Natalie Jones, Beraterin für Energiepolitik beim Think Tank International Institute for Sustainable Development (IISD). "Das ist besonders besorgniserregend, weil die Länder sich eigentlich verpflichtet haben, ihre Subventionen für fossile Brennstoffe zu reduzieren oder zu reformieren." Diese Verpflichtung seien jedoch nicht rechtlich bindend.

Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) haben sich die weltweiten Subventionen im Jahr 2022 mehr als verdoppelt: auf insgesamt 1,3 Billionen Dollar. Ein Grund dafür sei, dass Regierungen versuchten, Verbraucher und Unternehmen vor steigenden Energiepreisen zu schützen. Rechnet man die Investitionen staatlicher Unternehmen und öffentlicher Finanzinstitutionen hinzu, erhöht sich dieser Betrag laut IISD auf mehr als 1,7 Billionen Dollar.

Aber auch die privaten Investitionen in die Branche seien "absolut schwindelerregend", so Jones. Laut einer Untersuchung mehrerer Umweltorganisationen, darunter auch Urgewald, haben die 60 größten Banken der Welt in den vergangenen acht Jahren insgesamt 6,9 Billionen Dollar in die fossile Brennstoffindustrie investiert, und zwar in Form von Krediten, Aktienversicherungen oder der Übernahme von Schuldverschreibungen. Das ist mehr, als die US-Regierung im Jahr 2024 bisher insgesamt für ihre Bürger ausgegeben hat.

Während mehr als die Hälfte dieser Banken die Finanzierung fossiler Energieträger in den letzten Jahren reduziert hat, haben andere - auch europäische Banken - ihr finanzielles Engagement erhöht. "Zu den Top-Empfängern gehören einige der Unternehmen, die weiter nach neuem Öl und Gas suchen", sagt Katrin Ganswindt, Leiterin der Abteilung Finanzforschung bei Urgewald.

Auf Grundlage ihrer Untersuchungen schätzt die NGO, dass institutionelle Anleger - darunter Einrichtungen wie Pensionsfonds, Hedge-Fonds, Staatsfonds und Versicherungsgesellschaften - etwa 5,1 Billionen Dollar in Form von Anleihen und Aktien an Unternehmen halten, die fossile Brennstoffe herstellen. Die überwiegende Mehrheit davon, so die Urgewald, sei in Unternehmen investiert, die aktiv neue fossile Brennstoffe entwickeln. Der größte Teil davon fließe in Öl und Gas, weniger als ein Drittel in den Kohlesektor.

Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass institutionelle Anleger in den USA, dem größten Öl- und Gasproduzenten der Welt, mehr als 60 Prozent aller weltweiten Investitionen tätigen. Die Gelder stammten sowohl aus privaten als auch aus öffentlichen Mitteln, so Urgewald. Genauen Zahlen über die Aufteilung zwischen den beiden Bereichen gibt es nicht.

Und die offiziell erfassten globalen Finanzströme in die Branche könnten nur die Spitze des Eisbergs sein, so Franziska Mager, leitende Forscherin beim Tax Justice Network, einer britischen Interessengruppe, die sich gegen Steuervermeidung einsetzt. In einem kürzlich von ihr mitverfassten Papier über "Greenwashing" in der Branche heißt es, dass die Existenz undurchsichtiger Finanzpraktiken das wahre Ausmaß der Finanzierung fossiler Brennstoffe verschleiere.

Wofür Fossil-Konzerne ihr Geld tatsächlich ausgeben

Während Fossil-Unternehmen in ihrer Werbung und Wortwahl den Eindruck erweckten, sie würden in die Energiewende investieren, verdoppelten sie in Wirklichkeit ihre Expansion und bereicherten ihre Aktionäre, so Jones.

Zwar wird dieses Jahr weltweit doppelt so viele in saubere Energie investiert wie in fossile Brennstoffe. Dennoch kommt von der IEA Kritik an der Öl- und Gasindustrie. Diese würde die Energiewende nur "von der Seitenlinie aus beobachten", heißt es.

Laut IEA werden die Ausgaben der Öl- und Gasunternehmen für saubere Energien bis 2023 auf rund 30 Milliarden US-Dollar steigen – doch das entspricht gerade einmal vier Prozent ihrer Investitionsausgaben. Um bis 2050 tatsächlich auf ein Netto-Null an Treibhausgasemissionen zu kommen, sei eine "große" Umschichtung der globalen Investitionen weg von fossilen Brennstoffen erforderlich, so die IEA.

Können Banken bei der Bewältigung der Klimakrise helfen?

Banken und Finanzinstitute spielten eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den menschengemachten Klimawandel, da sie mit darüber entscheiden, ob unsere Volkswirtschaften einen kohlenstoffarmen Weg einschlagen oder nicht, so Mager. "Das Finanzsystem ist absolut das Wichtigste, wenn es darum geht, das Pariser Abkommen zu erreichen. Es ist das Fundament, auf dem alles andere ruht."

Laut Katrin Ganswindt von Urgewald liegt das Problem dabei in der "kurzfristigen Sichtweise der Finanzinstitute". Während Investitionen in fossile Brennstoffe durch die Umstellung auf erneuerbare Energien und durch zunehmende Regulierungen in der Zukunft zu verbranntem Geld würden, gebe es in der Fossil-Industrie derzeit noch Gewinne zu machen.

"Jeder will das letzte Stück vom Kuchen haben, solange es noch da ist, ohne an die Zukunft zu denken."

Auch Ben Cushing, Leiter der Kampagne für fossilfreie Finanzen bei der US-amerikanischen Umweltorganisation Sierra Club, hält es für entscheidend, dass die Finanzwelt den Kapitalfluss in Richtung der Expansion fossiler Brennstoffe zu stoppt. Doch: "Letztlich müssen Regierungen und Investoren, sowohl Banken und Finanzinstitute als auch die großen Öl- und Gaskonzerne zur Verantwortung dafür ziehen, wie ihre kurzfristige Gier unser gesamtes System und die Wirtschaft destabilisiert."

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Image caption Das Verbrennen fossiler Energieträger führt zur globalen Klimaerwärmung und schafft die Voraussetzungen für immer mehr Zerstörung durch extremes Wetterchaos
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