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Item 1
Id 72770673
Date 2025-06-12
Title Spanien: Wieder Proteste gegen Massentourismus
Short title Spanien: Wieder Proteste gegen Massentourismus
Teaser Überfüllte Innenstädte, Wohnungsnot, Verdrängung der Einheimischen: Bürger demonstrieren gegen Auswüchse des Tourismus. Airbnb gerät stärker in den Fokus.
Short teaser Überfüllte Innenstädte, Wohnungsnot, Verdrängung der Einheimischen: Bürger demonstrieren gegen Auswüchse des Tourismus.
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Rechtzeitig zum Beginn der sommerlichen Urlaubssaison gehen auch die Proteste gegen den Massentourismus wieder los, wie es sie bereits seit Jahren in besonders beliebten Urlaubsdestinationen Italiens, Portugals vor allem aber Spaniens gibt. Am 15. Juni ist es so weit. Die Plattform Sur de Europa contra la Turistización (Südeuropa gegen die Touristifizierung) kündigte Aktionen unter anderem in Venedig, Mailand und Lissabon, San Sebastián, Valencia und Barcelona sowie auf den Balearen-Inseln an.

Besonders gut organisiert ist die Protestbewegung in der nordspanischen Stadt Barcelona, wo es in der Vergangenheit bereits mehrfach Großdemonstrationen mit tausenden Teilnehmern gegeben hatte sowie aufsehenerregende Protestaktionen: Zuletzt blockierten dort Aktivisten im April vor der wichtigsten Urlauberattraktion der Stadt, der Sagrada Família, einen vollbesetzten Touristenbus und beschossen die verdutzten Urlauber mit Wasserpistolen.

"Der heutige Tourismus in Barcelona ist nicht kompatibel mit dem Leben der einheimischen Bevölkerung", sagt Daniel Pardo, Mitglied der Bürgervereinigung Assamblea de Barris pel Decreixement Turístic (Versammlung der Stadtviertel für die Schrumpfung des Tourismus), die seit Jahren an der Organisation tourismuskritischer Aktionen beteiligt ist. Lärmbelästigung, Luftverschmutzung, überfüllte Straßen – es führe kein Weg daran vorbei, den Tourismus in Barcelona zu reduzieren, so Pardo. "Der Moment, in dem noch ein halbwegs vernünftiges Gleichgewicht herrschte, liegt schon lange zurück."

Der Tourismus sichert 150.000 Arbeitsplätze

30 Millionen Besucher strömen jährlich in die Stadt. Unter den Touristen sind vor allem Reisende aus Italien, Frankreich, Großbritannien, Deutschland – schon auf Rang fünf aber liegen die US-Amerikaner. Angaben der Stadtverwaltung zufolge erwirtschaftet die Tourismusindustrie rund 14 Prozent des Bruttoinlandsproduktes der 1,7-Millionen-Stadt und sichert 150.000 Arbeitsplätze.

"Ja, das wird immer angeführt als Argument, dass man sich nicht beklagen dürfe", sagt Pardo. "Wir beklagen uns aber!" Viele Arbeitsverhältnisse im Tourismus seien prekär, die dort gezahlten Löhne unterdurchschnittlich. "Letztendlich lässt die Abhängigkeit vom Tourismus die Bevölkerung verarmen."

Ganz ähnlich klingt das auf der rund 200 Kilometer entfernt gelegenen Mittelmeerinsel Mallorca. Auch dort sind für den 15. Juni Protestveranstaltungen geplant. Das Motto: "Für das Recht auf ein würdevolles Leben: Stoppen wir die Touristifizierung." Die Kritik, die die Aktivisten vorbringen, ähnelt sich im ganzen Land: in Barcelona, auf den Balearen, in Andalusien, im Baskenland, auf den kanarischen Inseln. Ganz oben auf der Mängelliste steht die Ferienvermietung, die seit Jahren zunimmt und eine Mitschuld an den zuletzt extrem gestiegenen Mieten trägt, wie Kritiker argumentieren.

Immer mehr Einheimische ziehen fort

Aber nicht nur das: In den bei Touristen besonders beliebten Altstädten verschwindet auch der traditionelle Einzelhandel. Vielerorts ist es einfacher, eine Eisdiele oder einen Waschsalon zu finden als einen Bäcker oder ein Lebensmittelgeschäft. Immer mehr Einheimische fühlen sich fremd und ziehen fort.

"Der Tourismus vertreibt uns aus unseren Häusern, aus unseren Dörfern und Stadtvierteln", heißt es bei der Bürgerplattform Menys Turisme, més vida ("Weniger Tourismus, mehr Leben"), die den Anti-Tourismus-Protest auf Mallorca organisiert. "Vor einem Jahr gingen Tausende auf die Straße, um zu sagen: Es reicht!" Passiert sei seitdem aber nichts.

Tatsächlich steuert Spanien auch in diesem Jahr auf einen neuen Touristenrekord zu. 2024 kamen fast 94 Millionen internationale Reisende ins Land. Damit liegt Spanien weltweit auf Rang zwei hinter Frankreich.

Zumindest gibt es mittlerweile Versuche, die Ferienvermietung strenger zu regulieren. Die Zentralregierung in Madrid verpflichtete kürzlich die entsprechenden Anbieter dazu, ihre Immobilien in ein neu geschaffenes Register einzutragen. Auf diese Weise sollen illegale Angebote verhindert werden. Mitte Mai dann forderte das spanische Verbraucherschutzministerium die Plattform Airbnb auf, insgesamt 65.000 Wohnungsanzeigen zu löschen, weil die vorgeschriebene Registrierungsnummer nicht angegeben war.

Barcelona wirbt mit neuem Slogan

In Barcelona wiederum kündigte die Stadtverwaltung an, die Ferienvermietung bis zum Jahr 2028 komplett abschaffen zu wollen. Auslaufende Lizenzen sollen nicht mehr erneuert werden. Alles in allem aber sei der Tourismus eine der tragenden Säulen der Wirtschaft und sein Wachstum habe eine wichtige Rolle bei der ökonomischen Belebung der Stadt gespielt, heißt es in einem kürzlich veröffentlichten Strategiepapier.

Jordi Valls, der Tourismusdezernent im Rathaus der Stadt, räumt aber ein, dass der Tourismus in Barcelona nicht weiter wachsen könne. "Wir stoßen an unsere Grenzen", sagt er. Deshalb wolle man auch die Zahl der Kreuzfahrtschiffe reduzieren, die im Hafen festmachen.

Die Marketinggesellschaft der Stadt wiederum änderte kürzlich ihren Slogan. Statt Visit Barcelona heißt es nun This is Barcelona. Man wolle künftig stärker die Eigenheiten der Stadt hervorheben, so die Erklärung.

Von einer Schrumpfung des Tourismus aber sei man in Barcelona noch weit entfernt, sagt der Aktivist Daniel Pardo. "Wenigstens traut sich kein Politiker mehr, ganz offen ein weiteres Wachstum zu fordern." Das aber reiche bei weitem nicht aus. "Wir brauchen eine echte Debatte über die Grenzen des Tourismus." Diese anzustoßen, dabei sollen nun die erneuten Proteste helfen.

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Image caption Ende April blockierten Demonstranten vor der Sagrada Família in Barcelona einen vollbesetzten Touristenbus
Image source Assamblea de Barris pel Decreixement Turístic
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Item 2
Id 72876914
Date 2025-06-12
Title Türkei: Diyanet darf Koranübersetzungen zensieren
Short title Türkei: Diyanet darf Koranübersetzungen zensieren
Teaser Die türkische Religionsbehörde Diyanet kann nun Koranübersetzungen verbieten, die ihrer Ansicht nach nicht den Grundsätzen des Islam entsprechen. Das sorgt für Kritik und schürt Sorgen um die Glaubensfreiheit.
Short teaser Diyanet kann jetzt Koranübersetzungen verbieten, die nicht den Grundsätzen des Islam entsprechen. Das sorgt für Kritik.
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Die Diyanet ist eine der einflussreichsten Behörden in der Türkei. Nach eigenen Angaben beschäftigt sie über 140.000 Mitarbeiter und bietet ihre religiösen Dienste in mehr als 100 Ländern weltweit an. Die im Jahr 1924 gegründete Behörde untersteht seit 2018 direkt dem islamisch-konservativen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Ihr Jahresbudget von etwa drei Milliarden Euro übertrifft sogar die Etats mehrerer Ministerien, darunter das türkische Innenministerium.

Die Diyanet verwaltet landesweit 90.000 Moscheen, organisiert jährliche Pilgerfahrten, koordiniert Schächtungen zum Opferfest und richtet Korankurse sowie Kulturveranstaltungen aus. Sie bildet auch Imame aus und entsendet diese sowohl ins Inland als auch ins Ausland. Ihre Stiftung ist in 150 Ländern aktiv und erreicht Millionen von Menschen durch Bildungsangebote und Stipendien, von Fernost bis Lateinamerika.

Diyanet erhält Deutungshoheit über Koranübersetzungen

In den letzten Jahren wurden die Befugnisse der Diyanet kontinuierlich erweitert. Nun hat sie auch die Deutungshoheit über Koranübersetzungen erhalten. Ein kürzlich verabschiedetes Gesetz ermächtigt sie, Koranübersetzungen zu prüfen. Falls diese "den Grundcharakteristika des Islam nicht entsprechen", dürfen sie verboten werden.

Bereits veröffentlichte "problematische Exemplare" können eingezogen und vernichtet werden. Dies gilt auch für digitale Inhalte wie Texte, Audio- und Videoaufnahmen im Internet.

Staatspräsident Erdogan hatte der Diyanet diese Kompetenz bereits früher per Dekret erteilt, was dazu führte, dass sie einige Übersetzungen als "unwahrheitsgemäß" einstufte.

Das hielt jedoch vor dem Verfassungsgericht nicht stand. Mit dem neuen Gesetz ist diese Macht nun rechtlich verankert und damit nicht mehr verfassungswidrig.

Kritiker: "Bankroterklärung des türkischen Staates"

Regierungskritische Theologen sprechen von Zensur und von einem "vom Staat diktierten Islam", der die Glaubensfreiheit in Gefahr bringe.

Für den bekannten Theologen Prof. Dr. Sönmez Kutlu ist dieser Schritt eine Bankroterklärung des Staates. Seiner Meinung nach sollte ein Land mit über 100.000 Diyanet-Mitarbeitern und mehr als 100 Theologiefakultäten in der Lage sein, den Koran vor sogenannten problematischen Übersetzungen nicht durch Verbote, sondern durch intellektuelle und wissenschaftliche Methoden zu schützen.

Er warnt zudem davor, dass Publikationen, die übersetzte Koranverse enthalten, die angeblich den "grundlegenden Merkmalen des Islam widersprechen", auch zu Ermittlungen und Strafverfolgungen führen könnten.

Der Theologe Ihsan Eliacik sieht in der neuen Befugnis der Diyanet eine grundsätzliche Verletzung des Islam. "Im Islam", so Eliacik, "dürfe sich keine Institution zwischen den Menschen und Allah stellen. Die Überprüfung des Korans auf 'Wahrheitsmäßigkeit' durch die Diyanet tue aber genau dies."

Eliaciks eigene Koranübersetzung wurde zuvor von der Diyanet als problematisch eingestuft und verboten. Er klagte vor dem Verfassungsgericht und bekam Recht. Mit der neuen gesetzlichen Verankerung ist dies nun nicht mehr möglich.

Eliacik, Kutlu und weitere regierungskritische Theologen wurden in den letzten Jahren immer wieder Zielscheibe von Diskreditierungskampagnen durch regierungsnahe Bruderschaften und islamistische Orden.

Wachsender Einfluss religiöser Orden in der Türkei

Ömer Özsoy, Professor für Theologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, vermutet hinter dem neuen Gesetz den wachsenden Einfluss genau dieser Gemeinschaften auf die Regierung. "Diese Kreise wenden sich seit etwa einem Jahrzehnt offen gegen die wissenschaftliche, kritische und pluralistische Theologie an den islamisch-theologischen Fakultäten der Türkei", so Özsoy. Er beobachte, wie diese "seit geraumer Zeit systematische Kampagnen gegen profilierte Theologen führten.

Özsoy befürchtet, dass das neue Gesetz in einer "repressiven und politisch motivierten Auslegung" breit zur Anwendung kommen könnte. "Übersetzerkollegen berichten, dass die Diyanet bereits die Beschlagnahmung von insgesamt zwölf Übersetzungen vorbereitet hat, darunter auch solche von Mustafa Öztürk und Edip Yüksel", fügt er hinzu.

Die Rolle der Koranübersetzungen

Der Koran, das heilige Buch der Muslime, ist in arabischer Sprache verfasst. Übersetzungen sind unerlässlich, um die Texte Millionen von Menschen zugänglich zu machen. Doch sie beinhalten auch Interpretationen, insbesondere bei vieldeutigen Wörtern oder Stellen. Deshalb ist das Thema sehr sensibel.

Die Bedeutung von Koranübersetzungen in nicht-arabischsprachigen Ländern wie der Türkei hat in den letzten Jahren zugenommen. Früher, so erklärt Theologieprofessor Özsoy, "oblag die Auseinandersetzung mit dem Koran den religiösen Gelehrten." Heute sei es jedoch anders, so der Theologe. "Heute lesen die gläubigen Laien den Koran direkt und interpretieren eigenständig". Ihm zufolge liegt das an der Individualisierung, dem kritischen Denken und dem Aufkommen verschiedener Bewegungen und Strömungen.

Laut Özsoy hat die Zahl der türkischen Koranübersetzungen in den letzten Jahrzehnten zugenommen. Unter den Übersetzenden seien viele Personen ohne die erforderliche fachliche Qualifikation. Dieses Problem werde in der Fachwelt breit diskutiert , es gebe hierzu umfangreiche wissenschaftliche Literatur.

Zum Ärger Erdogans: immer mehr Nichtgläubige in der Türkei

Die Religion steht in der Türkei immer öfter im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Diskurses. Vor allem junge Menschen lesen die heiligen Schriften und diskutieren über den Islam und stellen viele Thesen in Frage, was der Regierung Sorge bereitet. So betont Präsident Erdogan seit geraumer Zeit, eine "fromme Generation" erziehen zu wollen.

Jüngste Untersuchungen des Meinungsforschungsinstituts Konda zeigen jedoch das Gegenteil: Der Anteil der sich als religiös bezeichnenden Menschen sank von 55 Prozent im Jahr 2018 derzeit auf 46 Prozent, während der Anteil der Atheisten oder Nichtgläubigen im gleichen Zeitraum von zwei auf acht Prozent stieg.

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Image caption Ali Erbaş, Präsident der türkischen Religionsbehörde Diyanet
Image source ANKA
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Item 3
Id 72876147
Date 2025-06-11
Title USA: Donald Trump treibt "seine Macht bis an die Grenze"
Short title USA: Donald Trump treibt "seine Macht bis an die Grenze"
Teaser Ob er das Militär gegen Demonstranten in Los Angeles einsetzt oder klare Anordnungen von Bundesrichtern ignoriert: Präsident Donald Trump bringt demokratische Grundpfeiler in den USA ins Wanken.
Short teaser Präsident Donald Trump bringt die demokratischen Grundpfeiler in den USA ins Wanken.
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Die Anspannung in Los Angeles, wo tausende Menschen seit Tagen gegen das Vorgehen der US-Einwanderungsbehörde demonstrieren, bleibt hoch. Eine von der Bürgermeisterin der Stadt verhängte nächtliche Ausgangssperre sorgte in der Nacht auf Mittwoch für ein wenig Ruhe. Aber die Zeichen stehen nicht auf Deeskalation. Auf die Nationalgarde, die US-Präsident Donald Trump am Samstag nach Los Angeles schickte, folgen nun 700 Soldaten der US-Marine - einem Teil der US-Streitkräfte, der bekannt ist als schnelle Eingreiftruppe und Elite-Einheit des Militärs.

Die Soldatinnen und Soldaten sollen laut einer Sprecherin des US-Militärs dabei helfen, Gebäude und Angestellte der Bundesregierung zu schützen, unter anderem die der Einwanderungsbehörde ICE (Immigration and Customs Enforcement).

Seit Freitag gehen Menschen im Süden Kaliforniens auf die Straße, um dagegen zu protestieren, wie ICE-Agenten Razzien im öffentlichen Raum durchführen, um Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere aufzuspüren und sie abzuschieben. Teilweise werden irreguläre Migranten und Migrantinnen auch von vermummten ICE-Teams direkt von der Straße weg verhaftet. Das alles ist Teil der strikten Einwanderungspolitik der Trump-Regierung. Die soll nun mit Hilfe des Militärs verteidigt werden.

Mehr Rechte für den Präsidenten im Sonderfall

Dabei kann der US-Präsident im Normalfall nicht einfach Nationalgarde oder Marine in einen beliebigen Bundesstaat schicken. Normalerweise muss der Befehl für den Einsatz von der Führung des betroffenen Bundesstaates kommen. In Kalifornien lehnte der demokratische Gouverneur Gavin Newsom den Einsatz der Bundestruppen ausdrücklich ab und hat Klage eingereicht.

In besonderen Fällen darf aber der US-Präsident Militäreinheiten in einen Bundesstaat berufen, in dem ein Aufstand gegen die Autorität der nationalen Regierung im Gange ist, auch ohne den zuständigen Gouverneur zu verständigen. Das besagt der "Insurrection Act" (Aufstandsgesetz) von 1807.

Der von Präsident Trump veranlasste Militäreinsatz in Kalifornien ist trotzdem ungewöhnlich, schließlich gilt die Autonomität der 50 Bundesstaaten als hohes Gut - zu sehen schon im Namen der "Vereinigten Staaten von Amerika". Gouverneur Newsom spricht von Machtmissbrauch und warnt, die US-Demokratie sei durch Trumps Handeln in Gefahr.

"Kalifornien mag als erstes dran sein, aber das ist ganz offensichtlich nicht das Ende", sagte Newsom in einer Fernsehansprache am Dienstagabend. "Andere Bundesstaaten sind als nächstes dran. Die Demokratie ist als nächstes dran."

Trump widersetzt sich der eigenen Judikative

Tatsächlich hat sich Trump in den ersten knapp fünf Monaten seiner zweiten Amtszeit schon mehrfach auf Kollisionskurs mit den demokratischen Institutionen seines Landes befunden. Da sind beispielsweise die Deportationen, die Trump gegen klare richterliche Anordnungen durchsetzte. Seit März schob er mehr als 250 angebliche Terroristen, die keine US-Staatsbürger sind, nach El Salvador ab. Die Flüge, die die Migranten in ein berüchtigtes Gefängnis in dem zentralamerikanischen Staat brachten, starteten trotz des vorläufigen Abschiebestopps eines Bundesrichters.

Dabei berief sich Trump, wie auch beim Militäreinsatz in Los Angeles, auf ein Jahrhunderte altes Gesetz. Dieses Mal handelte es sich um den "Alien Enemies Act" von 1798, der es dem Präsidenten erlaubt, Ausländer einer "feindlichen Nation" abschieben, ohne übliche Verfahren vor Einwanderungsgerichten abzuwarten. Die Trump-Regierung behauptet, die Abgeschobenen seien Terroristen der venezolanischen Gang "Tren de aragua", somit sei Trumps Handlung rechtsgültig.

Eigentlich ist die Judikative eine der drei Säulen der Macht in den USA, gemeinsam mit der Exekutive (dem Präsidenten) und der Legislative (dem US-Kongress). Die Gewaltenteilung zwischen diesen dreien bildet die Grundlage für die US-Demokratie. Es sieht danach aus, als könne Trumps Verhalten diese Teilung aufweichen. Im höchsten Gericht der USA, dem Supreme Court, sind mittlerweile sechs der neun Richter offen konservativ eingestellt, drei von ihnen hat Trump selbst benannt. Gute Voraussetzungen für Entscheidungen, die im Sinne des Präsidenten sind.

Werden sich "Prinzipien der Demokratie" in den USA durchsetzen?

Und was ist mit dem Kongress, dem legislativen Arm der Macht? An dem regierte Trump gleich zu Beginn seiner zweiten Amtszeit vorbei. Präsidiale Dekrete, die nicht erst das Repräsentantenhaus und den Senat, die zwei Kongresskammern, durchlaufen müssen, erlässt zwar jeder Präsident. Aber bei Trump waren es besonders viele: 161 in seiner zweiten Amtszeit bisher (Stand: 10. Juni 2025), mehr als jeder Präsident seit dem Zweiten Weltkrieg. Und sie haben weitreichende Folgen, zum Beispiel für die Rechte der LGBTQ+ Community in den USA oder für den Welthandel.

"Trump wird definitiv als derjenige in die Geschichte eingehen, der die Macht der Exekutive bis an ihre Grenzen trieb", schreibt Patrick Malone, Professor im Bereich öffentliche Verwaltung und Politik an der American University, in einer E-Mail an die DW. Es gebe beispielsweise Zweifel daran, ob es legal für den Präsidenten war, dass er im Namen der Effizienz Bundesagenturen schließen ließ und massenhaft Bundesangestellte feuerte, so Malone.

"Mit der Frage der Legalität dessen, was dieser Präsident getan hat, werden sich die Gerichte jahrelang beschäftigen", sagt der Politologe. Und wie steht es dann um die demokratischen Institutionen der USA? Sie stehen unter erheblichem Druck, so Malone. Ein Problem: Die Gesetze der USA werde heute auf ein völlig anderes Land angewandt als das, in dem sie vor mehr als 200 Jahren entstanden sind.

Der Experte ist aber auch optimistisch. "Institutionen sind generell nur sehr schwer zu Fall zu bringen", sagt Malone. "Hoffentlich werden sich die Prinzipien der Demokratie am Ende durchsetzen."

Item URL https://www.dw.com/de/usa-donald-trump-treibt-seine-macht-bis-an-die-grenze/a-72876147?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Der Einsatz der Nationalgarde bei den Protesten in Los Angeles ist extrem umstritten
Image source Robyn Beck/AFP/Getty Images
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Item 4
Id 72874879
Date 2025-06-11
Title Polen: Tusk trotz gewonnener Vertrauensfrage angeschlagen
Short title Polen: Tusk trotz gewonnener Vertrauensfrage angeschlagen
Teaser Nach der Niederlage seines Kandidaten bei der Präsidentenwahl stellt Premier Donald Tusk die Vertrauensfrage als Befreiungsschlag. Trotz gewonnener Abstimmung bleibt seine Koalitionsregierung angeschlagen.
Short teaser Obwohl das polnische Parlament Donald Tusk sein Vertrauen ausgesprochen hat, bleibt der Premier angeschlagen.
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Der proeuropäische polnische Regierungschef Donald Tusk bleibt im Amt. 243 von 453 anwesenden Abgeordneten des Sejm, des polnischen Parlaments, stimmten für ihn. Das waren alle 242 Mitglieder seiner Regierungskoalition und ein fraktionsloser Abgeordneter. 210 Parlamentarier stimmten gegen ihn.

Mit der Vertrauensfrage wagte Tusk einen Befreiungsschlag. Er wollte seine Koalition disziplinieren und nach außen demonstrieren, dass er die Lage im Griff hat. Denn der überraschende Sieg des rechtskonservativen Historikers Karol Nawrocki bei der Präsidentenwahl hatte seine Mitte-Links-Regierung in eine tiefe Krise gestürzt. Der Kandidat der Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jaroslaw Kaczynski hatte in der Stichwahl am 1. Juni den liberalen Mitbewerber Rafal Trzaskowski geschlagen, einen Vertrauten des Premiers.

Der von der Tusk-Partei Bürgerplattform (PO) aufgestellte Kandidat unterlag Nawrocki mit 49 zu 51 Prozent. Die Wahlschlappe wurde Tusk auch als seine persönliche Niederlage angelastet und stärkte die Fliehkräfte in der Koalition, die aus drei Parteien-Blöcken besteht. "Ist Tusk am Ende?", fragte das Nachrichtenmagazin "Newsweek" auf seiner Titelseite.

Rechtskonservative PiS wittert ihre Chance

Die PiS, die im Dezember 2023 die Macht abgeben musste, witterte in der Krise ihre Chance. Kaczynski forderte den Rücktritt von Tusk sowie die Einberufung einer "technischen Experten-Regierung", obwohl verfassungsrechtlich gesehen die Präsidentenwahl keinen Einfluss auf die Regierung hat.

"Ich kenne den Geschmack des Sieges und die Bitternis der Niederlage. Das Wort Kapitulation kenne ich allerdings nicht", sagte Tusk im Parlament. Schon am Tag nach der Wahlniederlage hatte er angekündigt, "keinen Schritt" zurückweichen zu wollen. Vor dem Votum im Parlament stimmte er die Regierung auf zweieinhalb Jahre schwerster Arbeit ein und versprach einen Umbau seines Kabinetts im Juli.

Vor den Abgeordneten zählte Tusk die Erfolge seiner Regierung auf, darunter die Wiederherstellung des internationalen Ansehens von Polen, die erfolgreiche Bekämpfung der illegalen Migration und die Investitionen in die Verteidigung. Schwache Umfragewerte sind seiner Meinung nach eine Folge schlechter Informationspolitik. Im Sommer soll endlich ein Regierungssprecher ernannt werden. Bisher hat Tusk selbst die Arbeit seines Kabinetts mehr schlecht als recht erläutert.

Regierung im Umfragetief

Nach einer Umfrage vom Mittwoch (11.06.2025) bewerten 58 Prozent der Befragten Tusks Arbeit als Regierungschef negativ, 35 Prozent geben ihm eine positive Note. Auch die ganze Regierung hat mehr negative Bewertungen (44 Prozent) als positive (32 Prozent).

Die Geschäftsordnung des Parlaments sieht vor der Vertrauensfrage keine Debatte, sondern nur Fragen der Abgeordneten vor. Mehr als 280 Parlamentarier machten von diesem Recht Gebrauch. Viele PiS-Parlamentarier beschuldigten Tusk, zu enge Verbindungen zu Deutschland zu unterhalten, was angeblich polnischen Interessen schade. "Sie dienen den deutschen, nicht den polnischen Interessen", sagte Ex-Volksbildungsminister Przemyslaw Czarnek und forderte Tusk auf, zurückzutreten.

Der ehemalige Kulturminister Piotr Glinski warf der Regierung vor, wichtige Posten in Kulturinstitutionen mit Menschen zu besetzen, die die deutsche Erinnerungspolitik vertreten. Mehrere Parlamentarier kritisierten das Projekt Naturschutzgebiet Unteres Odertal als deutsches Komplott, um die Oder als Verkehrsader auszuschalten. Tusk bezeichnete die antideutschen Aussagen als "eine Phobie, die aber heilbar ist". Er schloss nicht aus, dass auch Polen bereits im Sommer zeitlich begrenzte Grenzkontrollen einführen werde.

Schwere Zeiten für Donald Tusk

Auch wenn Tusk seine Koalition in den Griff bekommt, stehen ihm schwere Zeiten bevor. Der neue Präsident, der sein Amt am 6. August antritt, machte im Wahlkampf keinen Hehl daraus, dass er die Regierung, die er als schlechteste seit 1989 bezeichnet, zu Fall bringen will. Nawrocki wird wie sein Vorgänger Andrzej Duda die meisten Gesetze der Regierung mit seinem Veto blockieren und so die Arbeit der Koalition lähmen.

Das Präsidialbüro will er zu einem Machtzentrum ausbauen, das innen- und außenpolitisch ein Gegengewicht zur Regierung bilden soll. "Es besteht die Gefahr, dass mit Nawrocki Polen eher mit Viktor Orban als mit Friedrich Merz zusammenarbeiten wird", sagte Lykke Friis, Vizechefin des Euopean Council on Foreign Relations (ECFR) im Gespräch mit der Zeitung Gazeta Wyborcza. Das Weimarer Dreieck, bestehend aus Polen, Deutschland und Frankreich, könnte durch die Visegrad-Gruppe (V4) ersetzt werden, die sich aus den vier Staaten Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn zusammensetzt.

Neuer Präsident mit eigener Agenda

In seinem ersten Interview für die ungarische Zeitschrift Mandiner sprach sich Nawrocki für die stärkere Zusammenarbeit im Rahmen der V4 aus. Orban gehört zu seinen engsten Anhängern. Nawrocki hat bereits mit Donald Trump telefoniert und sich eine Einladung ins Weiße Haus gesichert. Die MAGA-Bewegung hat seinen Wahlkampf unterstützt. Die Ukraine muss befürchten, dass der neue Mann in Warschau skeptisch gegenüber ihren NATO- und EU-Ambitionen eingestellt ist.

"Kaczynski und Nawrocki duzen sich und spüren eine geistige Verbindung. Der Hass gegen Tusk verbindet sie", schreibt Dominika Wielowiejska in der Gazeta Wyborcza. "Nawrocki will Rache an Tusk nehmen", betont die Publizistin.

Die aktuelle Umfrage vom Mittwoch sieht den Verlust der Parlamentsmehrheit durch die Mitte-Links-Koalition und eine Mehrheit für den rechten Block PiS und Konfederacja. Die regulären Parlamentswahlen sollen aber erst im Herbst 2027 stattfinden. Ob die Mitte-Links-Regierung mit Tusk bis dahin überlebt oder sich die Fliehkräfte als stärker erweisen, ist offen.

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Image caption Ministerpräsident Donald Tusk hat die Vertrauensfrage gewonnen
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Item 5
Id 72857189
Date 2025-06-11
Title Europas Rechtsparteien im Aufwind
Short title Europas Rechtsparteien im Aufwind
Teaser Die in Teilen rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland (AfD) ist in der deutschen Politik weitgehend isoliert. In anderen europäischen Ländern stellen ähnliche Parteien sogar die Regierung.
Short teaser Die AfD in Deutschland wird geächtet. In anderen europäischen Ländern stellen Rechtsaußenparteien sogar die Regierung.
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Mit der AfD wollen die anderen Parteien in Deutschland nichts zu tun haben. Verschiedene Politiker fordern sogar ein Verbot der AfD. In anderen Ländern Europas ist das bei vergleichbaren Parteien völlig anders.

Niederlande: Partij voor de Vrijheid

Geert Wilders' Partei für die Freiheit (PVV) hat die Viererkoalition unter Führung seiner Partei platzen lassen, weil sie bei Migration nicht hart genug durchgegriffen hat. "Wir wollen einen sofortigen totalen Asylstopp. Wir wollen, dass jeder, aber auch wirklich jeder Asylbewerber sofort an der Grenze zurückgewiesen wird", sagte Wilders. Für den nach seiner Ansicht drohenden "Untergang der Niederlande" habe seine Fraktion keine Verantwortung mehr tragen wollen. Jetzt soll es im Herbst Neuwahlen geben.

Wilders' Partei war zwar stärkste Kraft bei der Parlamentswahl geworden, trotzdem wurde er nicht Regierungschef, weil er den Koalitionspartnern zu radikal war. Stattdessen wurde der parteilose Dick Schoof Ministerpräsident der Niederlande.

Wenn es nur nach Wilders ginge, würde er den Koran und alle neuen Moscheen verbieten. Ansonsten macht er gegen Klimaschutz und gegen eine als übergriffig kritisierte EU mobil. Seine Partei beherrscht er vollkommen: Wilders ist einziges Parteimitglied, selbst Abgeordnete und Minister sind offiziell nur Unterstützer der PVV. Dadurch kann Wilders auch das Parteiprogramm allein bestimmen und Kandidaten für Wahlen selbst ernennen.

Polen: Prawo i Sprawiedliwość

Die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) unterlag zwar bei den Parlamentswahlen Ende 2023; seitdem regiert der liberale frühere EU-Ratspräsident Donald Tusk in Polen. Die PiS stellte aber den Staatspräsidenten, der mit seinem Veto die Regierungspolitik ausbremsen kann.

Daran hat sich seit der Präsidentschaftswahl Ende Mai 2025 nichts geändert, denn die hat der von der PiS unterstützte Karol Nawrocki knapp gewonnen. Nawrocki hatte auch mit antideutschen und antieuropäischen Tönen Wahlkampf gemacht.

Die PiS als Partei tritt in der EU aber eher vorsichtig auf - die Finanzflüsse aus Brüssel sind für das Land wichtig. Sie steht auch klar an der Seite der Ukraine im Krieg gegen Russland und befürwortet eine starke NATO-Präsenz als Schutz gegen den mächtigen Nachbarn.

Migrationspolitisch vertritt sie dagegen die harten Positionen ihrer Geschwister anderswo in Europa. In gesellschaftlichen Fragen steht sie der katholischen Kirche in Polen nahe und spricht sich gegen die Legalisierung der Abtreibung sowie die Gleichstellung homosexueller Partnerschaften aus.

Ungarn: Fidesz

Die Partei, offiziell Fidesz - Ungarischer Bürgerbund -, ist wohl europaweit die erfolgreichste Rechtsaußen-Partei. Mit ihrem Chef Viktor Orban war die Fidesz zwischen 1998 und 2002 und ist wieder seit 2010 ununterbrochen in Ungarn an der Macht. Dabei war die Partei 1988 kurz vor Ende des Kommunismus als radikalliberale Kraft gegründet worden und behielt diese Ausrichtung auch lange bei.

Spätestens seit der von der damaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel 2015 ausgerufenen Willkommenskultur für Flüchtlinge schwenkten Orban und seine Fidesz aber nach rechts. Inzwischen steht die Partei ausdrücklich für eine illiberale Demokratie, sie sieht einen christlichen Westen durch Überfremdung bedroht und will den Einfluss der EU stark begrenzen.

Einen menschenverursachten Klimawandel erkennt Fidesz im Gegensatz zu ähnlichen Parteien aber als Bedrohung an. Ganz im Gegensatz etwa zur polnischen PiS sucht die Fidesz unter Orban den Kontakt zu Russland trotz des Ukraine-Krieges, vor allem in Energiefragen. Auch ideologisch steht Orban Präsident Wladimir Putin nahe.

Slowakei: Smer - slovenská sociálna demokracia

Der heutige Ministerpräsident Robert Fico hat die Partei gegründet. Übersetzt heißt die Partei Richtung - Slowakische Sozialdemokratie. Die Richtung weist scharf nach rechts und hat mit Sozialdemokratie etwa deutscher Prägung kaum etwas zu tun. So warnt Smer vor einer "Überfremdung" der Slowakei. Parteichef und Ministerpräsident Fico hält Muslime generell für nicht integrationsfähig und sagte 2016: "Der Islam hat keinen Platz in der Slowakei."

Die von Russland überfallenen Ukrainer bezeichnet Fico als "Nazis und Faschisten" ganz im Sinne Putins. Vor der Parlamentswahl 2023, aus der die Smer als Sieger hervorging, kündigte Fico an, er werde die Waffenlieferungen an die Ukraine sofort stoppen.

Das tat er dann auch und behauptete, die NATO und die Vereinigten Staaten seien für den Angriff durch Moskau verantwortlich, was zu Demonstrationen in der ganzen Slowakei führte. Seine Regierung sprach sich auch wiederholt gegen EU-Sanktionen gegen Russland als "nutzlos und kontraproduktiv" aus.

Spanien: Vox

Die von Parteichef Santiago Abascal angeführte Vox (lateinisch: Stimme) hat einen steilen Aufstieg hingelegt. Gegründet 2013, erreichte sie noch 2016 bei den Parlamentswahlen nur 0,2 Prozent der Stimmen, 2019 aber 15 Prozent. Seitdem ist sie wieder etwas abgesackt.

Vox ist zur Zeit drittstärkste politische Kraft in Spanien. Zu einer Regierungsbeteiligung oder auch nur Duldung kam es aber bisher nicht. Für eine Zusammenarbeit wäre nur die konservative Volkspartei (Partido Popular) infrage gekommen. Stattdessen bildete der Sozialist Pedro Sánchez erneut die Regierung.

Das Hauptanliegen von Vox ist ein spezifisch spanisches: Die Autonomierechte der Regionen wie Katalonien oder das Baskenland sollen rückgängig gemacht, Spanien wieder ein Zentralstaat werden. Auch bei den migrations- und islamkritischen Tönen gibt es eine besondere spanische Note: Abascal fordert eine neue Reconquista - in Anlehnung an die Rückeroberung der jahrhundertelang muslimischen Iberischen Halbinsel bis 1492 durch christliche Herrscher.

Die Partei war Anfang Februar in Madrid Gastgeber einer großen Veranstaltung unter dem Titel "Make Europe Great Again". Teilnehmer waren unter anderen der ungarische Regierungschef Viktor Orban und die französische Rechtspopulistin Marine Le Pen.

Dänemark: Dansk Folkeparti

Die Dänische Volkspartei wurde 1995 gegründet und hatte ihre erfolgreichste Zeit in den Nuller- und Zehnerjahren. Mit ihren einwanderungs-, globalisierungs- und EU-kritischen Positionen, kombiniert mit Forderungen eines starken Wohlfahrtsstaates, stützte sie damals mehrere Mitte-Rechts-Regierungen in Kopenhagen. Dabei konnte sie vor allem eine Verschärfung des Asylsystems durchsetzen.

In dem Moment jedoch, als die dänischen Sozialdemokraten unter Mette Frederiksen ab 2019 die Anti-Asyl-Forderungen der Volkspartei nicht nur übernahmen, sondern auch durchsetzten, schwand die Zustimmung zur Volkspartei. Bei der letzten Folketing-Wahl 2022 bekam sie nur noch 2,6 Prozent. Die Einwanderungs- und Asylpolitik der amtierenden sozialdemokratische Regierung in Dänemark ist eine der schärfsten in Europa.

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Image caption AfD-Chefin Alice Weidel wird von anderen Parteien in Deutschland gemieden, der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban von der ähnlich gestrickten Fidesz-Partei sieht in ihr eine Verbündete
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Item 6
Id 72868083
Date 2025-06-11
Title Indien: Mehr Extremwetterlagen infolge des Klimawandels
Short title Indien: Mehr Extremwetterlagen infolge des Klimawandels
Teaser Extreme Wetterereignisse treten laut einer aktuelle Studie in Indien immer häufiger auf und beeinträchtigen drastisch die Lebensqualität.
Short teaser Extreme Wetterereignisse treten laut einer Studie in Indien immer häufiger auf und beeinträchtigen die Lebensqualität.
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Extreme Wetterereignisse wie Überschwemmungen, Hitzewellen und Wirbelstürme treten in Indien immer häufiger auf und haben weitreichende negative Auswirkungen auf Gesundheit, Entwicklung und Wirtschaft. Das bestätigt der Jahresbericht über die Umweltsituation in Indien, der letzte Woche vom Centre for Science and Environment (CSE), einer in Neu-Delhi ansässigen Forschungs- und Interessenvertretungsorganisation, veröffentlicht wurde.

Laut dem Bericht starben im vergangenen Jahr fast 3000 Menschen als Folge von extremen wetterbedingten Ereignissen. Zwei Millionen Hektar an Erntefläche und rund 80.000 Häuser seien zerstört worden. An statistisch hochgerechnet 332,2 der 366 Tage im Schaltjahr 2024 traten der Studie zufolge in verschiedenen Orten Indien extreme Wetterereignisse auf.

"Dieser Bericht unterstreicht die dringende Notwendigkeit einer kraftvolleren Umweltpolitik, einer verbesserten Gesundheitsinfrastruktur und einer ehrgeizigen Klimapolitik, um diese miteinander verbundenen Krisen anzugehen", sagt CSE-Direktorin Sunita Narain gegenüber der DW. Der jüngste Bericht müsse als Weckruf für die Politik verstanden werden.

80 Prozent der Bevölkerung vom Klimawandel betroffen

So sind indische Großstädte häufig von der weltweit schlechtesten Luftqualität betroffen. Seit 2021 haben die Einwohner in 13 indischen Städten, darunter der Hauptstadt Neu Delhi, durchschnittlich an einem von drei Tagen gefährlich unsaubere Luft einatmen müssen, registriert der Bericht. Mit fatalen Folgen: Die Menschen in Delhi haben eine um fast acht Jahre niedrigere Lebenserwartung, als wenn sie saubere Luft atmenkönnten, wie verschiedene Studien zeigen.

Obwohl die Hauptsommermonate von April bis Juni in Indien zwar immer heiß sind, sind die Temperaturen in den letzten zehn Jahren extremer geworden. Auch die Intensität von Regen und Überschwemmungen hat zugenommen.

Etwa 80 Prozent der indischen Bevölkerung leben in Regionen, die anfällig für Katastrophenwie Hitzewellen oder schwere Überschwemmungen sind, heißt es in dem Bericht.

Die darin enthaltenen Daten stimmten mit den wichtigsten Ergebnissen der Studie von IPE Global aus dem Jahr 2024 überein, sagt Abinash Mohanty, Leiter der Abteilung Klimawandel und Nachhaltigkeit bei IPE Global, einer internationalen Entwicklungsorganisation, im Gespräch mit der DW. 80 Prozent der Distrikte in Indien seien demnach anfällig für extreme Wetterereignisse.

"Indien befindet sich mitten in einem Sturm, in dem Klimachaos, Gesundheitskrisen und Entwicklungsdefizite aufeinanderprallen", warnt der Klima-Experte. "Das ist mehr als ein statistischer Alarm. Es ist eine real erlebte Krise, die sich in Echtzeit entfaltet", sagt Mohanty. Indiens Entwicklungsmodell müsse "radikal neu gedacht" werden, um sich an heißere Temperaturen, den Verlust der biologischen Vielfalt und Wassernotfälle anzupassen. "Die Folgen der Untätigkeit von heute werden morgen zu unumkehrbaren Realitäten."

Vorausschauende Planung für Klimaanpassung nötig

Um diesen Entwicklungen mit wirksamen Anpassungsstrategien zu begegnen, müsse die indische Regierung mehr in die Datenerfassung investieren, fordert Narain von der CSE. "Ohne klare glaubwürdige Daten kann es keine Lösungen oder Strategien geben. Deshalb plädieren wir nachdrücklich dafür, dass wir mehr und nicht weniger Daten brauchen. Wir müssen transparent sein", sagt Narain.

So lasse der aktuelle Bericht die enormen Fortschritte, die Indien in vielen Bereichen gemacht hat, nicht außer Acht. "Er macht uns aber klar, dass wir uns nicht zurücklehnen dürfen. Wir müssen die Trends zur Kenntnis nehmen, sie verstehen und Korrekturmaßnahmen einleiten."

Der Bericht zeige deutlich die sich beschleunigenden Auswirkungen des Klimawandels auf Indien, bestätigt Akshay Deoras, Klimawissenschaftler an der britischen University of Reading, gegenüber der DW. "Extremwetter an so vielen Tagen im Jahr zu erleben, ist kein statistischer Zufall. Es signalisiert eine Verschiebung der Ausgangslage." Klima-Resilienz sei also nicht mehr optional: "Sie ist ein existenzieller Imperativ."

Deoras glaubt, dass Indien von reaktiver Hilfe zu vorausschauender Planung und von Klimarhetorik zu fundierten skalierbaren Maßnahmen übergehen müsse, zum Beispiel durch die Einrichtung von Klimarisiko-Beobachtungsstellen. "Ohne sofortige Investitionen in Anpassung, Frühwarnsysteme und die Reduzierung des Ausstoßes von Treibhausgasen steuern wir auf eine destabilisierte Klimazukunft zu, insbesondere für die nächste Generation", sagte Deoras. "Die Uhr tickt. Und es gibt keine zweite Chance."

Aus dem Englischen adaptiert von Florian Weigand

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Image caption Extreme Hitzewellen in Indien: Passanten drinken Wasser, das in an einer Bushaltestelle in der Stadt Ahmedabad ausgeteilt wird.
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Item 7
Id 72867211
Date 2025-06-11
Title Afghanistan: Angst vor Abschiebungen in ein "sicheres" Land
Short title Afghanistan: Angst vor Abschiebungen in ein "sicheres" Land
Teaser In Afghanistan herrsche Sicherheit, behaupten die Taliban - und rufen geflüchtete Afghanen zur Rückkehr auf. Doch Hunger, Armut und Angst bestimmen den Alltag, besonders für Mädchen.
Short teaser In Afghanistan herrsche Sicherheit, behaupten die Taliban. Doch Hunger, Armut und Angst bestimmen den Alltag.
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Die Taliban rufen alle geflüchteten Afghanen zur Rückkehr auf und versprechen ein Leben in Frieden. Mullah Mohammad Hassan Akhund, der Vorsitzende des Ministerrats der Taliban-Regierung, versprach am Samstag in seiner Botschaft zum Opferfest allen aus dem Land Geflohenen eine allgemeine Amnestie. Afghanistan sei sicher, alle könnten zurückkehren, erklärte er.

"Die Verursacher der Gewalt sind nun an der Macht zum Beispiel als Leiter des Innenministeriums. Natürlich behaupten sie jetzt, das Land sei sicher", sagt die ehemalige Parlamentsabgeordnete Nilofar Ibrahimi im Gespräch mit der DW. Sie nennt dabei den derzeitigen Innenminister der Taliban-Regierung, Siradschuddin Haqqani.

Haqqani wird für zahlreiche tödliche Anschläge bis 2021 in Afghanistan verantwortlich gemacht und steht wegen des Verdachts, "grenzüberschreitende Angriffe auf die Streitkräfte der Vereinigten Staaten und der Koalition in Afghanistan koordiniert und unterstützt zu haben", auf der Most-Wanted-Liste des FBI. Trotz seiner Vergangenheit spielt er heute eine Schlüsselrolle im Machtapparat der Taliban und ist insbesondere für Sicherheit und Polizei zuständig.

"Die Taliban unterdrücken jeden Widerstand und schüchtern die Bevölkerung ein", sagt Ibrahimi, die nach der Machtübernahme der Taliban das Land verlassen musste. Sie fügt hinzu: "In der Provinz Badakhshan im Nordosten des Landes gehen sie gegen Bauern vor, die nicht wissen, was sie noch anbauen sollen, weil die Taliban den Mohnanbau verboten haben."

In Afghanistan, einem der ärmsten Länder der Welt, arbeiten bis zu 80 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Der Opiumanbau war im Vergleich zu anderen Feldfrüchten selbst in Zeiten der Dürre, deutlich ertragreicher und bot vielen Bauern eine sichere Einnahmequelle. Die Taliban haben auf Befehl ihres obersten Führers Hibatullah Akhundzada den Mohnanbau im ganzen Land verboten - ohne eine Alternative anzubieten. Nun stehen die Bauern vor dem Nichts und wissen nicht, wie sie ihre Familien ernähren sollen.

Mangelernährung und Zwangsehen

Seit der Machtübernahme der Taliban ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung unter die Armutsgrenze gerutscht. Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das Land zählt etwa 41,5 Millionen Einwohner. Rund 43 Prozent davon sind laut dem United Nations Population Fund Kinder im Alter zwischen 0 und 14 Jahren.

Laut einem aktuellen Bericht des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (März 2025) benötigt jedes zweite Kind in Afghanistan dringend Nothilfe. Die Zahl der akut mangelernährten Kinder steigt stetig. Viele minderjährige Mädchen werden zwangsverheiratet, weil ihre Familien nicht mehr wissen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen.

"Es sind Kinder, denen nicht nur das Recht auf Bildung, persönliche Entwicklung und sogar auf kindliches Spielen vorenthalten wird. Sie sind auch mit schmerzhaften Folgen wie Frühgeburten, extremer Armut, familiärer Gewalt und sozialer Isolation konfrontiert. Und das in einer Gesellschaft, in der die Unterstützungsstrukturen für Frauen und Kinder praktisch zusammengebrochen sind", schreibt eine Aktivistin des Frauennetzwerks Purple Saturday an die DW.

Diese Aktivistinnen vor Ort versuchen durch ihre Netzwerk Informationen an Frauen und junge Mädchen weiterzugeben und sie auch privat zu unterrichten. Unter den Taliban dürfen Frauen nicht mehr an Hochschulen studieren. Weiterführende Schulen nach der fünften Klasse wurden für Mädchen verboten. "Mehr denn je brauchen wir jetzt die echte und bedingungslose Solidarität der internationalen Gemeinschaft. Lasst uns nicht allein."

"Lieber hier verstecken"

Viele verzweifelte Mütter sind in die Nachbarländer geflohen - so auch Diba, Mutter von drei Kindern. Vor der Machtübernahme arbeitete sie im afghanischen Bildungsministerium und war Mitbegründerin einer Einrichtung zur Förderung von Frauen, die später von den Taliban geschlossen wurde. Nach Monaten unter der Herrschaft der Taliban sah sich die Frauenrechtsaktivistin gezwungen, ihr Land zu verlassen und nach Pakistan zu fliehen.

"Ich habe all meine Habseligkeiten verkauft und bin geflohen", sagte sie im Gespräch mit der DW. Sie hatte Angst, nach Ablauf ihres Visums aus Pakistan abgeschoben zu werden. Afghanische Flüchtlinge werden derzeit massenhaft aus Pakistan ausgewiesen. Allein im April und Mai sollen Schätzungen zufolge rund 200.000 Menschen abgeschoben worden sein.

"Ich werde mich lieber hier verstecken als nach Afghanistan zurückzukehren", sagt Diba. In Afghanistan unter den Taliban darf sie sich als Frau nicht einmal frei in der Gesellschaft bewegen, geschweige denn eine Arbeit finden, um ihre Familie zu ernähren. Ihre Töchter werden kein selbstbestimmtes Leben haben. Sie hofft, einen Weg zu finden, um sich und ihre Kinder in ein sicheres Drittland bringen zu können.

Auch andere Länder planen, afghanische Geflüchtete abzuschieben. Der Iran etwa hat angekündigt, in diesem Jahr vier Millionen Afghaninnen und Afghanen in ihr vermeintlich "sicheres Heimatland" zurückzuführen. Allein im Mai wurden 15.000 Menschen abgeschoben. "Wir werden sie willkommen heißen", versprechen die Taliban.

Mitarbeiterin: Parwaneh Alizadah

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Item 8
Id 72819727
Date 2025-06-11
Title EU am Scheideweg: Großkonzerne for Future?
Short title EU am Scheideweg: Großkonzerne for Future?
Teaser Ein Reihe europäischer Großunternehmen fordern von der EU mehr Klarheit beim Klimaschutz und schnellere Umsetzung von Nachhaltigkeits-Zielen. Wie viel Eigeninteresse steckt dahinter?
Short teaser Einige Unternehmen fordern von der EU mehr Klarheit und schnelleren Klimaschutz. Aus Eigeninteresse oder fürs Klima?
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In einem offenen Brief hatten Ende Mai rund 150 Unternehmen gefordert, die Treibhausgasemissionen in der Europäischen Union bis 2040 um mindestens 90 Prozent zu reduzieren. Ihr Argument: Ein robustes Klimaziel und die Dekarbonisierung der Volkswirtschaften verbesserten die Widerstandsfähigkeit, Energiesicherheit und Wettbewerbsfähigkeit.

Die Unterzeichner sind Mitglieder der Corporate Leaders Groups, die vom Institute for Sustainability Leadership der University of Cambridge einberufen werden.

Der Brief ist an die Europäische Kommission, die Abgeordneten des Europaparlaments sowie die Staats- und Regierungschefs der EU adressiert. Zu den Unterzeichnern zählen große Konzerne, unter anderem SAP, die Otto-Gruppe und die Allianz.

Bislang hat die EU als Ziel festgeschrieben, ihre CO2-Emissionen bis zum Jahr 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 zu senken und bis 2050 klimaneutral zu werden. Ein verbindliches Zwischenziel für 2040 existiert noch nicht.

Gefährdet Zögern der EU den Wettlauf um den grünen Welthandel?

Deutliche Zwischenziele könnten den Unternehmen mehr Klarheit geben. Und für Investoren signalisieren, ob Europa weiter auf Klimakurs ist. Denn daran gibt es inzwischen Zweifel. Die EU-Kommission hatte zuletzt einige Direktiven wieder zur Diskussion gestellt. Vorgänge sollen vereinfacht werden.

Ob es dabei bleibt oder hier durch die Hintertür bereits beschlossene Regelungen aufgeweicht werden sei derzeit "unvorhersehbar", so Manon Dufour. Das ließe die Investoren zögern, so die Geschäftsführerin des Brüsseler Büros des internationalen Think-Tanks E3G, spezialisiert auf internationale Klimadiplomatie.

Für Dufour ist klar: Hinter den Forderungen der Firmen nach mehr Klimaambitionen steckt die Hoffnung, dass sich daraus ein Wettbewerbsvorteil für Unternehmen in der EU ergibt. Vor dem Hintergrund massiver grüner Investitionen in China, sei "die technologische Wende in Europa kein rein europäische Projekt mehr", sondern im Kontext des globalen Wettbewerbs zu sehen.

"In einigen Sektoren dürfte es für Europa etwas schwierig sein, seinen Wettbewerbsvorteil zu behaupten. In anderen Sektoren hingegen ist Europa sehr gut aufgestellt," sagt Dufour.

Europa sei führend in allen Bereichen, die mit Netz- oder Kabeltechnologien zu tun haben, sowie in einigen Bereichen der CCS-Technologie, mit der CO2 aus Industriebetrieben abgeschieden und gespeichert wird. "Hier könnte Europa noch gewinnen."

Politik wirkt: mehr Unternehmen haben Klimaziele

Dass inzwischen auch immer mehr Unternehmen die EU zu entschiedenere Maßnahmen aufrufen, ist kein Zufall.

Seit der Einführung des EU Green Deal 2019 wurden hunderte Milliarden Euro in grüne Technologie und Industrie investiert und etliche Regulierungen für nachhaltigeres Wirtschaften verabschiedet. Seitdem hat sich europaweit ein tiefgehender Wandel in der Haltung der Unternehmerseite zur Klimapolitik vollzogen.

Eine Analyse der gemeinnützigen Organisation InfluenceMap mit Sitz im Vereinigten Königreich kommt zu dem Schluss: diese Politik wirkt.

Heute orientieren sich 23 Prozent der Unternehmen in der EU an Strategien, die zur Erreichung der Klimaziele führen würden. 2019 lag dieser Wert noch bei drei Prozent. Gleichzeitig ging der Anteil der Unternehmen, die als "nicht klimagerecht" eingestuft wurden, von 34 Prozent auf 14 Prozent zurück.

Klimapolitik im Eigeninteresse vieler Unternehmen

Das im offenen Brief geforderte Ziel 90 Prozent weniger Emissionen bis 2040 "gäbe uns einen klaren Kurs vor, um unsere Maßnahmen und Investitionen zu auszubauen, um zu nachhaltigeren Geschäftsmodellen überzugehen und unsere Emissionen rasch zu senken." Letztendlich sei das Klimarisiko ein wirtschaftliches und finanzielles Risiko, so der offene Brief der Cooporate Leaders Group.

Laut dem Sustainability Report der Beratungsgesellschaft Deloitte berichteten bereits 2022 fast alle befragten Führungskräfte in Deutschland (97 Prozent), dass ihr Unternehmen bereits negativ vom Klimawandel beeinflusst wurde.

50 Prozent sagten, dass ihre Betriebsabläufe – wie zum Beispiel Störungen der Geschäftsmodelle oder der weltweiten Versorgungsnetze – direkt mit Ereignissen des Klimawandels zusammenhingen.

Schwerindustrie: klimaneutral ja, aber nicht zu schnell

Dessen ungeachtet stellte das deutsche Bundesumweltamt 2021 in einer Untersuchung fest, dass nur die Hälfte der deutschen Dax-Unternehmen zu den ökonomischen Risiken der Klimakrise berichten.

Die jüngste Deloitte-Umfrage von 2024 zeigt: Der Großteil der über 2000 befragten Führungskräften aus 27 Ländern weltweit priorisiert inzwischen das Thema Nachhaltigkeit in ihren Entscheidungen. 85 Prozent der Befragten gaben an, ihre Investitionen in den Bereich zu erhöhen, gegenüber 75 Prozent im letzten Jahr.

Dennoch sprechen in Brüssel auch jene vor, die weniger ambitionierten Klimaschutz bis 2040 fordern. Dazu gehören vor allem Unternehmen der europäischen Schwerindustrie, die deutsche Chemieindustrie, der Bund der deutschen Industrie, die europäische Zementindustrie, Öl- und Gaskonzerne.

Eine verzögerte Transformation der Wirtschaft wird dabei nicht nur Unternehmen treffen und Steuerzahlende Unsummen angesichts der Schäden der Klimakrise kosten.

Eine Studie von Wissenschaftlern des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) zeigt: Selbst wenn Treibhausgas-Emissionen ab heute drastisch reduziert würden, würde das globale Pro-Kopf-Einkommen bis 2050 um 19 Prozent schrumpfen.

Das entspricht rund 38 Billionen Dollar jährlich, also etwa dem sechsfachen der geschätzten Kosten für Klimaschutzmaßnahmen.

Entkopplung von Wachstum und CO2-Emissionen

Weltweit findet derweil eine Entkopplung des Wachstums von CO2-Emissionen statt. Von 2015 bis 2022 wuchs das globale Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 22 Prozent, während die Emissionen nur um sieben Prozent zunahmen. Dabei steigerten über 40 Länder ihr BIP und senkten gleichzeitig die Emissionen. Das zeigt eine Studie der OECD und den Vereinten Nationen von 2025. Diese Entwicklung hat seit den 1990 Jahren immer weiter Fahrt aufgenommen.

Die Investitionen in saubere Energie sind heute doppelt so hoch wie die in fossile Brennstoffe und bieten erschwingliche Klimalösungen, Innovation, Arbeitsplätze und Wachstum, heißt es darin. Die Märkte für saubere Energien seien rasch gewachsen, zunächst durch die Politik und dann durch die Marktnachfrage. Heute gebe es für 87 Prozent der Weltwirtschaft Netto-Null-Ziele.

Dabei haben sowohl Regierungen wie auch Regionen, Städte und Unternehmen Maßnahmen zur Begrenzung ihrer Treibhausgasemissionen ergriffen.

Gleichzeitig lasse derzeit das Momentum für Klimaschutz nach. "Eine unklare Politik birgt die Gefahr, dass sich private Investitionen verzögern und das BIP bereits 2030 um 0,75 Prozent sinkt," so die Autorinnen und Autoren.

Letztes Jahr empfahl die Europäische Kommission, die Emissionen bis 20240 um mindestens 90 Prozent gegenüber dem Stand von 1990 zu senken. Der entsprechende Gesetzesvorschlag wird noch vor der Sommerpause erwartet.

Er muss dann aber noch von den EU-Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament verhandelt werden. Einige Mitglieder des Europäischen Parlaments haben Bedenken geäußert, dass das vorgeschlagene Ziel zu ehrgeizig sein könnte. Das sehen immer größere Teile der Wirtschaft offenbar anders.

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Image caption Viele sind dafür, sie sind dagegen: Bauern protestierten vergangenes Jahr vor der EU-Kommission in Brüssel gegen mehr Klimaauflagen. Die Agarlobby unterstützt vor allem die industrielle Landwirtschaft und hält sich bei Emissionszielen zurück.
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Item 9
Id 18304388
Date 2025-06-11
Title Nagel-Kunst: Zum Tod von Günther Uecker
Short title Nagel-Kunst: Zum Tod von Günther Uecker
Teaser Er zählte zu den wichtigsten deutschen Künstlern der Gegenwart. Günther Uecker kannte die Welt. Und die Welt kannte ihn, weil seine Bildsprache als Maler und Objektkünstler universal war. Sein Werkzeug: der Hammer.
Short teaser Er zählte zu den wichtigsten deutschen Künstlern der Gegenwart. Sein Werkzeug: der Hammer.
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Nägel. Tausende handelsübliche Nägel. Alle einzeln auf ein mit Leinen bezogenes Holzbrett gehämmert. Manche grade, manche schräg, aber niemals komplett eingeschlagen. Jahr für Jahr fertigte Günther Uecker mindestens eins dieser Nagelreliefs an. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang. Vor allem diese Nagelbilder sind es, die Günther Uecker so bekannt gemacht haben - in Deutschland und auch international.

Nicht nur in Leinwände hat Uecker die Metallstifte getrieben, sondern auch in Nähmaschinen, Stühle, Schallplattenspieler oder Konzertflügel. Kaum ein anderer Künstler hat sein Werk so sehr dem Handwerk und der einfachen, körperlichen Arbeit gewidmet wie Günther Uecker.

Er war "Bildhauer" im wahrsten Sinne des Wortes. Er haute mit Wucht und Präzision Nägel in Bilder und Objekte und schaffte dadurch Reliefs - er selbst nannte sie Nagelfelder - die erst im Spiel mit Licht und Schatten ihre volle Wirkung erzielen.

Lebensgeschichte: Krieg und Frieden

Günther Uecker wurde am 13. März 1930 im Wendorf bei Schwerin geboren. Mit 15 Jahren, kurz vor Kriegsende, vernagelte er Fenster und Türen des Hauses mit Holzbrettern, um seine Mutter und seine Schwester vor der herannahenden russischen Armee zu beschützen. Von da an zogen sich Nägel wie ein roter Faden durch das Schaffen des Künstlers.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges blieb er zunächst in der DDR und studierte von 1949 bis 1953 Malerei und Bildende Kunst in Wismar. 1955 flüchtete er nach West-Berlin und landete schließlich in Düsseldorf, wo er von 1955 bis 1957 an der Kunstakademie bei Professor Otto Pankok studierte.

Während des Studiums lernte er die Künstler Heinz Mackund Otto Piene kennen. Deren Künstlergruppe ZERO schloß er sich 1961 an. Gemeinsam setzten sie programmatisch die Zeit auf Null - die "Stunde Null", mit der sie nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs einen Neuanfang machen wollten.

Zeitlose Kunst, genagelt und gemalt

Die avantgardistische Künstlergruppe wirkte weit über Deutschland und über ihre Zeit hinaus. Mit dem neuen Jahrtausend stießen die Ideen von ZERO wieder vermehrt auf Interesse in der Kunstwelt: Seitdem findet eine Renaissance der Avantgarde-Gruppe statt. Seit 2004 gibt es regelmäßig auf der ganzen Welt große Zero-Retrospektiven.

Der Martin-Gropius-Bau in Berlin widmete der Künstlergruppe ZERO im März 2015 eine große Ausstellung. 1966 ahnte niemand diesen zukünftigen Erfolg bis ins 21. Jahrhundert hinein: Die Gruppe ZERO löste sich nach kurzer Zeit wieder auf.

In über 60 Ländern hat Günther Uecker ausgestellt, in vielen dieser Länder leistete er mit seiner abstrakten Kunst Pionierarbeit. 2012 stellte Uecker als erster westlicher Künstler nach der iranischen Revolution in Teheran aus. 2007 hatte er seine Objekte bereits in China gezeigt.

Die Ausstellung in Peking war ursprünglich für 1994 geplant gewesen. Uecker wurde damals von der chinesischen Regierung zu einer Ausstellung in Peking eingeladen und hatte dafür die Konzept-Arbeit "Brief an Peking" (s. Foto unten) angefertigt.

Auf 19 großen, frei im Raum hängenden Leinentüchern stand die Menschenrechtserklärung der UN, zum Teil mit schwarzer Farbe überarbeitet und unkenntlich gemacht. Die Schau wurde daraufhin kurzfristig vom chinesischen Kulturministerium abgesagt. Das Volk sei noch nicht bereit für seine Kunst, so die Begründung damals. 18 Jahre später durfte er dann in China ausstellen.

Humanistische Künstlerideale

Der "Brief an Peking" ist nicht das einzige Werk, in dem sich Uecker konkret mit humanitären Missständen auseinandersetzte. Ein künstlerischer Appell gegen die Verletzung der Menschenrechte war auch die Arbeit "Verletzungsworte": Sie versammelte 60 Wörter, die von physischen und psychischen Wunden erzählen.

Die Kunst von Günther Uecker wird auf der ganzen Welt und in den unterschiedlichsten Kulturen verstanden - und geschätzt. Auf die Frage, was sie so universal macht, hatte Uecker seinen eigenen Erklärungsansatz: "Was man mir oft sagt, ist, dass der humane Charakter, der in meinem Werk erkennbar wird, die Menschen berührt."

Wiedersehen mit einer wichtigen Arbeit

Am 6. Juni 1962 starb sein Künstlerkollege Yves Klein mit nur 34 Jahren an einem Herzinfarkt. Der französische Künstler war nicht nur ein Freund, sondern auch der Schwager von Günther Uecker. Nachdem er in Paris Totenwache für Yves Klein gehalten hatte, schuf er ein Nagelrelief für den Avantgardekünstler, der vor allem durch sein "Yves Klein-Blau" und seine monochromen Arbeiten berühmt geworden ist.

Ueckers Hommage: eine weiße Leinwand, mit wenigen roten Farbpigmenten grundiert, in die sparsam Nägel gesetzt sind. Anders als seine sonstigen Reliefarbeiten ist es heller, hat weniger Nägel, die konzentriert in der Mitte gesetzt sind.

Erst 50 Jahre später, beim Aufbau der großen Uecker-Schau 2015 in der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf, hat der Künstler diese Arbeit, die damals ein privater Sammler gekauft hatte, zum ersten Mal wiedergesehen. Ein Geschenk zu seinem damaligen 85. Geburtstag.

Uecker war stolz, dass sein Werk so zeitlos und aktuell geblieben ist: "Die Bilder haben von mir so weit Abstand genommen, dass ich sie unbefangen betrachten kann, wie der Besucher einer Ausstellung."

Tiefenbohrung durch ein vielschichtiges Werk

Seiner mecklenburgischen Heimat blieb Uecker immer eng verbunden. Noch in hohem Alter gestaltete er vier große blaue Glasfenster für den Schweriner Dom, die im Dezember 2024 eingeweiht wurden.

Am Dienstag, den 10. Juni 2025, ist Günther Uecker in Düsseldorf gestorben - in der Stadt, die bis zuletzt das Zentrum seines Schaffens war. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) würdigte ihn als "einen der wichtigsten und einflussreichsten Künstler der deutschen Nachkriegsgeschichte".

Sein Nachlass ist in professionellen Händen: Für das Forschungsprojekt "Werksverzeichnis Günther Uecker" wurden alle seine Arbeiten und Schriften systematisch geordnet und erfasst. Der Künstler war über diese kunsthistorische "Tiefenbohrung" hoch erfreut. Sein letztes eigenes Werkverzeichnis stammte aus den 1980er Jahren.

Dies ist die aktualisierte Fassung eines Artikels zu seinem 90. Geburtstag.

Item URL https://www.dw.com/de/nagel-kunst-zum-tod-von-günther-uecker/a-18304388?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Noch im hohen Alter war er künstlerisch aktiv: Günther Uecker 2024 im Schweriner Dom
Image source Markus Scholz/dpa/picture alliance
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Item 10
Id 72787687
Date 2025-06-11
Title VW in Brasilien: Die Schatten der Vergangenheit
Short title VW in Brasilien: Die Schatten der Vergangenheit
Teaser Brasilien ist einer der wichtigsten Auslandsstandorte von Autobauer VW. Doch über den Niederlassungen Volkswagens hängt ein dunkler Schatten: Menschenrechtsverletzungen und Ausbeutung waren lange an der Tagesordnung.
Short teaser Bei VW in Brasilien waren Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung.
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Vor zwei Jahren konnte der deutsche Autobauer Volkswagen sein 70. Jubiläum als "brasilianischer" Autohersteller feiern. Am 23. März 1953 hatte ihr südamerikanischer Ableger in einem Lager in São Paulo seine Arbeit aufgenommen. Kurz darauf entstand das Anchieta-Werk, das erste Volkswagen-Werk außerhalb Deutschlands, wie die brasilianische Onlinezeitung heycar.com.br berichtet.

"Volkswagen do Brasil vollendet 70 Jahre technologische Innovation und Pioniergeist," so VW-Brasilien-Chef Ciro Possobom zum Jubiläum 2023. VW habe seine seine Werke in Brasilien modernisiert, neue Technologien entwickelt und ist heute eine Marke, die viel näher am Menschen ist."

Im Jahr darauf gaben die Wolfsburger bekannt, dass sie ihr Brasilien-Engagement - der Konzern unterhält dort vier Standorte - weiter ausbauen: War bis dahin geplant, bis 2026 sieben Milliarden Reais zu investieren, sollen nun bis 2028 insgesamt 16 Milliarden Reais (das sind rund drei Milliarden Euro) in das brasilianische Unternehmen gesteckt werden, das berichtete die Website automobil-produktion.de vor einem Jahr.

VW will mit Autos und Rindern verdienen

Wirtschaftlich eine gute Investition - von Anfang an. Und nicht nur mit Autos, auch mit Rindern wollte VW Geld machen. Dazu hatten die Niedersachsen 1974 in Cristalino, 2200 Kilometer vom Firmensitz in São Paulo entfernt, einen landwirtschaftlichen Betrieb (die "Fazenda Volkswagen") aufgebaut.

Doch ausgerechnet dort, weit entfernt vom Trubel der Metropole, bekam das Bild von VW Risse. Christopher Kopper, Historiker an der Universität Bielefeld hat zur Geschichte von VW do Brasil geforscht. Im Gespräch mit der DW sagt er: "VW wurde schon in den Achtziger Jahren wegen der Behandlung der Arbeiter auf der Fazenda zur Rede gestellt."

2016 war Kopper vom Volkswagenkonzern mit der Erstellung eines Gutachtens zur Rolle von Volkswagen während der brasilianischen Militärdiktatur beauftragt worden. Im März 1964 hatte sich dort eine Militärjunta an die Macht geputscht und das Land in den folgenden 21 Jahren mit harter Hand unterdrückt.

Auf der Farm wurde nur für VW-Beschäftigte gut gesorgt

Mit dem Aufbau der Farm hatte Volkswagen einen Agrarökonomen aus der Schweiz, Friedrich-Georg Brügger, beauftragt. Der beschäftige sowohl Mitarbeiter vom VW-Konzern wie auch lokale Kräfte und Subunternehmer für sein ehrgeiziges Agrar-Projekt. Wie ehrgeizig und rücksichtslos Brügger vorging, enthüllte Jahre später ein Fernsehbericht des ARD-Weltspiegels.

Für die VW-Beschäftigten, so Christopher Kopper, war immer gut gesorgt: "Sie hatten eigene Häuser, eigene Schulen, eine Krankenstation. Aber für die Arbeiter der Subunternehmen traf das gar nicht zu. Die arbeiteten unter Bedingungen, die eine Schuldknechtschaft auf Zeit war."

Eine Unterscheidung, an der Volkswagen immer festgehalten habe, so Kopper. Die Manager hätten sich immer "damit herausgeredet, dass sie für die Behandlung der Arbeitskräfte von Subunternehmen keine Verantwortung getragen hatten". Gleichzeitig hätten sie stets "darauf verwiesen, dass die Stammarbeiter der Fazenda, die direkt bei VW angestellt waren, unter den dort herrschenden Bedingungen gut hätten leben können."

Das dunkle Geheimnis: VW und die Diktatur

Die Zustände auf dem Landgut fanden nicht unter den Augen der Öffentlichkeit statt und auch das Ende des Versuches machte keine Schlagzeilen. "Die Fazenda", resümiert Historiker Kopper, "hatte von Beginn an ökonomisch keine Chance. Das Projekt war defizitär."

Weit erschütternder als die Zustände auf der Fazenda war, was Kopper über die Einstellung des Konzerns zur herrschenden Militärjunta herausfand: "VW hat mit dem Sicherheitsapparat der Diktatur eng zusammengearbeitet. Das traf für das Stammwerk südlich von São Paulo zu und für die anderen Werke."

Kopper sah, dass die Zustände auf der Fazenda nur ein Ausschnitt eines größeren, viel düsteren Bildes waren. So hatte der Werkschutz von VW do Brasil mit der Militärdiktatur zusammengearbeitet. VW-Mitarbeiter duldeten Verhaftungen und Misshandlungen durch die Militärpolizei und beteiligten sich sogar daran. "Die Korrespondenz mit dem Vorstand in Wolfsburg zeigt bis 1979 eine uneingeschränkte Billigung der Militärregierung", so Kopper zum Ergebnis der Studie.

Schatten der Vergangenheit reicht bis in die NS-Zeit

Solche Umstände sind in jeder Firma ein Skandal - doch bei Volkswagen ist so etwas noch um einiges schlimmer, wenn man an die unheilvolle Konzerngeburt in der Hitler-Diktatur denkt: Gegründet im NS-Staat durch NS-Organisationen hatte der Konzern während des Zweiten Weltkrieges Tausende Zwangsarbeiter ausgebeutet und misshandelt.

Hatten die Verantwortlichen in Wolfsburg, dem VW-Stammsitz, denn gar nichts gelernt? Natürlich kam sofort der Verdacht auf, dass nur ein Jahrzehnt nach dem Ende von Krieg und Diktaturin Deutschland auf einem anderen Kontinent das gleiche Unrecht wiederholt werden sollte.

Management mit teils dunkler Vergangenheit

Eine unheilvolle Kontinuität will Christopher Kopper nicht von der Hand weisen: "Das würde ich für das Management von VW do Brasil eingeschränkt bejahen." Das hätte vor allem persönliche Gründe, seien doch die Manager der Fünfziger- und Sechzigerjahren in jungen Jahren "noch Wehrmachtsoffiziere gewesen und NSDAP-Mitglieder".

Für den Mann, der die brasilianische VW-Tochter von 1971 bis 1984 leitete, Wolfgang Sauer, habe das aber nicht zugetroffen: "Er war dazu noch zu jung." Er sei nicht der nationalsozialistisch-militärisch Tradition verhaftet gewesen, sondern eher "der Tradition des in Brasilien herrschenden autoritären Paternalismus: Man gibt den Arbeitern Sozialleistungen, aber man ist auch nicht bereit, einen unabhängigen Betriebsrat zu akzeptieren."

Die gesellschaftliche und juristische Aufarbeitung der Geschichte Volkswagens in der brasilianischen Militärdiktatur ist noch lange nicht abgeschlossen. So stehen noch weitere, gerichtliche Auseinandersetzungen um Entschädigungen und Schuldanerkenntnisse von VW an. Erst wenn die abgeschlossen sind, kann man auch in Wolfsburg dieses Kapitel schließen.

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Image caption VW in Brasilien - eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte, auch in der Zeit der Militärdiktatur von 1964 bis 1985
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Item 11
Id 72863029
Date 2025-06-10
Title USA: Trump setzt bei Machtkampf mit Los Angeles auf Militär
Short title USA: Trump setzt bei Machtkampf mit Los Angeles auf Militär
Teaser Wieder ein Tabubruch: US-Präsident Trump setzt Nationalgarde und Marinesoldaten gegen die Proteste in Los Angeles, Kalifornien, ein. Doch die Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei sind in Kalifornien unerwünscht.
Short teaser Tabubruch von Trump: Der US-Präsident setzt Nationalgarde und Marinesoldaten gegen Demonstranten in Los Angeles ein.
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Bis hierhin und nicht weiter. Der Gouverneur des US-Bundesstaates Kalifornien, Gavin Newsom, will US-Präsident Donald Trump Grenzen setzen.

Newsom reichte Klage gegen die Trump-Regierung ein, weil US-Verteidigungsminister Pete Hegseth ohne die Zustimmung Kaliforniens Truppen der Nationalgarde nach Los Angeles entsandt hatte. Der Befehl für den Einsatz der Nationalgarde liegt im Normalfall bei den jeweiligen Bundesstaaten.

"Ich habe die Trump-Administration aufgefordert, die unrechtmäßige Stationierung von Truppen im Bezirk Los Angeles rückgängig zu machen und diese meinem Kommando zu unterstellen", erklärte Newsom am 9. Juni via X. Und er fügt hinzu: "Wir hatten kein Problem, bis Trump sich einmischte."

Los Angeles gegen Washington

Es scheint, als ob der US-Bundesstaat im Südwesten der USA zum Hort des Widerstands gegen Präsident Trump avanciert. In Los Angeles demonstrierten am Montag Hunderte von Menschen gegen Massenabschiebungen.

Die Bürgermeisterin von Los Angeles, Karen Bass, forderte die Trump-Regierung auf X auf, "die Razzien" zu beenden. "In Los Angeles greift die Angst um sich. Eltern, Arbeiter, Großeltern, junge Menschen haben Angst, ihrem Alltag nachzugehen. Wir sind eine Stadt der Einwanderer. Washington greift unsere Bevölkerung und unsere Wirtschaft an", postetesie.

US-Justizministerin Pam Bondi und Trump hingegen bezeichneten die Demonstranten in Los Angeles als "professionelle Agitatoren und Aufständische". Die Nationalgarde sei dazu da, die Polizisten in Los Angeles zu beschützen.

"Wenn die Justiz in Kalifornien Männer und Frauen der Polizeibehörde der Stadt Los Angeles nicht gegen Aufständische beschützt, können wir gegen diese Leute vorgehen", erklärte Bondi in einem Interview mit dem TV-Sender Fox News.

Massenverhaftungen und Abschiebungen

Während der Machtkampf zwischen Trump und Newsom eskaliert, streiten Experten darüber, ob der US-Präsident überhaupt das Recht hat, Militär gegen Zivilisten einzusetzen.

Grund der Auseinandersetzungen sind Razzien sowie Verhaftungen und Massenabschiebungen von Migranten ohne gültigen Aufenthaltstitel. Seit Trumps Amtsantritt im Januar hat die US-Einwanderungsbehörde ICE(United States Immigration and Customs Enforcement) nach Berichten US-amerikanischer Medien über 100.000 irreguläre Migranten in den USA verhaftet.

In Kalifornien ist nach Angaben des Public Policy Instituterund jeder dritte Einwohner im Ausland geboren. Die meisten Zugewanderten leben in den großen Metropolregionen an der Pazifikküste - so wie in Los Angeles.

Newsom: "Wir werden klagen"

Nach dem Ausbruch der Demonstrationen berief US-Präsident Trump am Samstag Truppen der Nationalgardeein. Die Streitkräfte sollen Beamte der Einwanderungsbehörde ICE sowie öffentliche Gebäude schützen.

Der Befehl sieht die Entsendung von mindestens 4000 Soldaten der Nationalgarde für mindestens 60 Tage vor. Außerdem kündigte das Pentagon am Montag zusätzlich die Entsendung von 700 Marinesoldaten an.

Kaliforniens Gouverneur Newsom will auch gegen die Entsendung von Marinesoldaten vor Gericht ziehen. "Die US-Marines sind keine politischen Spielfiguren. Wir werden klagen, um das zu stoppen", schrieb er in den sozialen Medien.

Wird Trump das "Aufstandsgesetz" nutzen?

Laut Experten ist die Rechtslage zum Einsatz von US-Streitkräften auf amerikanischem Boden nicht eindeutig. Trump beruft sich auf das US-Gesetzbuch, Abschnitt 12406 von Titel 10, wonach der Präsident Mitglieder und Einheiten der Nationalgarde und unter bestimmten Umständen in den Bundesdienst einberufenkann, unter anderem während einer Rebellion gegen die Autorität der Bundesregierung.

Genau dieser Gesetzestext (Abschnitt 12406) besagt jedoch auch, dass Befehle für die Einberufung der Nationalgarde "durch die Gouverneure der Bundesstaaten erteilt werden" - eine Vorschrift, die US-Verteidigungsminister Pete Hegseth ignorierte, da er die kalifornische Nationalgarde ohne vorherige Benachrichtigung von Kaliforniens Gouverneur Newsom einberief.

Allerdings ermächtigt ein US-Gesetz aus dem Jahr 1807, der sogenannte "Insurrection Act" (Aufstandsgesetz), den US-Präsidenten, die Nationalgarde "bei einer Rebellion gegen die Autorität der Vereinigten Staaten" auch ohne eine Benachrichtigung der jeweiligen Gouverneure einzuschalten. Auf dieses Aufstandsgesetz hat sich Trump bisher nicht berufen.

Über die Marine hat Trump nach Ansicht von Rechtsexperten nach Titel 10 und in seiner verfassungsmäßigen Rolle als Oberbefehlshaber der Streitkräfte mehr direkte Befugnisse als über die Nationalgarde. Doch solange Trump sich nicht auf das Aufstandsgesetz beruft, unterliegt auch dieser Befehl rechtlichen Beschränkungen.

"Es gibt keinen Notstand"

"So etwas gab es noch nie", erklärt Juliette Kayyem, Juristin und Migrationsexpertin in einem Interview mit der BBC. "Ja, es gab Gewalt", räumte sie ein. "Aber wir haben keinen Notstand oder eine solche Art von Krise, wie sie der Präsident und seine Minister zeichnen", so die ehemalige stellvertretende Sekretärin für zwischenstaatliche Angelegenheiten im US-Heimatschutzministerium.

Seit der Bürgerrechtsbewegung in den 60er Jahren, als sich die Gouverneure der Südstaaten den gerichtlichen Anordnungen zur Aufhebung der Rassentrennung in den öffentlichen Schulen widersetzten, haben US-Präsidenten keine Bundestruppen mehr ohne die Zustimmung der Gouverneure eingesetzt.

Mit der Zustimmung der Bundesstaaten wurde das Aufstandsgesetz das letzte Mal im Jahr 1992 angewandt. Damals baten der Gouverneur von Kalifornien, Pete Wilson, und der Bürgermeister von Los Angeles, Tom Bradley, den damaligen US-Präsident George H.W. Bush um Amtshilfe. Denn nach dem Freispruch von Polizeibeamten, die auf den schwarzen Autofahrer Rodney King eingeprügelt hatten, waren in Los Angeles Unruhen ausgebrochen.

Dieser Artikel wurde aktualisiert.

Item URL https://www.dw.com/de/usa-trump-setzt-bei-machtkampf-mit-los-angeles-auf-militär/a-72863029?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption In Los Angeles kam es am Wochenende zu Zusammenstößen zwischen Nationalgarde und Demonstrierenden. Die Truppen wurden ohne Absprache mit dem Gouverneur eingesetzt
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Item 12
Id 72700682
Date 2025-06-10
Title Spanien: Zu wenig Wohnungen, zu viele Touristen
Short title Spanien: Zu wenig Wohnungen, zu viele Touristen
Teaser Befristet vermietete Wohnungen verschärfen die Wohnungsnot in Spanien. Die Nachfrage von Investoren treibt zudem die Preise nach oben. Für viele Einheimische ist das verheerend, ihre Wut wächst.
Short teaser Die Nachfrage von Investoren und befristet vermietete Wohnungen treiben Mieten in Spanien hoch - Einheimische leiden.
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Der Immobilienmakler Juan Sanchez (Name wurde von der Redaktion geändert) öffnet die dicke milchige Glastür zu einer Wohnung, die früher ein Laden war und wo der Besucher von der Straße direkt in die Küche tritt. Die Decken sind sehr hoch. "Hier können Sie eine Zwischendecke einziehen," sagt Sanchez. Die zwei annoncierten Schlafzimmern befinden sich im Keller. Einer der winzigen Räume hat noch nicht einmal ein Fenster.

"Das Ganze können Sie locker für 1300 Euro an Studenten vermieten", so der Makler. Es gebe allerdings einen Haken: "Der Platz unten ist offiziell nur als Lager im Grundbuch angeben, da haben wir keine Lizenz bekommen, aber das ist beim Vermieten kein Problem", versichert er. Über 300.000 Euro soll die 55-Quadratmeter-"Wohnung" in einem zentral gelegenen Madrider Mittelklasse-Viertel kosten.

Die hohen Preise sind diesmal nicht wie 2005 das Ergebnis von niedrigen Kreditzinsen. Sie werden derzeit getrieben von finanzstarken ausländischen Investoren, die in den seit Jahren hochrentablen und sicheren Wohnungsmarkt in Spanien und in den boomenden Tourismus investieren wollen. Es gibt viel weniger Angebot als Nachfrage, sagt die spanische Bank BBVA.

In Folge haben viele Spanierinnen und Spanier Probleme, die Miete zu finanzieren und viele Unterkünfte werden an internationale Touristen und Studenten zeitlich begrenzt vermietet. So gehen immer wieder die Menschen auf den Kanaren, in Barcelona oder Madrid auf die Straße und protestieren gegen die Wohnungsnot und Überfremdung.

Der Wohnungsmangel in Spanien wird auch von Einheimischen getrieben

Inzwischen bieten Unternehmen wie habitacion.com sogar Zimmer zum Verkauf an. Für die linke Mieter-Lobby Sindicatos de Inquilinas hat das alles mit wildem Spekulieren zu tun, vor allem von Ausländern und Investmentfonds. Dort schätzt man, dass es über 4 Millionen leere Wohnungen und 400.000 Ferienwohnungen in dem 46 Millionen-Einwohner-Land gibt.

Verschärft wird die Angebotsknappheit auf dem Wohnungsmarkt noch durch die Einheimischen selber. Es gibt über 2,5 Millionen nur sporadisch genutzten Wohnungen in Spanien, so das spanische Statistikinstitut INE. Man kann davon ausgehen, dass ein großer Teil Zweit- oder sogar Drittwohnsitze spanischer Familien sind, die auch zu Urlaubszwecken genutzt werden, aber meist nicht gerne an Dritte vermietet werden.

Privatinvestoren und Hedgefonds haben dagegen weniger Angst vorm Vermieten, vor allem die temporären Verträge werden bei ihnen immer beliebter. Lässt man Vermietungen an Touristen außen vor, machten im ersten Quartal 2025 Wohnungen, die zeitlich befristet vermietet wurden, 14 Prozent des Gesamtmarktes aus – das entsprich einem Anstieg von 25 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, wie die spanische Immobilien-Plattform idealista schreibt.

Den größten Anstieg des zeitlich befristeten Wohnungsangebots erlebten Städte wie Bilbao (36 Prozent), gefolgt von Alicante (33 Prozent), Barcelona (29 Prozent) und Madrid (23 Prozent), heißt es bei Idealista. Die spanische Ministerin für Wohnungsbau und Städteplanung, Isabel Rodríguez, hat jedoch im Mai ein Signal gesetzt: Sie hat der Plattform Airbnb mitgeteilt, dass sie knapp 66.000 Wohnungsangebote ohne Lizenz löschen müssen, wie die Zeitung El País berichtete.

Laut einer Gesetzesinitiative von Rodríguez soll künftig, wer in Spanien Urlaub macht, 21 Prozent Mehrwertsteuer beim Mieten von Apartments bezahlen müssen, das wäre doppelt so viel wie für ein Hotelzimmer. Sindicatos de Inquilinas reicht das nicht.

Gefährliche Blase mit sozialen Auswirkungen?

Wie vor der Finanzkrise heizt sich der spanische Immobilien-Markt wieder gefährlich auf. Kostete ein Haus 2014 noch im Durchschnitt rund 138.000 Euro, hat dieselbe Immobilie im Jahr 2024 einen Wert von 178.700 Euro, laut MD Capital. In Regionen wie den Balearen hat sich dieser Preis sogar mehr als verdoppelt.

"Das führt zwangsläufig zu Protesten bei der einheimischen Bevölkerung", sagt der in Palma arbeitende Immobilien-Anwalt Tim Wirth gegenüber der DW. Er glaubt, dass Vermieten wieder attraktiver gemacht werden muss: "Steuerlich und rechtlich abgesichert für beide Seiten."

Er erkennt aber die brisanten sozialen Probleme der aktuellen Lage. Denn während die spanischen Immobilienpreise im letzten Jahrzehnt zwischen 29 und 34 Prozent gestiegen seien, habe sich das Durchschnittsgehalt nur um etwas mehr als 23 Prozent erhöht. Dadurch sei eine Lücke entstanden, die vielen Spaniern den Zugang zu Wohnraum erschwere, glaubt MD Capital.

Anders als in Paris oder London erhalten in Spanien Arbeitnehmer keinen Zuschlag aufs Gehalt, wenn die Preise für Wohnen besonders hoch sind. Das Durchschnittsgehalt in Spanien lag im Jahr 2024 laut Datosmacros bei 2642 Euro brutto pro Monat. Eine durchschnittliche Wohnung mit 80 Quadratmetern würde jedoch nach Angaben des spanischen Immobilienportals Fotocasa um die 1.100 Euro pro Monat kosten. In Städten wie Madrid oder Barcelona liegt der durchschnittliche Preis für die Größe schon bei 1400-1500 Euro.

Zu viele internationale Besucher, zu wenig Sozialer Wohnungsbau

Es sind vor allem die rund 90 Millionen internationale Touristen pro Jahr, die nach Spanien kommen, die digitalen Nomaden auf den Kanaren und in Barcelona, die internationalen Studenten in Madrid und die vielen lateinamerikanischen Investoren mit viel Geld, die den spanischen Markt überlaufen und damit auch immer mehr Widerstand bei den sonst sehr ausländerfreundlichen Spaniern auslösen.

Im Studienjahr 2024–2025 kamen laut des Kurzfrist-Mietportals Spotahome allein über 118.000 Studierende und Lehrkräfte vom Programm Erasmus+ nach Spanien. Hinzukommen die vielen internationalen Studenten aus der ganzen Welt, die an den knapp 90 Universitäten und den Dutzenden Business Schools im Land studieren.

Studentenwohnheime nach deutschem Muster gibt es nicht, auch kein Bafög. Ein Grund, warum Spanier das Elternhaus statistisch erst mit über 30 Jahren verlassen (Stand 2023, Eurostat). In Deutschland dagegen suchen sich junge Menschen im Schnitt mit knapp 24 Jahren ein eigenes Zuhause.

Beim sozialen Wohnungsbau liegt Spanien zudem in Europa weit hinten. Im vergangenen Jahr wurden nach offiziellen Angaben 14.371 Sozialwohnungen gebaut. Laut dem spanischen Wohnungsbauministeriums hat Spanien zwischen 2007 und 2021 34 Euro pro Einwohner für Sozialwohnungen bereitgestellt - deutlich weniger als der EU-Durchschnitt von 160 Euro, heißt es im Online-Nachrichtenportal Infobae.com.

Die Mieter-Lobby Sindicatos de Inquilinas droht mit Zoff, wenn die Regierung nicht stärker durchgreift: "Wir werden mit lautstarken Protesten wieder zurückholen, was leer steht oder an Touristen vermietet wird," lässt die Lobby die DW wissen.

Item URL https://www.dw.com/de/spanien-zu-wenig-wohnungen-zu-viele-touristen/a-72700682?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption In Spanien demonstrieren viele Einheimische gegen die hohen Immobilienpreise
Image source Clara Margais/dpa/picture alliance
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Item 13
Id 72764005
Date 2025-06-10
Title Saudi-Arabien: Ein neues Zentrum der Hightech-Produktion?
Short title Saudi-Arabien: Ein neues Zentrum der Hightech-Produktion?
Teaser Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate konnten hohe US-Zölle vermeiden. Nun versuchen sie sich als attraktive Produktionsstandorte für Hightech zu etablieren.
Short teaser Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate wollen sich als Produktionsstandorte für Hightech etablieren.
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"Made in Saudi Arabia": Seitdem US-Präsident Donald Trump hohe Zölle auf Waren aus China und anderen asiatischen Ländern verhängt hat, findet dieser Slogan immer mehr Anhänger in der Region.

Saudi-Arabien solle versuchen, sich an die Stelle Chinas als Produzent von in den USA benötigten Produkten zu etablieren, schrieb die Historikerin Ellen Wald, Autorin des 2018 erschienenen Buches "Saudi, Inc.: The Arabian Kingdom's Pursuit of Profit and Power", im April auf der Webseite Middle East Eye.

Tatsächlich sind die Golfstaaten in einer guten Position: Während China und andere Länder, darunter Vietnam und Thailand, durch die von Trump verfügten Zollerhöhungen geschwächt sind, wurden die meisten Golfstaaten, darunter Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), nur mit Zöllen in Höhe von zehn Prozent belegt.

Neue "Schlüsselländer" in Nahost?

Sowohl Saudi-Arabien als auch die VAE versuchen derzeit, ihre Wirtschaft vom Erdöl unabhängig zu machen. Darum setzen sie auf eine moderne Fertigungsindustrie, insbesondere im Hightech-Bereich. Die VAE haben die "Operation 300 Milliarden" ins Leben gerufen. Diese zielt darauf ab, den Beitrag des lokalen Industriesektors zum Nationaleinkommen auf 300 Milliarden VAE-Dirham (72 Milliarden Euro) zu steigern. Saudi-Arabien will mit der "Vision 2030" die lokale Produktion und Industrie entwickeln.

Medienberichten zufolge suchen einige der weltweit größten Technologieunternehmen, darunter die US-Marken Dell und HP, Standorte für neue Fabriken in Saudi-Arabien. Das chinesische Unternehmen Lenovo baut im Königreich eine Fabrik für die Montage von Computern und Servern und das saudische, mit rund 100 Milliarden Dollar (88 Milliarden Euro) staatlich finanzierte Unternehmen Alat arbeitet mit der japanischen SoftBank Group im Bereich der Industrierobotik zusammen. Offenbar haben die Saudis zudem das chinesische Unternehmen Foxconn umworben, einen wichtigen Zulieferer für Apples iPhones, ebenso auch das taiwanesische Unternehmen Quanta, das Computer und Computerteile für Unternehmen wie Dell herstellt.

Standorte mit Vor- und Nachteilen

"Länder wie Saudi-Arabien könnten sich als Anlaufstellen für Unternehmen positionieren, die höheren Zöllen entgehen oder Unsicherheiten in ihrem ursprünglichen Umfeld abmildern wollen", sagt Nader Kabbani vom Middle East Council on Global Affairs (ME Council) mit Sitz in Katar.

Saudi-Arabien habe viele Eigenschaften, die zu dieser Entwicklung beitragen könnten. "Das Land verfügt über reichhaltige natürliche Ressourcen, darunter auch Öl. Es hat einen großen Binnenmarkt. Es liegt zentral und dient als Brücke zwischen Asien, Afrika und Europa", so Kabbani zur DW. Die Regierung unterstütze zudem Bemühungen zur wirtschaftlichen Diversifizierung. "Außerdem verfügt das Land über eine recht gut ausgebaute Infrastruktur und ist bereit, Arbeitsmigranten aller Qualifikationsstufen ins Land zu lassen."

Die Region habe durchaus einige Vorteile, sagt auch Frederic Schneider, auch er vom ME Council. So verfügten die Golfstaaten über eine große Logistikbranche. Zudem erhöben einige Länder niedrige oder überhaupt keine Steuern. Da die lokalen Währungen an den schwächelnden US-Dollar gekoppelt seien, könnten ihre Exporte billiger und damit wettbewerbsfähiger werden.

Allerdings gibt es auch eine lange Liste potenzieller Nachteile. "Die bestehende Fertigungsindustrie ist derzeit noch relativ schwach entwickelt und beschränkt sich weitgehend auf Sektoren, die mit der Öl- und Gaswirtschaft in Verbindung stehen", sagt Schneider. Wollten die Saudis im Bereich der Hightech-Fertigung konkurrieren, müssen sie sich gegen Länder wie China, Südkorea, Taiwan, Japan, Deutschland und die Schweiz behaupten. In Sektoren mit einfacherer Technologie konkurrierten sie mit Malaysia, Indonesien und Vietnam.

Saudische Zukunftspläne: Risiken und Kritik

Es gibt noch weitere Probleme, so Schneider weiter. So führe etwa der Umstand, dass immer mehr Ausländer in den zuvor konservativen Golfgemeinden arbeiteten, zu kulturellen Spannungen. Zudem erwärme sich die Region durch den Klimawandel schneller als andere Teile der Erde. Auch seien eine Reihe geopolitischer Konflikte, etwa zwischen dem Iran und den USA, nicht gelöst.

"Auch die Projektrisiken sind beträchtlich", so Schneider weiter. "Zwar ist die Region bestrebt, technologische Innovationen zu präsentieren. Doch viele davon werden nicht realisiert." In diesem Zusammenhang verweist er auf erfolglose Drohnentaxis und Reisen per Hyperloop sowie auf fehlgeschlagene Investitionen in Kryptowährungen und aufgegebene oder verkleinerte Bauprojekte.

Die Aktivistengruppe Never Neom übt zudem heftige Kritik an den saudischen Zukunftsplänen. "Von diesen Plänen gibt es vage Investitionsankündigungen - meist verbunden mit ausländischen Partnerschaften und Projekten, die noch auf dem Papier stehen", schreibt Never Neom auf seiner Website. Die Gruppe weist zudem darauf hin, dass jegliche Kritik an der Regierung willkürliche Verhaftungen und lange Haftstrafen nach sich ziehen kann.

Gefahr durch möglichen Handelskrieg

Die Regierungen in Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten bauen zwar zunehmend neue Fabriken mit der Folge, dass Wirtschaftsaktivitäten ohne Bezug zum Öl jedes Jahr einen größeren Beitrag zum Nationaleinkommen leisten. Doch könnten höhere internationale Zölle und ein möglicher Handelskrieg alle Fortschritte zunichte machen.

Den Golfstaaten droht aufgrund der niedrigeren Ölpreise das Geld auszugehen, um ihre ehrgeizigen Pläne umzusetzen. Darum sind in Saudi-Arabien die inländischen Steuern gestiegen. Dies könnte den Kostenvorteil der Sonderwirtschaftszonen gefährden, sagt Frederic Schneider vom ME Council. Zudem dürfte eine globale Konjunkturabschwächung die Ölpreise zusätzlich sinken lassen und sich auch auf die Rolle der Region als Logistikzentrum auswirken.

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

Item URL https://www.dw.com/de/saudi-arabien-ein-neues-zentrum-der-hightech-produktion/a-72764005?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Als Produktionsstandort für Hightech offenbar begehrt: Saudi-Arabien
Image source Fayez Nureldine/AFP via Getty Images
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Item 14
Id 72827353
Date 2025-06-09
Title Das Netzwerk der Rechtspopulisten in Mitteleuropa
Short title Das Netzwerk der Rechtspopulisten in Mitteleuropa
Teaser Die Wiederwahl von Donald Trump und eigene Erfolge an den Wahlurnen geben europäischen Rechtspopulisten Aufschwung. Sie schließen sich zusammen, um stärkere Allianzen aufzubauen. Welche Rolle spielt dabei Viktor Orbán?
Short teaser Die Wiederwahl von Donald Trump und eigene Erfolge an den Wahlurnen geben europäischen Rechtspopulisten Aufschwung.
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Die CPAC Hungary 2025 war gut besucht. Führende - und angehende - Politiker und Politikerinnen aus dem gesamten rechtspopulistischen politischen Spektrum Europas trafen sich kürzlich zur vierten Ausgabe der US Conservative Political Action Conference (CPAC) in der ungarischen Hauptstadt Budapest.

Dort machten sie ihrem Unmut über eine Bedrohung der nationalen Souveränität Luft, die in ihren Augen von der EU und dem "Gender- und Woke-Wahn" ausgeht, und riefen das neue "Zeitalter der Patrioten" aus. Höhepunkt der Veranstaltung war die Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban. Von seinen Zuhörern waren einige rund um den Globus gereist, um teilnehmen zu können.

Orban feierte das Chaos, das der "Trump-Tornado" mit sich gebracht habe und rief alle "Konservativen" auf, die sich dadurch eröffnenden Chancen zu ergreifen: "Wir müssen nach Hause gehen und jeder muss seine eigenen Wahlen gewinnen. Nach Amerika werden auch wir Europäer uns unsere Träume zurückholen und Brüssel besetzen."

Orban inszeniert sich als leuchtendes Vorbild für Gleichgesinnte

Auf dem Podium in Budapest waren führende Politiker von Deutschlands AfD, Spaniens Vox und der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) vertreten, doch auch wenn diese Parteien bei vergangenen Wahlen deutliche Zugewinne verzeichnen konnten, werden nur wenige europäische Staaten von rechten und rechtspopulistischen Parteien regiert. Osteuropa ist hier eine Ausnahme.

Ebenfalls im Rampenlicht stand das prominente Trio aus Mitteleuropa: der slowakische Ministerpräsident Robert Fico, der ehemalige und möglicherweise zukünftige tschechische Ministerpräsident Andrej Babis und der ehemalige polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki.

Orban hat hart daran gearbeitet, die Region zu einer Drehscheibe für Rechtspopulisten zu machen. Dabei hat er ein Netzwerk geschaffen, das seinen Erfolg als leuchtendes Vorbild für gleichgesinnte Politiker und Parteien in der ganzen Welt verbreitet.

Rechte Netzwerke von Ost nach West gespannt

"In Europa findet jetzt ein transnationales Lernen von Ost nach West statt, was ziemlich ungewöhnlich ist", stellt Daniel Hegedus von German Marshall Fund of the United States (GMFUS) im Gespräch mit der DW fest.

Nicht nur Orban und CPAC haben viel dazu beigetragen, sondern auch von Regierungen finanzierte und betriebene Lobbyisten-Netzwerke sowie politische und religiöse Graswurzelorganisationen, die sich in der Region und darüber hinaus ausgebreitet haben.

Sie alle helfen dabei, rechtspopulistische Kräfte miteinander zu vernetzen und aneinander zu binden, um ihre Botschaft in eine breitere Öffentlichkeit zu tragen.

Ungarn und Polen als zentrale Achse der Nationalisten

Im Zentrum dieser Einflussnetzwerke sitzen von der ungarischen Regierung finanzierte Institutionen. Zu ihnen zählen das Danube Institute, das Mathias Corvinus Collegium (MCC) und das Center for Fundamental Rights, das die CPAC Hungary 2025 ausrichtete.

Mit Zweigstellen in der ganzen Region und darüber hinaus organisieren diese Institutionen Veranstaltungen, die gleichgesinnte Akademiker und Akademikerinnen, Aktivisten und Aktivistinnen zusammenbringen. Sie unterhalten nicht nur in Ost- und Mitteleuropa, sondern auch in Brüssel und Großbritannien Mediendienste, unter anderem The European Conservative, Brussels Signal und Remix.

Das MCC betreibt Bildungseinrichtungen in Ungarn, der Slowakei und in Österreich und arbeitet mit zur katholischen Kirche gehörenden, extrem konservativen Gruppierungen wie der polnischen Ordo Iuris zusammen.

Ungarn und Polen bilden die zentrale Achse dieses Netzwerks, wie Zsuzsanna Szelenyi, ehemalige Abgeordnete von Orbans Partei Fidesz und Gründungsdirektorin des Demokratie-Instituts der Zentraleuropäischen Universität (CEU), der DW erklärt.

Extreme Rechte hofft auf Kettenreaktion

Analysten der in Budapest ansässigen Denkfabrik Political Capital zufolge sollen diese Netzwerke "eine Kettenreaktion auslösen und Änderungen auf gesamteuropäischer Ebene herbeiführen". So sollen Bemühungen der EU, Orbans Angriff auf die Demokratie ein Ende zu setzen, gestoppt und das Überleben seiner Regierung gesichert werden.

"Die europäische Ausgabe von CPAC zeigt, wonach sich die globale extreme Rechte sehnt: Macht wie die von Viktor Orban", sagt Klara Dobrev, Europa-Abgeordnete der sozialliberalen Oppositionspartei Demokratische Koalition (DK).

Zweifellos dient Ungarns starker Mann Viktor Orban vielen als Beispiel. Jene, die seinem Drehbuch folgen wollen, blicken mit Bewunderung auf die Machtfülle, die er in Ungarn genießt.

Mit einem neuen "Transparenzgesetz" will Orban seine Macht noch vertiefen. Das Gesetz würde es seiner Regierung erlauben, alle Organisationen auf eine schwarze Liste zu setzen, die ihrer Einschätzung nach "die Souveränität Ungarns bedrohen, indem sie mit ausländischen Mitteln Einfluss auf das öffentliche Leben nehmen".

Kritiker warnen, der von repressiven russischen Gesetzen inspirierte Gesetzesentwurf würde jede Kritik im Keim ersticken. Sie fürchten außerdem, dass andere Regierungen dem ungarischen Beispiel folgen könnten.

"Wir arbeiten mit Partnern in vielen anderen europäischen Ländern zusammen", sagte Marta Pardavi von der regierungsunabhängigen Organisation Hungarian Helsinki Committee am 28. Mai bei einer Online-Podiumsdiskussion des Think Tanks German Marshall Funds über das geplante Transparenzgesetz. "Sie wissen genau, dass solche Gesetze anderswo reproduziert werden können. Die EU ist nicht nur ein Binnenmarkt, sie wird zu einem illiberalen Markt."

Abschreckende Wirkung auf NGOs in der Slowakei

Seit Robert Fico 2023 in der Slowakei wieder an die Macht kam, hat er ähnliche, wenn auch weniger strenge Gesetze durchgesetzt. Besonders ins Visier nahm er dabei "politische Nichtregierungsorganisationen" wie Via Iuris, einer Organisation, die sich für die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in der Slowakei einsetzt.

Katerina Batkova ist Geschäftsführerin von Via Iuris. Sie berichtete von der abschreckenden Wirkung, die die Gesetze haben. Bei den Organisationen mache man sich Sorgen, wie man die neuen Regelungen einhalten könne. Diese scheinen absichtlich vage gehalten, um den Behörden die Möglichkeit zu geben, hart durchzugreifen.

Hat die Zeit der Rechtspopulisten in Europa begonnen?

Auch wenn es Orbans Netzwerken gelungen ist, rechtsextreme Narrative in den europäischen Mainstream zu verschieben, versucht er seit Jahren vergeblich, funktionierende internationale Bündnisse zu schaffen. Wie standsicher sich die Fraktion der "Patrioten für Europa" im Europaparlament erweisen wird und ob sie ihm den erhofften Einfluss auf die EU-Gesetzgebung verschaffen kann, bleibt abzuwarten. Immerhin nahmen keine führenden Politiker und Politikerinnen der französischen extremen Rechten an der CPAC Hungary 2025 teil.

Durch die Wiederwahl von US-Präsident Donald Trump haben sich die Beziehungen und die Koordinierung mit rechtspopulistischen und nationalistischen Gruppierungen in den USA vertieft. Welche Impulse Trump den Rechtspopulisten in Europa tatsächlich geben kann, ist jedoch noch lange nicht klar. Zwar rief US-Ministerin für Heimatschutz Kristi Noem in ihrer Rede bei der CPAC Polen vor der Präsidentschaftswahl die polnischen Wähler und Wählerinnen dazu auf, für Karol Nawrocki zu stimmen, an der CPAC Hungary 2025 nahmen jedoch keine hochrangigen Vertreter der USA teil.

Adaption aus dem Englischen: Phoenix Hanzo

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Image caption Im Februar trafen sich die "Patrioten für Europa" in Madrid
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Item 15
Id 72788788
Date 2025-06-09
Title Putins Angriff auf Europa: Wegwerf-Agenten, Sabotage und Mord
Short title Putins Angriff auf Europa: Wegwerf-Agenten, Sabotage, Mord
Teaser 2024 war Europa Schauplatz von mehr als 40 russischen Geheimdienstoperationen - ein sprunghafter Anstieg im Vergleich zu 2021, vor dem Einmarsch in die Ukraine. Doch was steckt dahinter? Welche Ziele verfolgt Moskau?
Short teaser Die Zahl russischer Geheimdienstoperationen in Europa hat sprunghaft zugenommen. Welche Ziele verfolgt Moskau?
Full text

Sabotageakte gegen westliche Waffenlieferungen für die Ukraine, prorussische Propaganda und sogar Mord: Die Liste russischer Geheimdienstoperationen in Europa wird immer länger. Seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 würden kontinuierlich mehr Fälle gezählt, so eine Studie der niederländischen Universität Leiden.

Er verstehe die Untersuchung seines Teams als "Weckruf" für die Politik in Europa, schreibt Studienleiter Bart Schuurman. Der Sicherheitsexperte leitet die Forschungsgruppe Terrorismus und politische Gewalt der Leidener Universität.

Terroranschläge gegen die Luftfahrt

Russland sei nicht nur verantwortlich für "erhebliche Schäden an der europäischen Energie- und Telekommunikationsinfrastruktur", sondern auch für "Terroranschläge auf die Zivilluftfahrt und Bedrohungen für öffentliche Versorgungsbetriebe, die tausende Menschen gefährden könnten", so Schuurman.

Der Brandanschlag auf einen Luftfracht-Container des deutschen Logistikunternehmens DHL kurz vor der Verladung in ein Flugzeug zeigt, dass die mutmaßlich russischen Hintermänner auch Personenschäden in Kauf nehmen.

Russland bediene sich wie im Kalten Krieg aus dem ganzen Werkzeugkasten geheimdienstlicher Maßnahmen, sagt Gerhard Conrad, ein früherer Agent des deutschen Bundesnachrichtendienstes (BND), im DW-Interview. Es gehe um "Verunsicherung der Bevölkerung" genauso wie "Ausspähungsaktivitäten gegenüber militärisch relevanten Zielen, das heißt von der Rüstungsindustrie bis zu Bundeswehrstandorten", sagt Conrad.

Neue Qualität: Rekrutierung von "Wegwerf"-Agenten

Der ehemalige Geheimdienstler sitzt heute im Vorstand des Vereins "Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland". Die dort organisierten Ex-Agenten können offener sprechen als die Profis im Dienst.

Neu sei die Rekrutierung sogenannter "Wegwerf-Agenten", sagt Conrad. Dabei handelt es sich häufig um Russland-Sympathisanten, die in den EU-Staaten gegen Bargeld angeworben werden, um für Unruhe zu sorgen. Fliegen solche Mitarbeiter auf, ist der Schaden für die russischen Geheimdienste gering.

In Deutschland wurden vor der Wahl zum nationalen Parlament, dem Bundestag, vermehrt derartige Guerilla-Aktionen von Freizeit-Saboteuren bekannt. Aber auch um Militärstandorte mit Drohnen auszuspähen rekrutiert Russland mittlerweile solche Hobby-Spione.

Verschärfte Bedrohung durch Russland schon seit 2014

Die wachsende Bedrohung durch Russland sei "nicht erst seit 2022" zu erkennen, sagt Ex-Agent Conrad, "sondern spätestens seit 2014". Damals hatte Russland nach der pro-europäischen Maidan-Revolution die ukrainische Halbinsel Krim annektiert und Soldaten in die Region Donbass im Osten der Ukraine geschickt.

Den Menschen in Europa müsse klar sein, dass die Bedrohung durch Russland nicht morgen vorbei sei, ist der frühere BND-Mitarbeiter Conrad überzeugt. Deutschland und Europa müssten sich auf eine langfristige "Abwehr hybrider Bedrohung" einstellen.

Die EU-Staaten müssten nicht nur militärisch aufrüsten, sondern auch bei ihren Geheimdiensten. "Dazu brauchen Sie viel Personal, sie brauchen viele technische Möglichkeiten, auch rechtliche Möglichkeiten, um diese Strukturen, diese Angriffsstrukturen frühzeitig zu erkennen", erklärt Conrad. Nur so könnten die hybriden Angriffe Russlands frühzeitig erkannt werden.

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Image caption Spionage-Drohnen über Infrastruktur und Militärgelände: Die Bedrohung durch russische Geheimdienstaktionen in Europa steigt exponentiell.
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Item 16
Id 72846162
Date 2025-06-09
Title Ozeankonferenz in Nizza: Staaten ringen um mehr Meeresschutz
Short title Ozeankonferenz in Nizza: Staaten ringen um mehr Meeresschutz
Teaser Die UN haben an die Côte d'Azur gerufen. 130 Staaten sind gekommen, um einen Rettungsplan für die Meere aufzustellen. Aber ein Abkommen ist in Aussicht.
Short teaser Die UN haben an die Côte d'Azur gerufen. 130 Staaten sind gekommen, um einen Rettungsplan für die Meere aufzustellen.
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Überhitzt, übersäuert, vermüllt: Die Weltmeere befinden sich im Stresszustand. Nun droht auch noch wachsender Tiefseebergbau. Dabei gibt es viele Gründe, sorgsam mit den empfindlichen Ozeanen umzugehen.

Um die Meere zu schützen, nehmen die Vereinten Nationen nun einen weiteren Anlauf. Bis zum Freitag wollen 130 Staaten in Nizza im Süden Frankreichs jahrzehntelangen Versprechungen konkrete Taten folgen lassen. Auf der 3. UN-Ozeankonferenz (UNOC) am Mittelmeer geht es um einen Rettungsplan für die Meere.

Gastgeber Emmanuel Macron forderte zum Auftakt an diesem Montag ein entschlossenes Vorgehen beim Schutz der Meere: "Es braucht schnelles Handeln, kein Zurückweichen", rief der französische Präsident den Vertretern der Weltgemeinschaft zu.

Hochseeabkommen in Sicht

Macron stellte in Aussicht, dass das seit langem geplante Hochseeabkommen der Vereinten Nationen schon bald wirksam wird. Etwa 15 weitere Staaten hätten sich verpflichtet, das Abkommen bis Ende des Jahres zu ratifizieren. Damit werde die Schwelle von 60 Ländern erreicht, sodass die Vereinbarung in Kraft treten könne. "Das Abkommen wird umgesetzt werden, das ist geschafft", sagte Macron am Montag in Nizza.

Die Vereinbarung würde es ermöglichen, Schutzgebiete in internationalen Gewässern auszuweisen, die bislang ein weitgehend rechtsfreier Raum waren. Dies ist eines der Themen, die auf der bis Freitag dauernden UN-Ozeankonferenz in Nizza debattiert werden.

Nach Einschätzung des gemeinnützigen Marine Conservation Instituts sind aktuell gerade einmal 2,7 Prozent der Ozeane effektiv vor zerstörerischen Rohstoffabbauaktivitäten geschützt. Das ist weit weniger als das im Rahmen der 30x30-Initiative vereinbarte Ziel, so das Glen Ellen in Kalifornien ansässige Institut.

Die 30x30-Initiative sieht vor, 30 Prozent der Land- und Meeresflächen bis zum Jahr 2030 zu schützen. "Die Hohe See darf nicht zum neuen Wilden Westen werden", betonte UN-Generalsekretär António Guterres in Nizza.

Macron und die Manganknollen

Der französische Präsident forderte zum Beginn der UNOC ein Moratorium für den Tiefsee-Bergbau. Der Meeresboden ist an vielen Orten rohstoffreich. Aber das Ökosystem der Tiefsee, wo Pflanzen und Tiere hohem Wasserdruck in absoluter Dunkelheit trotzen, gilt als äußerst empfindlich. Flora und Fauna dort sind noch weitgehend unerforscht, die Auswirkungen von menschlichem Einwirken kaum abzuschätzen.

Frankreich und bislang 30 weitere Länder fordern beim Bergbau am Grund der Ozeane zunächst innezuhalten. "Es wäre verrückt, eine wirtschaftliche Ausbeutung des Tiefseebodens zu starten, die die Artenvielfalt zerstören würde", mahnte Macron. Ein Moratorium sei daher "eine internationale Notwendigkeit", so der französische Präsident.

Einen Seitenhieb gegen die USA, die nach langem Zögern einen Vertreter nach Nizza geschickt haben, konnte sich Macron in diesem Zusammenhang nicht verkneifen: "Der Meeresgrund steht nicht zum Verkauf, genau so wenig wie Grönland zu haben ist", sagte der Gastgeber mit Blick auf Bestrebungen von US-Präsident Donald Trump, Tiefseebergbau voranzutreiben und die größte Insel der Welt zu annektieren.

Auf der Konferenz an der Côte d'Azur soll die Koalition der 31 Staaten weiter ausgebaut werden, die für eine vorsorgliche Pause beim Tiefsee-Bergbau eintreten. Auch Deutschland unterstützt dies. Wissenschaftler befürchten, dass der Abbau sogenannter Manganknollen unberührte Unterwasser-Ökosysteme dauerhaft zerstören könnte.

Deutschland kündigt Selbstverpflichtung an

"Die Ozeane sind die blaue Lunge des Planeten. Sie erzeugen Sauerstoff, versorgen uns Menschen mit Nahrung und sind das größte zusammenhängende Ökosystem der Welt", betonte der deutsche Umweltminister Carsten Schneider in Nizza. Die internationale Zusammenarbeit zum Schutz der Meere sei unverzichtbar.

Schneider will in Nizza mehrere Selbstverpflichtungen der Bundesregierungen vorlegen. Dazu zählt etwa die Bergung von Altmunition aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg in Nord- und Ostsee. Zudem sollen Partnerländer, darunter Brasilien, Indonesien und der Senegal, dabei unterstützt werden, Schutzgebiete auf der Hohen See auszuweisen.

Auf der UN-Konferenz geht es außerdem darum, die im August anstehende Verhandlungsrunde für ein Plastikabkommen vorzubereiten. "Was wir Menschen den Meeren zurückgeben, ist viel zu oft nur unser Plastikmüll. Das muss sich ändern", so der Bundesumweltminister. Es sei gut, dass der Ozean mit der UN-Konferenz "endlich die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient".

Um das Hochseeabkommen zu ratifizieren, müssen in Deutschland gleich zwei Gesetze verabschiedet werden. Ob dies bis Ende des Jahres geschehen kann, ist unklar. "Ziel ist es, bei der ersten Vertragsstaatenkonferenz dabei zu sein", sagte ein Sprecher des Bundesumweltministeriums. Diese könne im August 2026 in New York stattfinden.

Schutz vor Schleppnetzen

Großbritannien kündigte am Montag an, die Schleppnetzfischerei weiter einzuschränken. Denn diese Art Fischfang schädigt den Meeresboden und setzt zudem klimaschädliches CO2 frei. Die britischen Schutzgebiete, in denen Schleppnetzfischerei verboten ist, sollen ausgeweitet werden: von derzeit 18.000 auf 48.000 Quadratkilometer.

Gastgeber Frankreich hatte ebenfalls angekündigt, die Schleppnetzfischerei einzuschränken - allerdings auf niedrigerem Niveau: Sie soll künftig in vier Prozent der französischen Gewässer verboten sein, statt wie bisher in 0,1 Prozent. Umweltschützer bezeichnen das als unzureichend.

AR/pgr (afp, dpa, rtr)

Redaktionsschluss: 17:30 Uhr (MESZ) - dieser Artikel wird nicht weiter aktualisiert.

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Image caption Blick aufs Mittelmeer bei Nizza
Image source Annika Hammerschlag/AP Photo/picture alliance
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Item 17
Id 72821721
Date 2025-06-09
Title Wie geht es unseren Ozeanen?
Short title Wie geht es unseren Ozeanen?
Teaser Klimawandel, Plastikmüll, Fischfang – die Weltmeere stehen unter Stress. Aber sie sichern Klima und Wetter, schlucken Treibhausgase und sind der größte Lebensraum der Welt. Wie können wir sie ausreichend schützen?
Short teaser Die Ozeane, der größte Lebensraum der Welt, stehen immer mehr unter Stress. Wie können wir sie ausreichend schützen?
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Die Weiten des Meeres sind das Zuhause von über 250.000 Arten – vom winzigen Plankton, bis zu riesige Korallenriffen oder dem Blauwal, dem größten Säugetier auf dem Planeten. Und für mehr als eine Milliarde Menschen ist das Meer die wichtigste Nahrungsquelle.

Um die Ozeane zu schützen, versammelt sich an der Cote d'Azur im französischen Nizza die internationale Gemeinschaft zur UN-Ozeankonferenz. Was sind die wichtigsten Baustellen?

Wärmere Meere bedeuten weniger Lebewesen

Große Teile des Unterwasserlebens stehen dem Spiel, weil sich die Erde erwärmt. Mit zunehmender Temperatur bleichen Korallen aus und sterben ab. Mittlerweile sind 84% aller Riffe weltweit davon betroffen. Würden sich die Weltmeere im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter um 1,5°C erwärmen, würden die meisten Riffe absterben.

"Ab 2°C wäre die Zerstörung unumgänglich," sagt Katja Matthes, die das GEOMAR-Forschungszentrum in Kiel leitet. Weil warmes Wasser weniger Sauerstoff aufnehmen kann, sind viele weitere Lebewesen in Gefahr.

Neue Forschungsergebnisse zeigen, dass sich das Meer inzwischen sogar bis in eine Tiefe von 2000 Metern erwärmt. "In Folge geht Plankton, Fischen und Meeressäugetieren der Sauerstoff aus. Wir sehen Todeszonen wie hier in der Ostsee in Deutschland, wo praktisch kein Leben mehr stattfinden kann."

Zu viel Fischfang setzt Meeressystem unter Stress

Das marine Ökosystem ist auch von übermäßigem und unregulierten Fischfang bedroht. Der Umweltverband WWF geht davon aus, dass sich die Anzahl der überfischten Arten in den letzten 50 Jahren verdreifacht hat. Wenn zu viel gefischt wird, können sich Bestände nicht ausreichend erneuern.

Vor allem im Mittelmeer wird das Problem sichtbar. Dort gelten weit mehr als die Hälfte der Bestände als überfischt. Heringe, Sardinen und Sardellen landen besonders häufig in den Netzen.

"Dadurch wird die Nahrungskette größerer Meeressäuger und damit ein ganzes Ökosystem gestört," analysiert Matthes. Das betrifft nicht zuletzt auch unsere Existenzgrundlage: Fische sind die wichtigste Proteinquelle für über eine Milliarde Menschen.

Weltweit sind rund 600 Millionen Menschen – vor allem in China, Indonesia and Indien – ökonomisch vom Meer abhängig.

Bis 2050 mehr Plastik als Fische im Ozean

Nach Hochrechnungen wird 2050 das Gewicht aller Fische zusammen von etwas anderem übertroffen: Plastikabfälle im Meer. Jedes Jahr kommen zwischen acht und zehn Millionen Tonnen neuer Plastikmüll dazu, schätzt das World Resources Institute, eine Non-Profit-Umweltorganisation mit Sitz in Washington. Dabei dauert es teils hunderte Jahre, bis sich die Bestandteile zersetzt haben. Der langlebige Müll und die Mikroplastik-Partikel machen Meereslebewesen immer mehr zu schaffen.

Die Temperatur der Meere beeinflusst auch das Wetter

Die Meerestemperatur hat auch Auswirkungen auf das Wetter und die Lufttemperaturen. So werden etwa die Monsunzeit in Südamerika und Asien oder das relativ milde Wetter in Europa wesentlich durch globale Meeresströmungen beeinflusst.

Der Golfstrom etwa bringt als Teil der Atlantischen Umwälzzirkulation warmes Wasser von den Tropen zum Nordatlantischen Ozean. Das beeinflusst auch die meist milden Lufttemperaturen und damit die hohen Erträge der Landwirtschaft in Europa.

Steigende Temperaturen können laut Forschern das Strömungssystem der Ozeane verändern. Es gibt Anzeichen, dass sich schon jetzt der Golfstrom verlangsamt. Ohne ihn wäre es in Nordeuropa fünf bis 15 Grad kälter, berechnet das Umweltbundesamt.

Ozeane: Verbündete im Kampf gegen den Klimawandel

2023 und 2024 hat die Temperatur der Meeresoberfläche neue Rekorde aufgestellt, so der neueste Copernicus-Report. Copernicus ist das Erdbeobachtungssystem des Weltraumprogramms der Europäischen Union. Und je wärmer Wasser wird, desto mehr dehnt sich es sich aus. Das ist der wichtigste Grund, warum der Meeresspiel immer weiter steigt.

Das Meer erwärmt sich, weil es Kohlenstoffdioxyd (CO2) und weitere Treibhausgase aufnimmt – knapp ein Drittel der menschengemachten Emissionen. Dadurch stabilisiert es das Klima. "Ohne diese Speicherfunktion wäre die Temperatur in der Atmosphäre schon jetzt unerträglich", erklärt Carlos Duarte. Er forscht an der King Abdullah Universität in Saudi-Arabien zu Meeresthemen.

"Der Ozean ist unser Verbündeter im Kampf gegen den Klimawandel", sagt Katja Matthes, "aber nur, solange wir seine Funktion erhalten." Denn mit steigender Wassertemperatur kann das Wasser immer weniger CO2 speichern.

Und mit steigendem Kohlenstoffgehalt versauert das Meer zunehmend, erklärt Matthes weiter, "dadurch sterben Muscheln und Korallen." Sich an die immer saureren Bedingungen anzupassen, fällt vielen Lebewesen schwer. So fehlt ihnen an anderer Stelle Energie – beispielsweise für Wachstum und Fortpflanzung.

Wie werden die Meere aktuell geschützt?

Um diesen Gefahren entgegenzuwirken, errichten Staaten sogenannte Meeresschutzzonen. Die größte davon liegt an der Küste des US-Bundesstaates Hawaii.

Wie genau dieser Schutz aussieht, ist von Land zu Land unterschiedlich. Oft dürfen dort keine Windparks errichtet oder Fischerei betrieben werden. Aktuell gibt es in weniger als neun Prozent der Weltmeere Schutzzonen – aber in nur drei Prozent davon ist die Fischerei verboten.

Ein Ziel: weniger Plastik in den Meeren

"Wir können nicht alle Probleme mit Meeresschutzzonen beseitigen. Dem Klimawandel oder dem Plastik, was im Meer treibt, sind diese Zonen egal," merkt Duarte an.

Um die Plastikverschmutzung einzudämmen, will die UN seit Jahren ein internationales Abkommen beschließen. Die Verhandlungen darüber, die zuletzt am Widerstand großer Öl-Nationen wie Saudi-Arabien und Russland scheiterten, werden im August 2025 in der Schweiz weitergeführt.

Zudem wird schon lange an Alternativen zu herkömmlichem Plastik geforscht. Japanische Forscher haben einen Stoff entwickelt, das sich innerhalb von Stunden im Salzwasser der Meere auflösen soll. Aber für die bereits bestehenden riesigen Mengen an Plastikmüll bieten solche Ansätze keine Lösung .

Wer darf die Ressourcen der Ozeane ausbeuten?

Knapp 40 Prozent der Meeresflächen werden durch nationales Recht verwaltet. Das sind die Gebiete, die in einem Umkreis von etwa 370 Kilometern um einen Staat liegen. Danach beginnt die Hohe See. Sie gehört allen, und wird daher oft das "gemeinsame Erbe der Menschheit” genannt.

Lange wurde dieser Raum gar nicht reguliert. "Dadurch wurden viele Ressourcen der Ozeane geplündert ohne dass jemand zur Verantwortung gezogen wurde," sagt Duarte. So ist beispielsweise nur ein Prozent der Hohen See geschützt, weil sich die Staaten auf keine weitere Region außer der Antarktis einigen konnten. Diese Lücke soll das Internationale Hochseeabkommen schließen.

Nach 15 Jahren Verhandlungen wurde es 2023 von den meisten Staaten der Erde unterzeichnet. Damit sind diese aber noch nicht an die Vereinbarung gebunden. Dazu muss es von mindestens 60 Staaten ratifiziert werden – aktuell haben das erst 31 getan, darunter viele kleine Staaten, aber auch Bangladesch und Frankreich. Deutschland und die USA fehlen.

Auch die Artenvielfalt soll geschützt werden, darauf hat sich die internationale Staatengemeinschaft geeinigt.

Bis 2030, also in nur fünf Jahren, sollen 30 Prozent der Meere unter Schutz stehen. Ein ambitioniertes Ziel, sagt Duarte. "Bis sich unsere jetzigen Handlungen in Zukunft bemerkbar machen, wird es dauern."

Trotzdem ist er optimistisch. "Wenn wir uns jetzt auf diesen Schutz einigen, dann werden wir unseren Kindern und Enkelkindern im Jahre 2050 einen Ozean überlassen können, der ungefähr so aussieht wie der, den unsere Großeltern kannten."

Item URL https://www.dw.com/de/wie-geht-es-unseren-ozeanen/a-72821721?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Das Meer bietet unzähligen Lebensformen Schutz und Nahrung und einzigartige Lebensräume
Image source Reinhard Dirscherl/imageBROKER/picture alliance
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Item 18
Id 72836195
Date 2025-06-09
Title Warum kauft die EU immer noch russischen Dünger?
Short title Warum kauft die EU immer noch russischen Dünger?
Teaser Russischer Dünger ist in den letzten Jahren trotz des Krieges in der Ukraine für die europäischen Bauern wichtiger geworden. Brüssel scheint sich schließlich mit dem Thema zu befassen - doch nicht alle sind überzeugt.
Short teaser Europa importiert mehr und mehr russischen Dünger. Brüssel scheint sich nun schließlich mit dem Thema zu befassen.
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Wenn es in den letzten Jahren in der Europäischen Union (EU) um russische Importe ging und wie sie reduziert werden können, war der Fokus immer auf Gas und Öl gerichtet. Doch Russland ist auch ein großer Produzent und Exporteur von Düngemitteln. Landwirte und Lebensmittelproduzenten verwenden sie, um Pflanzen und Kulturen mit Nährstoffen zu versorgen.

Während die EU russisches Öl und Gas weitgehend von ihrer Importliste gestrichen hat, hat sie seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine im Februar 2022 ihre Düngemittelkäufe aus Russland erhöht. Der Anteil Russlands an den Düngemittelimporten der EU ist von 17 Prozent im Jahr 2022 auf etwa 30 Prozent gestiegen. Allein im Jahr 2024 stiegen die Importe um mehr als 33 Prozent auf rund 1,75 Milliarden Euro.

Import von russischem Dünger steigt und steigt und steigt

Laut dem MIT Observatory of Economic Complexity - einer Plattform für detaillierte Handelsdaten - ist Russland der größte Dünger-Exporteur weltweit. Während die Hauptabnehmer Indien und Brasilien sind, machten russische Exporte in die EU im Jahr 2023 rund 13 Prozent aus.

Anfang dieses Monats unterstützte das Europäische Parlament den Vorschlag der EU-Kommission, Zölle von 6,5 Prozent auf Düngemittelimporte aus Russland und Belarus zu erheben. Der Plan sieht zudem vor, die Zölle bis 2028 schrittweise auf 50 Prozent zu erhöhen.

Was macht russischen Dünger so günstig?

Viele EU-Staaten benötigen stickstoffbasierte Düngemittel, da sie nicht nur reich an Stickstoff, sondern auch an wichtigen Nährstoffen wie Phosphor und Kalium sind. Russland ist genau auf diese Düngemittel spezialisiert, ihre Herstellung erfordert große Mengen Erdgas als Rohstoff und Energiequelle.

Der Geografie-Professor William Moseley ist Mitglied des UN-Expertengremiums für Ernährungssicherheit. Er sagte der DW, dass Russland diese Nachfrage besonders gut bedienen könne, da es billiges Gas zur Herstellung von Dünger nutzen könne - zu deutlich niedrigeren Preisen als europäische Wettbewerber.

Die europäische Düngemittelbranche kritisiert, dass Russland mit diesem billigen Dünger den EU-Markt "überschwemme". Als die Energiepreise in Europa infolge der Ukraine-Invasion stark stiegen, mussten viele europäische Hersteller von stickstoffbasierten Düngemitteln die Produktion einstellen oder reduzieren. Nun haben sie Marktanteile an Russland verloren und kämpfen ums Überleben.

Welche Alternativen gibt es zu russischem Dünger

Laut William Moseley zeigen die Zollpläne der EU, dass sie es ernst meint mit dem Ziel, sich bis 2028 von russischem Dünger unabhängig zu machen. "Das wird die EU-Länder zwingen, anorganischen Dünger aus anderen Quellen zu beziehen", sagte er gegenüber der DW. Als mögliche Alternativen nannte er China, Oman, Marokko, Kanada oder die USA.

Weitere Optionen für die EU seien laut Moseley die Nutzung eigener Quellen für stickstoffbasierten Dünger - was jedoch wegen des hohen Gasbedarfs sehr teuer wäre - oder der verstärkte Einsatz von organischem Dünger aus Mist und kompostierten Abfällen. Diese Option sei "nachhaltiger und besser für den Boden", fügte er hinzu.

Auch die EU will in diese Richtung gehen - hin zu Düngemitteln, die aus tierischen Exkrementen verarbeitet werden. Christophe Hansen, EU-Kommissar für Landwirtschaft und Ernährung, sagte im Februar, dass der Viehsektor "einen positiven Beitrag zur Kreislaufwirtschaft leisten" könne, da organischer Dünger "im Inland erzeugt wird, nicht importiert werden muss und nicht auf hohen Energiepreisen wie Gas basiert".

Drei Jahre Zeit, um die Dünger-Abhängigkeit zu beenden

Moseley glaubt, dass die geplanten EU-Zölle auf Düngemittel russische Importe schrittweise vom EU-Markt verdrängen werden. "Bis 2028 werden die Zölle so hoch sein, dass es wirtschaftlich nicht mehr rentabel ist, anorganischen Dünger aus Russland und Belarus in die EU zu importieren."

Mit der schrittweisen Erhöhung der Zölle über drei Jahre soll den EU-Landwirten Zeit gegeben werden, Alternativen zu finden - insbesondere, wenn sie bereits stark von russischem Dünger abhängig sind.

Skepsis und Hoffnungen bei den Landwirten

In einer Stellungnahme zum EU-Zollplan sagte Leo Alders, Präsident des Branchenverbands Fertilizers Europe, dass die steigenden Importe russischer Düngemittel nach Europa zu lange "den fairen Wettbewerb untergraben und Druck auf heimische Produzenten ausgeübt" hätten. Er ist überzeugt, "dass europäische Produzenten europäische Landwirte auch in Zukunft mit hochwertigen, nachhaltigen Düngemitteln versorgen können".

Die Landwirte hingegen sind skeptisch, weil sie das Gefühl haben, dass die EU keine realistischen, bezahlbaren Alternativen zu russischem Dünger entwickelt hat. "Wir können es uns nicht leisten, die wirtschaftliche Tragfähigkeit der Landwirtschaft oder die Ernährungssicherheit von Millionen Menschen in der EU weiter zu gefährden", heißt es von Copa und Cogeca, den beiden großen landwirtschaftlichen Dachverbänden in der EU.

Item URL https://www.dw.com/de/warum-kauft-die-eu-immer-noch-russischen-dünger/a-72836195?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Ohne Dünger geht es nicht in der Landwirtschaft - aber woher soll er kommen?
Image source A. Hartl/blickwinkel/picture alliance
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Item 19
Id 72783711
Date 2025-06-09
Title Bachs Johannespassion - einmal queer, einmal arabisch
Short title Bachs Johannespassion - einmal queer, einmal arabisch
Teaser Gewalt gegen queere Menschen, Krieg und Flucht in Gaza. Zwei Adaptionen von Johann Sebastian Bachs Johannespassion greifen diese Themen auf. Die Macher haben bewegende Erfahrungen gemacht.
Short teaser Gewalt gegen queere Menschen, Krieg und Flucht in Gaza: Zwei Adaptionen von Bachs Johannespassion erzählen davon.
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Neun Jahre ist es her - das "Attentat von Orlando". Bei dem Angriff auf eine Bar der LGBTQ-Szene am 12. Juni 2016 starben im US-Bundesstaat Florida 49 Menschen, 53 wurden verletzt. Nur einer von vielen Fällen der Gewalt gegen queere Menschen. Autor, Regisseur und Dramaturg Thomas Höft erzählt die Geschichte gleich zu Beginn seiner "QueerPassion", begleitet von dem Orchester Art House 17, mit historischen Instrumenten.

Als musikalische Grundlage dient Höft Johann Sebastian Bachs berühmte Johannespassion, die musikalische Darstellung der Leidensgeschichte von Jesus Christus. Höft beschreibt in seinem Libretto allerdings Geschichten von diskriminierten und ermordeten queeren Menschen. "Ich habe auch gedacht, wo komme ich als queerer Mann vor in der klassischen Musik? Eigentlich gar nicht, das wurde alles verachtet und verboten", sagt Höft im Gespräch mit der DW. Genau das wollte er ändern.

"Arabian Passion" - Bach auf Arabisch

Bachs Johannespassion war auch Vorlage für den bulgarischen Musiker und Musikwissenschaftler Vladimir Ivanoff. Ihm geht es um die Menschen, die im Geburtsland von Jesus Christus im Nahen Osten leben und deren Leid durch Kriege, Vertreibung und Unterdrückung eine lange Geschichte hat. Anlass zu seiner "Arabian Passion" war 2003 der Einmarsch der USA in den Irak, der verheerende Folgen für die zivile Bevölkerung hatte. "Und so geht es mir jetzt ähnlich mit Gaza. Ich hatte mehrere Musikstudenten aus dem Nahen Osten in Workshops bei mir, von denen ich nur noch sporadisch weiß, dass sie noch leben", sagt Ivanoff der DW.

Den Text und die Noten von Johann Sebastian Bach hat Ivanoff im Original belassen, aber einige der Instrumente stammen aus dem arabischen Mittelmeerraum. Dazu singt die libanesische Sängerin Fadia El-Hage alle Bach-Arien auf Arabisch.

Bach selbst war ein Meister der Wiederverwertung

Sowohl die arabische, als auch die queere Passion sind auf Tournee. Sie werden unter anderem im Rahmen des Bachfests in Leipzig (12. bis 22. Juni) aufgeführt, das dieses Jahr unter dem Motto "Transformation" steht. In Leipzig hat Johann Sebastian Bach im Amt als Thomaskantor 1724 seine berühmte Johannespassion komponiert.

Seine Kantaten hat Bach oft selbst umgetextet oder in anderen Besetzungen spielen lassen. So hat er etwa weltliche Kantaten später mit einem geistlichen Text versehen und somit in einen anderen Kontext gestellt. In der Musikwissenschaft wird das als "Parodieverfahren" bezeichnet. Darauf bauen Thomas Höft und Vladimir Ivanoff mit ihren "Passionen" auf.

Brückenbauer zwischen Okzident und Orient

Vladimir Ivanoff hat für seine "Arabian Passion" Stücke aus der Johannespassion sowie aus Bachs Matthäuspassion neu kombiniert. Statt Orchester und Chor ist neben seinem Ensemble Sarband zudem auch das jazzige Modern String Quartett dabei. Hinzu kommen die Instrumente aus dem Mittelmeerraum, etwa die Kurzhalslaute Ud, die Flöte Ney oder die arabische Geige. Ivanoff sieht sich als Brückenbauer und will mit Musik den Okzident und den Orient verbinden.

Allein die Tatsache, christliche Texte der Johannespassion auf Arabisch zu singen und noch dazu von einer Frau, ist für strenggläubige Muslime allerdings eine Provokation. Umso erstaunlicher, dass Vladimir Ivanoff mit seinem Ensemble Sarband bei westlichen und arabischen Musikfestivals gleichermaßen ein gern gesehener Gast ist.

"Musikalische Guerilla"

Seit 2003 ist das Ensemble Sarband mit ihrer Arabischen Passion nach Johann Sebastian Bach auch im Nahen Osten unterwegs. Sie spielten in der Kathedrale von Beirut oder im syrischen Aleppo. "Wir haben die Passion auch in Damaskus im Alhambra Kino aufgeführt, in einem sehr berühmtem Jazzkonzertsaal", so Ivanoff.

In Abu Dhabi waren sie im Rahmen des "Sheikh Zayed Book Award" eingeladen. Dem Emir hatte ihre Musik gefallen. Erst kurz vor der Veranstaltung fiel auf, dass eine Sängerin vorgesehen war. Das durfte nicht sein, das Ensemble musste komplett instrumental spielen.

Ivanoff reist mit seinem Ensemble auch in Hisbollah-Gebiete. Manchmal würden dann Texte oder Überschriften von christlichen und jüdischen Liedern geändert, sagt er, aber das nimmt er in Kauf. "Das ist unser Prinzip, wir wollen unter allen Umständen reinkommen in die Strukturen", sagt Ivanoff. "Ich sehe mich ein bisschen als musikalische Guerilla. Das, was wir machen, ist wirkungsvoll, und diese sanfte Verführung, die funktioniert wahnsinnig gut."

QueerPassion: Massenhinrichtung im 17. Jahrhundert

Wie Vladimir Ivanoff hält sich auch Thomas Höft musikalisch bei seiner QueerPassion strikt an Bachs Vorlage, auch was den Ablauf von Arien, Rezitativen und Chören anbelangt. "Im Endeffekt ist jeder Ton eins zu eins von Bach, nur der Text ist neu", sagt Höft. Dabei spielt er nicht nur auf die aktuelle Diskriminierung der LGBTQ-Szene an, sondern auch auf jahrhundertealte Fälle, auf die er bei seinen Recherchen gestoßen ist.

1674 war der Dom in der niederländischen Stadt Utrecht eingestürzt. In den Ruinen trafen sich heimlich homosexuelle Männer und feierten Partys. "Die sind verraten worden", erzählt Höft. "Unter Folter hat einer der Beteiligten die Namen der anderen genannt." Darunter waren auch angesehene Leute der Bürgerschaft. "Das Ganze ist in ein Pogrom gemündet, weil die evangelischen Pastoren gesagt haben, der Einsturz des Doms sei Gottes Strafe für die Sodomiten." Es folgten Massenhinrichtungen schwuler Männer. "Das ist erschütternd und eine der Hauptgeschichten, die in der QueerPassion vorkommen."

Wechselnde regionale Chöre

Die Choräle der Passion werden von regionalen Chören der Auftrittsorte gesungen, die mit der LGBTQ-Bewegung in Verbindung stehen. In Leipzig sind es die "Tollkirschen", die normalerweise poppige Lieder mit Choreografie singen und der Frauenchor "Fräulein A Capella", der gerne Lieder aus Osteuropa einstudiert. Beide Chöre proben unter der Leitung von Cornelia Schäfer. Bachs Barockmusik ist neu für sie.

Die "Tollkirschen" sind nach eigenen Aussagen der einzige bekennende schwule Männerchor in den ostdeutschen Bundesländern. "Wir wollen uns als Schwule nicht verstecken. Bei unserem Programm tauchen Begriffe wie 'schwul' auch in vielen Texten auf", sagt Chormitglied Dirk Bockelmann. Die Geschichten um die Verfolgung queerer Menschen haben die Chormitglieder sehr berührt. "Thomas Höft hat uns bei der Probe die Hintergrundinformationen erzählt, teilweise kamen uns die Tränen, da hat man die Choräle gleich ganz anders gesungen."

Die QueerPassion ist ein Europaprojekt und wird zum Start in Wien (7.6.), Leipzig (13.6.) und in Antwerpen (22.8.) aufgeführt.

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Image caption Die "Tollkirschen": nach eigenen Angaben der einzige Schwulenchor in den ostdeutschen Bundesländern - hier mit Chorleiterin Cornelia Schäfer
Image source Olaf Jäger
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Item 20
Id 72773693
Date 2025-06-09
Title Wie Christos verhüllter Reichstag Berlin verzauberte
Short title Wie Christos verhüllter Reichstag Berlin verzauberte
Teaser 1995, vor genau 30 Jahren, verschwand der Berliner Reichstag für zwei Wochen unter silbernem Stoff. "Wrapped Reichstag" war ein Kunstwerk von Christo und Jeanne-Claude, die beide in diesem Jahr 90 geworden wären.
Short teaser 1995 verschwand der Berliner Reichstag unter silbernem Stoff - bis heute unvergessen.
Full text

Wer im Sommer 1995 in Berlin war, wird sich wahrscheinlich sein Leben lang daran erinnern: Der Reichstag - das Herz der deutschen Politik - war verschwunden. Nicht gesprengt, nicht abgerissen, sondern eingepackt. Komplett. In silbernen Stoff gehüllt, mit dicken Seilen verschnürt, fast wie ein Geschenk. Eine verrückte Idee? Vielleicht. Aber auch eine, die Geschichte schrieb.

Hinter dieser spektakulären Aktion steckte ein Künstlerpaar, das die Welt immer wieder mit seinen temporären Mega-Kunstwerken überraschte: Christo und Jeanne-Claude. Ihre Vision vom verpackten Reichstag war groß, kühn - und 23 Jahre in Planung.

2025: Ein besonderes Jubiläumsjahr

Dieses Jahr, 2025, ist für Fans von Christo und Jeanne-Claude ein echtes Jubiläumsjahr: Sie wären beide 90 Jahre alt geworden - sie wurden am selben Tag geboren, am 13. Juni 1935. Christo stammt aus Bulgarien, floh später aus dem kommunistischen Osten nach Westeuropa, erst nach Prag, dann nach Wien, Genf und schließlich Paris. Dort lernte er 1958 Jeanne-Claude kennen - sie war Französin mit Wurzeln in Marokko. Die beiden wurden ein unschlagbares Team. Christo war der Künstler, Jeanne-Claude die Organisatorin - wobei sich beide als gleichwertige Partner verstanden und später alle Projekte auch offiziell gemeinsam signierten.

Ihre Spezialität: riesige, spektakuläre Kunstaktionen im öffentlichen Raum. Sie verpackten Brücken, Gebäude oder ganze Küstenstreifen, spannten gigantische Vorhänge durch Täler oder errichteten kilometerlange Stoffinstallationen. Alles nicht von Dauer, alles selbst finanziert. Keine Werbung, keine Sponsoren - das Geld für die Projekte wurde nur durch den Verkauf von Zeichnungen, Collagen und Entwürfen generiert.

Vor 40 Jahren verhüllte das Paar die berühmte Pont Neuf in Paris, vor 20 Jahren verzauberten sie den New Yorker Central Park mit tausenden Toren, an denen Stoffbahnen flatterten - und vor 30 Jahren bescherten sie der deutschen Hauptstadt einen magischen Sommer, indem sie den Reichstag "verschwinden" ließen.

"Wrapped Reichstag" - langes Warten auf Genehmigung

Die Idee, den Berliner Reichstag zu verhüllen, entstand bereits 1971 - mitten im Kalten Krieg. Der Reichstag stand damals direkt an der Berliner Mauer. Er war ein symbolisches Gebäude, wurde aber nicht wirklich genutzt - der Regierungssitz der Bundesrepublik Deutschland war zu den Planungszeiten noch in Bonn, und der Bundestag ist erst 1999 in das vom Architekten Norman Foster umgebaute Reichstagsgebäude mit seiner charakteristischen Glaskuppel gezogen.

Christo und Jeanne-Claude waren dennoch fasziniert. Für sie war der Reichstag ein Bauwerk mit einer denkwürdigen Geschichte: Vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und das "Dritte Reich", den Zweiten Weltkrieg, die Teilung Deutschlands nach dem Krieg bis hin zur Wiedervereinigung. Immer wieder war dieser Ort Schauplatz bedeutender Momente in der Geschichte Deutschlands.

Christo und Jeanne-Claude wollten dieses Gebäude neu sichtbar machen, indem sie es für kurze Zeit verhüllten.

Aber so ein Kunstwerk braucht Genehmigungen - und die ließen lange auf sich warten. Erst 1994, nach über 20 Jahren Diskussion, stimmte der Bundestag nach einer leidenschaftlichen Debatte endlich zu. Und damit war der Weg frei für eine der eindrucksvollsten Kunstaktionen des Jahrhunderts.

Sommer 1995: Ein silberner Traum mitten in Berlin

Im Juni 1995 war es so weit: Der Reichstag wurde vollständig in silberfarbenen Stoff eingepackt - über 100.000 Quadratmeter Material, dazu 16 Kilometer Seil. Die Verhüllung dauerte mehrere Tage und wurde weltweit verfolgt.

Und dann stand er da - der verhüllte Reichstag: weich, schimmernd, geheimnisvoll. Wie ein Kunstwerk zwischen Wolken, vom 24. Juni bis 7. Juli 1995. Über 5 Millionen Menschen kamen nach Berlin, um dieses Spektakel mit eigenen Augen zu sehen. Es war wie ein riesiges Volksfest: Menschen lagen auf der Wiese, machten Picknick, fotografierten und diskutierten.

Viele Zeitzeugen sagten später, sie hätten den Reichstag noch nie so intensiv wahrgenommen wie in diesen zwei Wochen.

Warum überhaupt verhüllen?

Christo und Jeanne-Claude wollten mit der Verhüllung kein Gebäude verstecken - ganz im Gegenteil. Sie wollten es neu erlebbar machen. Durch das Einpacken fiel alles Oberflächliche weg. Man sah nicht mehr die Details - sondern die Form, die Silhouette, das Volumen.

Und das Wichtigste: Auch dieses Kunstwerk war vergänglich. Nach zwei Wochen war der Zauber vorbei, der Stoff wurde abgebaut, keine Spur blieb zurück. Nur Erinnerungen. Für das Künstlerpaar war gerade diese Kurzlebigkeit ein zentraler Teil ihrer Arbeit.

"Die Schönheit liegt in der Vergänglichkeit", sagten sie oft. Man solle den Moment genießen - weil man weiß, dass er bald vorbei ist.

Politisch? Ja und nein

Obwohl der Reichstag ein politisches Symbol ist, sollte das Kunstwerk selbst nicht politisch sein. Christo und Jeanne-Claude wollten keine Meinung vorgeben. Ihre Kunst sollte offen sein - ein Raum für Gedanken, Gefühle, Deutungen.

Viele Menschen sahen in der Verhüllung trotzdem ein starkes politisches Zeichen: für Veränderung, für Versöhnung, für einen Neuanfang. Gerade im wiedervereinigten Deutschland hatte das eine besondere Wirkung.

Jeanne-Claude starb 2009, Christo 2020. Doch ihre Kunst lebt weiter - in Fotos, Erinnerungen, Ausstellungen und jetzt auch in einem besonderen Jubiläumsjahr.

Die Verhüllung des Reichstags war nicht nur ein Meisterwerk der Logistik und Ästhetik - sondern auch ein Moment der kollektiven Faszination. Sie hat gezeigt, was Kunst im öffentlichen Raum bewirken kann: Sie kann überraschen, verbinden, herausfordern. Und sie kann Menschen einfach zum Staunen bringen.

Oder, wie Christo es einmal sagte: "Unsere Werke gehören niemandem - und gleichzeitig allen."

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Image caption Fünf Millionen Menschen besuchten den verhüllten Reichstag 1995
Image source Wolfgang Volz | Christo and Jeanne-Claude Foundation
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Item 21
Id 72648262
Date 2025-06-08
Title Wie passen wir unsere Infrastruktur an extreme Hitze an?
Short title Wie passen wir unsere Infrastruktur an extreme Hitze an?
Teaser Autobahnen, Schienennetze und Brücken, die unsere Versorgung sichern und die Wirtschaft am Laufen halten, wurden nicht für steigende Temperaturen gebaut. Was hilft, damit trotz Klimawandel alles weiter funktioniert?
Short teaser Wie verhindern wir, dass Straßen, Schienen und Brücken in einer immer heißeren Welt kaputtgehen? Dafür gibt es Lösungen.
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Mittlerweile sieht man die Erderhitzung auch unseren Straßen, Schienen und Brücken an. Die aufeinanderfolgenden globalen Hitzerekorde der vergangenen zehn Jahre stellen die Widerstandsfähigkeit unserer Verkehrsinfrastruktur auf die Probe - und damit auch unsere Mobilität, den Warenhandel und unsere Versorgungssicherheit.

Von Autobahnen an der Küste bis hin zu Eisenbahnstrecken im Hochgebirge - nach Angaben der Boston Consulting Group (BCG) bedrohen Klimarisiken die Verkehrsinfrastruktur überall auf der Welt in besonders starker Weise.

Extreme Hitze verringert die Bodenhaftung auf Straßen und Landebahnen von Flughäfen, verformt und verbeult Eisenbahnschienen, dehnt die Fugen aus, die Brücken zusammenhalten. Die Infrastruktur altert rascher und der Wartungsbedarf steigt - übrigens auch bei Privatfahrzeugen.

Ein bekanntes Beispiel für das Versagen der Infrastruktur ist eine Brücke in New York, die den Stadtteil Manhattan mit der Bronx verbindet. Sie wurde während einer Hitzewelle Mitte 2024 geöffnet, um Schiffe durchzulassen, und blieb dann in dieser Position stecken, weil sich das Metall der Brückenkonstruktion unter der extremen Hitze ausdehnte. Die Folge: Der New Yorker Berufsverkehr kam für viele Stunden zum Stillstand.

Und die globale Durchschnittstemperatur steigt weiter, die Überhitzung unseres Planeten nimmt zu.Wie also machen wir unsere Infrastruktur klimasicher?

Hier Ideen und Lösungsmöglichkeiten für drei besonders bedrohte Bereiche.

Wie veränderter Asphalt die Straßen vor dem Schmelzen bewahrt

Wenn die Temperaturen sehr hoch bleiben, neigen normale Asphaltstraßen dazu, Spurrillen zu bilden. Und das Bitumen, also das Bindemittel das sie zusammenhält, kann reißen und ausbluten. Asphaltstraßen, die nicht für extreme Hitze ausgelegt sind, können buchstäblich schmelzen, wenn sich dieses Bindemittel löst. Bei starkem Verkehr kann sich die Oberfläche dauerhaft verformen.

Aber der Asphalt, der für Autobahnen und Start- und Landebahnen verwendet wird, kann zusätzlich mit bestimmten Modifizierungsmitteln angereichert werden. Sie verringern die Hitzebelastung und machen die Straßen haltbarer.

Im Vergleich ist Beton temperaturbeständiger und bleibt darum in einer heißeren Welt länger stabil. Aber bei seiner Produktion entstehen extrem viele Treibhausgase, die unsere Welt aufheizen.

Eine weitere Möglichkeit ist es, im Asphalt außerdem spannungsabsorbierende Membranschichten, Pflasterstoffe oder bestimmte Geotextilien einzubauen. So wird der Straßenbelag flexibler und hält Belastungen besser stand.

Fachleute schlagen auch hitzereflektierende Beschichtungen vor und so genannte kühle Beläge. Damit soll der Straßenbelag weniger Sonnenwärme aufnehmen und außerdem wasserdurchlässig sein, das hilft Überschwemmungsschäden zu verhindern.

Dunkelgrauer Asphalt, der sich durch die Sonneneinstrahlung aufheizt, wird mit erdölbasierten Bindemitteln hergestellt. Kühle Beläge dagegen bestehen aus durchsichtigen, holzbasierten Harzen und haben eine stärker reflektierende Oberfläche. Schon eine Mischung aus dunklem Asphalt und hellem Beton kann gegen das Aufheizen der Oberfläche helfen.

Was hält den Schienenverkehr bei Hitze in der Spur?

Wenn Eisenbahnschienen sich unter extremer Hitze verbiegen, können Züge entgleisen. Das geschah vergangenes Jahr bei einem Güterzug in Australien. In weniger schlimmen Fällen kann es zu Streckensperrungen und Zugverspätungen kommen.

"Wenn Züge als CO2-arme und klimafreundliche Verkehrsmittel der Zukunft erfolgreich sein sollen, müssen sie widerstandsfähig sein gegen die extremen Wetterbedingungen, die durch den Klimawandel verursacht werden", sagt Juliet Mian. Die Bauingenieurin betreut den Bereich Widerstandsfähigkeit kritischer Infrastruktur bei der Unternehmensberatung Arup.

"Der Schienenverkehr ist für Unternehmen und Gemeinden lebenswichtig, deswegen sollten jetzt die richtigen Entscheidungen getroffen werden, damit die Züge auch künftig fahren können."

Um das Schienennetz gegen hohe Temperaturen widerstandsfähiger zu machen, lässt der zum Beispiel der britische Bahnbetreiber Network Rail einen Teil der Schienen weiß lackieren. So nehmen sie weniger Wärme auf und dehnen sich weniger aus. Im Vergleich zu herkömmlichen dunklen Schienen bleiben weiße Schienen um bis zu zehn Grad Celsius kühler.

Eine weitere Möglichkeit gegen "einknickende" Schienen: veraltete Holzschwellen durch Stahlbetonplatten ersetzen.

Auch das verhindert Zugentgleisungen bei Hitze: Als die Schienentemperaturen im Sommer 2024 57 Grad Celsius überschritten, drosselte die Metro in Washington D.C die Höchstgeschwindigkeit auf 56 Stundenkilometer, wie Suyun Paul Ham berichtet. Er ist außerordentlicher Professor für Bauingenieurwesen an der Universität von Texas. Ihm zufolge können zudem hitzebeständigen Materialien, wie harter Martensit-Schienenstahl, die Verformung von Bahnschienen verringern.

Wie man Brücken besser bauen kann

Unsere Brücken, die größtenteils aus Stahl bestehen, sind besonders anfällig für eine thermische Ausdehnung. Und die wiederum führt zu einer Verschlechterung der Brückenstruktur.

Weil die weltweit steigenden Temperaturen die Belastung für die Brücken erhöhen, könnte bis 2040 laut einer Studie der Colorado State University von 2019 ein Viertel aller rund 600.000 Brücken in den USA in Teilen zusammenbrechen.

Dehnungsfugen oder regelmäßig platzierte Spaltlücken entlang einer Brücke helfen: Sie ermöglichen das Ausdehnen und Zusammenziehen des Überbaus bei Temperaturschwankungen. Diese Fugen verstopfen jedoch leicht, so dass sich die Brücke bei Hitze nicht mehr ausdehnen kann. Und das wiederum führt zu einer Verschlechterung dieser "Brückengelenke".

Die meisten Brücken wurden bisher gebaut, ohne die extremen Auswirkungen des Klimawandels zu berücksichtigen. Um besser vorbereitet zu sein, simulieren deshalb Forschende der Rutgers University in New Jersey, wie sich Umweltbelastungen und Temperaturschwankungen zwischen 0 und 100 Grad Celsius auf die Brückenkonstruktion auswirken.

Ein Ergebnis: Brücken könnten mit Kugellagern konstruiert werden. Sie können damit größere Bewegungen aufnehmen, als die üblichen Dehnungsfugen bisher. Auch Regelmäßige Vor-Ort-Inspektionen während und nach extremen Temperaturereignissen können helfen, strukturelle Belastungen zu erkennen und zu reparieren.

Dem Forschungsteam zufolge werden nun viele große Brücken in den USA neu gebaut und für die Zukunft klimasicher gemacht. So wurde etwa die Goethals-Brücke, eine Doppelseilbrücke von 1928, die New Jersey und New York verbindet, nach fast 80 Jahren ersetzt. Die neugebaute Brücke ist nun so konstruiert, dass sie extremer Hitze standhält und mindestens ein Jahrhundert lang stehenbleiben soll.

Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Englisch. Adaption: Jeannette Cwienk

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Image caption Mit steigenden Temperaturen deformiert sich der Straßenbelag, wie hier auf dem Highway 190 im Death Valley in Kalifornien während einer Hitzewelle in den USA im Juni 2024
Image source Tayfun Coskun/Andalou/picture alliance
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Item 22
Id 72827010
Date 2025-06-08
Title Ukraine: Wie der einstige Kachowka-Stausee zum Leben erwacht
Short title Ukraine: Wie der einstige Kachowka-Stausee zum Leben erwacht
Teaser Zwei Jahre nach der Zerstörung seines Dammes im Ukraine-Krieg ist die Natur zurück: Auf dem Gelände des ehemaligen Kachowka-Stausees entstand ein lebendiges Ökosystem. Doch die Energiewirtschaft hat wieder Pläne.
Short teaser Zwei Jahre nach der Zerstörung seines Dammes im Ukraine-Krieg ist die Natur zurück. Doch die Wirtschaft hat neue Pläne.
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Wir wandern auf dem Gelände des ehemaligen Kachowka-Stausees. Noch vor zwei Jahren hätte hier über uns das Wasser mehrere Meter hoch gestanden. Nach der Zerstörung des Kachowka-Wasserkraftwerks Anfang Juni 2023, für die sich die Ukraine und Russland gegenseitig die Schuld geben, bildete sich an dieser Stelle zunächst eine Wüste. Heute ist dort üppige Vegetation, in der eine Vielzahl von Tieren lebt.

Der größte ukrainische Fluss Dnipro hat wieder riesige Auen gebildet, wie sie vor dem Bau des Wasserkraftwerks im Jahr 1950 bestanden. Der Ökologe Wadym Manjuk sagt, dass der Dnipro hier viele Nebenarme hat. Was in großen Teilen der Auenlandschaft geschehe, könne man nicht sehen, aber überall gebe es ähnliche Bäche, sagt der Ökologe und fügt hinzu: "Es können Bäche mit einer schnellen Strömung sein, aber auch schmale oder breitere, die Tümpeln ähneln. All diese Labyrinthe existierten schon, bevor die Landschaft für den Bau des Wasserkraftwerks geflutet wurde."

Wer tummelt sich heute in den Auen?

Das Rauschen der Bäche wird ständig durch das Zwitschern der Vögel unterbrochen. "Ein Seeadler! Allein dafür lohnt es sich, ein Fernglas mitzunehmen. Er ist der wahre Herrscher über die Dnipro-Auen", sagt Manjuk und blickt durch sein Fernglas in den Himmel.

Entdeckt haben wir bei unseren mehrstündigen Beobachtungen auch einen Habicht, einen Bussard, einen Reiher, Schwalben, Schlangen, eine Bisamratte und sogar Spuren von Wildschweinen. Menschen vor Ort berichten, sie hätten auch schon Rehe und Hirsche gesehen. Zudem wimmelt es dem Ökologen zufolge im Dickicht von Ameisen, Wespen, Käfern, Raubwanzen, Schmetterlingen und Gottesanbeterinnen.

Auf dem Boden finden wir versteinerte Knochen von Urtieren und Tonscherben. Einer der Knochen sieht aus wie ein Huf. Manjuk nimmt ihn in die Hand und prüft ihn. "Das ist ein uralter Knochen. Damals gab es noch keine Kühe. Hier gibt es viele solcher Knochen, auch von Wollnashörnern und Mammuts, also von großen Tieren", erzählt er.

Wie hat sich die Landschaft verändert?

Schon vor einem Jahr waren wir mit dem Ökologen auf dem Gelände des einstigen Stausees unterwegs. Seitdem gibt es hier deutlich mehr Gräser. Während es damals etwa 200 Arten von Blütenpflanzen gab, sind es heute fast 500. Wo früher nur Sand war, sind heute grüne Wiesen. Überall blühen Mohn, Seggen, Disteln, Geißklee und Waldroggen. Vor einem Jahr habe es all dies noch nicht gegeben, betont der Ökologe. "Mit der Zeit werden sich hier nicht nur Wälder, sondern auch Wiesen bilden", glaubt Manjuk.

Die Bäume sind inzwischen fünf bis sechs Meter hoch. Rund einen Meter sind die Weiden und Pappeln in einem Jahr gewachsen, schätzt der Ökologe. Er warnt, weiter sollten wir nicht gehen, das sei zu gefährlich. "Der Wald hat sich verändert, er ist dichter und größer geworden", sagt er.

Das letzte Jahr sei für die Auen nicht einfach gewesen, berichtet der Ökologe. Der Sommer und Herbst 2024 seien zu trocken gewesen, weswegen die Bäume zu verdorren begannen. Aber im Frühjahr habe sich alles dank Regen erholen können. "Die erste Prüfung von Dürre haben die Auen bestanden, aber jetzt bereitet uns diese Saison Sorgen", beklagt Manjuk.

Debatte um Wiederaufbau des Kraftwerks

Ob dieses Ökosystem überhaupt eine Zukunft hat, ist fraglich. Denn in der Ukraine wird immer noch darüber diskutiert, ob sich ein Wiederaufbau des zerstörten Wasserkraftwerks Kachowka lohnt.

Der Ökologe und Agrarhistoriker Petro Wolwatsch war schon als Kind in den Auen, bevor das zerstörte Wasserkraftwerk gebaut wurde. Er ist gegen einen Wiederaufbau, der die Vernichtung der wieder erstandenen Auenlandschaft bedeuten würde. Ihm stimmt Wadym Manjuk zu. "Ich bin sicher, dieser Nationalpark würde zu den zehn besten Europas zählen. Er wäre unglaublich!", betont der Ökologe.

Ingenieure hingegen meinen, die gesamte Anlage des Kachowka-Wasserkraftwerks sei für die Wasserversorgung der Bevölkerung und der Unternehmen der Region wichtig, ebenso für die Bewässerung der Landwirtschaft, die Schifffahrt und das Energiesystem. Jetzt, nach der Zerstörung des Wasserkraftwerks, gebe es nicht mehr genug Wasser für alle.

Energiewirtschaft braucht Wasserkraft

Oleh Paschtschenko vom Kachowka-Wasserkraftwerk sagt, das Fehlen des Stausees bedrohe das Überleben der gesamten Region. "Das Wasser in den Brunnen wird mit jedem Jahr weniger", sagt er. Der Wasserspiegel sei nach der Zerstörung des Damms in den ersten sechs Monaten bereits um fünf Meter gesunken, jetzt liege er bei 15 Metern oder tiefer. Paschtschenko vermutet, dass das Jahr 2025 für den Fluss Dnipro ein schwieriges sein wird, da der Wasserzufluss bereits drei- bis fünfmal geringer sei als üblich. Deshalb müsse der Stausee wiederhergestellt werden, sonst werde alles nur schlimmer. "Wir bekommen eine Wüste", warnt er.

Paschtschenko sagt, die jetzige Lage sei aufgrund des erheblichen Bevölkerungsschwunds infolge des Krieges sowie der Tatsache, dass die Landwirtschaft und Industrie nicht mit voller Kapazität arbeiten könne, noch nicht dramatisch. Aber das Wasser würde knapp werden, wenn die Menschen zurückkehren.

Unterdessen arbeitet das staatliche Energieunternehmen "Ukrhydroenergo" an Plänen zum Wiederaufbau des Kraftwerks und des Stausees. Anfangs sollen die Reste des Dammes und der Boden des Stausees untersucht werden. Dann soll der Wiederaufbau des Kraftwerks beginnen. Das könnte fünf bis sechs Jahre dauern, denn allein das Füllen des Stausees mit Wasser würde zwei Jahre brauchen, heißt es bei "Ukrhydroenergo". Dort ist man überzeugt, dass nur so eine sichere Trinkwasserversorgung der Region gewährleistet werden kann

Der amtierende Generaldirektor von "Ukrhydroenergo", Bohdan Suchezkyj, sagt: "Wenn der Staat es braucht, werden wir dort ein großes Kraftwerk bauen. Alles hängt von der wirtschaftlichen Lage ab. Außerdem ist ohne den Kachowka-Stausee ein sicherer Betrieb des Kernkraftwerks Saporischschja unmöglich. Das haben Experten festgestellt."

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72816774_302.jpg
Image caption Neues Ökosystem: Gelände des einstigen Kachowka-Stausees
Image source Iryna Ukhina/DW
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Item 23
Id 72835717
Date 2025-06-08
Title Was macht die Nationalgarde der USA?
Short title Was macht die Nationalgarde der USA?
Teaser Sie wird bei Katastrophen wie Überschwemmungen, Hurrikans oder Waldbränden mobilisiert. Doch die Nationalgarde leistet weit mehr. Nun wird sie in Los Angeles eingesetzt. Was darf sie und wer befehligt sie? Ein Überblick.
Short teaser Sie ist meist in der Katastrophenhilfe aktiv. Nun wird sie in Los Angeles eingesetzt. Was darf sie, wer befehligt sie?
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US-Präsident Donald Trump hat die Nationalgarde ins kalifornische Los Angeles geschickt, wo es zu Protesten gegen Abschiebungen illegaler Migranten kam.

Was ist die Nationalgarde?

Die Nationalgarde ist Teil der Reserve der US-Streitkräfte. Sie besteht aus den beiden Teilstreitkräften des Heeres (Army National Guard) und der Luftstreitkräfte (Air National Guard). Sie wurde 1903 durch den sogenannten Militia Act formiert. Das Bundesgesetz organisiert die Nationalgarde in ihren heutigen Strukturen. Laut Defense Manpower Data Center dienen - Stand 2023 - rund 419.000 Reservisten und Reservistinnen in der Nationalgarde. Etwa 9500 sind in den US-Außengebieten wie Puerto Rico, Guam oder den Jungferninseln stationiert (Stand 2017).

Wo wird die Nationalgarde eingesetzt

Die Nationalgarde hat ein breites Einsatzspektrum. Sie wird zur Unterstützung bei der Katastrophenhilfe eingesetzt. Zuletzt bei den verheerenden Waldbränden in Kalifornien im Januar 2025 oder auch nach Hurrikan Katrina 2005. Über 50.000 Nationalgardisten halfen bei Evakuierungen, Rettungsaktionen und der Wiederherstellung der Ordnung in New Orleans.

Sie kann auch zur Gewährleistung der Inneren Sicherheit entsendet werden. Beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 waren über 25.000 Nationalgardisten in Washington, D.C. stationiert, um die Sicherheit rund um die Amtseinführung von Präsident Joe Biden zu gewährleisten. Während der George-Floyd-Proteste wurden tausende Nationalgardisten in mehreren Bundesstaaten mobilisiert, um lokale Polizeikräfte zu unterstützen.

Die Nationalgarde kann auch militärische Auslandseinsätze unterstützen. Dies geschah im Irak und in Afghanistan.

Wer befehligt die Nationalgarde?

Sind die Reservisten in den US-Bundesstaaten im Einsatz, übernimmt der jeweilige Gouverneur den Oberbefehl. Im bundesweiten Einsatz ist der US-Präsident der Oberbefehlshaber. Beim Einsatz der Nationalgarde in Los Angeles bei den Protesten gegen die Razzien der Einwanderungsbehörde ICE berief sich US-Präsident Donald Trump auf die nationale Sicherheit. Kaliforniens Gouverneur Gavin Newsom kritisierte die Entsendung und warf der Regierung vor, mit ihrem Eingreifen die Spannungen "gezielt" anzuheizen.

Wer ist in der Nationalgarde?

Grundsätzlich steht allen US-Bürgern die Mitgliedschaft in der Nationalgarde offen. Sie müssen aber bestimmte körperliche, geistige und rechtliche Voraussetzungen erfüllen. Die meisten Nationalgardisten dienen nebenberuflich in den Einheiten, es gibt auch hauptberufliche Soldaten, sie sind aber in der Minderheit.

Soldaten, die einen Wehrdienst in der Armee absolviert haben, können sich danach für den Einsatz in der Nationalgarde bewerben. Sie benötigen meist keine weitere Ausbildung.

Die zweite Möglichkeit ist eine freiwillige Verpflichtung zum ausschließlichen Dienst in der Nationalgarde ohne eine Dienstzeit in aktiven Truppenteilen. Dann wird eine Ausbildung in einer Einrichtung der Streitkräfte absolviert.

Der Aufwand für die Mitglieder der Nationalgarde ist klar geregelt. Der typische Dienstumfang umfasst ein Wochenende pro Monat und zwei Wochen pro Jahr. Für einen Wochenendeinsatz erhalten die Nationalgardisten je nach Dienstgrad zwischen 200 und 600 US-Dollar. Zudem gibt es Zulagen für Unterkunft und Verpflegung, Bildungsförderung und Krankenversicherung. Bei längerer Dienstzeit können auch Rentenansprüche geltend gemacht werden.

Item URL https://www.dw.com/de/was-macht-die-nationalgarde-der-usa/a-72835717?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72837233_302.jpg
Image caption Die ersten Mitglieder der Nationalgarde sind auf Befehl von Donald Trump in Los Angeles angekommen
Image source Frederic J. Brown/AFP
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Item 24
Id 72821022
Date 2025-06-08
Title Dynastische Politik wirft ihren Schatten auf Südostasien
Short title Dynastische Politik wirft ihren Schatten auf Südostasien
Teaser Politiker-Dynastien sind in Südostasien mächtiger denn je: In der Hälfte der Länder der Region haben die Nachkommen früherer Machthaber heute selbst höchste Staatsämter inne.
Short teaser In vielen Ländern Südostasiens regieren Nachkommen früherer Machthaber. Was bedeutet das für die Demokratie?
Full text

Brunei ist nach wie vor eine der letzten absoluten Monarchien der Welt.

Auf den Philippinen residiert Präsident Ferdinand Marcos Jr. - Sohn und Namensvetter des früheren Diktators - im Präsidentenpalast. An seiner Seite steht Vizepräsidentin Sara Duterte, Tochter des ehemaligen Präsidenten Rodrigo Duterte.

In Kambodscha übergab Langzeitpremier Hun Sen im Sommer 2023 nach 38 Jahren an der Macht das Amt an seinen Sohn Hun Manet.

In Thailand trat Paetongtarn Shinawatra - Tochter des einstigen Premierministers Thaksin Shinawatra - im August vergangenen Jahres ihr Amt an und stärkte damit den Einfluss ihrer politisch etablierten Familie.

In Laos steht Sonexay Siphandone an der Spitze der Regierung - Sohn von Khamtay Siphandone, einer Schlüsselfigur der laotischen Politik der 1990er Jahre.

Indonesiens Präsident Prabowo Subianto, einst Schwiegersohn von Ex-Diktator Suharto, regiert seit vergangenem Jahr gemeinsam mit Vizepräsident Gibran Rakabuming Raka, dem Sohn des ehemaligen Präsidenten Joko Widodo.

Und auch wenn in Singapur mit Lawrence Wong ein neuer Premierminister im Amt ist, bleibt der Einfluss der Familie von Lee Kuan Yew - dem Gründer der Republik - im politischen System des Stadtstaats spürbar.

Sorgen in Malaysia

Auch Malaysias fragile Regierungskoalition sieht sich dem Vorwurf wachsender Vetternwirtschaft ausgesetzt. Erst vergangene Woche wurde Nurul Izzah Anwar, die Tochter von Premierminister Anwar Ibrahim, zur Vizepräsidentin der regierenden People's Justice Party (PKR) gewählt. Ihre Mutter, Wan Azizah Wan Ismail, steht an der Spitze der Regierungskoalition Pakatan Harapan.

Der deutliche Wahlsieg Nuruls über Wirtschaftsminister Rafizi Ramli - weithin als intellektueller Reformer innerhalb der Partei geschätzt - führte dazu, dass sowohl Ramli als auch Umweltminister Nik Nazmi Nik Ahmad aus dem Kabinett zurücktraten.

"Anwars Tochter verfügt zweifellos über eigene reformpolitische Qualifikationen. Doch der Vorwurf der Vetternwirtschaft schwächt ihre Rolle als potenzielle Nachfolgerin und untergräbt die Glaubwürdigkeit von Anwars Regierung", sagte Bridget Welsh vom Asia Research Institute Malaysia der Universität Nottingham im Gespräch mit der DW. "Die PKR ist heute stärker als je zuvor auf die Familie Anwar zentriert - das schwächt die Partei langfristig hinsichtlich Reichweite und repräsentativer Vielfalt."

Dynastischer Einfluss reicht weit

Der Einfluss politischer Familien reicht über Regierungsparteien hinaus. In Myanmar etwa war Aung San Suu Kyi - Tochter des Staatsgründers Aung San - lange eine zentrale Figur der Demokratiebewegung. Bis zu ihrer Absetzung durch das Militär im Jahr 2021 amtierte sie faktisch als Regierungschefin.

"Ich sehe keinen baldigen Machtverlust dieser Dynastien", sagte Joshua Kurlantzick vom Council on Foreign Relations gegenüber der DW. "In den Ländern, in denen sie besonders präsent sind, dominieren sie weiterhin die politische Landschaft. Auf den Philippinen bahnt sich sogar ein regelrechter Dynastienkrieg an."

Machtkampf in Manila

Die philippinischen Zwischenwahlen im vergangenen Monat verdeutlichten diese Rivalität: Die einstigen Verbündeten - die Marcos- und die Duterte-Clans - traten nach dem Bruch ihrer Allianz in offener Konkurrenz gegeneinander an. Hintergrund waren politische Differenzen und persönliche Spannungen.

Im Februar wurde Sara Duterte vom Repräsentantenhaus wegen angeblicher Veruntreuung öffentlicher Gelder angeklagt. Im laufenden Monat steht ihr ein Verfahren im Senat bevor, das sie von künftigen Ämtern ausschließen könnte. Sollte sie freigesprochen werden, könnte sie 2029 bei den Präsidentschaftswahlen gegen Martin Romualdez antreten - einen Cousin von Präsident Marcos Jr. und derzeit Sprecher des Repräsentantenhauses.

"Selbst eine Verurteilung würde die dynastischen Strukturen der philippinischen Politik kaum erschüttern - aber sie wäre ein schwerer Schlag für die Duterte-Dynastie", sagte Aries A. Arugay vom ISEAS-Yusof Ishak Institute zur DW. "Ein Schuldspruch würde sie daran hindern, die Interessen ihrer Familie zu schützen und könnte weitere Anklagen durch ihre Gegner nach sich ziehen. Ein Freispruch wäre entscheidend für ihr politisches Überleben - und die Rückgewinnung der Macht, die die Dutertes 2022 verloren haben."

Auch in Laos könnte bald ein innerdynastischer Machtkampf anstehen: Im Januar kommenden Jahres wählt die regierende Laotische Revolutionäre Volkspartei ihre Führung für die nächsten fünf Jahre. Beobachter rechnen mit einem Duell zwischen Premierminister Sonexay Siphandone und Parlamentspräsident Xaysomphone Phomvihane - dem Spross einer ebenfalls einflussreichen Familie.

Vietnam als Ausnahme

Vietnam hingegen sticht in der Region heraus: Trotz kommunistischer Einparteienherrschaft hat sich auf nationaler Ebene bislang keine politische Familie durchgesetzt. Anders sieht es auf lokaler Ebene aus.

"Trotz ihrer autoritären Ausrichtung basiert die vietnamesische Politik auf einem empfindlichen Gleichgewicht kollektiver Führung innerhalb des Einparteiensystems", erklärt Khac Giang Nguyen vom ISEAS-Yusof Ishak Institute. "Zwar kommt es gelegentlich zur Personalisierung von Macht, doch institutionelle Kontrollmechanismen verhindern meist eine vollständige Dominanz einzelner Familien. Einige sogenannte Prinzen haben es in wichtige Positionen geschafft, doch niemand bis ganz an die Spitze."

Fette Dynastien

Zachary Abuza, Professor am National War College in Washington, sieht eine besorgniserregende Entwicklung: Viele politische Familien in Südostasien entwickelten sich zu sogenannten "fetten Dynastien".

"Es geht nicht mehr nur darum, dass Macht von Eltern an Kinder übergeht - zunehmend besetzen Familienmitglieder Posten in verschiedenen Ämtern gleichzeitig", sagte er gegenüber der DW. Bei den letzten Zwischenwahlen auf den Philippinen etwa sicherten sich vier Geschwisterpaare Sitze im Senat - das entspricht einem Drittel der Kammer. In 18 Provinzen kontrollieren übergroße Dynastien mittlerweile die lokale Politik.

In Kambodscha ist diese Machtkonzentration besonders ausgeprägt: Die Regierungspartei arrangiert Ehen unter den Kindern hochrangiger Politiker. Hun Manets Ehefrau ist die Tochter eines ehemaligen Spitzenbeamten des Arbeitsministeriums; sein Bruder Hun Many ist Minister für den öffentlichen Dienst, ein weiterer Bruder - Hun Manith - leitet die Streitkräfte und den militärischen Geheimdienst.

Ist familiäre Herrschaft schädlich?

Analysten verweisen auf tief verwurzelte Ursachen für den dynastischen Machterhalt: von vor-kolonialen Herrschaftsstrukturen über die Schwäche politischer Parteien gegenüber charismatischen Einzelpersonen bis hin zu unzureichenden Antikorruptionsmaßnahmen.

Weitverbreitet ist die Einschätzung, dass dynastische Politik nicht nur Symptom, sondern auch Ursache für schrumpfende demokratische Spielräume ist. In den vergangenen zehn Jahren sind fast alle südostasiatischen Staaten im Demokratie-Ranking der US-Organisation Freedom House zurückgefallen.

"Dynastische Machtwechsel stehen eher für autoritäre Kontinuität als für eine demokratische Öffnung", schreiben die Forscherinnen Andrea Haefner und Sovinda Po in einer aktuellen Analyse.

Frauen zwischen Macht und Dynastie

Ein unerwarteter Nebeneffekt der familiären Politik: Der Aufstieg von Frauen. Laut Maria Diana Belza von der Universität der Philippinen hat der dynastische Zugang zur Macht die politische Repräsentation von Frauen erhöht. Wenn männliche Verwandte durch Amtszeitbegrenzungen ausscheiden oder in Ungnade fallen, treten oft weibliche Nachfolgerinnen auf den Plan - um die familiären Netzwerke zu sichern.

Doch Belza warnt: Der wachsende Anteil von Frauen in der Politik "bedeutet nicht zwangsläufig mehr politische Teilhabe für Frauen außerhalb dieser dynastischen Kreise".

Bislang haben nur sieben Frauen in Südostasien höchste Staatsämter bekleidet: Corazon Aquino, Gloria Macapagal Arroyo, Megawati Sukarnoputri, Yingluck Shinawatra, Aung San Suu Kyi, Paetongtarn Shinawatra und Halimah Yacob. Mit Ausnahme der amtierenden Präsidentin Singapurs waren alle entweder Töchter, Ehefrauen oder Schwestern männlicher Vorgänger.

Während sich politische Dynastien weiter festigen, bleibt offen, ob Südostasiens politisches System in Zukunft eine breitere Teilhabe ermöglichen kann. Vorerst sind familiäre Bande tief in den Strukturen der Macht verankert - und werfen grundlegende Fragen nach Regierungsführung, Rechenschaftspflicht und der Zukunft der Demokratie auf.

Aus dem Englischen adaptiert von Shabnam von Heim

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Image caption Die Hälfte der ASEAN-Staaten wird von den Kindern ehemaliger Staatschefs regiert
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Item 25
Id 72671892
Date 2025-06-08
Title Marc Aurel: Ein antiker Kaiser als Influencer
Short title Marc Aurel: Ein antiker Kaiser als Influencer
Teaser Wie bewahrt man Ruhe in Krisenzeiten? Was braucht der Mensch zum Glück? Für die Antworten wird im Netz regelmäßig der römische Kaiser Marc Aurel zitiert. Ein einst mächtiger Mann - der lieber Philosoph geworden wäre.
Short teaser Wie bewahrt man Ruhe in Krisenzeiten? Was braucht der Mensch zum Glück? Antworten gibt der römische Kaiser Marc Aurel.
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"Blicke in Dein Inneres! Da drinnen ist eine Quelle des Guten, die nimmer aufhört zu sprudeln, wenn Du nur nicht aufhörst nachzugraben."

Lebenskluge Sätze wie diese findet man in den "Selbstbetrachtungen" des römischen Kaisers Marc Aurel (121-180 n. Chr.), die eigentlich gar nicht zur Veröffentlichung gedacht waren, heute aber nach der Bibel und dem Koran zu den am weitesten verbreiteten Schriften gehören. Ein Bestseller sozusagen, der weltweit in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde.

Geschrieben aber hat er sie für sich selbst. Marc Aurel - heute bekannt als Philosophen-Kaiser - regierte in einer Zeit, die geprägt war von Krisen und Katastrophen. Er bestieg den Thron im Jahre 161 nach Christus, nur wenige Jahre vor den Markomannenkriegen (Die Markomannen waren germanische Stämme, Anm. d. Red.), die das Römische Reich in seinen Grundfesten erschütterten. Hinzu kamen wirtschaftliche Probleme, soziale Spannungen und die Ausbreitung der Pest (gemeint ist die Antoninische Pest, eine Form der Pocken, Anm. d. Red.) im gesamten Herrschaftsgebiet des römischen Kaisers.

"Du hast die Macht über Deinen Geist, nicht über äußere Ereignisse"

Gelassenheit - das war eines der Grundprinzipien von Marc Aurel, der ein großer Fan der Stoa war - eine antike Schule der Philosophie, die 300 v. Chr. vom Griechen Zenon von Kition begründet wurde. Marc Aurel wollte ein guter Herrscher sein, was aber machte eine solchen aus?

Mit dieser Frage - die bis heute relevant ist - beschäftigte er sich ausführlich. Nachlesen kann man das in den oben erwähnten "Selbstbetrachtungen" - die die Römer allerdings nie zu Gesicht bekommen hätten, sagt Dr. Marcus Reuter, Archäologe und Leiter des Rheinischen Landesmuseums in Trier, im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Die Römer haben ihn auch nie als Philosophen-Kaiser gesehen. Das, was er geschrieben hat, wurde zu seinen Lebzeiten nie veröffentlicht. Das hat er abends im stillen Kämmerlein geschrieben."

Reuter verantwortet zusammen mit Viola Skiba, Historikerin und Direktorin des Stadtmuseums Simeonstift in Trier, eine große Marc Aurel Schau(15.6. bis 23.11.2025). Die Aktualität der Ausstellung sei größer als man erwartet hätte, meint Viola Skiba. Gerade in der heutigen Zeit, die von Krisen und Polarisierung geprägt ist, stelle sich die Frage, wie gute Führung aussehen sollte, mit neuer Dringlichkeit. Zugleich aber sei diese Fragestellung so alt wie die Menschheitsgeschichte und sei eben auch schon in der Antike bearbeitet worden.

Donald Trump - kein gutes Vorbild

Was macht denn laut Marc Aurel nun gute Führung aus? "Im Prinzip orientiert er sich an den Kardinaltugenden der Antike", sagt Viola Skiba der DW. Wünschenswerte Tugenden waren dort unter anderem: Weisheit, Gerechtigkeit, Besonnenheit und Mäßigung. Ein Schlüsselbegriff sei die "Gemeinwohl-Orientierung", also dass es wirklich um das Wohl der Allgemeinheit gehe. "Das ist sozusagen auch das, was schon in den Definitionen von Aristoteles (griechischer Philosoph, 384-322 vor Christus, Anmerkung der Red.) die gute von der schlechten Herrschaft trennt."

Ein Politiker wie Donald Trump sei in den Augen von Marc Aurel sicher "kein guter Herrscher und sicher kein Vorbild", ergänzt Marcus Reuter.

Nun muss man allerdings einschränkend hinzufügen, dass auch Marc Aurel ein Kind seiner Zeit war, aufgewachsen in der antiken Gesellschaftsstruktur. "Dass es Sklaverei gab - das hat auch ein Marc Aurel nicht abschaffen wollen", so Reuter. Er habe auch nicht in Frage gestellt, "dass es Leute mit und ohne römisches Bürgerrecht gab, oder dass Frauen nicht die gleichen Rechte hatten wie Männer". Aus heutiger Sicht mag es zudem befremden, dass der als tugendhaft geltende Kaiser brutale Kriege führte. "Nach antiken Maßstäben wurde vom Kaiser erwartet, dass er für die Sicherheit des Reiches sorgt und seine Bewohner schützt - und das zur Not auch mit sehr brutalen Mitteln."

Die Römer hätten Marc Aurel daher auch als vorbildlichen Kaiser wahrgenommen. "Er hat sich umfassend in Gerichtsprozesse eingearbeitet, er war bemüht, gerechte Urteil zu fällen, er hat stets die Staatsinteressen vorangestellt", so Reuter. Auch die Errichtung der "Porta Nigra" in Trier - heute berühmtes Wahrzeichen der Stadt - geht auf Marc Aurel zurück. Sie war Teil der Stadtmauer, die Aurel errichten ließ, um die Bürgerinnen und Bürger zu beschützen. Das Image des Philosophen-Kaisers allerdings bekam Aurel erst nach der Veröffentlichung seiner Selbstbetrachtungen im 15./16. Jahrhundert.

"Man benötigt nur wenig, um ein glückliches Leben zu führen"

Weise Worte wie diese können wie Hohn wirken aus dem Munde eines wohlhabenden Kaiser, waren aber wohl durchaus ernst gemeint. Und tatsächlich pflegte Marc Aurel einen eher schlichten Lebensstil und ließ, als der Staat zu seiner Zeit in eine finanzielle Krise geriet, sogar Teile des kaiserlichen Hausrates versteigern - also sein Privatvermögen. "Das hat, so weit ich weiß, vor ihm und auch nach ihm kein römischer Kaiser gemacht", sagt Marcus Reuter.

Marc Aurel habe sich generell viele Gedanken über den Sinn des Lebens gemacht. Und genau das sei wahrscheinlich auch der Grund, warum so viele jüngere Menschen sich heutzutage für ihn und seine Schriften interessierten. "Man muss schon sagen, dass seine Selbstbetrachtungen so eine kleine Fundgrube sind, weil man fast für jede Lebenslage etwas darin finden kann."

Marcus Reuter weist allerdings auch darauf hin, dass Marc Aurels Aufzeichnungen kein Buch zum Durchlesen von vorn bis hinten seien, sondern eines zum Reinblättern und sich inspirieren lassen. Im Grund handelt es sich um die privaten Notizen eines Menschen, der sich Gedanken darüber macht, was wichtig ist im Leben. Und so verwundert es nicht, dass der römische Kaiser weltweit in den Sozialen Medien zitiert wird.

Auf diesem Interesse an Marc Aurel und seinen Themen baut auch die Ausstellung in Trier auf, die Besucherinnen und Besucher aus aller Welt zum Nachdenken anregen möchte - über sich, über die Gemeinschaft und darüber, was ein einstiger römischer Kaiser uns Menschen heute noch zu sagen hat. Oder wie Viola Skiba es formuliert: "Jede Gesellschaft basiert auf den Einzelnen, und wenn jeder und jede Einzelne sich selbst diese philosophischen und politischen Fragen stellt, dann funktioniert das auch als Ganzes."

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Image caption Reiterstandbild des römischen Kaisers Marc Aurel in Rom
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Item 26
Id 72813054
Date 2025-06-07
Title Ukrainische Geheimoperationen in Russland
Short title Ukrainische Geheimoperationen in Russland
Teaser Während Russland die Ukraine massiv mit Raketen und Drohnen beschießt, greift auch die Ukraine immer häufiger Ziele tief in Russlands Hinterland an. Was waren die bisher spektakulärsten Operationen?
Short teaser Die Ukraine greift immer öfter Ziele tief in Russlands Hinterland an. Was waren die bisher spektakulärsten Operationen?
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In den vergangenen Tagen gab es auf verschiedenen Bahngleisen in den russischen Regionen Belgorod und Woronesch Explosionen, wodurch Züge entgleisten. Menschen kamen offiziellen Angaben zufolge nicht zu Schaden, doch die russischen Behörden ermitteln wegen Terrorismusverdachts. Die Explosionen ereigenten sich nach einer ganzen Reihe von Sabotageakten in Russland, die weltweit für Aufsehen sorgten und mutmaßlich auf geheimdienstliche Aktivitäten der Ukraine zurückzuführen sind.

Zerstörung von Logistik

Da die russische Eisenbahn Munition und Treibstoff für die Armee transportiert, war sie schon mehrfach Ziel von Sabotageakten der beiden ukrainischen Geheimdienste SBU und HUR. So sprengten am 30. November 2023 SBU-Agenten in einem Tunnel der Baikal-Amur-Magistrale einen mit Treibstoff beladenen Zug. Der Brand unterbrach tagelang die wichtigste Versorgungsroute der östlichen Regionen der Russischen Föderation.

Am 1. Juni 2025 stürzten fast zur gleichen Zeit Eisenbahnbrücken in den russischen Regionen Brjansk und Kursk ein, Züge entgleisten und sieben Passagiere starben. Auch hier ermitteln die russischen Behörden wegen Terrorismus, beschuldigen die ukrainischen Geheimdienste der Tat.

Angriffe auf die Krim-Brücke

Die 2018 eröffnete Brücke vom russischen Festland auf die 2014 von Russland annektierte ukrainische Halbinsel Krim ist ein zentrales Element der russischen Propaganda und eine der wichtigsten logistischen Adern zur Versorgung der russischen Truppen. Der SBU organisierte bereits drei Aufsehen erregende Angriffe auf die Brücke, die wiederholt Schwachstellen der russischen Verteidigung aufdeckten.

Am Morgen des 8. Oktober 2022 explodierte ein mit Sprengstoff beladener, aus der russischen Region Krasnodar kommender Lastwagen auf dem zweiteiligen Bauwerk. Teile der Autobrücke brachen auf über 100 Metern Länge ein. Zudem gerieten acht Dieseltanks, die sich auf den Bahngleisen daneben befanden, in Brand. "Die Operation wurde sechs Monate lang geplant, der Sprengstoff von Scheinfirmen über Georgien, Armenien und Kasachstan transportiert, um der russischen Kontrolle zu entgehen", erklärte damals SBU-Chef Wasyl Maljuk.

22 Tage lang stand der Verkehr auf der Brücke still, was zu einem Mangel an Treibstoff und Munition auf der Krim führte und die russische Armee zu einer Umleitung ihrer Versorgung über die besetzten Gebiete der Region Saporischschja zwang. Der Anschlag hatte große psychologische Wirkung, denn er zeigte, dass wichtige russische Einrichtungen trotz strenger Bewachung verwundbar sind.

Im Sommer des folgenden Jahres setzte die Ukraine ihre Angriffe fort. Moskau war gezwungen, die Verteidigung der Krim-Brücke mit teuren S-400-Luftabwehrsystemen zu verstärken. Dennoch gab es kurz darauf einen weiteren Angriff - nicht aus der Luft, sondern vom Meer aus. Zwei Drohnen-Boote explodierten in der Nähe von Brückenpfeilern. Erneut musste Russland den Verkehr einen Monat lang einschränken. Der Angriff markierte zudem den Beginn einer ganzen Reihe von Drohnen-Attacken, die Russlands Vorherrschaft im Schwarzen Meer einschränkten.

Im Dezember 2024 griff der SBU ein Schiff an, das Baumaterial für die Brückenreparaturen transportierte. Zwei Kamikaze-Drohnen trafen das Schiff direkt in der Meerenge von Kertsch, vernichteten die Ladung und verletzten laut russischen Quellen 15 Besatzungsmitglieder. Daraufhin musste Russland auch dort seine Patrouillen verstärken.

Nicht einmal sechs Monate später, am 3. Juni 2025, platzierte der SBU unter Wasser Minen an Pfeilern der Krim-Brücke und zündete sie aus der Ferne. Aus Kyjiw hieß es, Agenten hätten die Pfeiler vermint, doch russische Medien bestritten Berichte über schwere Schäden. Dennoch wurde der Verkehr über die Brücke zeitweise unterbrochen.

Flugplätze im Visier

Die strategischen Luftstreitkräfte Russlands spielen vom ersten Kriegstag an eine wichtige Rolle bei den Raketenangriffen auf die Ukraine. Daher sind Flugplätze ein vorrangiges Ziel des SBU und HUR.

Die erste bedeutende Operation war die Beschädigung eines auf einem Flugplatz in Belarus stationierten Radarflugzeugs vom Typ A-50 durch FPV-Drohnen. Sie musste mit viel Aufwand repariert werden. Kyjiw bestritt zunächst eine Beteiligung, doch im März 2024 gab Wasyl Maljuk zu, dass es sich um zwei ukrainische Drohnen gehandelt habe.

Im August desselben Jahres griff der HUR tief im russischen Hinterland den Flugplatz Solzi in der Region Nowgorod an. Mindestens ein Tu-22M3-Bomber wurde beschädigt. Doch es gab auch auf ukrainischer Seite Verluste. Laut dem HUR geriet sein Spähtrupp bei der Rückkehr in ukrainisch kontrolliertes Gebiet in einen Hinterhalt - ein Oberstleutnant starb.

Die bislang spektakulärste Aktion ereignete sich am 1. Juni 2025: Ganze Drohnen-Schwärme, insgesamt 117 Stück, griffen gleichzeitig vier Flugplätze in verschiedenen Teilen Russlands an. Sie wurden in gewöhnlichen Lastwagen, deren Fahrer nichts von der geheimen Fracht wussten, nah an die Stützpunkte gebracht. Laut dem SBU wurden bei der Operation "Spinnennetz" 41 Flugzeuge zerstört, darunter vom Typ A-50, Tu-95, Tu-22M3 und Tu-160, was 34 Prozent der russischen Träger für Marschflugkörper entspricht. Der NATO zufolge wurden über 40 Maschinen beschädigt, davon zehn bis 13 völlig zerstört. Russische Quellen sprechen von geringeren Verlusten.

Drohnen statt Raketen

Im Juli 2023 griff der SBU die Moskauer City an. Zwei aus Leichtflugzeugen gebaute Drohnen trafen Gebäude, ohne nennenswerte Schäden anzurichten. Die Attacke löste aber in der russischen Hauptstadt Panik aus. Laut Reuters war die Luftabwehr gegen kleine Drohnen unwirksam, weswegen die Sicherheitsmaßnahmen in Moskau verschärft wurden.

In der Folgezeit wurden Angriffe mit Drohnen alltäglich und immer wieder wurden Rekorde bei der Reichweite aufgestellt. So flog im April 2024 eine HUR-Drohne 1200 Kilometer bis nach Nischnekamsk in der Teilrepublik Tatarstan, wo sie eine Ölraffinerie in Brand setzte und die Produktion teilweise zum Erliegen brachte. Im Juni des Jahres griffen SBU-Drohnen nach einem Flug von rund 1800 Kilometern Radarstationen vom Typ "Woronesch" in der Region Orenburg an, die Teil des Frühwarnsystems für Raketenangriffe waren.

Hochrangige Vertreter des russischen Militärs im Visier

Der SBU und der HUR verübten außerdem Mordanschläge auf mutmaßliche Kollaborateure, russische Offiziere oder Ingenieure, die an Raketenangriffen auf zivile Ziele beteiligt waren.

Bekannt ist, dass der SBU im Dezember 2024 in Moskau den Kommandeur der russischen Truppen zur Abwehr radiologischer, chemischer und biologischer Gefahren, Generalleutnant Igor Kirillow, und einen seiner Mitarbeiter getötet hat. Kirillow wurden Kriegsverbrechen vorgeworfen, darunter Angriffe mit Chemiewaffen auf ukrainische Verteidigungskräfte.

Anfang dieses Jahres erschossen ukrainische Agenten in Moskau Michail Schazkij, den stellvertretenden Chef des Konstruktionsbüros "Mars", der für die Modernisierung von Raketen sowie für die Entwicklung neuer Drohnen zuständig war. Die Operation bestätigte der ukrainische Militärgeheimdienst, ohne Details mitzuteilen.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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Image caption Die Operation "Spinnennetz" richtete sich gegen die russischen strategischen Luftstreitkräfte
Image source Source in the Ukrainian Security Service/AP/picture alliance
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Item 27
Id 72831375
Date 2025-06-07
Title Internationaler Strafgerichtshof: Washingtons Sanktionen und Europas Wut
Short title Strafgerichtshof: Washingtons Sanktionen und Europas Wut
Teaser Warum verhängen die USA erneut Sanktionen gegen den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH)? Nach Donald Trumps jüngster Vergeltungsaktion sieht sich Washington weltweit wachsender Kritik ausgesetzt.
Short teaser Warum verhängen die USA erneut Sanktionen gegen den IStGH? Nach Trumps jüngster Vergeltungsaktion wächst die Kritik.
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Die Vereinten Nationen und die EU haben scharfe Kritik an den jüngsten Sanktionen gegen den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) durch die US-Regierung von Präsident Donald Trump geübt. Die EU will mögliche Reaktionen prüfen.

Der IStGH ziehe die Täter der weltweit schwersten Verbrechen zur Rechenschaft und gebe den Opfern eine Stimme, schreibt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in sozialen Medien. Das Gericht müsse frei handeln können, ohne unter Druck zu stehen.

Volker Türk, Menschenrechtskommissar der Vereinten Nationen, kritisiert die US-Sanktionen ebenfalls scharf. Diese Angriffe auf Richter liefen der Rechtsstaatlichkeit direkt zuwider, so Türk. Sie seien "zutiefst zersetzend für eine verantwortungsvolle Regierungsführung".

USA: "Illegitime Aktionen"

Die USA hatten am Donnerstag neue Sanktionen gegen vier Richterinnen des IStGH wegen "illegitimer Aktionen gegen die Vereinigten Staaten und Israel" erlassen. Die US-Regierung argumentiert, der Gerichtshof habe keine legitime Zuständigkeit über US-Personal oder US-Verbündete wie Israel, da weder die USA noch Israel Vertragsstaaten des IStGH sind.

"Der IStGH ist politisiert und beansprucht fälschlicherweise uneingeschränkte Ermessensfreiheit, um gegen Staatsangehörige der Vereinigten Staaten und unsere Verbündeten zu ermitteln, sie anzuklagen und zu verfolgen. Dieser Machtmissbrauch verletzt die Souveränität und die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten und unserer Verbündeten", ließ US-Außenminister Marco Rubio in einem Statement verlauten.

Machtfülle des Präsidenten

Außerdem beruft sich Washington auf den "International Emergency Economic Powers Act" (IEEPA) aus dem Jahr 1977. Diese Gesetzessammlung gebe dem US-Präsidenten die Befugnis, wirtschaftliche Sanktionen zu verhängen, wenn er die nationale Sicherheit oder die Außenpolitik der USA bedroht sehe.

Der IStGH wurde 2002 als Gericht der letzten Instanz eingerichtet, um Staatsoberhäupter und andere Schlüsselfiguren für Gräueltaten zur Verantwortung zu ziehen, wenn die Justiz in den betroffenen Staaten selbst keine Gerichtsverfahren durchführen kann oder will. Mehr als 120 Staaten, darunter alle EU-Mitgliedstaaten, sind dem internationalen Vertrag zur Einrichtung des Gerichtshofs freiwillig beigetreten.

Strafen gegen vier Richterinnen

Der IStGH wertete die US-Sanktionen als "einen klaren Versuch, die Unabhängigkeit einer internationalen Justizinstitution zu untergraben". Die Arbeit des Strafgerichtshofes verschaffe "Millionen von Opfern unvorstellbarer Gräueltaten Gerechtigkeit und Hoffnung".

Die jüngsten Sanktionen reihen sich ein in eine Serie von Strafmaßnahmen der US-Regierung gegen den IStGH. Diesmal richten sie sich gegen vier IStGH-Richterinnen Solomy Balungi Bossa (Uganda), Luz del Carmen Ibáñez Carranza (Peru), Reine Alapini-Gansou (Benin) sowie Beti Hohler (Slowenien).

Zwei von ihnen waren an einem Verfahren beteiligt, das am 21. November 2024 zu einem IStGH-Haftbefehl gegen den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu führte. Die Vorwürfe lauteten unter anderem auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gazastreifen. Israel streitet die Vorwürfe ab.

Die beiden anderen Richterinnen, die auf der schwarzen Liste stehen, hatten die Untersuchung von mutmaßlichen Kriegsverbrechen der US-Streitkräfte in Afghanistan genehmigt.

Feldzug gegen internationale Justiz

Bereits während seiner ersten Amtszeit (2017-2021) hatte Trump Sanktionen gegen das Gericht angeordnet, als dieses mutmaßliche Kriegsverbrechen von US-Soldaten in Afghanistan untersucht hatte. Diese machte sein Nachfolger Biden wieder rückgängig.

Die neuen Sanktionen vom Donnerstag kommen zu den Maßnahmen hinzu, die im Februar gegen den Chefankläger des Gerichtshofs, Karim Khan, angekündigt wurden. Sie kommen auch inmitten turbulenter Zeiten für das Gericht, da Khan im letzten Monat zurückgetreten ist, bis eine Untersuchung von Vorwürfen sexuellen Fehlverhaltens abgeschlossen ist.

Kein Zugriff mehr auf E-Mails

Im Rahmen der Sanktionen ist es US-Unternehmen und -Bürgern untersagt, den auf der schwarzen Liste stehenden Richterinnen und Richtern Gelder, Waren oder Dienstleistungen zukommen zu lassen. Außerdem werden alle Vermögenswerte, die sie in den USA besitzen, eingefroren.

Laut der US-Nachrichtenagentur Associated Press gehören zu den Dienstleistungen auch E-Mail-Programme US-amerikanischer Digitalkonzerne. So habe Chefankläger Karim Khan keinen Zugriff mehr auf seine E-Mails und seine Bankkonten in den USA seien eingefroren worden.

Dem AP-Berichtzufolge hatten diese Unternehmen ihre Dienste eingestellt, weil sie befürchteten, von den US-Behörden wegen der Unterstützung von Personen, die auf der schwarzen Liste stehen, ins Visier genommen zu werden. Auch einige Nichtregierungsorganisationen haben Berichten zufolge ihre Zusammenarbeit mit dem Gericht eingestellt.

Kann die EU Sanktionen blockieren?

Die EU versprach am Freitag, den Internationalen Strafgerichtshof weiterhin zu unterstützen. Einige Länder hoffen auf härtere Maßnahmen wie das sogenannte "Blocking Statute". Diese bereits in den 1990er Jahren erlassenen EU-Gesetze zielen darauf ab, den extraterritorialen Schlag der US-Maßnahmen abzufedern. Sie verbieten zum Beispiel EU-Firmen die Einhaltung von US-Sanktionen, die der Block für illegal hält.

Es sollte verhindern, dass die US-Restriktionen gegen Kuba den europäischen Handel mit dem Land lahmlegten. Die Gesetze wurden später aktualisiert, um die US-Sanktionen gegen den Iran einzubeziehen. Nun fordern Slowenien und Belgien die Exekutive der EU auf, dieselben Gesetze auch gegen die neuesten US-Sanktionen anzuwenden.

Allerdings sind die EU-Mitgliedsstaaten beim IStGH nicht immer einer Meinung. Dies zeigt sich unter anderem bei der EU-weiten Kooperation von Justiz- und Polizeibehörden. Denn im Gegensatz zu den nationalen Gerichten hat der IStGH keinen Polizeidienst. Stattdessen ist er darauf angewiesen, dass die Mitglieder Verdächtige ausliefern, die in ihrem Hoheitsgebiet eintreffen.

"Der IStGH wird bekanntlich als ein Riese ohne Arme und Beine beschrieben - er kann diese Haftbefehle nicht wirklich durchsetzen. Das hängt vom politischen Willen der Staaten ab", sagte der Völkerstrafrechtsdozent Mathjiy Holvoet Anfang des Jahres gegenüber der DW.

So gelang es Italien Anfang 2025 nicht, einen vom IStGH wegen angeblicher Kriegsverbrechen gesuchten libyschen Polizeichef festzunehmen. Und Ungarn zog sich aus dem Gerichtshof zurück, nachdem es Netanjahu in offensichtlicher Missachtung des Haftbefehls des IStGH den roten Teppich ausgerollt hatte.

Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert und aktualisiert.

Item URL https://www.dw.com/de/internationaler-strafgerichtshof-washingtons-sanktionen-und-europas-wut/a-72831375?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/66249782_302.jpg
Image caption Schon wieder Sanktionen: Die USA haben den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag erneut abgestraft
Image source Remko de Waal/ANP/picture alliance
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Item 28
Id 72824151
Date 2025-06-07
Title Dreyfus, Haiti, Vietnam: Historische Aufarbeitung als Ventil
Short title Dreyfus, Haiti, Vietnam: Historische Aufarbeitung als Ventil
Teaser Während Frankreich bei großen Reformprojekten nicht vom Fleck kommt, gewinnt die Erinnerungspolitik an Fahrt. Drei Initiativen erkennen historische Ungerechtigkeiten an und versuchen, sie zumindest symbolisch zu heilen.
Short teaser Während Frankreich bei großen Reformprojekten nicht vom Fleck kommt, gewinnt die Erinnerungspolitik an Fahrt.
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Zwei Jahre nach der umstrittenen Reform zur Rente mit 64 stimmte die Nationalversammlung in dieser Woche für deren Rücknahme. Juristisch bleibt das folgenlos, politisch ist der Schritt jedoch brisant - zumal das Rassemblement National (RN) der linken Opposition zur Mehrheit verholfen hat. Seit den Parlamentswahlen im vergangenen Sommer steckt Frankreich bei strukturellen Reformen fest. Die Regierung hat keine absolute Mehrheit im Parlament.

Auf dem Terrain der Erinnerungspolitik hingegen herrscht Bewegung wie selten zuvor. In derselben Sitzungswoche nahmen die Abgeordneten drei Texte an, die historische Ereignisse neu einordnen oder Wiedergutmachung in Aussicht stellen.

Alfred Dreyfus - Posthum zum General

Am 2. Juni 2025 beschloss die Nationalversammlung in Paris einstimmig, Alfred Dreyfus posthum zum Brigadegeneral zu ernennen. Der jüdische Offizier wurde 1894 zu Unrecht des Hochverrats angeklagt. Die Vorwürfe stützten sich auf gefälschte Beweise. Angeblich habe Dreyfus militärische Geheimnisse an die deutsche Botschaft in Paris weitergegeben. Vier Jahre verbrachte Dreyfus in der Strafkolonie Teufelsinsel vor der Küste von Französisch-Guayana.

Die deutsch-französische Dimension verlieh dem Fall schon damals eine außenpolitische Brisanz. Seine jüdische Herkunft, seine Abstammung aus dem 'Reichsland Elsass-Lothringen', das nach dem Krieg von 1870/71 unter deutsche Herrschaft gelangte, und die angespannten Beziehungen zu Deutschland machten ihn zur idealen Projektionsfläche für nationalistisches Misstrauen. Der Schriftsteller Émile Zola stellte sich mit seinem berühmten Artikel „J'accuse…!" auf die Seite Dreyfus‘.

Zwar rehabilitierte die Republik den Offizier 1906, der noch im Rang eines Oberstleutnants am Ersten Weltkrieg teilnahm. Doch blieb seine militärische Karriere bis heute unvollständig wiederhergestellt. Die nun beschlossene posthume Beförderung zum General wurde vom Elsässer Abgeordneten Charles Sitzenstuhl eingebracht und muss noch den Senat passieren. "Der Antisemitismus, der Alfred Dreyfus plagte, gehört nicht der fernen Vergangenheit an", warnte der Abgeordnete von Macrons Renaissance-Partei, der Berichterstatter für diesen Gesetzentwurf ist.

Anerkennung der "Rapatriés d'Indochine"

Einen Tag nach dem Dreyfus-Votum verabschiedete die Nationalversammlung ein Gesetz zur Anerkennung und Entschädigung ehemaliger Rückkehrer aus Vietnam. Nach dem Ende der französischen Herrschaft in Indochina 1954 wurden etwa 44.000 Personen, darunter Kolonialbeamte, Soldaten, deren Familien, sowie Nachkommen französischer Kolonisatoren und einheimischer Frauen und vietnamesische Kollaborateure, nach Frankreich repatriiert.

Etwa 4000 bis 6000 Rückkehrer landeten in provisorischen Lagern, oft in Holzbaracken ohne Heizung, fließendes Wasser oder Toiletten. Ausgehverbote und das Verbot, Fahrzeuge oder andere Wohlstandsgüter zu besitzen, prägten ihren Alltag in einer menschenunwürdigen Umgebung.

Das von den Sozialisten eingebrachte Gesetz sieht nun pauschale finanzielle Unterstützungen vor, die sich an der Aufenthaltsdauer in den Lagern orientiert. Schätzungen zufolge könnten noch bis zu 1600 Personen einen Entschädigungsanspruch geltend machen.

Resolution zu Haiti

Am 5. Juni verabschiedete die Versammlung eine Resolution zur sogenannten "doppelten Schuld" gegenüber Haiti. 1825 zwang Frankreich das am 1. Januar 1804 unabhängig gewordene Haiti, eine Entschädigung von 150 Millionen Goldfranken zu zahlen. Damit sollte die Unabhängigkeit anerkannt und der Verlust französischer Kolonialbesitztümer, einschließlich entgangener Sklaveneinnahmen, kompensiert werden. Diese "Unabhängigkeitsschuld" musste Haiti über Jahrzehnte hinweg begleichen. Das belastete die dortige Wirtschaft erheblich, was zu langfristiger Armut und Instabilität der Insel beitrug.

Die Initiative aus dem kommunistischen Lager ruft zu Anerkennung, Rückzahlung und Reparation auf. Konkrete politische Schritte oder finanzielle Vereinbarungen sind allerdings nicht Teil des Textes. Das RN stimmte gegen die Resolution.

Erinnerungspolitik mit Tradition

Erinnerungspolitische Voten haben in Frankreich Tradition. Mit der so genannte "Loi Taubira" wurde im Jahr 2001 Sklavenhandel und Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt. Auch in Schulen steht das Thema seitdem auf dem Lehrplan. Im Oktober 2006 verabschiedete die Nationalversammlung einen Gesetzesvorschlag, der das Leugnen des Völkermords an den Armeniern von 1915 im Osmanischen Reich unter Strafe stellen sollte. Vorgesehen waren bis zu ein Jahr Freiheitsstrafe oder 45000 Euro Geldbuße. Das Vorhaben passierte den Senat jedoch nicht und trat daher nie in Kraft.

Unter Präsident Nicolas Sarkozy wurde ein neuer, ähnlicher Gesetzesentwurf eingebracht. Dieser passierte beide Kammern des Parlaments, wurde jedoch im Februar 2012 vom französischen Verfassungsrat für verfassungswidrig erklärt, da er einen unzulässigen Eingriff in die Meinungs- und Forschungsfreiheit darstelle.

Ein weiteres Beispiel ist der Umgang mit den sogenannten "tirailleurs sénégalais", den Kolonialsoldaten aus Afrika, die in den beiden Weltkriegen für Frankreich gekämpft haben. Jahrzehntelang erhielten viele von ihnen deutlich geringere Pensionen als ihre französischen Kameraden, vor allem wenn sie nach der Dekolonisierung nicht in Frankreich lebten. Erst 2009 verfügte Präsident Sarkozy eine Angleichung der Rentenleistungen, ein Schritt mit großer symbolischer Tragweite.

Zwischen Anerkennung und politischer Funktion

Politikwissenschaftlich wird die aktuell hohe Zahl solcher Initiativen unterschiedlich bewertet. Einige Fachleute sehen darin eine Form gesellschaftlicher Reife und Bereitschaft zur historischen Verantwortung. Andere weisen darauf hin, dass sich in einer politisch gelähmten Legislative symbolische Initiativen leichter durchsetzen lassen als strukturelle Reformen etwa in den Bereichen Rente, Bildung oder Haushalt.

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Image caption Nachfahren von Alfred Dreyfus verfolgen die Debatte, in der die Nationalversammlung den Offizier posthum zum Brigadegeneral befördert
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Item 29
Id 72814518
Date 2025-06-07
Title Laos: Tourismus als Ausweg aus der Armut?
Short title Laos: Tourismus als Ausweg aus der Armut?
Teaser Laos ist eines der ärmsten Länder in Südostasien. Doch die Stadt Luang Prabang ist ein Touristenmagnet. Deren Bewohner konnten damit der Armut entkommen. Kann der Rest des Landes diesem Beispiel folgen?
Short teaser Laos ist eines der ärmsten Länder in Südostasien. Doch die Stadt Luang Prabang ist ein Touristenmagnet.
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Die Stadt Luang Prabang befindet sich im Norden von Laos. Sie erlebt so etwas wie einen Wirtschaftsboom. Noch vor zehn Jahren sah man auf der Sisavangvong Road, der zentralen Straße der Stadt, selten ausländische Touristen. Diese waren meistens Rucksacktouristen auf der Durchreise nach Thailand oder Vietnam.

Doch heute ist alles anders. Am südlichen Ende der jetzt belebten Straße, die vom buddhistischen Tempel Wat Pa Phai abgeht, sind gut besuchte Märkte für Kunsthandwerk. Durch die Sisavangvong Road selbst schlendern internationale Reisende, die in schicken Bars und Restaurants essen und trinken. Die Reisebüros sind auf die internationale Kundschaft eingestellt.

Offizielle Zahlen zeigen einen Anstieg der Besucherzahlen um 162 Prozent im Vergleich zum Vorjahr (Stand: April 2025). Luang Prabang wurde auch von "Lonely Planet" als Asiens Top-Reiseziel für 2025 bezeichnet - wegen der einzigartigen Kombination aus Kultur, Natur und Geschichte.

Tausende Familien von Armut befreit

Selbst die Regierung der laotischen Provinz war überrascht von der steigenden Beliebtheit. 2024 strebte sie 900.000 Besucher an. Es kamen über zwei Millionen, die knapp 500 Millionen Euro ausgaben. Nach offiziellen Angaben konnten über 16.000 Familien der Armut entkommen, was 98,3 Prozent der Gesamtbevölkerung der Stadt entspricht. Die Stadt zählt insgesamt 70.000 Einwohner.

Das bedeutet, dass diese einen festen Arbeitsplatz und einen festen Wohnsitz haben. Auch eine Sekundarschulbildung und der Zugang zu medizinischer Grundversorgung, sauberem Wasser und Energie zeigen den Erfolg.

Doch das Land Laos mit 7,8 Millionen Einwohnern gehört weiterhin zu den ärmsten Ländern der Welt. Die UN führen das südostasiatische Land auf der Liste der am wenigsten entwickelten Länder (LCD). Laos ist mit 13,8 Milliarden US-Dollar hoch verschuldet. Die Gesamtschulden sind höher als die jährliche Wirtschaftsleistung des Landes. Entsprechend ist die Landeswährung Kip sehr schwach.

Neben der Landwirtschaft will Laos, durch das viele wasserreiche Flüsse mit Quellen im Himalaja fließen, stark in die Wasserkraft investieren und die "Batterie" für die Region zu werden. Es kamen chinesische Investoren. Und die Regierung steht bei ihnen tief in der Kreide.

Tourismus als Ausweg?

Der Touristenboom in Luang Prabang, der alten Hauptstadt des Königreichs Lan Xang bis zum 18. Jahrhundert und später des französischen Protektorates, weckt die Hoffnung, dass der Tourismus ein Wirtschaftsfaktor werden könne. Allerdings warnen Analysten davor, dass vom Tourismus nicht zwingend alle Menschen im Lande profitieren würden.

Zum Beispiel: 2024 kamen über eine Million chinesische Touristen nach Laos. Die meisten von ihnen waren die so genannten "Null-Dollar"-Touristengruppen, die den Veranstaltern nicht ansatzweise kostendeckend für die Reise bezahlen. Außerdem konsumieren sie nur in Läden in Laos, die mit China geschäftlich verbunden sind. Die lokale Wirtschaft durfte dabei nur zugucken, wie die Menschenmassen durch ihr Dorf marschieren.

"Die neue Zugverbindung, die China mit Laos verbindet, hat zwar die Zahl der Touristen erhöht, aber keine nennenswerten wirtschaftlichen Vorteile für die laotische Bevölkerung gebracht", sagt Professor Worrawoot Jumlongnark von der thailändischen Mahasarakham-Universität. Bis Ende 2024 kamen knapp 43 Millionen Bahnreisende nach Laos, nachdem die Strecke 2022 in Betrieb genommen worden war.

"Die Provinz Luang Prabang liegt an der laotisch-chinesischen Eisenbahn. Wir können uns mehr auf die Landwirtschaft und den Export konzentrieren. Und die Eisenbahn kann das Exportgeschäft nach China ankurbeln, was den Menschen vor Ort zugutekommen kann", sagt Inthy Danesavanh, Vorsitzender der Inthira Group und Spezialist für Ökotourismus in Laos, das zwischen Vietnam und Thailand liegt. Beide Länder gelten als Traumziele des Massentourismus.

"Und ich glaube fest an den Tourismus, denn Laos ist von fünf bevölkerungsreicheren Ländern umgeben. Mehr als 200 Millionen Touristen reisen jedes Jahr durch Laos oder in die Nähe von Laos", sagt der Tourismusexperte der DW. "Ich glaube, dass Tourismus, Landwirtschaft und Logistik eine Zukunft haben und Laos helfen können, die Armut zu überwinden."

Aus dem Englischen adaptiert von Dang Yuan

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Image caption Stadtmitte von Luang Prabang als Touristenattraktion
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Item 30
Id 72821878
Date 2025-06-06
Title #FreeAlaa: Neue Proteste, neue Hoffnungen?
Short title #FreeAlaa: Neue Proteste, neue Hoffnungen?
Teaser Ein neuer UN-Bericht, der britische Premier und Menschenrechtsorganisationen fordern die Freilassung von Alaa Abdel-Fattah. Er ist Ägyptens bekanntester politischer Gefangener. Doch die Zeit läuft davon.
Short teaser Ein UN-Bericht weckt neue Hoffnung auf die Freilassung des ägyptischen Menschenrechtsaktivisten Alaa Abdel-Fattah.
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Es gerät wieder Bewegung in die Kampagne für die Freilassung des 43 Jahre alten ägyptisch-britischen Aktivisten Alaa Abdel-Fattah.

In dieser Woche erklärte die Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen der Vereinten Nationen (UNWGAD) die anhaltende Inhaftierung von Abel-Fattah für illegal. 18 Monate lang hatte die Arbeitsgruppe seinen Fall untersucht und festgestellt, dass zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung weder ein Haftbefehl noch andere Gründe für seine Festnahme vorlagen. Abdel-Fattah habe sein in Ägypten gesetzlich verbrieftes Recht auf Meinungsfreiheit ausgeübt.

Der Bericht schließt mit der Aufforderung an die ägyptische Regierung, "unverzüglich die erforderlichen Schritte zu unternehmen, um die Situation zu berichtigen". Abdel-Fattah müsse umgehend freigelassen und ihm sein Anspruch auf Wiedergutmachung und andere Entschädigungen im Einklang mit internationalem Recht zugestanden werden, so der Bericht.

Kairo hat noch nicht auf die Entscheidung des UN-Gremiums reagiert, für die in London lebende Familie von Abdel-Fattah kommt sie jedoch zu einem "entscheidenden Zeitpunkt", sagt Omar Hamilton, ein Cousin Abdel-Fattahs, der DW.

Die Mutter von Abdel-Fattah, Laila Soueif, befindet sich nun seit rund 250 Tagen in London im Hungerstreik, um die Freilassung ihres Sohnes zu bewirken. Diese Woche verschlechterte sich der Gesundheitszustand der 69-jährigen Britin rapide.

"Unsere Familie ist jeden Tag im Krankenhaus", betont Hamilton. "Wir tun, was wir können, um es ihr so erträglich wie möglich zu machen. Sie ist psychisch sehr stark und fest entschlossen."

Auch der britische Premier Keir Starmer verstärkte seine Unterstützung vergangene Woche deutlich. Zum zweiten Mal in diesem Jahr rief er den ägyptischen Präsidenten Abdel-Fattah al-Sisi an, um über die Situation von Abdel-Fattah, der seit 2022 die britische Staatsbürgerschaft besitzt, zu sprechen. Er forderte den Präsidenten auf, ihn zu begnadigen und wies auf das große Leid hin, dass die ägyptische Regierung der Familie verursache. Weitere Einzelheiten über das Gespräch und auch über die Reaktion Ägyptens sind nicht bekannt.

Die doppelte Staatsbürgerschaft von Abdel-Fattah wird von Ägypten nicht anerkannt, wie eine diplomatische Quelle der britischen Tageszeitung "The Guardian" berichtete.

Seit rund einem Jahrzehnt befindet sich der Aktivist bereits in Haft. Wegen der Teilnahme an einem Protest im Jahr 2013 wurde er 2015 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Im September 2019, als die ägyptische Regierung wieder einmal hart gegen politisch Andersdenkende vorging, wurde er erneut verhaftet und im Dezember 2021 wegen der "Verbreitung falscher Nachrichten" zu weiteren fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt.

Anstatt ihn im September 2024 freizulassen, zu dem Zeitpunkt, an dem Abdel-Fattah unter Berücksichtigung der Untersuchungshaft seine Strafe verbüßt hätte, ordneten die Behörden eine Haftverlängerung bis zum 3. Januar 2027 an. Obwohl die zwei Jahre, die er in Untersuchungshaft verbracht hatte, die in Ägypten gesetzlich zulässige Dauer einer Untersuchungshaft überstiegen, wurden sie nicht auf seine Haftstrafe angerechnet.

Vor etwa hundert Tagen trat Abdel-Fattah selbst in den Hungerstreik.

Für Abdel-Fattahs Mutter läuft die Zeit ab

Auch zahlreiche Menschenrechtsorganisationen haben ihre Kampagnen für die Freilassung von Abdel-Fattah wieder aufgenommen, sowohl in den sozialen Medien unter dem Hashtag #FreeAlaa, als auch auf politischer Ebene.

Anfang der Woche sendeten 21 Menschenrechtsorganisationen, darunter das PEN-Zentrum England und Human Rights Watch, einen offenen Brief an den ägyptischen Präsidenten Al-Sisi.

Yasmine Ahmed ist Chefin der britischen Sektion von Human Rights Watch und eine der Unterzeichnerinnen des Briefes. Sie sagte der DW, dass die Zeit davonlaufe: "Seit mehr als einem Jahrzehnt wird der prominente Schriftsteller und Aktivist nun gesetzeswidrig in Ägypten festgehalten. Seine Mutter steht währenddessen in einem Londoner Krankenhaus kurz vor dem Tod." Die britische Regierung müsse jeden ihr zur Verfügung stehenden diplomatischen und politischen Hebel nutzen, um Ägypten zur Freilassung des britischen Staatsbürgers Alaa Abdel-Fattah zu drängen, so Ahmed weiter.

Abdel-Fattah mag einer der prominentesten politischen Gefangenen in Ägypten sein, doch er ist bei Weitem nicht der einzige. Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass sich zwischen 65.000 und 70.000 politische Gefangene hinter Gittern befinden. Offiziell aber nennt Ägypten keine Zahlen und bezeichnet diese Gefangenen als "Terroristen".

In seinem jüngsten Bericht stellte der ägyptische Nationale Rat für Menschenrechte hingegen fest, dass im Zeitraum von Juni 2023 bis Juni 2024 "deutliche Fortschritte" im Bereich bürgerliche und politische Rechte erzielt worden seien. Der Rat war 2003 gegründet worden, um die nationale Strategie für Menschenrechte in Ägypten voranzubringen.

Miserable Menschenrechtslage in Ägypten

Für Christian Achrainer von der dänischen Roskilde-Universität, der schon viel zu Ägypten veröffentlicht hat, sind diese Behauptungen über erzielte Fortschritte und Forderungen nach verstärkten Anstrengungen nichts als Worthülsen.

"Grundsätzlich hat sich nicht viel verändert in den letzten Monaten im Hinblick auf die Menschenrechtslage in Ägypten. Sie ist nach wie vor sehr, sehr schlecht", beklagt er im Gespräch mit der DW. Seiner Einschätzung nach hat keine der Regierungsbehörden, die damit beauftragt wurden, die Menschenrechtssituation im Land zu verbessern, Erfolge zu verzeichnen.

"Grundsätzlich bleiben Presse und Meinungsfreiheit extrem eingeschränkt und Personen werden weiterhin wegen Meinungsäußerungen inhaftiert", fügt Achrainer hinzu.

Ägyptens politischer Einfluss

Ägypten lasse sich durch die wachsende internationale Aufmerksamkeit und die Forderungen nach einer Freilassung von Abdel-Fattah nicht beeindrucken, stellt Achrainer fest.

"Kairo ist sich seiner derzeit guten Verhandlungsposition gegenüber Europa sehr bewusst", erläutert er. "Das milliardenschwere Migrationsabkommen von 2024 zeigt deutlich, dass Europa bereit ist, bei Menschenrechtsfragen wegzuschauen, solange Ägypten dafür sorgt, dass weniger Flüchtlinge und Migranten nach Europa kommen."

Ägyptens Position als wichtiger Akteur in der Region wird weiter gestützt durch seine Kontakte mit allen Parteien im Konflikt um Gaza, den Kampf gegen Terrorismus, wirtschaftliche Interessen und seine potentielle Rolle in konfliktträchtigen Nachbarländern wie Libyen und Sudan.

"Dadurch weiß das Regime, dass es nicht zum Handeln im Fall Alaa oder auch generell im Bereich Menschenrechte gezwungen ist", führt Achrainer aus.

"Freiheit für alle politischen Gefangenen"

Seit Laila Soueif am Donnerstag der vergangenen Woche ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, versammeln sich die Familie und Unterstützer jeden Tag vor dem Eingang des St.-Thomas-Krankenhauses in London. "Eine unglaubliche Menge an Energie strömt aus der ganzen Welt herein", erzählt Hamilton. "Nicht nur wir, alle Menschen sind überzeugt, dass Alaa freigelassen werden sollte, dass alle politischen Gefangenen freigelassen werden sollten."

Adaptiert aus dem Englischen von Phoenix Hanzo.

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Image caption Alaa Abdel-Fattah besitzt auch die britische Staatsbürgerschaft, seine Familie lebt in London. Hier Protestplakate vor der Downing Street
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Item 31
Id 72821835
Date 2025-06-06
Title Tansanias hartes Durchgreifen: Belastungsprobe für Ostafrika
Short title Tansanias hartes Durchgreifen: Zerreißt es Ostafrika?
Teaser Die Wahlen in Tansania werfen dunkle Schatten: Aktivisten, die die Opposition unterstützen wollten, werden eingesperrt. Das sorgt für Spannungen mit den Nachbarländern.
Short teaser Vor den Wahlen in Tansania werden Oppositions-Aktivisten eingesperrt. Das sorgt für Spannungen mit den Nachbarstaaten.
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Ende Mai sorgte eine ungewöhnliche Bitte des kenianischen Präsidenten für Diskussion: Am "nationalen Gebetstag" bat William Ruto in Anwesenheit einer Delegation tansanischer Abgeordneter: "Unsere Nachbarn aus Tansania, wenn wir euch in irgendeiner Weise Unrecht getan haben, vergebt uns."

Die Bitte um Vergebung löste in Kenia unterschiedliche Reaktionen aus. Manche fanden sie angebracht, viele andere empörend. Der Grund: Keine Woche zuvor war der bekannte kenianische Fotojournalist und Aktivist Boniface Mwangi sichtbar geschwächt nach Kenia zurückgekehrt - nach fünf Tagen Haft in Tansania. Mwangi und die ugandische Aktivistin Agather Atuhaire waren zuvor nach Tansania gereist, um den inhaftierten Oppositionsführer Tundu Lissu zu unterstützen, der wegen des Vorwurfs des Hochverrats vor Gericht steht. Lissu hatte mit seiner Partei für Demokratie und Entwicklung (Chadema) gefordert, die tansanische Verfassung noch vor den für Oktober angesetzten Wahlen zu reformieren.

Brutales Vorgehen oder Schutz der "politischen Kultur"?

Anfang der Woche traten Mwangi und Atuhaire vor die Presse und erhoben schwere Vorwürfe. Sie seien in ihrem Hotel verhaftet und später brutal gefoltert und vergewaltigt worden. Mwangi schilderte zahlreiche Details, die er auch auf der Social-Media-Plattform X veröffentlichte. "Wir wurden schlimmer behandelt als Hunde", sagte der Aktivist nach seiner Rückkehr in Nairobi.

Der tansanische Regierungssprecher Gerson Msigwa bestätigt, dass Mwangi und Atuhaire des Landes verwiesen wurden. Doch alle anderen Vorwürfe streitet er ab. "Haben sie (Mwangi und Atuhaire) Beweise für diese Grausamkeiten? Sie können nicht einfach anfangen, das Land mit Behauptungen zu beschmutzen, für die sie keine Beweise haben. Sie sind ins Land eingedrungen und haben die Ordnung verletzt. In diesem Land gibt es Gesetze und Regeln." Stattdessen greift er die Aktivisten an: "Niemand sollte hierherkommen und versuchen, Tansania die politische Kultur seines Landes aufzuzwingen."

Stagnierende Wirtschaft und Angst vor "Gen-Z-Protesten"

Für den kenianischen Ökonomen James Shikwati ist das Motiv für das Handeln der tansanischen Regierung klar: "Was sich hier zeigt, ist die Angst vor dem, was sich in Kenia im Juni letzten Jahres ereignete, als junge Menschen demonstrierten und bis zum Parlamentsgebäude vordringen konnten", so Shikwati, der die Denkfabrik Inter Region Economic Network (IREN Kenya) leitet. Mit den oft als "Gen-Z-Proteste" benannten Demonstrationen reagierten junge Kenianer auf einen Gesetzentwurf, der die Bevölkerung mit hohen Steuern belastet hätte. "Ich denke, das hat unsere Nachbarn sehr dünnhäutig gemacht gegenüber Personen, die die Fähigkeit besitzen, Menschen zu mobilisieren."

Das alles spiele sich vor dem Hintergrund einer schwierigen Wirtschaftslage ab, so Shikwati im DW-Interview: "Einkommen und Arbeitsmöglichkeiten schrumpfen, die globale Dynamik verändert sich, die globale Wirtschaft wird militarisiert. Das heißt, die gewohnten Handelsmuster greifen nicht mehr und das wenige, was diese Länder an Einnahmen hatten, verschwindet über Nacht." Internationale NGOs ziehen sich zurück, und die durch US-Präsident Donald Trump veranlassten USAID-Einsparungen treffen Ostafrika hart. Zudem bekomme die Region die Wirtschaftseinbußen des Exportgiganten Kenia deutlich zu spüren, sagte der Experte.

Martha Karua: "Menschenrechte haben keine Grenzen"

Was bedeutet die aufgeheizte Stimmung in Tansania für die Ostafrikanische Gemeinschaft, die 2000 von Kenia, Uganda und Tansania gegründet wurde? Eigentlich dürfen Bürger mit ihrem nationalen Pass frei zwischen den Mitgliedsstaaten reisen, eine Regelung, die bis in die 1960er Jahre zurückreicht. Viele in der Region nutzen diese Freiheit, um in Nachbarländern zu arbeiten oder zu studieren. Doch inzwischen wächst vor allem unter Kenianern die Angst, nach Tansania zu reisen.

Tatsächlich waren auch einige Aktivisten und Menschenrechtler, die Tundu Lissu unterstützen wollten, an der Einreise gehindert worden - unter ihnen Kenias frühere Justizministerin und Anwältin Martha Karua. Sie steht auch im Kontakt mit Ugandas inhaftiertem Oppositionspolitiker Kizza Besigye und setzte sich erfolgreich für bessere Haftbedingungen für ihn ein. Karua äußerte sich gegenüber der DW zu beiden Fällen und erklärte: "Menschenrechte haben keine Grenzen."

Unter den Regierenden herrscht Harmonie

Auf Regierungsebene erwartet Shikwati keine größeren Verstimmungen. Die Äußerungen Rutos am nationalen Gebetstag senden für ihn eine klare Botschaft: "Man konnte sehen, wie die kenianische Regierung versucht, sich zu distanzieren und zu sagen: Seht her, wir gehören nicht zu den Aktivisten." Er erwartet, dass hinter verschlossenen Türen nach Lösungen für den Umgang mit den grenzüberschreitenden Protesten gesucht wird.

Für Shikwati zeigen die Ereignisse, wie wenig die bisherigen Vorstellungen von der Wirtschaftsgemeinschaft der Realität entsprechen. Ostafrika habe zwar auf gute Zusammenarbeit der Regierungen gesetzt, aber man habe nicht bedacht, dass auch die Opposition die Gemeinschaft nutzen könnte, um ihre eigenen Ziele voranzutreiben.

Ungeachtet aller Unterstützung von außen sieht sich Präsidentin Samia Suluhu Hassan auch innerhalb Tansanias großem Gegenwind ausgesetzt. Denn die Vorstellungen, was Tansanias "politische Kultur" ausmacht, weichen teils stark von der Regierungsdarstellung ab. So formulierte der bekannte Bischof einer Erweckungskirche, Josephat Gwajima, selbst Parteimitglied der Regierungspartei Chama Cha Mapinduzi (CCM), schon Ende Mai: "Ich möchte euch die Wahrheit sagen: Entführungen sind nicht unsere tansanische Kultur." Menschen sollten nur auf Grundlage des Gesetzes verhaftet werden, betonte er.

Gwajimas Kirche wurde vergangenen Montag geschlossen. Die Registerstelle für Zivile Gesellschaften in Tansania begründete die Entscheidung damit, dass die Kirche gegen das Gesetz verstoßen habe, weil sie in einer Weise gepredigt habe, die die Bürger gegen die Regierung aufbringe. Vom Bischof selbst fehlt jetzt jede Spur.

Mitarbeit: Thelma Mwadzaya (Nairobi), Florence Majani

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Image caption Bei einer Pressekonferenz am Montag (02.06.25) sprechen Agather Atuhaire und Boniface Mwangi von Folter und Vergewaltigung durch tansanische Sicherheitskräfte
Image source Thomas Mukoya/REUTERS
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Item 32
Id 72637085
Date 2025-06-06
Title Der heimatlose Deutsche: 150 Jahre Thomas Mann
Short title Der heimatlose Deutsche: 150 Jahre Thomas Mann
Teaser Er war ein Jahrhunderterzähler und blieb auch im Exil dem Schicksal der Deutschen verbunden. Am 6. Juni 2025 jährt sich Thomas Manns Geburt zum 150. Mal. Sein Erbe ist bis heute von Bedeutung.
Short teaser Der Jahrhunderterzähler blieb auch im Exil dem Schicksal der Deutschen verbunden. Sein Erbe ist bis heute von Bedeutung.
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Die Literaturwelt ist sich einig: Leben und Schreiben waren bei Thomas Mann (1875-1955) aufs Engste verknüpft. Der deutsche Autor wurde weltbekannt - als bedeutende Stimme der Kultur ebenso wie als Wanderer zwischen den Welten. Zwar gründet seine Berühmtheit in erster Linie auf seinem schriftstellerischen Werk - er schrieb große Romane wie die "Buddenbrooks", für den er 1929 den Literaturnobelpreis erhielt, den"Zauberberg" oder "Dr. Faustus". Bedeutend machte ihn aber auch sein politisches Engagement. Er verfasste Essays, formulierte Rundfunkansprachen: Thomas Mann lebte ein Leben in weltpolitisch turbulenten Zeiten, mit nicht weniger als zwei Weltkriegen, der Nazi-Herrschaft und dem Holocaust. Vieles davon spiegelt sich in seinem Werk.

Schulzeit: Deutsch war nicht sein Fach

Das alles zeichnet sich nicht ab, als Thomas Mann am 6. Juni 1875 als Kaufmannssohn in Lübeck zur Welt kommt. Er wächst in einer großen Familie mit vier Geschwistern auf. Schon als Schüler verfasst er erste Prosaskizzen und Aufsätze. Wie sein Bruder Heinrich fängt er Feuer für die Literatur, was den Vater betrübt. Doch auch große Literaten fangen einmal klein an: In der Schule muss er nicht nur einmal eine Klasse wiederholen, im Fach Deutsch kommt er über ein "recht befriedigend" nicht hinaus.

Als der Vater 1891 stirbt, verlässt Mann die Schule vor dem Abitur, zieht mit der Familie nach München und beginnt dort eine Versicherungslehre, die er jedoch bald wieder abbricht. Er lebt vom väterlichen Erbe und beginnt als freier Schriftsteller zu arbeiten. Sein erstes Schriftstück "Gefallen" erscheint 1894 in der Zeitschrift "Die Gesellschaft". Mann will jetzt Journalist werden.

Mit Bruder Heinrich geht er für zwei Jahre nach Italien. Hier schreibt er an den Buddenbrooks, die 1901 nach Manns Rückkehr erscheinen. Der Roman handelt, angelehnt an die Familiengeschichte der Manns, vom Untergang einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie. Die Kritik lobt das Romandebut, das ursprünglich als Gemeinschaftswerk der Brüder geplant war. Fortan finanziert sich Thomas Mann aus eigener Kraft.

Erster Weltkrieg und Bruderzwist

Auf die Buddenbrooks folgen andere Werke, zunächst die Novellensammlung "Tristan" (1903), zu der auch "Tony Kröger" gehört, eine Erzählung über den Gegensatz zwischen Künstler und Bürger, Geist und Leben. Bemüht um eine bürgerliche Existenz, heiratet Thomas Mann 1905 Katia Pringsheim, die Tochter einer wohlhabenden Münchener Gelehrtenfamilie. Dennoch fühlt er sich auch zu jungen Männern hingezogen, was Katja aber offenbar nicht weiter stört. Das Ehepaar bekommt sechs Kinder. Einige treten später in die Fußstapfen des Vaters und werden Schriftsteller bzw. Schriftstellerin.

Die Welt dreht sich weiter. Der Erste Weltkrieg (1914-1918) beginnt. Thomas überwirft sich mit Bruder Heinrich, inzwischen ebenfalls als Autor erfolgreich. Streitpunkt ist der Krieg: Heinrich veröffentlicht eine Antikriegsschrift. Thomas hält dagegen und erklärt vier Jahre später, warum: In dem Essay "Betrachtung eines Unpolitischen" (1918) verteidigt er das Kaisertum und seine Kriegspolitik. Erst 1922 – inzwischen hat Deutschland den Krieg verloren und mit der Weimarer Republik die Demokratie im Land Einzug gehalten - ändert er seine Haltung. In einer Rede bekennt er sich zur Weimarer Demokratie.

Für die "Buddenbrooks" nimmt Thomas Mann 1929 den Nobelpreis für Literatur entgegen. Es ist ein riesiger Erfolg für den Schriftsteller und bringt deutsche Literatur auf die Weltbühne. Einzig die Begründung der Juroren verstimmt Mann: Sein "Zauberberg", der 1924 erschienen ist, bleibt unerwähnt.

Lange bevor der Zweite Weltkrieg (1939-1945) ausbricht, wittert Thomas Mann die Gefahr. Er positioniert sich gegen die erstarkten Nationalsozialisten und hält 1930, drei Jahre vor Hitlers Machtergreifung, ein flammendes Plädoyer gegen die Nazis und für die Sozialdemokratie. Im Frühjahr 1933 – Hitler ist kaum im Amt - kehrt Thomas Mann von einer Vortragsreise durch Europa nicht nach Deutschland zurück. Er lässt sich in der Schweiz nieder. Der erste Band der Tetralogie "Joseph und seine Brüder" erscheint. In dem Romanwerk beschreibt Mann die Menschwerdung der biblischen Figur Joseph.

Was in Deutschland geschieht, lässt er zunächst unkommentiert – bis 1936. Da prangert er Deutschlands Politik in einem Öffentlichen Brief an die "Neue Züricher Zeitung" an. Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten: Berlin entzieht ihm die deutsche Staatsbürgerschaft, sein Ehrendoktortitel der Universität Bonn wird aberkannt. Zuvor schon rauben ihm die Nazis Ruhm und Reputation und später auch Teile seines Vermögens.

Auswanderung in die USA

So kehren die Manns Deutschland endgültig den Rücken. 1938 wandern Thomas und Katja in die USA aus. Mann übernimmt eine Gastprofessur an einer Universität in Princeton. Als bei der Ankunft ein Reporter wissen will, ob er das Exil als Last empfinde, entgegnet Thomas Mann: "Wo ich bin, ist Deutschland! Ich trage meine Kultur in mir und betrachte mich nicht als gefallenen Menschen."

Von 1940 an ruft Thomas Mann die Deutschen zum Widerstand auf. Der britische Rundfunksender BBC sendet seine monatlichen Radioansprachen über Langwelle in Manns alte Heimat - an der deutschen Zensur vorbei. In über 60 Sendungen redet er seinen Landsleuten ins Gewissen und spart dabei auch den Massenmord an den Juden nicht aus.

Doch auch bei den Gegnern des Krieges macht sich Mann nicht nur Freunde: Als die Waffen endlich schweigen, verfasst er den öffentlichen Brief "Warum ich nicht nach Deutschland zurückkehre" (1945). Darin macht er alle Deutschen für die Gräuel der Nazizeit verantwortlich. Kritiker sprechen ihm das Recht ab, als Exilant über das Leben unter Hitler zu urteilen.

Unverständnis löst auch dieser Satz aus, mit dem Mann das Bombardement deutscher Städte kommentiert: "Alles muss bezahlt werden." Auch literarisch, etwa mit seinem 1947 erscheinenden Roman "Doktor Faustus", eckt Mann an. Es erzählt vom Pakt des Tonsetzers Adrian Leverkühn mit dem Teufel. Es ist Manns Abrechnung mit den Gesellschaftsverhältnissen, die den Nationalsozialismus ermöglicht haben.

Doch auch in den USA läuft nicht mehr alles rund: Das anti-kommunistische Nachkriegs-Amerika verdächtigt ihn, Sympathisant einer kommunistischen Partei zu sein, er wird vor ein Komitee für antiamerikanische Umtriebe zitiert. So verlässt der Schriftsteller Amerika 1952 wieder. Es zieht ihn in keinen der beiden deutschen Staaten. Stattdessen geht er zurück in die Schweiz, wo er am 12. August 1955 im Zürcher Kantonsspital mit 80 Jahren stirbt. Mit seiner Literatur, aber ebenso mit seiner Unbeugsamkeit gegenüber den menschenverachtenden Nazis hat Thomas Mann ein mutiges Zeichen gesetzt. Ein Erbe, das bleibt.

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Image caption Die Nazis entzogen Thomas Mann die deutsche Staatsbürgerschaft
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Item 33
Id 72760799
Date 2025-06-04
Title Isar Valley: Warum München Startup Talente anzieht
Short title Isar Valley: Warum München Startup Talente anzieht
Teaser In München treffen internationale Talente auf ein Ökosystem, das beim Gründen von Startups hilft. Hier gibt es Zugang zu Kapital, Know-how und Netzwerken, um aus Ideen erfolgreiche Unternehmen zu machen.
Short teaser Kapital, Know-how und Netzwerke: In München treffen Talente auf ein Ökosystem, das beim Gründen von Startups hilft.
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Es ähnelt einer Suche nach dem richtigen Weg in einem Labyrinth, auf die sich Hunderte junge Gründerinnen und Gründer jedes Jahr in Europa begeben: Die Suche nach Chancen, Innovationen, aber auch nach Geld und Erfolg. Und die Suche nach dem Land und der Stadt, die ihnen den idealen Nährboden bietet.

Am Ende dieser Suche steht für viele immer öfter Isar Valley. So wird der KI- und Tech-Standort München in Anlehnung an das Silicon Valley inoffiziell bezeichnet.

München belegt im aktuellen Global Tech Ecosystem Index der Tech-Gesellschaft Dealroom weltweit Platz 17 unter den Gründermetropolen. Wenn es um hochleistungsfähige, innovative Ökosysteme geht, mit hohem Pro-Kopf-Output, belegt München sogar Platz 5, hinter der Bay Area um San Francisco, Boston, New York und Cambridge.

Vom Hackathon zum Startup

Auch die Griechen Nikos Tsiamitros und Georgios Pipelidis haben in München gegründet. "Eigentlich gab es keine persönlichen Gründe, nach München zu ziehen", sagte Nikos der Deutschen Welle. "Ich kannte niemanden hier, war vorher nie in der Stadt." Aber er hätte den hervorragenden Ruf der Technischen Universität München (TUM) gekannt.

Tsiamitros kam aus Athen für sein Masterstudium, Pipelidis kam mit einem Zwischenstopp in Österreich für sein Doktorratsstudium an die TUM. "Hier haben wir angefangen, zusammen an einer Navigationssoftware für öffentliche Verkehrsmittel zu arbeiten", berichtet Pipelidis.

Die beiden nahmen an einem Hackathon teil, einer Veranstaltung, bei der Programmierer sich für einige Tage oder Wochen zusammentun und bis zur Erschöpfung an der Entwicklung einer Software zusammenarbeiten. "Und unter all den Teilnehmenden haben wir gewonnen!"

"Ab diesem Moment haben wir angefangen daran zu glauben, dass wir mit unserem Navigations- und Ortungsalgorithmus vielleicht sogar ein Startup gründen könnten", sagt Nikos. Ihre Neugründung nannten sie Ariadne. Sie gab in der griechischen Mythologie dem Helden Theseus den Ariadnefaden und führte ihn so durch das Labyrinth des Minotauros. Quasi die erste Navigationssoftware, wie Georgios Pipelidis sichtlich amüsiert sagt.

UnternehmerTUM: Hilfe mit Rat und Tat

Aber einen Algorithmus für ein Startup zu haben, ist die eine Sache. Wie man so ein Startup gründet, einen Businessplan erstellt und Kapital findet die andere. Für eben diese Fragen verfügt das Münchener Ökosystem über eine zentrale Anlaufstelle: UnternehmerTUM, das Gründungszentrum der TUM.

"UnternehmerTUM hat uns beigebracht, wie wir ein Startup gründen und leiten", sagt Ariadne-Co-Gründer Pipelidis. So schaffte das Unternehmen bereits in den ersten Monaten einen Umsatz zu erzielen. Aus einer Navigationssoftware wurde ein KI-basiertes Personenzählungs- und Bewegungsanalyse-Tool, das unter anderem die Flughäfen von München, Glasgow und Los Angeles, die Städte Leverkusen, Bielefeld und Regensburg und mehrere Malls und Läden, darunter IKEA bedient.

Mit Rat und Tat steht Barbara Mehner Startups wie Ariadne zur Seite. "Wir helfen frühphasige Startups in den Markt reinzukommen, indem wir sie mit Investoren, mit Mentoren und potenziellen Kunden vernetzten", sagt die Managing Partnerin des Inkubators Xpreneurs bei UnternehmerTUM.

Liftbot Kewazo will Gerüstbau revolutionieren

Unter den jährlich mehr als 100 Tech-Start-ups, die in München entstehen, ist das Liftbot-Startup Kewazo der Griechin Eirini Psallida. Auch diese Idee wurde bei einem Hackathon von UnternehmerTUM geboren.

"Alle Branchen schienen uns durchautomatisiert zu sein, außer dem Baugewerbe", beschreibt Psallida die Ausgangsidee ihres Teams. Um die Arbeit auf dem Bau zu vereinfachen, hatte das Team ein Konzept für die Automatisierung des Gerüstbaus entwickelt.

Ihr Startup nannten sie Kewazo, in Anlehnung an das griechische Wort für produzieren "kataskevazo". Heute ist der Liftbot im täglichen Einsatz auf großen Industriestandorten und Baustellen - vom BASF-Standort Ludwigshafen bis hin zu Erdölraffinerien in den USA.

"Kaum vorstellbar, wie wir das ohne UnternehmerTUM geschafft hätten", räumt Eirini Psallida ein. Im Inkubator des Gründungszentrums hatte das Team Zugriff auf Hardware, Software, Anwälte und Berater. "Und wir hatten Hilfe, um öffentliche Gelder zu bekommen, ohne Equity des Unternehmens preiszugeben."

Ein Viertel der Unicorn-Gründenden aus dem Ausland

Das Team von Kewazo besteht aus sechs Gründenden aus vier Ländern und passt damit gut ins deutsche Startup-Ökosystem. Laut dem aktuellen Migrant Founders Monitor der Friedrich-Naumann-Stiftung und des Startup Verbandes hat ein nicht unerheblicher Anteil der Gründenden in Deutschland einen Migrationshintergrund.

"14 Prozent der Startup-Gründer:innen sind im Ausland geboren. Unter Unicorns - Startups mit Milliardenbewertung - sind es sogar 23 Prozent", sagt Vanusch Walk, Senior Researcher des Startup Verbands und leitender Forscher der Studie. Migrantische Gründer zeichnen sich laut Studie besonders durch ihr starkes unternehmerisches Mindset, ihre Risikobereitschaft und ihre Resilienz aus. Eigenschaften, die beim Gründen notwendig sind.

Gründende mit Migrationshintergrund haben höhere Hürden

Allerdings haben migrantische Gründende in Deutschland laut der Studie auch große Hürden zu überwinden. "Ganz vorne steht das Thema Zugang und Netzwerke", so Walk. Gründende mit Migrationshintergrund hätten größere Probleme, die Bürokratie zu bewältigen und auch der Zugang zu Förderungen von öffentlichen und privaten Geldgebern ist schwieriger.

Letzteres hat Georgios Pipelidis von Ariadne am eigenen Leib erfahren. Eine deutsche Venture Capital Firma hatte an eine Beteiligung die Voraussetzung geknüpft, ihn durch einen deutschen CEO zu ersetzen. Sie hätten einen Muttersprachler als "Aushängeschild" haben wollen, erinnert sich der Ariadne-Gründer.

"Ich kann verstehen, dass man beim Kontakt mit Kunden lieber auf jemanden setzt, der akzentfrei Deutsch spricht, deswegen sind auch unsere Verkäufer alle Muttersprachler, aber mich deswegen selbst als CEO abzulösen? Das ging mir zu weit", sagt der Jungunternehmer.

Letztendlich haben Georgios Pipelidis und Nikos Tsiamitros Starthilfe von einer griechischen Venture Capital Firma bekommen. Ihrer Begeisterung für die bayerische Landeshauptstadt hat allerdings selbst diese Erfahrung keinen Abbruch getan. Am langen Ende des Ariadnefadens steht für die beiden immer noch München.

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Image caption Gründungszentrum UnternehmerTUM an der TU München (Archivbild): Startups-Hilfe für junge Menschen
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Item 34
Id 72760332
Date 2025-06-02
Title Die mutige Prinzessin, die den Nazis trotzte
Short title Die mutige Prinzessin, die den Nazis trotzte
Teaser Die indische Prinzessin Catherine Duleep Singh lebte offen mit einer Frau, kämpfte für Frauenrechte und rettete Jüdinnen und Juden vor den Nazis - mutig und ihrer Zeit weit voraus. Ihre Geschichte wirkt bis heute.
Short teaser Catherine Duleep Singh rettete Juden vor den Nazis und lebte offen mit einer Frau. Ihre Geschichte wirkt bis heute.
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In der Geschichte des Zweiten Weltkriegs hätte wohl kaum jemand erwartet, dass eine in England geborene indische Sikh-Prinzessin aus einer abgesetzten Königsfamilie heimlich gegen Nazi-Deutschland kämpfte. Außerdem lebte sie offen mit einer Frau zusammen, in einer Zeit, in der LGBTQ+-Rechte weder anerkannt noch akzeptiert wurden.

Doch genau das tat Prinzessin Catherine Hilda Duleep Singh.

Sie war die Tochter des letzten Maharadschas des Sikh-Reiches und ging ihren ganz eigenen Weg - gegen alle Konventionen.

Erst in den letzten Jahren wurde ihre Geschichte wiederentdeckt. Der britische Biograf Peter Bance beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit der Familie Duleep Singh und hat Catherines beeindruckendes Leben aus alten Briefen und Familienunterlagen nachgezeichnet.

Er sagte 2023 in einem Interview mit dem britischen Online-Magazin "Metro": "Sie hat das alles nicht getan, um berühmt zu werden. Deshalb gab es auch keine Bücher über sie. Aber die Menschen, die sie gerettet hat, erzählen ihre Geschichte weiter. Durch sie haben ganze Familien weltweit überlebt."

Königliche Herkunft - rebellischer Weg

Catherine wurde 1871 in Suffolk, England, geboren - weit weg vom Land ihres Vaters. Der musste als 10-jähriger Junge sein Reich - und den berühmten Koh-i-Noor-Diamanten - an die Briten abgeben, nachdem diese den Punjab, die Heimat der Duleep Singh-Familie, erobert hatten.

Der abgesetzte Maharadscha bekam von der britischen Krone als Gegenleistung eine Rente und musste versprechen, dass er die britische Regierung respektiert und anerkennt.

Er heiratete später Bamba Müller, eine Frau mit deutschen und äthiopischen Wurzeln. Sie hatten sechs Kinder - Catherine war das vierte Kind. Die Familie lebte im Exil, aber unter der Schirmherrschaft von Königin Victoria, die Catherines Patentante war.

Catherine studierte in Oxford, schloss sich mit ihren Schwestern den Suffragetten (Aktivistinnen, die Anfang des 20. Jahrhunderts in England für Frauenrechte kämpften, Anm. d. Red.) an und setzte sich für das Frauenwahlrecht ein. Doch besonders ihr Privatleben, vor allem während ihrer Zeit in Deutschland, zeigt, wie mutig und unkonventionell sie wirklich war.

Ein Zuhause in Deutschland

Catherine hatte ein enges Verhältnis zu ihrer deutschen Erzieherin Lina Schäfer. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern zog Catherine mit ihr nach Kassel. Dort lebten die beiden über 30 Jahre lang gemeinsam in einer Villa, die es heute noch gibt. Ihre Beziehung wurde nie offiziell als solche anerkannt - die beiden widersetzten sich den gesellschaftlichen Normen jener Zeit. Sie lebten zusammen und blieben bis zu Linas Tod 1937 unzertrennlich.

Zuerst fühlte sich Catherine in Deutschland wohl - so besuchte das Paar unter anderem regelmäßig die Bayreuther Festspiele. Doch mit Hitlers Machtübernahme änderte sich alles: Deutschland war nicht mehr sicher für Catherine.

"Braune Haut und lesbisch sein im Nazi-Deutschland - das war extrem gefährlich," sagt Peter Bance. Er hat Briefe gefunden, in denen Freunde sie warnten, dass sie von den Nazis beobachtet werde und fliehen sollte. Aber Catherine weigerte sich zu gehen.

Eine Ein-Frau-Rettungsmission

Trotz der immer größer werdenden Gefahr nutzte Catherine ihr Geld und ihren Einfluss und half mehreren jüdischen Familien, Deutschland zu verlassen und in England neu anzufangen. Sie schrieb Empfehlungsschreiben, unterstützte die Flüchtlinge finanziell, und übernahm sogar Bürgschaften, damit Menschen Papiere bekamen.

Ein besonders bekanntes Beispiel ist die Familie Hornstein. Der Vater Wilhelm Hornstein, ein jüdischer Anwalt und hochdekorierter Kriegsveteran aus dem Ersten Weltkrieg, wurde während der Novemberpogrome 1938 verhaftet und kam ins Konzentrationslager - durfte dann aber wieder raus, unter der Bedingung, Deutschland sofort zu verlassen. Catherine organisierte für ihn, seine Frau und die Kinder die Flucht nach England.

Jahrzehnte später schloss sich ein Kreis, wie Peter Bance im DW-Gespräch erzählt: 2002 sei ein Mann, Michael Bowles, in das Büro von Peter Bance gekommen und habe folgendes berichtet: "Meine Mutter, meine Onkel und meine Großeltern wurden von Prinzessin Catherine gerettet. Ohne sie gäbe es mich heute nicht." Später habe sich herausgestellt, dass dieser Mann, Michael Bowles, der Enkel von Ursula Hornstein war, so Peter Bance.

Menschlichkeit als Lebensaufgabe

In ihrem Haus in Buckinghamshire brachte Catherine die Hornsteins und andere Geflüchtete unter - darunter einen Arzt mit seiner Partnerin und einen Geiger. Sie setzte sich auch für Juden ein, die in England als "feindliche Ausländer" interniert wurden - besonders bitter für Menschen, die vor dem Judenhass aus Deutschland geflohen waren.

"Ich denke, sie hat einen großen Beitrag für die Menschheit geleistet. Es war eine grausame Zeit, in der viele Menschen ihre Augen absichtlich verschlossen haben. Catherine hätte auch einfach sagen können: Das geht mich alles nichts an. Aber sie hat entschieden: Ich mache das zu meiner Sache," sagt Bance.

Ein starkes Erbe

Catherine starb 1942 mit 71 Jahren. Sie hatte - wie ihre Geschwister - keine Kinder. In ihrem Testament wünschte sie sich, dass ein Teil ihrer Asche bei Lina Schäfer in Kassel beigesetzt wird.

Das Grab wurde über die Jahre vernachlässigt - Peter Bance arbeitet jetzt mit dem Friedhof in Kassel zusammen, um die gemeinsame Ruhestätte offiziell zu kennzeichnen. "Ich denke, das hätte ihr gefallen. Sie haben ihr Leben miteinander verbracht, und sie hat Lina über alles geliebt."

Zu Lebzeiten der beiden Frauen wurde ihre Beziehung geheim gehalten, auch wenn ihre Familie wohl Bescheid wusste. Doch je mehr von Catherines Geschichte bekannt wird, umso mehr wird sie zu einer LGBTQ+-Ikone - als Frau, die mutig liebte und lebte, wie sie es wollte.

Prinzessinnen im Widerstand

Peter Bance schreibt gerade ein neues Buch, das 2026 zur Ausstellung "Princesses of Resistance" (Prinzessinnen im Widerstand) im Kensington Palace erscheinen soll. Dort geht es um Catherine und ihre Schwestern Sophia und Bamba.

Bance wird dafür auch Gegenstände aus seiner eigenen Sammlung zur Verfügung stellen - über 2000 Stücke hat er in 25 Jahren gesammelt.

Bance hat Catherine einmal als "indischen Schindler" bezeichnet, in Anspielung auf den deutschen Industriellen Oskar Schindler, dem die Rettung von etwa 1200 Juden während des Holocaust zugeschrieben wird. Auch wenn Catherine nicht ganz so viele Menschen retten konnte - Bances Haltung dazu ist klar: "Egal ob du ein oder zehn Leben rettest - du rettest jemanden, der nicht deine Hautfarbe, deine Religion oder deinen ethnischen Hintergrund hat. Du rettest aus Menschlichkeit. Und das zählt."

Auf der Website ihrer ehemaligen Universität steht über Catherine: "Eine echte LGBTQ+-Ikone. Sie riskierte ihr Leben für ihre geliebte Partnerin - und lebte das Motto ihrer Uni: 'Die Ausgeschlossenen einbeziehen.' Catherine tat mehr als das: Sie rettete sie."

Adaption aus dem Englischen: Silke Wünsch

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Image caption Catherine Hilda Duleep Singh
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Item 35
Id 72704082
Date 2025-06-02
Title Erster Streik bei Ford in Köln in 100 Jahren - wie es jetzt weitergeht
Short title Erster Streik bei Ford in Köln - was nun folgt
Teaser Ford steckt in der Krise. Mehr als 10.000 Menschen streiken - zum ersten Mal in der 100-jährigen Geschichte des Kölner Ford-Werkes. Welche Auswirkungen hat die angespannte Lage auf Standort, Arbeitsplätze und Wirtschaft?
Short teaser Mehr als 10.000 Streikende bei Ford in Deutschland. Welche Folgen hat die Krise auf Werk, Jobs und Wirtschaft?
Full text

Rot-weißes Flatterband versperrt an diesem Mittwochmorgen das Tor Vier am Ford-Werk in Köln. Zwei Zettel mit der Aufschrift "Streikbrecher Zugang über Tor 1" kleben an den Drehkreuzen. Doch Streikbrecher gibt es an diesem Tag kaum. Mehr als 10.000 der 11.500 Beschäftigten haben die Arbeit für 24 Stunden niedergelegt, sagt David Lüdtke der DW. Er ist Vertrauenskörperleiter der IG Metall bei Ford in Köln.

Einer von ihnen ist Ahmet Cözmez, Entwicklungsingenieur in der Produktionsentwicklung bei Ford. "Wir sind verunsichert, wir sind nervös und angespannt", sagt der 30-Jährige der DW.

Schon sein Großvater arbeitete am Fließband bei Ford, kam 1970 als sogenannter "Gastarbeiter" mit dem Zug aus Istanbul nach Köln. Sein Vater arbeitete bei dem US Autobauer als Produktionsarbeiter, freigestellter Betriebsrat und saß für die Arbeitnehmer im Aufsichtsrat von Ford. "Diese Ford-DNA steckt halt in uns", sagt Cözmez. Die ältere Generation in seiner Familie war immer der Meinung: einmal bei Ford, immer bei Ford - wer bei Ford anfängt, geht auch dort in Rente. Doch jetzt will das US-Unternehmen 2900 Stellen im Kölner Werk abbauen.

Breite Solidarität mit den Arbeitern bei Ford

Mehr als zwei Wochen ist der Streik jetzt her. Es war der erste offizielle Streik in der Geschichte des Kölner Ford-Werks. Es gab zwar bereits 1973 einen "wilden Streik" von Arbeitnehmern aus der türkischen Community, aber dieser wurde von keiner etablierten Gewerkschaft organisiert.

Nicht nur die Ford-Belegschaft war bei dem Streik Mitte Mai vor Ort: Aus ganz Deutschland kamen IG-Metall-Mitglieder, Arbeiter aus dem Bergbau und aus der Chemiebranche. Sie alle waren angereist, um ihre Unterstützung zu zeigen. Es gab sogar internationale Solidaritätsbekundungen.

Viele seien hoffnungsvoll und bereit für ihre Arbeitsplätze zu kämpfen, doch die Unsicherheit bleibe, erklärt der Ford-Entwicklungsingenieur Cözmez der DW.

Ford schwächelt

Branchenexperten sehen eine düstere Zukunft für Ford in Europa: "Die Lage ist schlecht und die Perspektive noch schlechter", sagte der Direktor des Bochumer Autoinstituts CAR, Ferdinand Dudenhöffer. Ford sei im PKW-Bereich zu klein, als dass es in Europa ertragreich arbeiten könnte.

Fords Europageschäft schreibt schon seit Langem Verluste. Zwar war der in Köln produzierte Kleinwagen Ford Fiesta lange ein Verkaufserfolg, aber 2023 wurde die Produktion eingestellt, um Platz für elektrische Modelle zu machen.

Mittlerweile stellt Ford in Köln zwei Elektroautos her, doch der Verkauf blieb auch hier deutlich hinter den Erwartungen zurück. Investitionen von etwa zwei Milliarden Euro in die neue Elektroauto-Produktion rechneten sich bisher nicht.

"Deutsche Autobauer haben spät auf Elektromobilität umgestellt. Ford tut sich bei der Elektromobilität scheinbar noch schwerer", erklärt Anita Wölfl der DW, Fachreferentin am ifo Zentrum für Innovationsökonomik und digitale Transformation.

Wirtschaftliche Lage trifft auch Autobranche

Nicht nur der US-Konzern Ford, auch Autobauer wie Volkswagen, Mercedes-Benz und BMW schwächeln.

Vor allem die Automobilbranche bekommt wirtschaftliche Einbrüche zu spüren. Wenn das Geld knapp ist, kann man auf Brot nicht verzichten - aber schon auf ein neues Auto. Deutschland befindet sich jetzt schon das zweite Jahr in Folge in einer Rezession.

"Das merkt die Autoindustrie", so Wölfl zur DW, es gebe eine gewisse Kaufzurückhaltung bei den Menschen.

Internationale Folgen befürchtet

Die Kölner Ford-Krise könnte Kreise ziehen, die auch international zu spüren sind. Eine schwächelnde deutsche Autoindustrie habe auch Auswirkungen auf viele andere Branchen, erklärt die ifo-Fachreferentin Wölfl - "und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit."

"Hinzu kommt noch der Trump-Effekt: Die US-Zölle auf Fahrzeuge und Fahrzeugteile schaden der Autoindustrie", so Wölfl. Denn die Automobilindustrie sei charakterisiert durch eine komplexe, international vernetzte Wertschöpfungskette. "Selbst wenn es ein Unternehmen nicht direkt trifft, können die Zölle indirekte Auswirkungen haben."

Kampf um Sicherheit

Auch wenn es bei Ford schlecht aussieht, kämpft die Gewerkschaft weiter für den Erhalt der Arbeitsplätze und für die Zukunft von Ford, so David Lüdtke von der IG Metall.

Doch für den Fall, dass dies nicht gelingen sollte, will die IG Metall faire Abfindungen, Transfermaßnahmen und ein starkes, insolvenzgeschütztes Sicherheitsnetz für alle Beschäftigten durchsetzen.

Das ist auch deswegen so wichtig, da der US-Konzern Ford die sogenannte "Patronatserklärung" gekündigt hat. Mit der Erklärung aus dem Jahr 2006 stand der US-Mutterkonzern für die Schulden der deutschen Tochter ein.

Mit dem Ende der Patronatserklärung befürchten IG Metall und der Betriebsrat, dass nun auch die von ihnen durchgesetzte Beschäftigungssicherung bis 2032 in Gefahr ist.

Gewerkschaft kämpft weiter

Trotz der vielen Unsicherheiten - der Streik scheint Wirkung gezeigt zu haben. "Auch wenn wir noch kein Ergebnis haben - die Verhandlungen haben sich seitdem weiter nach vorne, in unsere Richtung bewegt", erklärt Lüdtke von der IG Metall .

Details zur Einigung sind bisher keine bekannt, aber man habe sich mit der Deutschen Geschäftsführung auf Eckpunkte für weitere Verhandlungen verständigt, hieß es von der Gewerkschaft IG Metall Köln.

"Nach der Abstimmung mit der Konzernzentrale in den USA wird dann entschieden, wie es weitergeht: Ob wir weiterverhandeln oder es weitere Arbeitskampfmaßnahmen gibt", so Lüdtke.

Item URL https://www.dw.com/de/erster-streik-bei-ford-in-köln-in-100-jahren-wie-es-jetzt-weitergeht/a-72704082?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption In den früheren Morgenstunden Mitte Mai startete die Belegschaft ihren 24-Stunden-Streik
Image source Rolf Vennenbernd/dpa/picture alliance
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Item 36
Id 72739057
Date 2025-06-02
Title Wie Frankreichs Milliardäre die Politik beeinflussen
Short title Wie Frankreichs Milliardäre die Politik beeinflussen
Teaser Der französische Milliardär Pierre Édouard Stérin steckt Millionen Euro in Initiativen, die Rechtsaußen-Ansichten propagieren. Er ist nur die Spitze des Eisberges. Manche fordern deswegen strengere Regeln.
Short teaser In Frankreich werden Stimmen laut, die Medienmacht von Milliardären zu beschränken.
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Die Anhörung des französischen Milliardärs Pierre Édouard Stérin war mit großer Spannung erwartet worden. Dabei sollten Details eines "regelrechten Ökosystems der politischen Eroberung" enthüllt werden, so ein Mitglied des parlamentarischen Untersuchungsausschusses.

Man wollte den Unternehmer - ihm gehört die Firma Smartbox, die Erlebnisgeschenke anbietet - zu seinem "Périclès"-Projekt befragen, durch das er schon knapp 30 Millionen Euro in Initiativen investiert hat, die tief konservative Werte vertreten. Doch der Stuhl des Franzosen in einem Saal der Nationalversammlung blieb leer.

"Gestern hat Herr Stérin uns mitgeteilt, dass er per Videolink aussagen wolle - aus Sicherheitsgründen", sagte Thomas Cazenave, Abgeordneter der Regierungskoalition "Ensemble!" und Vorsitzender des Ausschusses. "Ich antwortete, wir hätten Schutz-Maßnahmen ergriffen wie für Parlamentarier, die regelmäßig bedroht werden."

Cazenave bedaure diese "Hinhaltetaktik". So könne man nicht prüfen, ob Périclès französische Gesetze zur Parteienfinanzierung einhalte. Stérin ist nicht der einzige Milliardär, der versucht, die politische Meinung in Frankreich nach rechts zu lenken. Manche fordern deswegen strengere Regeln.

Rechtsaußen-Inkubator

Périclès' Generaldirektor war indes zu seiner Anhörung eine Woche zuvor angetreten. "Die wirtschaftliche, gesellschaftliche und moralische Situation unseres Landes ist kritisch", sagte Arnaud Rérolle dem Ausschuss. "Wir sind ein Inkubator rechts am politischen Spektrum für metapolitische Projekte. Bisher haben wir weniger als 15 Prozent von 600 Bewerbungen unterstützt."

Dazu gehören das Rechtsaußen-Magazin "L'Incorrect" und die "Beobachtungsstelle zur Dekolonisierung", die unter anderem eine angebliche Aufklärungsfeindlichkeit à la "Woke" anprangert. Woke-Bewegungen machen sich gegen Diskriminierungen stark. Rérolle legte jedoch nur einen Teil der geförderten Projekte offen. Er fügte hinzu, dass Périclès keine Wahlkandidaten finanziere. Das ist laut französischem Gesetz nur Parteien gestattet.

"Problem für die Demokratie"

Pierre-Yves Cadalen findet Rérolles Aussagen zu schwammig. Der Abgeordnete der Linksaußen-Partei Ungebeugtes Frankreich (LFI) ist Vizepräsident der Untersuchungskommission. "Die Zeitung L'Humanité hat ein internes Dokument veröffentlicht, laut dem Périclès der Rechtsaußenpartei Rassemblement National (RN) helfen will, bei den Kommunalwahlen 2026 300 Städte zu erobern", sagt Cadalen gegenüber DW.

Rérolle bestätigte bei der Anhörung, dass das Dokument echt sei - nannte es jedoch "überholt". Dem Schriftstück gemäß will man über zehn Jahre hinweg 150 Millionen Euro ausgeben, um Islamismus, Einwanderung und Gender-Ideologie zu bekämpfen, und auf einen Sieg bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2027 hinzuarbeiten. RN-Chef Jordan Bardella und RN-Präsidentschaftskandidatin Marine Le Pen seien dabei "Vertrauens-Personen".

"Es ist ein Problem für die Demokratie, wenn Milliardäre derart in das politische Leben eingreifen", sagt Cadalen und meint dabei nicht nur Stérin. In Frankreich gehören elf Milliardären 80 Prozent der Tagespresse. Ihre Fernseh- und Radiosender vereinen mehr als die Hälfte der Zuschauer- und Hörerzahlen.

Ebenfalls im Fokus steht Vincent Bolloré. Er ist Mehrheitsaktionär einer Logistik- und Kommunikationsgruppe, die seinen Namen trägt. Bolloré, erklärt Cadalen, übe "großen Einfluss aus: durch seinen Nachrichtensender Cnews, den Radiosender Europe 1, die Wochenzeitung JDD und das Umfrageinstitut CSA. Gemeinsam haben diese Medien Schlagkraft und verbreiten Meinungen am rechten Rand, die andere Medien übernehmen."

In der Form habe es das bisher nicht gegeben, sagt Abel François, Professor für politische Ökonomie an der Universität Straßburg. "Früher haben Milliardäre Medien gekauft, um zum Beispiel Politiker dazu zu bringen, sie in öffentlichen Ausschreibungen zu begünstigen", sagt er zu DW. "Heute will man eine gewisse Ideologie verbreiten." Offiziell behauptet Bolloré, keinen Einfluss auf den Inhalt seiner Medien zu nehmen. Eine DW-Interviewanfrage an ihn blieb unbeantwortet - genauso wie die an Périclès.

Der Zorn des Imperiums

Die Marktkonzentration der Medien hat dabei weitreichende Auswirkungen. "Es herrscht eine gewisse Selbstzensur unter Journalisten in Bezug auf diese Milliardäre. Man könnte es sich schließlich mit einem potenziellen künftigen Arbeitgeber verderben", sagt Amaury de Rochegonde, Wirtschaftsjournalist beim Wochenmagazin Stratégies und dem Radiosender RFI, zu DW.

Bolloré und Stérin vereinten zudem ihre Kräfte. "Die beiden haben sich getroffen und scheinen eine Union der Rechten, also des konservativen Flügels der Republikaner mit dem RN, zu wollen."

Was es heißt, diesem Imperium vor das Schienbein zu treten, hat Alexis Lévrier, Medienhistoriker an der Universität Reims, hautnah erlebt. "Ich habe Tausende Nachrichten bekommen - Beschimpfungen, aber auch Morddrohungen, unter anderem von einem Waffenhändler", erklärt er.

Auslöser war ein Interview Ende Februar. Darin hatte Lévrier gefordert, CNews, genauso wie C8, einem anderen Sender Bollorés, die Lizenz zu entziehen. C8 hatte zuvor Dutzende Verwarnungen unter anderem wegen Sexismus und Homophobie bekommen. Das Interview mit DW ist eins von Lévriers ersten seit dem Vorfall. "Viele meiner Forscher-Kollegen trauen sich nicht mehr, etwas gegen das Bolloré-Imperium zu sagen. Auch Frankreichs Kulturschaffende sind still geworden. Traditionell waren sie Verfechter humanistischer Werte", sagt er.

Doch für Hervé Joly, Historiker am staatlichen Forschungsinstitut CNRS, sind Stérin und Bolloré Ausnahmen. "Der RN hat kaum öffentliche Fürsprecher unter Unternehmern", meint er zu DW. "Historisch haben Arbeitgeber die extreme Rechte nicht unterstützt, bevor sie an die Macht kam. Unternehmer setzen sich gewöhnlich für etablierte, konservative Parteien ein. Heute sind viele von ihnen fortschrittlich, für Gleichberechtigung und den Kampf gegen den Klimawandel."

Anders wäre es womöglich, wenn die extreme Rechte an die Macht käme. "In Deutschland haben Unternehmer dann mit Hitler zusammengearbeitet und zur Konsolidierung seiner Macht beigetragen", so Joly.

Für den Parlamentarier Cadalen herrscht jedoch bereits Alarmstufe rot. "Wir brauchen Gesetze gegen die Konzentration im Markt der Medien", sagt er. "Diese sind Plattformen für reaktionäre Kräfte, die unseren Rechtsstaat auseinandernehmen wollen, wie in den USA." Dort ignoriert der wiedergewählte Präsident Donald Trump Gerichtsurteile, die nicht in seinem Sinne sind. Sender wie FoxNews befürworten das.

Für Ensemble!-Abgeordnete Eléonore Caroit, ebenfalls Mitglied des Ausschusses, sind neue Gesetze nicht die Lösung. "Man kann Projekte wie Périclès bekämpfen, indem man sie offen legt", sagt sie zu DW. "Deswegen ist Stérin wohl auch nicht zur Anhörung gekommen." Dafür drohen dem Milliardär jetzt zwei Jahre Gefängnis und eine Geldstrafe von 7500 Euro.

Item URL https://www.dw.com/de/wie-frankreichs-milliardäre-die-politik-beeinflussen/a-72739057?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Viele Reiche in Frankreich unterstützen Rechtsaußenpolitiker wie RN-Chef Bardella - im Bild rechts neben Präsident Macron
Image source Hermann Wirt/Grafik DW/Reuters
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Item 37
Id 72698741
Date 2025-05-30
Title Museumsinsel Berlin - ein Spiegel deutscher Geschichte
Short title Museumsinsel Berlin - ein Spiegel deutscher Geschichte
Teaser Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Museumsinsel, eine der wichtigsten Kulturstätten Europas, in Trümmern. Ein Masterplan erweckte sie zu neuem Leben. Jetzt feiert die Museumsinsel Geburtstag.
Short teaser Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Kulturstätte an der Spree in Trümmern. Jetzt feiert sie Geburtstag.
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Die Museumsinsel zeigt wie kaum ein anderer Ort die bewegte Geschichte Berlins - von der Aufklärung über den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg bis hin zur modernen Restaurierung, die das Ensemble zu einem internationalen Besuchermagneten gemacht hat. Seit 1999 zählt die Museumsinsel zum UNESCO-Weltkulturerbe. 2025 feiert sie ihr 200-jähriges Bestehen - so lange ist es her, dass der Grundstein für das erste Museum gelegt wurde.

Ein Vermächtnis der Aufklärung

Während der Napoleonischen Kriege (1803–1815) marschierten die Franzosen im Königreich Preußen ein. Es kam zu Plünderungen; auch viele Kunstwerke aus Berlin wurden geraubt. Nach dem Krieg wurden sie zurückgegeben und Preußen entschied, sie öffentlich auszustellen.

Ein Museum musste her: das Alte Museum (das damals schlicht "Museum" hieß, Anm. d. Red.) das erste Gebäude in einer Reihe von fünf Einrichtungen, die später als Museumsinsel bekannt werden sollten. Der Grundstein wurde 1825 gelegt, eröffnet wurde es 1830.

Dabei war Preußen nach den vielen Kriegen wirtschaftlich am Boden. "Und trotzdem hat man mit dem besten Architekten jener Zeit, mit Karl Friedrich Schinkel, in ein solches Kulturgebäude investiert", erzählt Hermann Parzinger, der scheidende Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, im DW-Interview. Gerade heute, wo Kulturförderung oft infrage gestellt wird, sei das ein wichtiges historisches Signal, betont er.

In der Zeit der Aufklärung galt Bildung als zentrales Gut. Der Gelehrte und Staatsmann Wilhelm von Humboldt sah Museen als wichtigen Bestandteil seiner Bildungsreformen. "Das Museum war für ihn ein Ort ästhetischer Bildung der Bürger", erklärt Parzinger. "Es ging also nicht nur darum, ein Museum zu bauen - es steckte eine große Vision dahinter. Kunst und Wissenschaft spielten dabei zentrale Rollen."

Neue Museen für wachsende Sammlungen

Während der Kolonialzeit wuchs die Sammlung antiker Artefakte deutlich an - gleichzeitig wollten die damaligen Entscheidungsträger auch Werke deutscher Künstler der Romantik präsentieren. Dafür reichte der Platz im Alten Museum bald nicht mehr aus, es mussten neue Museen gebaut werden.

Im Laufe des folgenden Jahrhunderts kamen deshalb vier weitere große Museen zu dem Komplex auf der nördlichen Spreeinsel im historischen Zentrum Berlins hinzu: Das Neue Museum wurde 1859 eröffnet, gefolgt von der Alten Nationalgalerie im Jahr 1876, dem heutigen Bode-Museum (damals hieß es Kaiser-Friedrich-Museum) im Jahr 1904 und schließlich dem Pergamonmuseum, das eigens errichtet wurde, um monumentale Werke wie das Ischtar-Tor aus Babylon zu zeigen. Es wurde 1930 fertiggestellt.

Die Museen wurden zu einem kulturellen Aushängeschild - auch als Ausdruck nationaler Identität.

Blütezeit vor dem Zweiten Weltkrieg

Vor dem Zweiten Weltkrieg galt die Museumsinsel als eine der wichtigsten Kulturstätten Europas. Die Nazis stilisierten die Sammlungen zur angeblichen "arischen" Hochkultur. Im Krieg wurden viele Kunstwerke ausgelagert; man brachte die wertvollen Artefakte in unterirdischen Bunkern, Bergwerken und Schlösser in ganz Deutschland unter. Diese Maßnahme rettete viele Exponate - darunter die Büste der Nofretete und große Teile des Pergamonfrieses -, trug aber auch dazu bei, dass viele Schätze weit weg der Hauptstadt verstreut wurden. Die Gebäude der Museumsinsel selbst wurden schwer beschädigt.

Nach Kriegsende 1945 besetzte die Rote Armee (die Streitkräfte der Sowjetunion, Anm. d. Red.) Berlin. Sogenannte Trophäenbrigaden beschlagnahmten große Teile der Sammlungen und schickten sie als sogenannte Reparationskunst nach Moskau und St. Petersburg. Viele dieser Stücke gelten bis heute als verschollen, befinden sich in russischen Museen und Archiven oder landeten in Privatsammlungen. Einige der Artefakte wurden in den 1950er-Jahren zurückgegeben, vor allem während der Tauwetterphase unter Chruschtschow. Trotzdem befinden sich bis heute noch schätzungsweise eine Million Kunstwerke, mehr als vier Millionen Bücher und Manuskripte sowie eine beträchtliche Anzahl von Archivalien in Russland.

Obwohl deutsche und russische Institutionen in den vergangenen Jahrzehnten gemeinsame Nachforschungen zu diesen Objekten unternommen haben, "liegt heute wegen des Krieges [in der Ukraine] alles auf Eis und ist unterbrochen - und wir wissen nicht, wann wir diese Kontakte wieder aufnehmen können", sagt Parzinger.

Stillstand in der DDR

Nach der Teilung Deutschlands durch die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs gehörte die Museumsinsel zum Ostteil Berlins - und damit zur DDR. Die aber hatte kaum Mittel, die zerstörten Gebäude wieder herzurichten. Besonders das Neue Museum blieb jahrzehntelang eine Ruine - ein Mahnmal des Krieges. "Man hat die Gebäude eher repariert, aber nicht wirklich grundsaniert", erzählt Parzinger.

Er erinnert sich noch gut an seinen eigenen Besuch in Ost-Berlin im Jahr 1984. Damals war er Student und ahnte noch nicht, dass er über zwei Jahrzehnte später Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz werden würde - und damit auch zuständig für die Museumsinsel. Zum ersten Mal sah er die zerbombte Hülle des Neuen Museums: "Aus dem Treppenhaus wuchsen Bäume, es gab kein Dach - das war unfassbar."


Deshalb sei es nach dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung in den 1990er-Jahren unumgänglich gewesen, "die Gebäude wirklich von Grund auf zu sanieren und zukunftsfähig zu machen".

Wiederaufbau nach der Wende

Nach 1990 begann die umfassende Restaurierung - nach einem Masterplan, der alle fünf historischen Museen des Weltkulturerbe-Ensembles modernisieren und miteinander verbinden sollte. Das Herzstück beim Wiederaufbau war das Neue Museum. Der britische Architekt David Chipperfield integrierte die Ruinen in einen Neubau; Kriegsschäden wie Einschusslöcher und fehlende Deckenfresken ließ er bewusst sichtbar. Puristen hätten lieber eine Restaurierung im ursprünglichen neoklassizistischen Gebäude Stil gesehen und haderten mit Chipperfields Entwurf.

Doch dieses "großartige Konzept" durchzusetzen, sei die einzig richtige Entscheidung gewesen, schwärmt Parzinger und fügt hinzu, dass er immer noch jedes Mal, wenn er in das Gebäude zurückkehrt, neue Details entdecke. Das renovierte Museum wurde mit zahlreichen nationalen und internationalen Architekturpreisen ausgezeichnet.

Das berühmteste Exponat des Neuen Museums, das das Ägyptische Museum und die Papyrussammlung beherbergt, ist die rund 3500 Jahre alte Büste der Königin Nofretete. Zwar fordert eine Petition ihre Rückgabe an Ägypten, doch für die Stiftung Preußischer Kulturbesitz steht das nicht zur Debatte: "Nofretete kam im Rahmen einer vollkommen legalen und gut dokumentierten Ausgrabung nach Berlin", betont Parzinger, der auch eine wichtige Rolle in der Rückgabe-Debatte um koloniale Objekte, wie etwa die Benin-Bronzen, spielte.

Wechsel an der Spitze

Nach 17 Jahren gibt Parzinger 2025 die Leitung der Stiftung ab. Am 1. Juni hat Marion Ackermann übernommen - passend zum Start des Jubiläumsjahrs. Auch unter ihrer Führung geht die Umsetzung des Masterplans weiter.

Ein Meilenstein war 2019 die Eröffnung der James-Simon-Galerie - sie dient als Haupteingang zur Museumsinsel. Das Pergamonmuseum ist aktuell wegen Sanierung bis 2027 geschlossen, das Alte Museum ist danach dran.

Wenn alle Restaurierungen abgeschlossen sind, werden vier der fünf historischen Gebäude durch eine barrierefreie unterirdische Rampe, die sogenannte Archäologische Promenade, miteinander verbunden, die sich an den historischen Brücken zwischen den im Zweiten Weltkrieg zerstörten Museen orientiert.

Die Museumsinsel bleibt ein einzigartiger Ort, an dem Geschichte, Kunst und Architektur aufeinandertreffen - ein Ort, der seine Vergangenheit nicht versteckt, sondern sie lebendig hält. Sie ist Deutschlands Antwort auf den Louvre oder das British Museum.

Die zukünftige Leiterin der Museumsinsel möchte das Ensemble international noch mehr stärken, damit die Besucherzahlen künftig ähnlich hoch sind wie in Frankreich oder Großbritanniens Vorzeigemuseen. "Vielleicht sollten wir auf die Marke 'The Berlin Museum' setzen, das klingt nicht so kompliziert wie 'Stiftung Preußischer Kulturbesitz'", so Marion Ackermann gegenüber der DW. "Jetzt 200 Jahre Museumsinsel zu feiern, ist eine große Chance, dass wir noch mehr an Attraktivität gewinnen."

Adaption aus dem Englischen: Silke Wünsch

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Image caption Die Berliner Museumsinsel, zu der auch das Bode-Museum (vorn im Bild) gehört, liegt an der Spree
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Item 38
Id 72690521
Date 2025-05-28
Title Klimaklage: Peruanischer Bauer vs RWE scheitert vor Gericht
Short title Klimaklage: Peruanischer Bauer vs RWE scheitert vor Gericht
Teaser Der Landwirt wollte eine Beteiligung des Konzerns an Klima-Schutzmaßnahmen gegen Gletscherschmelze in Peru erreichen. Obwohl eine Revision nicht möglich ist, werten Umweltschützer den Prozess als Erfolg.
Short teaser Der Landwirt wollte eine Beteiligung des Konzerns an Klima-Schutzmaßnahmen erreichen. Eine Berufung ist nicht möglich.
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Das Oberlandesgericht (OHG) im westdeutschen Hamm hat die Klimaklage des peruanischen Landwirts nach einem zehnjährigen Prozess abgewiesen. Er hatte vom Energieriesen RWE Schadensersatz für die Gefahr von Überschwemmungen im Zusammenhang mit schmelzenden Gletschern verlangt.

Bei der Urteilsverkündung erklärten die Richter, dass der Schaden am Eigentum des Klägers durch eine Gletscherflut nicht hoch genug sei. Sie schlossen eine Berufung aus.

Die Umweltorganisation Germanwatch, die den Kläger während des langen Prozesses unterstützt hat, bezeichnete das Urteil dennoch als "bahnbrechend" und "großen Erfolg".

"Die Entscheidung des Gerichts, die auf den ersten Blick wie eine Niederlage klingt, weil die Klage abgewiesen wurde, ist in Wirklichkeit ein historisches Grundsatzurteil, auf das sich Betroffene an vielen Orten der Welt berufen können", so die gemeinnützige Organisation in einer Erklärung.

"Denn in zahlreichen anderen Ländern wie Großbritannien, den Niederlanden, den USA und Japan gibt es ganz ähnliche gesetzliche Vorgaben."

Klimafall seit zehn Jahren vor Gericht

Vor fast zehn Jahren hatte Saul Luciano Lluiya erstmals eine Klage gegen das Energieunternehmen RWE vor einem deutschen Gericht eingereicht, die jedoch zunächst abgewiesen wurde. Er forderte das Unternehmen auf, seinen Anteil zur Finanzierung von Schutzmaßnahme in Peru zu zahlen. RWE gehört zu den größten Emittenten von Treibhausgasen.

Lliuyas Dorf Huaraz liegt im Westen Perus, in einem Tal unterhalb des Palcacocha-Gletschersees. Seit steigende Treibhausgasemissionen zu einem globalen Temperaturanstieg geführt haben, tauen die Gletscher in der Region immer weiter ab.

Durch das Schmelzwasser hat sich der Wasserstand des Sees oberhalb von Lliuyas Dorf seit 2003 mehr als vervierfacht. Experten warnen vor einem erhöhten Überschwemmungsrisiko, das schlimme Folgen für die Region haben könnte. Sollten etwa große Eisblöcke vom Gletscher in den See brechen, könnte dies zu meterhohen Überschwemmungen in Teilen des Ortes führen, heißt es.

Lliuya hatte das Energieunternehmen auf der Grundlage eines deutschen Gesetzes verklagt, das Anwohner vor Beeinträchtigungen durch die Handlungen ihrer Nachbarn schützen soll. Seine erste Klage gegen das Unternehmen wurde 2015 von einem Gericht in der Stadt Essen, in der RWE seinen Hauptsitz hat, abgewiesen. Im Jahr 2017 gab ein höheres Gericht in der nahe gelegenen Stadt Hamm Lliuya jedoch Recht.

Im März dieses Jahres hörten die Richter in Hamm Beweise von beiden Seiten dafür an, ob sein Haus tatsächlich in Gefahr ist und ob RWE dafür verantwortlich gemacht werden kann.

"Ich fühle eine große Verantwortung", sagte Lliuya im Vorfeld der diesjährigen Anhörung. Für ihn gehe es in diesem Fall "um den Kampf gegen den Klimawandel und das Abschmelzen der Gletscher und darum, diejenigen, die den Schaden verursacht haben, zur Rechenschaft zu ziehen."

Der peruanische Landwirt hatte RWE aufgefordert, sich anteilig an den geschätzten Kosten für den Bau von Hochwasserschutzanlagen zu beteiligen, um das Dorf vor dem steigenden Wasser des Sees zu schützen. Der Anteil, den die Firma nach Ansicht des Klägers tragen sollte, entspricht etwa 17.000 Euro (19.000 US Dollar).

RWE ist nicht selbst in Peru tätig und hatte stets betont, man habe sich immer an die nationalen gesetzlichen Bestimmungen gehalten. Der Konzern hatte wiederholt in Frage gestellt, warum er überhaupt für mögliche Klimafolgeschäden in Peru zur Rechenschaft gezogen werden soll.

In einer Erklärung gegenüber der DW sagte RWE Anfang des Jahres: "Wenn es einen solchen Anspruch nach deutschem Recht gäbe, könnte auch jeder Autofahrer haftbar gemacht werden. Das halten wir für rechtlich unzulässig und gesellschaftspolitisch für den falschen Ansatz".

Unternehmensverantwortung für globale Emissionen

Als Energiekonzern, der überwiegend Kohle verstromt, gehört RWE zu den größten Emittettenten von Treibhausgasen in Europa. Eine Analyse ergab, dass das Unternehmen nach aktuellem Strand für knapp 0,4 % der weltweiten Emissionen verantwortlich ist, mehr als doppelt so viel wie etwa Griechenland.

Indem das Gericht in Hamm den Fall im Jahr 2017 für zulässig erklärte, erkannte es die grenzüberschreitenden Auswirkungen des Klimawandels an - auch wenn Schäden Tausende von Kilometern entfernt auftreten. Germanwatch, die den Bauern bei seiner Klage unterstützten, wertet dem Prozess in Hamm deshalb trotz des Urteils als einen Erfolg.

"Einige der in diesem Fall vorgebrachten Argumente sind übertragbar, auch wenn sie in anderen Gerichtsbarkeiten nicht direkt anwendbar sind", sagte Petra Minnerop, Professorin für internationales Recht an der Durham University.

"Und das ist es, was wir bei Rechtsstreitigkeiten im Allgemeinen sehen, dass die Prozessparteien versucht haben, die Argumente zu übertragen und auch aus den Urteilen der Gerichte zu lernen und dann die Beweise und rechtlichen Argumente vorzulegen."

Schaffung eines Präzedenzfalls für Klimaprozesse

Lliuya und seine Anwälte feierten das Ergebnis als Präzedenzfall für andere Klimaklagen.

Vor dem Urteil in Hamm sagte Noah Walker-Crawford, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Londoner Grantham Research Institute on Climate Change, der Fall werde wahrscheinlich "Auswirkungen auf die ganze Welt haben".

Seit Beginn des Verfahrens gegen RWE sind laut Walker-Crawford weltweit rund 40 weitere Verfahren gegen große Unternehmen wegen ihrer Verantwortung für den Klimawandel anhängig gemacht worden. Darunter auch in Belgien, Indonesien und den Vereinigten Staaten.

"In den letzten Jahrzehnten gab es nur unzureichende politische Fortschritte in Bezug auf den Klimawandel, vor allem auf internationaler Ebene und besonders in Hinsicht auf Verluste und Schäden und verheerenden Auswirkungen, mit denen Gemeinden auf der ganzen Welt konfrontiert sind. Deshalb sehen wir immer häufiger, dass sich Gemeinden aus Verzweiflung an die Gerichte wenden", so Walker-Crawford weiter.

Andere Rechtsexperten bezweifeln die Auswirkungen des Falles auf weitere Klima-Urteile.

"Es ist etwas, das wahrscheinlich anderen Gerichten als Orientierung dienen oder als etwas zitiert werden wird, das ziemlich stark und mutig ist [...] Aber ich würde nicht sagen, dass dies Auswirkungen darauf hat, wie andere Gerichtsbarkeiten entscheiden werden", so Minnerop.

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.

Item URL https://www.dw.com/de/klimaklage-peruanischer-bauer-vs-rwe-scheitert-vor-gericht/a-72690521?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Saul Luciano Lliuya aus Peru hatte den deutschen Energieriesen RWE verklagt hat, sich an Schutzmaßnahmen für sein Dorf in den Anden zu beteiligen.
Image source Alexander Luna/Germanwatch e.V.
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Item 39
Id 72683760
Date 2025-05-28
Title Elternsein in Europa: weniger Zufriedenheit, mehr Lebenssinn
Short title Elternsein in Europa: weniger Zufriedenheit, mehr Lebenssinn
Teaser Eine neue Untersuchung bestätigt, was viele Eltern geahnt haben dürften: Kinder geben dem Leben einen Sinn. Der Preis dafür ist allerdings eine geringere Zufriedenheit, vor allem für Mütter. Doch es gibt Unterschiede.
Short teaser Kinder geben dem Leben einen Sinn. Der Preis dafür ist eine geringere Zufriedenheit. Das gilt vor allem für Mütter.
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Ich habe mal den schönen Satz gehört: "Ein Kind zu haben ist wie ein lebenswichtiges Organ outzusourcen, das alleine draußen herumrennt und auf Bäume klettert." Ein Kind zu haben ist so faszinierend und sinnstiftend wie es anstrengend und beängstigend sein kann.

Eine neue Untersuchung zur Zufriedenheit von Eltern bestätigt diesen scheinbaren Widerspruch: Im Vergleich zu kinderlosen Menschen empfinden Eltern ihr Leben als sinnerfüllter. Gleichzeitig sind Eltern aber nicht zufriedener mit ihrem Leben als Nicht-Eltern. Im Gegenteil: Eltern sind häufig unzufriedener.

Das haben die Soziologen Marita Jacob und Ansgar Hudde von der Universität Köln herausgefunden und ihre Ergebnisse im Fachmagazin Journal of Marriage and Family veröffentlicht. Für die Untersuchung nutzten die Forschenden Daten des sogenannten European Social Survey von mehr als 43.000 Befragten aus 30 Ländern.

Jacob und Hudde stellten fest, dass sowohl Mütter als auch Väter einen tieferen Lebenssinn verspüren – unabhängig von Nationalität und sozialem Status.

Mit der Zufriedenheit sieht das anders aus. Die hängt nicht nur stark von der jeweiligen Lebenssituation ab, sie ist auch eine Frage der Familienpolitik des Landes. Eine Frage des Geschlechts ist sie auch: Die Zufriedenheit von Müttern ist geringer als die von Vätern.

In Skandinavien kaum Unterschied zwischen Eltern und Kinderlosen

"Eltern in herausfordernden Lebenslagen sind weniger zufrieden", sagt Marita Jacob, Professorin für Soziologie an der Uni Köln. Herausfordernd heißt beispielsweise alleinerziehend, jung, geringer Bildungsabschluss. Tja, könnte man sagen, so ist das eben.

Laut Jacob ist das allerdings kein unveränderbares Naturgesetz: "In skandinavischen Ländern sind die Unterschiede zwischen den sozialen Gruppen wesentlich schwächer ausgeprägt." Außerdem sei in diesen Ländern der Unterschied in der Lebenszufriedenheit zwischen Eltern und kinderlosen Personen viel geringer als beispielsweise in Zentral- und Osteuropa.

Kinderbetreuung, Elterngeld und Elternzeit – diese familienpolitischen Maßnahmen funktionieren in den skandinavischen Ländern sehr gut, sagt Jacob. "Meine Vermutung ist, dass diese Maßnahmen in die Gesellschaft hineinwirken. Das heißt, dass Kinder nicht als Problem der Eltern allein, sondern als eine gemeinschaftlich zu bewältigende Aufgabe verstanden werden."

Diese Haltung spiegelt sich auch in den Unternehmenskulturen skandinavischer Arbeitgeber wider, sagt Jacob. Es sei dort normaler, dass Eltern früher mit der Arbeit beginnen und früher wieder gehen und wichtige Meetings eher dem Rhythmus von Familien angepasst würden, so die Soziologin.

Höhere Zufriedenheit durch mehr Gleichheit zwischen den Geschlechtern

Nach wie vor kümmern sich hauptsächlich Frauen um das Familienleben. In Deutschland reduziert jede zweite Frau ihre Arbeitszeit, um sich um die Kinder kümmern zu können. Nur knapp sechs Prozent der deutschen Männer, die in Teilzeit arbeiten, tun dies aus familiären Gründen. Den Großteil der Elternzeit nehmen in Deutschland ebenfalls die Mütter in Anspruch.

Ein weiterer Faktor, der Eltern in Finnland zufriedener machen dürfte als Eltern in Deutschland, ist die Gleichbehandlung der Geschlechter. Eine gleiche Bezahlung und somit ein geringerer Gender Pay Gap in den skandinavischen Ländern sorge für zufriedenere Frauen, so Jacob. Das wirke sich wiederum positiv auf die Partnerschaft und damit die Familie aus.

"Ein Kind ist kein Projekt, das allein gestemmt werden kann"

Marita Jacob erzählt, dass sie sich mit anderen Eltern zusammengetan hat, als ihre Kinder klein waren. "Jeder von uns hat immer mehrere Kinder vom Kindergarten abgeholt." Wer Kleinkinder hat weiß, dass eine halbe Stunde mehr oder weniger Zeit durchaus entscheidend dafür sein kann, ob der Tag mit einem Nervenzusammenbruch endet oder nicht. Jacob plädiert deshalb dafür, dass Eltern sich gegenseitig nicht nur mehr Unterstützung anbieten, sondern diese auch tatsächlich in Anspruch nehmen.

Kinder sind wichtig. Nicht nur, um einer alternden Gesellschaft entgegenzuwirken, die sich ohne junge Menschen nicht um ihre Rentner wird kümmern können.

"Kinder haben aber auch einen Wert an sich", betont Marita Jacob. "Sie bringen Lebendigkeit, neue Ideen und Innovationen in eine Gesellschaft hinein."

Deshalb sieht die Soziologin vor allem die Staaten in der Pflicht. "Kinder sollten nicht das Problem ihrer Eltern sein, wenn die Kinderbetreuung nicht verlässlich ist oder es Probleme in der Schule gibt. Kinder sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe."

Quelle:

Journal of Marriage and Family: Parenthood in Europe: Not More Life Satisfaction, but More Meaning in Life, 2025 https://doi.org/10.1111/jomf.13116

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Image caption "Kinder sind eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe", sagt die Soziologin Marita Jacob. Davon profitieren am Ende alle - auch die Kinderlosen.
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Item 40
Id 72687261
Date 2025-05-28
Title Müssen Trumps Filmzölle Hollywood retten?
Short title Müssen Trumps Filmzölle Hollywood retten?
Teaser In den USA werden immer weniger Filme gedreht. Der Grund: Die Filmindustrie agiert zunehmend globaler. Können Zölle die Produktionen nach LA zurückbringen, wie der US-Präsident verspricht?
Short teaser In den USA werden weniger Filme und Serien gedreht. Können Zölle daran etwas ändern, wie US-Präsident Trump verspricht?
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Als Donald Trump ankündigte, 100 Prozent Zoll auf alle Filme zu erheben, die "in fremden Ländern produziert werden", geriet die global agierende US-Filmindustrie in Panik. Die Aktien großer Produktionsfirmen wie Netflix und Disney stürzten ab. Die Überlegung der Märkte: Die Kosten für US-Produktionen werden steigen, wenn sie nicht mehr von billigeren Drehorten in Übersee profitieren können.

In den letzten Jahrzehnten haben US-amerikanische Filme und Fernsehserien nämlich großzügige Steueranreize für Dreharbeiten in Europa, Kanada oder Australien genutzt, wodurch Hollywood-Drehorte vergleichsweise teuer wurden.

Hinzu kommt, dass sich die Film- und Inhaltsindustrie zuletzt stark dezentralisiert hat. Internationale Koproduktionen sind heute in der Lage, Ressourcen gemeinsam zu nutzen und dennoch auf Finanzmittel aus mehreren Ländern zuzugreifen.

Die Stars lästern über Trumps Zollidee

Noch ist unklar, was der US-Präsident genau will. Sollen die Zölle nur für "Filme" gelten? Oder auch für Fernsehserien? So oder so schreckte Trumps Ankündigung die Branche auf. Auf dem Filmfestival in Cannes wurde seine Drohung heftig kritisiert - und verspottet.

Der amerikanische Regisseur Wes Anderson etwa, der in Cannes seinen neuen Film "Der phönizische Meisterstreich" vorstellte, bezeichnete Trumps Vorstoß als absurd. Wie man denn Zölle auf geistiges Eigentum erheben wolle, fragte er. Bei Waren könne man ja noch sagen: "Ihr müsst bezahlen, oder wir lassen nichts ins Land." Filme würden jedoch auf anderen Wegen reisen.

Oscar-Preisträger Robert De Niro, der in Cannes eine Ehrenpalme für sein Lebenswerk entgegennahm, nutzte seine Dankesrede für scharfe Kritik an Trumps Plänen: "Man kann Kreativität nicht mit einem Preis belegen, aber offenbar kann man sie mit einem Zoll belegen", so der Altstar, "das ist inakzeptabel!"

Auch der indische Schauspieler, Filmemacher und Bollywood-Star Vivek Ranjan Agnihotri äußerte sich in den sozialen Medien zum Thema. Ein Zoll von 100 Prozent auf ausländische Filme könne dazu führen, warnte er, "dass Indiens angeschlagene Filmindustrie völlig zusammenbrechen wird".

Rückgang der US-Produktionen hatte mehrere Gründe

In einem Beitrag auf seinem Social Media-Kanal "Truth Social" hatte Trump behauptet, dass "die Filmindustrie in Amerika einen sehr schnellen Tod stirbt".

Tatsächlich sind die Dreharbeiten in Hollywood nach Angaben von "Film LA", einer Publikation der Filmindustrie, in den letzten fünf Jahren um 34 Prozent zurückgegangen. Dadurch verloren viele Filmschaffende ihren Arbeitsplatz. Doch lässt sich dieser Rückgang nicht nur auf die Anreize für Dreharbeiten an ausländischen Standorten zurückführen. Auch die Corona-Pandemie, ein weltweiter wirtschaftlicher Abschwung und der monatelange Streik von Schauspielern und Autoren im Jahr 2023 haben dazu geführt, dass Hollywood zum Stillstand kam.

Da die Budgets immer knapper würden, könnten Filme ohne Koproduktionen, die Anreize im Ausland nutzen, nicht mehr hergestellt werden, sagt Stephen Luby, Dozent für Film am Victorian College of the Arts in Australien. "US-Produktionen, die Steuervergünstigungen in Ländern wie Australien in Anspruch nehmen und ihre Filme im Ausland zu drehen, tun dies, weil die Filme auf diese Weise billiger zu produzieren sind", sagte er der DW. "Vielleicht würden sie sonst gar nicht gedreht."

Selbst Schauspieler und Regisseur Mel Gibson, der Trump in Bezug auf Zölle und Möglichkeiten berät, um "Hollywood wieder groß zu machen", dreht seinen neuesten Film "Die Auferstehung Christi" in Rom und in Süditalien.

Wird der Niedergang Hollywoods überbewertet?

Derzeit verzeichnen die USA ein leichtes Handelsdefizit bei Unterhaltungsinhalten. Das bedeutet, dass mehr importiert als exportiert wird - 27,7 Milliarden Dollar (24,45 Milliarden Euro) gegenüber 24,3 Milliarden Dollar (21,45 Milliarden Euro) im Jahr 2023. Jean Chalaby, Soziologieprofessor an der University of London, sieht diese Zahlen jedoch durch Streaming-Anbieter wie Netflix beeinflusst, die in den USA produzierte Inhalte wie etwa "Stranger Things" nicht offiziell exportieren, sondern über ihre eigene, in den USA ansässige Plattform international vertreiben.

Gleichwohl zählen Serienhits wie "Adolescence" und "Squid Game", die aus dem Ausland bezogen werden, als Importe - selbst wenn sie Netflix "Hunderte von Millionen Dollar" an Abonnementgebühren einbringen, so Chalaby in einem Artikel für die internationale Medienplattform "The Conversation". "Die US-amerikanische Unterhaltungsindustrie war weltweit noch nie so dominant", stellt Chalaby fest, "trotz des Handelsdefizits."

Aktuell sind die USA noch der größte Film- und TV-Exporteur der Welt, wenngleich Hollywood zunehmend Konkurrenz aus Südkorea bekommt. "Wenn diese Zölle eingeführt werden, werden sie sicherlich weitreichende Folgen für die Film- und Fernsehindustrie haben", so Chalaby, "aber sie werden kaum jemanden reicher machen."

Trump kritisiert EU-Protektionismus

Beifall für seine Zollpläne erhält der US-Präsident hingegen aus der US-amerikanischen Filmindustrie, darunter von der "Screen Actors Guild-American Federation of Television and Radio Artists", der US-Gewerkschaft der Schauspielerinnen und Schauspieler. Auch die Motion Picture Association (MPA), eine Organisation, die Studios von Disney bis Netflix, von Paramount und Universal bis Warner Bros. vertritt, teilt die Auffassung, dass mehr Inhalte in den USA produziert werden sollten und spricht sich für Steueranreize zur Förderung der Produktion in den Vereinigten Staaten aus.

Als Trump im Februar seine Handelszölle ankündigte, begründete er das auch mit einem "Protektionismus" auf dem EU-Filmmarkt. Dort müssen die US-Streaminganbieter mindestens 30 Prozent europäischer Inhalte in ihre Programme für die EU-Mitgliedstaaten aufnehmen. Die MPA lehnt diese Quoten ebenfalls ab.

Tatsächlich können EU-Staaten - nach der EU-Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste - auch verlangen, dass Netflix und Disney lokale Produktionen finanzieren. Die Streaming-Giganten haben versucht, das durch rechtliche Schritte zu verhindern. Gleichzeitig hat Hollywood bereits enge Beziehungen zu Studios in Ländern wie Australien aufgebaut. Große Filme entstanden hier, wie etwa "Matrix", "Fluch der Karibik: Salazars Rache" oder "Thor: Ragnarok".

Die Skepsis gegenüber Trumps Zollplänen ist groß, wie die Diskussion in Cannes gezeigt hat. Das letzte Wort dazu scheint allerdings noch nicht gesprochen: "Dieser Mann ändert seine Meinung 50 Mal", sagte Regisseur Richard Linklater in Cannes bei der Vorstellung seines Films "Nouvelle Vague". Er könnte recht behalten.

Aus dem Englischen adaptiert von Stefan Dege.

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Image caption Im Zuge der Globalisierung der Filmindustrie werden immer weniger Produktionen in den USA gedreht
Image source Chris Cheadle/All Canada Photos/picture alliance
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Item 41
Id 72685652
Date 2025-05-27
Title Renten in Europa - Wie lange müssen wir arbeiten?
Short title Renten in Europa - Wie lange müssen wir arbeiten?
Teaser In Dänemark soll länger gearbeitet werden: Ab 2040 sollen die Dänen erst mit 70 Jahren in Rente gehen. Obwohl die verschiedenen Rentenkonzepte in Europa schlecht vergleichbar sind, fürchten manche einen neuen Trend.
Short teaser Ab 2040 sollen die Dänen erst mit 70 Jahren in Rente gehen.
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Geht ein Erwerbsleben dem Ende zu, stehen viele Noch-Erwerbstätige und Bald-Ruheständler vor der Frage: Reicht die Rente? Kann ich mir einen Ruhestand überhaupt leisten oder muss doch noch weiterarbeiten? Droht die Altersarmut? In Dänemark will man das Problem mit einer nicht gerade originellen Maßnahme begegnen, die Widerspruch geradezu herausfordert.

Das Parlament in Kopenhagen verabschiedete ein Gesetz zur Anhebung des Rentenantrittsalters. 81 Angeordnete stimmten dafür, 21 dagegen. Das neue Gesetz legt den Rentenbeginn für alle nach dem 31. Dezember 1970 geborenen Bürger auf 70 Jahre fest. Derzeit liegt er in Dänemark bei 67 Jahren.

Bis 2030 soll das Pensionseintrittsalter auf 68 Jahre steigen, 2035 soll es 69 Jahre betragen. Die 47-jährige sozialdemokratische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen hatte im vergangenen Jahr erklärt, sie sei bereit, das System zu überprüfen, sobald das offizielle Renteneintrittsalter 70 Jahre erreicht habe.

Man sieht im internationalen Vergleich, wie unterschiedlich der Renteneintritt geregelt ist. Bemerkenswert ist, dass in manchen Ländern die Menschen sogar länger arbeiten, als sie es müssten.

Modell für Deutschland?

Die neue Bundesregierung in Berlin ist derzeit noch in einer "Findungsphase" - viele Details sind noch offen. "Wir haben in den Koalitionsvertrag viele richtige Dinge aufgeschrieben", lobte Bundeskanzler Friedrich Merz sich und die Seinen auf einem Landesparteitag der CDU in Stuttgart.

So ist auch die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme nicht geklärt. Aber: "So wie es heute ist, kann es allenfalls noch für ein paar wenige Jahre bleiben", so der Kanzler. Jetzt gehe es um eine grundlegende Reform der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung.

Das dänische Modell hatte vor rund einer Woche bereits der frühere Regierungsberater Bernd Raffelhüschen ins Gespräch gebracht: "Wir sollten das Rentenzugangsalter sehr schnell auf 70 erhöhen, damit wir mindestens von den geburtenstarken Jahrgängen noch einige erwischen", sagte er der Augsburger Allgemeinen Zeitung. Bis 2035 würden jedes Jahr eine Million Bundesbürger aus dem Erwerbsleben ausscheiden, was die Rentenbeiträge für Jüngere steigen lasse.

Beveridge versus Bismarck

Bei der Finanzierung von Rentensystemen gibt es zwei Schulen, die mit den Namen ihrer Theoretiker oder Initiatoren benannt werden: Die Sozialgesetzgebung von Reichskanzler Otto von Bismarck aus dem neunzehnten Jahrhundert und das Beveridge-Modell, das in den 1940er Jahren formuliert wurde.

Dieses Modell ist ein Fürsorgesystem, das die gesamte Bevölkerung absichert und aus Steuermitteln finanziert wird. Es basiert auf den Berechnungen des britischen Ökonomen William Henry Beveridge, der damals zur liberalen Fraktion im britischen Parlament gehörte.

Demgegenüber steht das Bismacksche Modell, das als Versicherungssystem eine Kasse vorsieht, in die Arbeiter und Arbeitgeber einzahlen. Vereinfacht gesagt, handelt es sich dabei um ein Umlagemodell, in dem die arbeitende Bevölkerung mit ihren Beiträgen die Renten der nicht mehr berufstätigen Mitbürger finanzieren.

Ein Vergleich der Rentensysteme in Europa ist nur sehr eingeschränkt möglich, da in mehreren Ländern eine Mischung aus Bismarck- und Beveridge-Modell existiert. Zudem unterscheiden sich die mitunter sehr komplizierten Details von Land zu Land.

Der demografische Pferdefuß

Beim in Deutschland angewendeten Bismarckschen Prinzip gibt es einen Pferdefuß, der immer deutlicher zutage tritt: die Überalterung der Gesellschaft. Es gibt immer mehr Rentenempfänger und immer weniger Beitragszahler - das sind Menschen, die einem sozialversicherungspflichtigen Beruf nachgehen. Außerdem leben die Beitragsempfänger wegen der gestiegenen statistischen Lebenserwartung länger - beziehen also mehr Rente.

Das hat zur Folge, dass die umlagefinanzierten Rentenkassen immer stärker belastet werden. Die Konsequenz ist, dass entweder die Beiträge immer weiter steigen müssen (s.o.) oder die Renten nicht mehr steigen können, um die Inflation auszugleichen. Oder, dass das Rentenniveau insgesamt sinkt.

Manche wollen länger arbeiten

Ein kürzeres Berufsleben und ein früherer Eintritt in das Rentnerdasein sind natürlich verlockend. Man kann aufhören, bevor der Körper den Anforderungen nicht mehr gewachsen ist. Man kann im "letzten Lebensdrittel" eine sinnvolle und individuell erfüllende Tätigkeit aufnehmen oder schlicht mehr Zeit mit der Familie verbringen.

Aber auch ökonomisch ist das durchaus segensreich: Menschen mit mehr Zeit haben auch mehr Gelegenheit, Geld auszugeben. Vorausgesetzt, die Rente gibt das her. Es könnte so der private Konsum gefördert werden, was wieder der Konjunktur zugute käme.

Doch länger zu arbeiten kann auch Vorteile haben: Viele Menschen fühlen sich auch mit Mitte 60 noch fit und machen ihre Arbeit gern. Sie möchten ihre Erfahrungen weitergeben und auch weiterhin mit jüngeren Menschen in Kontakt bleiben. Und Arbeitgeber profitieren, wenn angelerntes Wissen und erworbene Routinen nicht verloren gehen. Außerdem könnte das dem Fachkräftemangel wenigstens ein wenig entgegenwirken.

Mal früher, mal später

Der Blick auf die zuerst gezeigte Statistik offenbart, dass das gesetzliche Renteneintrittsalter nur in ganz wenigen Fällen auch dem tatsächlichen Ende der Berufstätigkeit entspricht: In den meisten Fällen gehen die Menschen früher in Rente. Sei es, weil ihr Körper einfach nicht mehr mitmachen will oder, besonders in kreativen Berufen, weil sie ausgebrannt sind.

In einigen wenigen Fällen arbeiten die Menschen auch über das Renteneintrittsalter hinaus - zum Beispiel in Neuseeland oder Japan, aber auch in Schweden oder Griechenland. Ob sie es aus freien Stücken tun? Die Gründe dafür sind wohl teilweise so privater Natur, dass sie sich innerhalb einer statistischen Erhebung nicht darstellen lassen.

Gesellschaftlicher Spagat

Es gibt jedoch Rahmenbedingungen, die sich verändern lassen. Da ist zum Beispiel die Bruttoersatzquote, die Höhe der Rente im Verhältnis zur Höhe des letzten Arbeitslohns. Ist dieser Abstand zu groß, kann es sich mancher Arbeitnehmer kaum leisten, in Rente zu gehen.

Das Gespenst der Altersarmut ließe sich vertreiben, wenn das Rentenniveau so angepasst würde, dass es nach einem langen Berufsleben zu einer auskömmlichen Rente reicht. Doch das kostet viel Geld, das in der Rentenkasse nicht vorhanden ist. Auf der anderen Seite darf die monatliche Belastung der Beitragszahler nicht immer weiter steigen, weil das ihre Möglichkeiten zunichte machen würde, auch privat für eine Altersversorgung zu sparen.

Item URL https://www.dw.com/de/renten-in-europa-wie-lange-müssen-wir-arbeiten/a-72685652?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Auch um Altersarmut zu vermeiden, arbeiten immer mehr Rentner trotz Rentenbezugs weiter
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Item 42
Id 72607176
Date 2025-05-27
Title Hitlers Vorkosterinnen - eine wahre Geschichte?
Short title Hitlers Vorkosterinnen - eine wahre Geschichte?
Teaser Der Film "Die Vorkosterinnen" des italienischen Regisseurs Silvio Soldini basiert auf den Erzählungen einer Frau, die Hitlers Essen auf Gift testen musste - jeder Tag konnte ihr letzter sein.
Short teaser Der Film "Die Vorkosterinnen" basiert auf den Erzählungen einer Frau, die Hitlers Essen auf Gift testen musste.
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Die erste Szene des Films "Die Vorkosterinnen" spielt im November 1943 im ostpreußischen Dorf Groß-Partsch (heute Parcz in Polen). Die junge Rosa Sauer (Elisa Schlott) ist aus ihrer zerbombten Wohnung in Berlin geflohen und hat auf dem Land Zuflucht bei ihren Schwiegereltern gefunden. Ihr Mann ist Soldat und kämpft gerade in der Ukraine.

Nicht weit entfernt, tief im Wald und von Stacheldraht umgeben, liegt das geheime Hauptquartier von Adolf Hitler an der Ostfront - die sogenannte "Wolfsschanze".

Kurz nach ihrer Ankunft in Groß-Partsch wird Rosa von der SS zwangsrekrutiert. Sie landet in einer Gruppe von Frauen, die täglich zur Wolfsschanze gebracht werden, um dort als Vorkosterinnen für Hitler zu "arbeiten". Sie bekommen das Essen serviert, bevor Hitler es isst - falls es vergiftet ist, sterben sie, nicht er.

Während in ganz Europa die Menschen hungern, sitzen diese Frauen am üppig gedeckten Tisch vor den erlesensten Speisen. Aber sie wissen, dass jede Mahlzeit die letzte sein könnte - Hitler hat viele Feinde.

Rosa freundet sich mit einer schüchterne Frau namens Elfriede (Alma Hasun) an. Außerdem beginnt sie eine heimliche Beziehung mit dem SS-Offizier Ziegler (Max Riemelt).

Die Geschichte dahinter

Der deutschsprachige Film des italienischen Regisseurs Silvio Soldini ("Brot und Tulpen", 2000) basiert auf dem Bestseller-Roman "Le assaggiatrici" (2018) von Rosella Postorino, der in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurde. Obwohl Soldini es bisher vermieden hat, bei historischen Werken Regie zu führen, adaptierte er den Roman fürs Kino.

Einer der Gründe war, dass hier Frauen die wichtigste Rolle spielen - ungewöhnlich für eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg. Ihm gefiel auch, so Soldini gegenüber der DW, dass über die beiden Hauptfiguren Rosa Sauer und Albert Ziegler nicht geurteilt werde, die "einfach nur menschlich sind, obwohl sie in das Räderwerk eines schrecklichen Systems geraten sind".

Das Zeugnis der Margot Wölk

Postorinos Roman und jetzt der Film basieren lose auf den Erzählungen einer Frau namens Margot Wölk. Sie sprach erst mit 95 Jahren, im Dezember 2012, öffentlich über ihre Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg.

Ab 1942 sei sie etwa zweieinhalb Jahre lang eine von 15 Frauen gewesen, die das Essen für Hitler vorkosten mussten, erinnerte sie sich. Ihre Beschreibungen, wie die Frauen zwangsverpflichtet wurden und wie ihr Tagesablauf war, spiegeln sich in Buch und Film wider.

Die Inspiration zur Liebesgeschichte zwischen Rosa und Ziegler beruht auf Woelks Aussage, ein Offizier habe sie 1944 in einen Zug nach Berlin gesetzt, um sie vor der herannahenden Roten Armee, den Streitkräften der Sowjetunion, zu retten. Später habe sie erfahren, dass alle anderen Vorkosterinnen von sowjetischen Soldaten erschossen wurden.

Ob Woelk selbst eine Beziehung zu einem SS-Offizier hatte, bleibt im Dunkeln - in Interviews erwähnte sie das nie. Dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" erzählte sie 2013 allerdings, dass sie während ihrer Zeit als Vorkosterin von einem SS-Offizier vergewaltigt wurde - und nach ihrer Rückkehr nach Berlin mehrfach von sowjetischen Soldaten. Erst über ein Jahr nach Kriegsende sah sie ihren Mann wieder, der von seinen Erlebnissen im Krieg selbst schwer traumatisiert war.

Postorino wollte Margot Woelk für ihren Roman persönlich interviewen, aber diese starb 2014, bevor es dazu kam.

Zweifel an der Geschichte

Nachdem 2014 eine Doku über Margot Woelk erschien, äußerte sich der Historiker Sven-Felix Kellerhoff skeptisch. In der Zeitung "Die Welt" schrieb er, dass Hitler in seinen letzten Lebensjahren Magenprobleme hatte und spezielles Diätessen bekam - zubereitet in einer separaten Küche im innersten Sicherheitsbereich der Wolfsschanze, dem "Sperrkreis 1". Es hätte also wenig Sinn gemacht, das Essen aus diesem Sperrkreis heraus zu transportieren, um es von einer Gruppe Frauen probieren zu lassen.

In seinem neuen Buch "Vor dem Untergang: Hitlers Jahre in der ‚Wolfsschanze‘" schreibt der Historiker Felix Bohr, dass im Juli 1943 Helene von Exner angeheuert wurde: die erste Diätassistentin, die separat für Hitler kochte. Zuvor hatte ein Koch namens Otto Günther die Mahlzeiten für alle in der Wolfsschanze ansässigen Nazigrößen in großen Töpfen zubereitet.

Außer Hitlers engstem Kreis arbeiteten bis zu 2.000 Personen in der Wolfsschanze. Mussten die Frauen vielleicht andere Speisen probieren, von denen ihnen nur gesagt wurde, dass es sich um Hitlers Mahlzeiten handelte?

Felix Bohr erwähnt Woelks Aussage nur in einer Fußnote. Im DW-Gespräch sagte er, bei seinen intensiven Recherchen zu den Strukturen der Wolfsschanze habe er "keine Quellen gefunden, die Margot Woelks Geschichte bestätigen", aber, so Bohr weiter, "ich habe auch keine Dokumente gefunden, die das Gegenteil beweisen."

Regisseur Soldini stören die historischen Ungereimtheiten nicht. Für ihn ist klar: Der Film basiert auf einem Roman, nicht auf belegten Fakten. Wichtig sei die emotionale Wahrheit und dass die Geschichte auch heute noch relevant sei. Er sieht Parallelen zur Gegenwart: Wie damals die Vorkosterinnen erleben viele Menschen heute die Gewalt, die von Politik ausgehen kann - selbst wenn sie das Privileg haben, gut zu essen.

Belegt: Attentatsversuch auf Hitler

Was historisch eindeutig belegt ist: Es gab über 40 Versuche, Hitler zu töten.

Der bekannteste ist das Attentat vom 20. Juli 1944 - "Operation Walküre", und das ausgerechnet in der Wolfsschanze. Der Wehrmachtsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg platzierte eine Bombe in einer Aktentasche unter einem Tisch. Die detonierte während einer Lagebesprechung und tötete vier Menschen, Hitler selbst überlebte. Im Radio sagte er später, er sei "völlig unverletzt bis auf ganz kleine Hautabschürfungen, Prellungen oder Verbrennungen" und fasse sein Überleben "als eine Bestätigung des Auftrages der Vorsehung auf, mein Lebensziel weiter zu verfolgen".

Auch dies eine Parallele zu heute: Als Donald Trump im Juli 2024 ein Attentat mit einer leichten Verletzung überlebte, deutete auch er das als Zeichen des Schicksals.

Adaption aus dem Englischen: Silke Wünsch.

Item URL https://www.dw.com/de/hitlers-vorkosterinnen-eine-wahre-geschichte/a-72607176?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Freigegeben durch Vorkosterinnen? Hitler und Eva Braun beim Abendessen
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Item 43
Id 72636680
Date 2025-05-27
Title Unser Konto und die Klimakrise - was können wir tun?
Short title Unser Konto und die Klimakrise - was können wir tun?
Teaser Ob Renten, Investitionen oder unser Bankkonto: Die Art, wie wir unser Geld anlegen und aufbewahren, nimmt Einfluss auf die weltweiten CO2-Emissionen. Doch wie nachhaltig sind grüne Finanzalternativen und Banken?
Short teaser Wie und wo wir unser Geld anlegen, beeinflusst die globalen CO2-Emissionen. Wie sinnvoll sind grüne Finanzalternativen?
Full text

Wir versuchen klimaschonend einzukaufen, zu reisen oder uns zu ernähren - aber unsere Finanzen bleiben in Bezug auf ihre Klimawirkung oft ein blinder Fleck.

Eine Analyse der britischen Nachhaltigkeits-Kampagne Make My Money Matter ergab: Der Wechsel zu einem nachhaltigen Rentenanbieter ist in Sachen CO2-Reduktion rund 20 Mal effektiver als der Verzicht auf Flugreisen, die Umstellung auf vegetarische Kost oder der Wechsel des Energieversorgers zusammen.

Die Rolle der Banken bei der Finanzierung der "Fossilen"

Die 60 größten Banken der Welt haben für die Fossilindustrie allein im Jahr 2023 schätzungsweise 705 Milliarden Dollar bereitgestellt. Seit dem Pariser Klimaabkommen im Jahr 2015 beläuft sich die Vergabe von Geldmittel auf insgesamt 6,9 Billionen Dollar. Ein Großteil davon dient der Branche für Investitionen, die den unmissverständlichen Klimawarnungen der Wissenschaft zuwiderlaufen.

"Wir alle haben Geldanlagen, die auf verschiedene Weise dazu beitragen - oft ohne unser Wissen", sagt Adam McGibbon, Kampagnenstratege bei der US-Forschungs- und Interessenvertretungsorganisation Oil Change International. Das könnten etwa Girokonten sein, aber auch Renten oder Versicherungspolicen, über die in die Fossilindustrie investiert werde, erklärt McGibbon.

Wie viel Geld genau aus der privaten Finanzwirtschaft in dieFossilbranche fließt, lässt sich laut Fachleuten aufgrund der komplexen Finanzsysteme nicht exakt quantifizieren.

Einen dieser Gründe erläutert Quentin Aubineau, Policy Analyst bei BankTrack, einer internationalen Nichtregierungsorganisation, die die Finanzaktivitäten von Geschäftsbanken dokumentiert: Banken verliehen ihr Geld oder zeichneten Unternehmensanleihen in der Regel über den Unternehmensbereich und nicht über den Privatkundenbereich - wo das Geld der einzelnen Kunden verwahrt wird.

Laut Adam McGibbon verwenden Banken unser Geld, um ihr Geschäft auszubauen, mehr Einnahmen zu erzielen und Investoren anzuziehen. Unsere Ersparnisse könnten etwa dazu verwendet werden, "die Bilanz einer Bank aufzublähen, was dann ermöglicht, Firmenkunden zu bedienen", die Verbindungen zur Fossilindustrie haben.

Wie unser Geld und die Erderwärmung zusammenhängen

Bei Investitionen wiederum flössen private Gelder über Aktien oder Anleihen direkt in die Fossilbranche, sagt Carmen Nuzzo. Nuzzo ist Geschäftsführerin des Transition Pathway Initiative Centre in Großbritannien, das Fortschritte der Finanz- und Unternehmenswelt auf dem Weg zu einer klimafreundlichen Wirtschaft untersucht.

"Dazu gehören Investitionen in Öl- und Gasunternehmen, die in den letzten Jahren sehr attraktiv und profitabel waren, sowie Investitionen in andere Unternehmen, die bei der Produktion oder der Erbringung von Dienstleistungen stark auf fossile Brennstoffe angewiesen sind, wie etwa die Stahlindustrie oder die Luftfahrt", so Nuzzo.

Viele Menschen finanzieren fossile Brennstoffe auch durch ihre Ersparnisse, die in Pensionsfonds stecken, die in "braune" Unternehmen investieren - also solche Unternehmen, die zu den Branchen mit den höchsten Treibhausgasemissionen gehören. Die Renten werden in der Regel entweder vom Staat, den Arbeitgebern oder privaten Firmen gehalten und kontrolliert.

"Sie zahlen in einen Rententopf ein, das Geld wird in Ihrem Namen angelegt, und ein Teil davon kann dann eben in Unternehmen investiert werden, die dafür sorgen, dass Sie im Ruhestand in einer instabilen, schwierigen Welt leben", kritisiert McGibbon.

Jüngste Studien gehen davon aus, dass ein Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um vier Grad Celsius die Menschen 40 Prozent ärmer macht. Wenn die schlimmsten Klimaprognosen eintreten, könnten die Renditen von US- und kanadischen Pensionsfonds bis zum Jahr 2040 um bis zu 50 Prozent sinken, die Vermögenswerte extremen Klimaereignissen ausgesetzt sind.

Pensionsfonds gehören laut Angaben der Desinvestitionskampagne Climate Safe Pensions, die in den USA und Kanada ansässig ist, zu den weltweit größten Investoren in fossile Brennstoffe. Demzufolge haben sie schätzungsweise 46 Billionen Dollar in die Industrie investiert und halten rund ein Drittel der fossilen Aktien. Außerdem gehörten sie zu den führenden Geldgebern für die Expansion der Fossilindustrie in Afrika.

Im Jahr 2023 deckte die deutsche Rechercheplattform Correctiv auf, dass zehn von 16 Pensionsfonds der deutschen Bundesländern in Fossilenergie investieren.

Nachhaltige Alternativen für Geldanlagen

"Grüne Banken haben zwar nicht immer die günstigsten Konditionen, aber unter klimabewussten Menschen gibt es ein wachsendes Interesse an nachhaltigen Finanzalternativen", sagt Katrin Ganswindt, Finanzexpertin bei der deutschen Umweltorganisation Urgewald.

Zu der wachsenden Zahl "grüner", also nachhaltiger Banken gehören solche, die sich verpflichten, keine Kredite mehr für die Fossilindustrie zu vergeben und in klimafreundliche Aktivitäten zu investieren. Auch Online-Tools wie bank.green sind entstanden, die helfen, Nachhaltigkeit und Klimaengagement verschiedener Banken zu vergleichen.

Doch die Überwindung mangelnder Finanzkenntnisse bleibe nach wie vor eine der größten Herausforderungen, meint Nuzzo. "Die meisten Menschen haben keinen Überblick darüber, wo ihre Rentengelder investiert werden - oder sie überprüfen ihre Optionen nicht regelmäßig."

Dabei ließe sich gerade über Renten- und Pensionsfonds eine echte Veränderung herbeizuführen, da sie die langfristige Investitionen anlegten, sagt Ganswindt. Und: "Pensionsfonds haben eine große Wirkung, weil sie große Summen investieren."

Laut Schätzungen von "Make My Money Matter" könnte allein die Rentenbranche des Vereinigten Königreichs bis zum Jahr 2035 rund 1,2 Billionen in erneuerbare Energien und Klimalösungen investieren.

Die grüne Rentenlandschaft entwickelt sich jedoch weiter: In den Niederlanden haben sich Pensionsfonds für Beamte und Lehrer sowie für Beschäftigte im Gesundheitswesen von Unternehmen mit der Fossilindustrie getrennt, und im Vereinigten Königreich müssen große Pensionsfonds jetzt auch über ihre Klimarisiken berichten.

Welche Geldanlagen sind wirklich nachhaltig?

Doch trotz des wachsenden Bewusstseins und der wachsenden Möglichkeiten für nachhaltige Geldanlagen mangele es dem Bereich immer noch an Standards und Vorschriften, berichtet Franziska Mager, leitende Wissenschaftlerin beim Tax Justice Network, einer britischen Interessengruppe, die sich gegen Steuervermeidung einsetzt.

"Selbst wenn Sie bei einer "grünen" Bank sind, werden Sie vielleicht überrascht sein, wo Ihr Geld investiert ist - wenn Sie es überhaupt herausfinden können. Ganz zu schweigen davon, was die großen Akteure als nachhaltig definieren", sagt Mager.

Erst kürzlich erschien eine von Mager mitverfasste Studie über "Greenwashing" im Bankensektor. Darin heißt es, die Existenz undurchsichtiger Finanzpraktiken – wie der Verweis auf Geheimhaltungspflichten – verschleiere das wahre Ausmaß der Finanzierung fossiler Energieträger.

"Bei börsengehandelten Investmentfonds (ETFs) kann man einfach angeben, sie seien "grün" - aber das muss nicht wirklich etwas bedeuten", sagt auch Ganswindt.

In jüngster Zeit habe es jedoch Fortschritte bei der Transparenz gegeben, fügt sie hinzu und verweist auf neue EU-Richtlinien. Sie regeln, welche Unternehmen in solche Fonds aufgenommen werden dürfen, die als "grün" oder nachhaltig gekennzeichnet sind.

Letztlich machen private Finanzmittel vermutlich nur den kleineren Teil der enormen Summen aus, mit denen fossile Energieträger finanziert werden. Aber darum gehe es bei einem Wechsel zu einem umweltfreundlichen Anbieter auch nicht in erster Linie, erklärt Ganswindt. Es gehe darum, ein Zeichen zu setzen.

"Sicherlich haben wir als Kunden eine gewisse Macht, aber als Bürger haben wir noch viel mehr Macht", meint auch McGibbon. "Es ist großartig, zu einer umweltfreundlicheren Bank zu wechseln, es ist großartig, zu einem umweltfreundlicheren Rentensystem zu wechseln. Aber wir haben als Bürger viel größere Macht, wenn wir unser Wahlverhalten ändern und von der Politik eine Regulierung des Finanzsektors fordern."

Adaption aus dem Englischen: Jeannette Cwienk

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Image caption Unser Erspartes kann für und gegen das Klima arbeiten
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Item 44
Id 72529773
Date 2025-05-26
Title Geheimtipp aus Deutschland: Mascha Schilinski gewinnt in Cannes den Jury-Preis
Short title Mascha Schilinski gewinnt in Cannes den Jury-Preis
Teaser Premiere beim Filmfest in Cannes: Erstmals ist eine deutsche Regisseurin ausgezeichnet worden. Die Berliner Filmemacherin Mascha Schilinski bekam für ihren Film "In die Sonne schauen" den Jury-Preis.
Short teaser Erstmals ist in Cannes eine deutsche Regisseurin ausgezeichnet worden. Die Berliner Filmemacherin bekam den Jury-Preis.
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"Ich hatte Angst, mich verhört zu haben", sagte die 41-jährige Regisseurin und Drehbuchautorin Mascha Schilinski, als ihr Film bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes zum Gewinner des Jurypreises gekürt wurde. "Es war eine Art surrealer Moment - einfach wundervoll."

Im Vorfeld des Festivals hatte die Filmemacherin betont, sie sei "wahnsinnig glücklich", dass ihr Film "In die Sonne schauen" beim Filmfestival in Cannes aufgenommen wurde. "Aber gerechnet habe ich nicht wirklich damit. Das ist ein Filmemachertraum!"

Schilinksis Traum ist nicht nur in Erfüllung gegangen bei den 78. Internationalen Filmfestspielen von Cannes, sie ist auch noch ausgezeichnet worden. Dabei seien deutsche Filmemacher, wie die Süddeutsche Zeitung süffisant bemerkt, "manchmal schwerer zu finden als ein vernünftiges Mittagessen unter 20 Euro." Doch diesmal trifft man sie an, wenn auch anders als gedacht.

Bekannte Regisseure wie Fatih Akin ("Amrum") und Christian Petzold ("Miroirs No. 3") stellten an der Croisette ihre neuen Filme vor, doch lediglich in Nebenreihen und nicht im Hauptwettbewerb. Im Rennen um die Goldene Palme stand, neben Autorenfilmstars wie Wes Anderson oder Kelly Reichardt, nur eine deutsche Filmkünstlerin - nämlich Mascha Schilinski. Zuletzt war das 2016 Maren Ade mit ihrem Film "Toni Erdmann" gelungen. Der Hauptpreis ging dann allerdings an den Iraner Jafar Panahi - für den Film "It was just an Accident".

Ein Vier-Generationen-Porträt

Worum geht es in "In die Sonne schauen"? Der Film lenkt unseren Blick auf einen alten Vierseitenhof in einem kleinen Dorf der ostdeutschen Altmark. Dort leben beziehungsweise lebten früher vier Frauen, deren Geschichten das Filmdrama durch Zeitsprünge miteinander verwebt. So geschickt, dass im Laufe der Handlung die Grenzen zwischen den Figuren verschwimmen. Aus einem Vier-Generationen-Portrait entsteht ein Jahrhundertbild.

"Wenn wir durch die Räume des Hofes gegangen sind, haben wir die Jahrhunderte gespürt", erzählt Mascha Schilinski, "da kam eine ganz alte Kindheitsfrage von mir auf". Schon als kleines Mädchen, das in einer Berliner Altbauwohnung groß wurde, habe sie sie immer gefragt: "Was ist in diesen Wänden wohl alles schon passiert, wer genau saß schon mal an dieser Stelle, an der ich jetzt sitze? Was für Schicksale sind hier passiert? Was haben die Menschen hier schon alles erlebt und gefühlt?" Viele stellen sich solche Fragen, doch die Wenigsten machen einen Film daraus.

Der weibliche Blick im Film

Bei Mascha Schilinski kommt hinzu, dass sie, wie schon in ihrem Debutfilm "Die Tochter" (2017), einem Psychodrama über eine komplizierte Eltern-Beziehung, nun erneut auf einen weiblichen Blick abhebt. Dieser weibliche Blick sei ihr und auch ihrer Ko-Autorin Louise Peter sehr wichtig, sagt Mascha Schilinski, weil er viel zu selten vorkomme. "In die Sonne schauen" erzählt die Geschehnisse denn auch aus Sicht von Frauen. "Es geht im Film viel um Blicke, welchen Blicken Frauen über ein Jahrhundert hinweg ausgesetzt sind, wie es sich heute anfühlt und auch wie sich das weiterträgt, in die Körper einbrennt."

Mascha Schilinskis Weg zum Film klingt wie vorgezeichnet: Sie ist die Tochter einer Filmemacherin, die sie schon als Kind zu Drehorten und Filmsets begleitet. Während ihrer Schulzeit schauspielert sie in Fernseh- und Kinofilmen. Danach arbeitet sie als Casterin, absolviert Praktika in der Filmindustrie, reist durch Europa und arbeitet als Zauberin und Feuertänzerin für einen kleinen Wanderzirkus. Nach einer Autorenausbildung an der Filmschule Hamburg lässt sie sich als freie Autorin für Serien und Filme in Berlin nieder.

Schon ihr Erstlingsfilm "Die Tochter", der auf der Berlinale 2017 lief, brachte Mascha Schilinski viel Aufmerksamkeit. . Als die Einladung aus Cannes kam, habe sie es gar nicht glauben können. "Ich musste erstmal nachlesen, ob 'Official Selection' irgendeine Nebenreihe ist oder wirklich der Wettbewerb", erzählt Mascha Schilinski. "Wir haben den Film bei allen drei A-Festivals eingereicht. Also in Berlin, Venedig und Cannes. Wir wussten noch nicht mal, ob die jeweiligen Auswahlselektionen den Film überhaupt angucken. Niemand kennt uns."

Das hat sich jetzt definitiv geändert. Die Auszeichnung in Cannes dürfte ihrer Karriere einen gehörigen Schub verleihen.

Dieser Artikel wurde am 26.05.2025 aktualisiert.

Item URL https://www.dw.com/de/geheimtipp-aus-deutschland-mascha-schilinski-gewinnt-in-cannes-den-jury-preis/a-72529773?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72530649_302.jpg
Image caption Die Berliner Regisseurin und Drehbuchautorin Mascha Schilinksi hat es in den Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes geschafft
Image source Fabian Gamper
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Item 45
Id 72670775
Date 2025-05-26
Title Diskriminierung - Beenden Unternehmen Diversitäts-Programme?
Short title Diskriminierung - Beenden Unternehmen Diversity-Programme?
Teaser Trump gegen Diversity: In den USA haben einige Unternehmen ihre Anti-Diskriminierungs Programme reduziert oder beendet. Auch in Europa werden Konzerne unter Druck gesetzt. Steht Vielfalt am Arbeitsplatz vor dem Aus?
Short teaser Trump gegen Diversity: US- und EU-Konzerne stoppen DEI-Programme. Steht Vielfalt am Arbeitsplatz vor dem Aus?
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Ist das Thema Diversität (diversity) am Ende, weil Donald Trump das so will? Einige namhafte US-Konzerne wie die Facebook-Mutter Meta und der Google-Konzern Alphabet, der Autobauer Ford und die Kaffeehauskette Starbucks haben ihre Diversitätsprogramm bereits runtergefahren.

Auch verschiedene Firmen in europäischen Ländern, die Geschäfte mit den USA machen, wurden aufgefordert, auf einem Fragebogen zu bestätigen, dass sie sich nicht weiter für Diversität, Gleichstellung und Inklusion (diversity, equitiy and inclusion, kurz DEI) engagieren.

In Deutschland sind erste Unternehmen eingeknickt. So haben VW und die Deutsche Telekom ihre Diversitätsprogramme in den USA reduziert oder eingestellt. Der Softwarekonzern SAP hat sich von der Frauenquote in Deutschland verabschiedet.

Viele deutsche Unternehmen bemühen sich weiterhin um Diversity

Nur Einzelfälle? In Deutschland machte Ende April eine Schnellumfrage der "Charta der Vielfalt" Hoffnung. Sie ist Deutschlands größte Arbeitgebendeninitiative zur Förderung von Vielfalt in der Arbeitswelt, die von mehr als 6000 Unternehmen und Institutionen unterzeichnet wurde. Von den 100 befragten Organisationen und Unternehmen gaben 90 Prozent an, ihre DEI-Programme unverändert beibehalten zu wollen.

"Wir haben eine Liste mit über 800 Unternehmen, die die Charta unterzeichnen wollen", sagt Cawa Younosi, Geschäftsführer der Charta. Das sei ein Rekord. Auch beim Deutschen Diversity Tag hätten sich ähnlich viele Unternehmen auf dem linkedin-Kanal registriert. "Also man sieht, wenn man die großen Namen mal beiseite lässt, ist schon eine "jetzt-erst-recht"-Stimmung bemerkbar in Deutschland."

Laut der Nachrichtenagentur dpa geben einige große Unternehmen wie BMW oder Henkel an, sie würden die Situation genau beobachten. Von Siemens heißt es beispielsweise, es gebe zurzeit "keine Notwendigkeit zur Veränderung unserer Bemühungen hinsichtlich vielfältiger Teams und eines inklusiven Arbeitsumfelds aufgrund der aktuellen Entwicklungen".

Andere, wie die britische Kosmetikkette Lush geben sich offen kämpferisch. "Lush beugt sich diesem Druck nicht - im Gegenteil. Wir verstehen ihn als Ansporn, unsere Haltung noch entschlossener sichtbar zu machen", heißt es von dem Unternehmen auf Nachfrage. "DEI steht im Zentrum unserer Unternehmensidentität."

Auch Cawa Younosi berichtet, ihm sei von mehreren Vorständen gesagt worden, sie rechneten eher damit, dass das US-Geschäft darunter leiden könnte, dass ihr Unternehmen ein europäisches sei, als darunter, dass sie DEI- Programmen fortführten.

Finden sich in US-Unternehmen noch DEI Programme?

Auch in den USA gibt es Unternehmen, die bislang ein Fels in der Brandung bleiben. So setzt sich Apple weiterhin für eine diverse vielfältige Firmenkultur ein. "Because we're not all the same. And that remains one of our greatest strengths,” heißt es auf der Internetseite. ("Weil wir nicht alle gleich sind. Und das bleibt eine unserer größten Stärken"). Auf der Hauptversammlung hatten fast alle Anteilseigner dafür gestimmt. Auch Microsoft und Costco bekennen sich weiterhin zu DEI Programmen.

Und es seien mehr, als man denkt, meint Younosi von der "Charta für Vielfalt": "Die überwiegende Mehrheit der Unternehmen in den USA, also rund 75 Prozent, haben ihre Diversitätsbemühungen nicht geändert."

Guckt man allerdings auf die großen US-Unternehmen, sieht das Bild nicht rosig aus. Laut einem Bericht der Financial Times im Märzhaben von den 400 größten Unternehmen im S&P 500-Index 90 Prozent, die seit der Wahl Trumps einen Jahresbericht vorgelegt haben, einige Verweise auf DEI gestrichen. Viele haben den Begriff auch ganz weggelassen. Stattdessen betonen sie "Inklusion" oder ‚Zugehörigkeit‘ und dass sie eine Kultur anstreben würden, in der sich "alle Mitarbeiter" wohlfühlen.

Langer Kampf für Vielfalt am Ende?

Ist damit die Förderung von benachteiligten Gruppen in der Sackgasse gelandet? Seit 1964 ist in den USA per Gesetz festgelegt, dass Diskriminierung am Arbeitsplatz aufgrund von Ethnie, Religion, Geschlecht, Hautfarbe und Herkunft verboten ist. Seitdem haben sich Unternehmen für Vielfalt und gegen Diskriminierung engagiert. Einen Schub bekam das DEI-Engagement in den USA noch einmal ab 2020 im Zuge der Black-Lives-Matter-Bewegung.

Dieses "woke" Engagement würde laut US-Präsident Donald Trump andere diskriminieren, nämlich weiße, mittelalte Männer. Mit Beginn seiner zweiten Amtszeit hat er per Dekret DEI-Programme in staatlichen Einrichtungen beendet. Ein anderes Dekret bezeichnet DEI-Programme im privatwirtschaftlichen Bereich als verfassungswidrig und diskriminierend. Unternehmen, die solche Programme fortführen, könnten mit rechtlichen Konsequenzen rechnen.

Konsequenzen fürchten auch Unternehmen außerhalb der USA. Sie sorgen sich, keine Regierungsaufträge mehr zu bekommen, wenn sie sich nicht von DEI Programmen lossagen. Auch die Genehmigung von Übernahmen scheint mit dem Kampf gegen "woke" verknüpft zu sein. So wurde im Fall von T-Mobile US die Übernahme des Kabelnetzbetreibers Lumos am Tag, nachdem die Deutsche-Telekom-Tochter ihre Diversitäts-Initiativen weitgehend gestrichen hatte, genehmigt.

Geht es auch ohne DEI Programme divers?

SAP-Vorstandschef Christian Klein will beispielsweise die Programme für mehr Vielfalt innerhalb des Konzerns fortführen und weiterentwickeln - obwohl er sich von der Frauenquote verabschiedet hat. "Am Ende zählt das, was wir in der Realität tun, für das Thema Diversität." Die Frage ist nur, wieviel passiert in der Realität ohne spezielle Maßnahmen?

Siri Chilazi, Forscherin für Geschlechtergerechtigkeit an der Harvard University, sagt gegenüber der BBC, dass es keinen historischen Präzedenzfall gebe, der darauf hindeutet, dass sich rassische und geschlechtsspezifische Ungleichgewichte von selbst korrigieren.

Schaut man in Deutschland auf das Beispiel "Inklusion von Menschen mit Behinderung" zeigt sich, dass auch Gesetze nicht uneingeschränkt für Inklusion sorgen können. Ende 2024 zeigte das Inklusionsbarometer "Arbeit" der Aktion Mensch und des Handelsblatt Research Institutes, dass jedes vierte Unternehmen in Deutschlande keinen Menschen mit Behinderung beschäftigt.

Dabei ist per Gesetz geregelt, dass Unternehmen mit 20 Mitarbeitenden und mehr mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderung vergeben müssen. Allerdings werden Arbeitgeber von dieser Pflicht befreit, wenn sie eine sogenannte Ausgleichsabgabe bezahlen. Auch wenn dadurch Geld in die Kasse kommt, wäre Betroffenen mit einem Arbeitsplatz mehr geholfen.

Vielen Unternehmen ändern nur ihre Wortwahl

Michelle Jolivet sagt laut einem BBC-Bericht, US-Unternehmen hätten ihre DEI-Programme zwar scheinbar eingestellt, sie aber nicht wirklich abgeschafft. Stattdessen benennen sie sie lediglich um und organisieren sich neu, um möglichen Klagen zu entgehen. Auch von der "Charta der Vielfalt" heißt es, die überwiegende Mehrheit, also rund drei Viertel der US-Unternehmen, hätten ihre DEI Politik nicht verändert.

In Deutschland beobachtet Michael Eger, Partner beim Beratungsunternehmen Mercer Deutschland: "Wir sehen, dass sich bei vielen Unternehmen zwar die Kommunikation verändert, nicht jedoch ihre Haltung und Maßnahmen, die sie weiterverfolgen." Auch in Branchen, in denen Fachkräftemangel herrsche und Stellen schwer bzw. nicht besetzt werden könnten, würden zunehmend Initiativen gestartet, um attraktiver für Frauen, für Menschen mit Migrationshintergrund oder für ältere Mitarbeitende zu werden, so Eger gegenüber DW.

Item URL https://www.dw.com/de/diskriminierung-beenden-unternehmen-diversitäts-programme/a-72670775?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Geschlecht, Herkunft, Religion - Mit Diversitätsprogrammen wollen Unternehmen Diskriminierung verhindern und dafür sorgen, dass alle Mitarbeitenden die gleichen Chancen haben
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Item 46
Id 72670512
Date 2025-05-26
Title Mozart: Sein bester Freund war die Musik
Short title Mozart: Sein bester Freund war die Musik
Teaser Mozart hatte viele Bewunderer, auf Instagram hätte er heutzutage unzählige Likes. Aber hatte er echte Freunde? Oder lebte er nur für die Musik? Fragen, denen man beim Mozartfest Würzburg auf den Grund geht.
Short teaser Mozart hatte viele Bewunderer, auf Instagram hätte er heute unzählige Likes. Aber hatte er auch echte Freunde?
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Wäre der berühmte Komponist Wolfgang Amadeus Mozart heutzutage als Wunderkind unterwegs, dann hätte er wahrscheinlich Abermillionen Follower und Freundschaftsanfragen in den sozialen Netzwerken. Doch schon im 18. Jahrhundert warnte Mozarts Vater Leopold seinen Sohn vor falschen Freunden - vor Neidern, aber auch vor Schmeichlern, die ihm nach dem Mund redeten.

Um Mozarts Freundschaften und um vermeintliche Freunde in digitalen Parallelwelten geht es in diesem Jahr beim Würzburger Mozartfest. Das Motto: "Aber durch Töne – Freund Mozart", sprich: er kommunizierte am liebsten mit Musik. "Zu einer echten Freundschaft gehört Vertrauen und gegenseitiges Verständnis", sagt Intendantin Evelyn Meining und fügt hinzu, dass keine Follower-Zahl auf dem Bildschirm eine echte Freundschaft ersetzen könne.

Das Mozartfest in Würzburg ist das älteste und größte Mozartfest in Deutschland, das jedes Jahr im Mai in der Weltkulturerbestätte, der Residenz Würzburg eröffnet.

Das Wunderkind ohne Freunde?

Mozart machte Mitte des 18. Jahrhunderts als sogenanntes Wunderkind Furore. Er reiste jahrelang mit dem Vater durch Europa und begeisterte die Adligen bei Hofe mit seinem Talent auf der Geige und am Klavier. Für intensive Freundschaften mit Gleichaltrigen fehlte die Zeit. "Natürlich war die Familie sehr auf sich fokussiert, der Zusammenhalt war in den frühen 1760er-Jahren besonders fest", sagt Evelyn Meining im Gespräch mit der Deutschen Welle.

Auch später dürfe man sich Mozart nicht mit Freunden bei gemütlichen Weinabenden oder "Grillpartys" vorstellen. "Das waren eher Beziehungen aus dem musikalischen Kontexten heraus: Kollegen, Musikerfreunde, Lehrer, Gönner oder Orchestermusiker aus den Kapellen." Freundschaften und Musik, das könne man bei Mozart nicht trennen.

Künstlerfreundschaften beim Mozartfest

Auch bei den Interpreten des Mozartfests spielen in diesem Jahr Künstlerfreundschaften eine besondere Rolle. Bei der Eröffnung standen die Freunde Nils Mönkemeyer (Bratsche) und William Youn (Klavier) im Mittelpunkt, begleitet vom Ensemble Resonanz unter Dirigent Riccardo Minasi. Mönkemeyer und Youn haben sich über die Musik kennengelernt. Sie lieben Mozarts Musik, haben sich aber dennoch etwas Modernes für ihren Auftritt gewünscht.

Deshalb ging ein Kompositionsauftrag an Manfred Trojahn, der sich mit modernen Opern einen Namen gemacht hat. Sein Doppelkonzert "Trame lunari" für Viola, Klavier und Kammerorchester hat er eigens für die ungewöhnliche Instrumentenkombination geschrieben. "Trame lunari" heißt so viel wie Mondgespinste. "Es gibt in dem Stück sehr viele Farbwechsel, sehr viele Beleuchtungsnuancen, und darauf bezieht sich dieser Titel", sagt Trojahn der DW.

An Mozarts Musik schätzt er die Transparenz. "Meine Komposition sollte eine Leichtigkeit und Transparenz haben, wie man sie bei Mozart findet", erläutert Trojahn. Mönkemeyer und Youn sind ein eingespieltes Team. Die stellenweise äußerst filigranen Klänge haben sie differenziert und einfühlsam ausgekostet. Das Publikum war begeistert, nicht nur von den Solisten, sondern auch vom Orchester, das im Anschluss noch schwungvoll Mozarts Haffner-Sinfonie präsentierte.

Joseph Haydn, der väterliche Freund

Mozart gilt bis heute vielen Musikschaffenden als Vorbild. Er selbst hatte auch Vorbilder wie den Komponisten Joseph Haydn oder den Bach-Sohn Johann Christian Bach, den er wegen seiner galanten leichten Musik bewunderte. Joseph Haydn war 24 Jahre älter als Mozart und dennoch schrieb Mozart in Briefen, dass Haydn sein "allerliebster Freund" sei. Er widmete ihm 1785 sechs Streichquartette und übergab Haydn die Noten mit den Worten, das seien seine "Kinder". Eine Anspielung auf das freundschaftliche Vater-Sohn-Verhältnis.

Unter den Interpreten zählte der Hornist Joseph Leutgeb zu Mozarts engen Freunden. Spaßige Sticheleien schrieb Mozart ihm in die Partitur - wie zum Beispiel "Für Sie, Herr Esel". Auch mit Anton Stadler, einem der besten Klarinettisten seiner Zeit, war Mozart befreundet. Für ihn komponierte er ein Klarinetten-Quintett und ein Klarinettenkonzert. Später, als Mozart zunehmend erkrankte und vereinsamte, schrieb er, dass im Grunde die Musik sein einziger Freund sei.

Die vermeintlich falschen Freunde

Vor falschen Freunden hatte der Vater Mozart gewarnt. Milos Formans Film "Amadeus" aus dem Jahr 1984 sieht in Antonio Salieri, der als mittelmäßiger Komponist dargestellt wird, Mozarts Widersacher. Ein falscher Freund sei er gewesen, der hinterrücks intrigierte und Mozart sogar vergiftet haben soll. Obwohl längst widerlegt, ist dieses Narrativ im kollektiven Gedächtnis geblieben.

Mit solchen Klischees möchte Evelyn Meining beim Mozartfest aufräumen. "Salieri war kein böser Konkurrent. Das stimmt alles nicht", sagt Meining. Er sei auch kein Versager im Schatten Mozarts gewesen, sondern ein angesehener Komponist bei Hofe. "Mozart und Salieri haben einander sehr geschätzt."

Der "Schwarze Mozart"

Auch Joseph Bologne, Chevalier de Saint-Georges wurde in der Literatur und in dem Film "Chevalier" (2022) von Regisseur Stephen Williams als Mozarts Konkurrent stilisiert. Als Sohn eines weißen adligen Franzosen und einer schwarzen Sklavin 1745 auf Guadeloupe geboren, kam er als Kind nach Frankreich. Schon früh machte er sich als Geiger und Komponist einen Namen. Joseph Haydn komponierte später für Bolognes eigenes Orchester. Bologne war auch als Leiter der Académie Royale de Musique im Gespräch, doch rassistische Diskriminierungen verhinderten seine Berufung.

Das Geigenduell zwischen Mozart und Bologne, mit dem der Film beginnt, hat es in Wirklichkeit nie gegeben. Fraglich ist, ob der neun Jahre ältere Bologne überhaupt direkten Kontakt zu Mozart hatte. "Das ist mehr eine Betrachtung aus der Geschichtsschreibung", sagt Meining. "Da addiert man Komponisten zusammen, die in der gleichen Zeit komponiert haben und in ihren Kreisen gefeierte Künstler waren." Die Bezeichnung "schwarzer Mozart" für Joseph Bologne entstand erst posthum.

Freundschaft gestern und heute

Ob gute oder falsche Freunde: Im "Mozart Labor" des Festivals werden sich Kulturschaffende weiter über das Thema Freundschaft austauschen. Künstlerbünde und soziale Netzwerke stehen dabei im Mittelpunkt. "Denn natürlich stecken wir mittendrin in einer revolutionären gesellschaftlichen Transformation, die stark getrieben ist von den neuen digitalen Entwicklungen wie Internet, Social Media und KI", sagt Meining.

Um dem etwas entgegenzusetzen, wird es Konzerte in Privathäusern geben, wo Gleichgesinnte zusammenkommen und die Musik vielleicht als "Medium der Freundschaft" wiederentdecken. So könnten aus zufälligen Begegnungen neue persönliche Freundschaften entstehen.

Das Mozartfest Würzburg geht noch bis zum 22. Juni 2025.

Item URL https://www.dw.com/de/mozart-sein-bester-freund-war-die-musik/a-72670512?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Mozart lebte für die Musik, seine Freundschaft zu anderen Menschen drückte er durch Töne aus
Image source Mozartfest Würzburg
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Item 47
Id 72633766
Date 2025-05-23
Title Tripper: England startet weltweit erstes Impfprogramm gegen Gonorrhö
Short title England startet weltweit erstes Impfprogramm gegen Tripper
Teaser Angesichts der vielen Tripper-Infektionen startet England eine ungewöhnliche Impfkampagne mit einem Wirkstoff, der eigentlich vor einer Hirnhautentzündung schützt. Allerdings ist dessen Wirksamkeit eher gering.
Short teaser Angesichts vieler Tripper-Infektionen verimpft England einen Wirkstoff, der eigentlich vor Hirnhautentzündung schützt.
Full text

Gonorrhö, Syphilis und Chlamydien: Jeden Tag stecken sich weltweit über eine Million Menschen mit einer Geschlechtskrankheit an.

Nach Schätzungen der WHO gibt es mehr als 80 Millionen neue Gonorrhö-Erkrankungen pro Jahr - besonders stark ist der Anstieg in Europa. In der Europäischen Union wurden im Jahr 2023 fast 100.000 Fälle gemeldet - das entspricht einem Anstieg von 31 Prozent gegenüber 2022. Betroffen sind vor allem junge Erwachsene zwischen 20 und 24 Jahren, zudem homosexuelle und bisexuelle Männer mit vielen Sexualpartnern.

Wie hoch die tatsächliche Infektionszahl ist, lässt sich nur erahnen, denn in vielen Ländern werden keine Tests durchgeführt und Infektionen nicht umfassend gemeldet.

In England haben sich 2023 über 85.000 junge Menschen mit Tripper – wie Gonorrhö umgangssprachlich heißt – infiziert. Das sind dreimal so viele wie noch 2012, es ist der höchste Wert seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1918.

Hoffen auf die Kreuzschutzwirkung

Die hochansteckende Geschlechtskrankheit breitet sich nicht nur rasant aus. Sie geht mit schmerzhaften Symptomen einher und kann im schlimmsten Fall zu Unfruchtbarkeit führen. Und der Erreger zeigt sich immer häufigerresistent gegen die Behandlung mit Antibiotika. In England soll deshalb ab August 2025 eine ungewöhnliche Impfaktion starten.

Denn bislang gibt es noch keine spezifische Impfung gegen Tripper, der durch das Bakterium Neisseria gonorrhoeae verursacht wird. Zum Einsatz soll ein Impfstoff gegen Hirnhautentzündung (Meningitis) kommen, die durch Meningokokken verursacht wird. Es handelt sich also um zwei unterschiedliche Bakterienarten, die verschiedene Krankheiten verursachen.

Allerdings bieten einige Meningokokken-B-Impfstoffe eine "Kreuzschutzwirkung", sie wirken zum Teil auch gegen das Bakterium Neisseria gonorrhoeae, also gegen einen Erreger, für die sie ursprünglich nicht gedacht waren.

Bislang wurden Meningokokken-B-Impfstoffe nicht direkt gegen Tripper verimpft, weil eine Kreuzschutzwirkung zwar möglich, aber nicht stark genug ist, um eine allgemeine Impfung gegen Tripper zu rechtfertigen. Denn die Wirksamkeit des Impfstoffs mit dem Namen 4CMenB bei Tripper liegt bei nur 30 bis 40 Prozent. Trotzdem hofft die britische Gesundheitsbehörde NHS, die rasant steigenden Infektionszahlen so senken zu können.

Geteilte Reaktionen bei Fachleuten

"Die Einführung der weltweit ersten Routineimpfung gegen Gonorrhö ist ein enormer Fortschritt für die sexuelle Gesundheit und wird entscheidend zum Schutz des Einzelnen beitragen. Sie trägt dazu bei, die Ausbreitung der Infektion zu verhindern und die steigende Zahl antibiotikaresistenter Bakterienstämme zu verringern", rechtfertigte Dr. Amanda Doyle vom NHS die Entscheidung gegenüber der BBC.

Ähnlich sieht dies auch Prof. Matt Phillips, Präsident der British Association for Sexual Health and HIV: "Das sind hervorragende Neuigkeiten und ein Meilenstein für die sexuelle Gesundheit in England", so Philipps gegenüber der BBC.

Die deutschen Gesellschaft zur Förderung der sexuellen Gesundheit (DSTIG) ist da deutlich zurückhaltender. Aus ihrer Sicht stellt die Impfung mit 4CMenB "als direkt verfügbare Maßnahme eine Möglichkeit dar, um vor dem Hintergrund steigender Diagnoseraten und der besorgniserregenden Entwicklung antimikrobieller Resistenzen zur Reduktion der Gonorrhö in Personengruppen mit erhöhtem Infektionsrisiko beizutragen", heißt es in einer DSTIG-Stellungnahme vom Juni 2024.

Allerdings wird die Meningokokken-B-Impfung in Deutschland nicht als Standardimpfung gegen Tripper empfohlen. "Die zum jetzigen Zeitpunkt vorliegende Studienlage lässt keine sicheren Schlüsse zur Effektivität der 4CMenB-Vakkzine gegen Infektionen mit N. gonorrhoeae zu", heißt es in der Stellungnahme.

Zwar gab es "in mehreren Beobachtungsstudien statistisch signifikante Effekte mit einer Reduktion der Inzidenz von Gonokokkeninfektionen von 23 bis 59 Prozent". Allerdings zeigte sich "in der bisher einzigen randomisierten kontrollierten Studie kein statistisch signifikanter Effekt."

Antibiotika-Resistenzen erschweren Tripper-Behandlung

Bis es eine wirksame Impfung gibt, sind die Prävention und eine frühe Behandlung entscheidend, um die rasante Ausbreitung der Gonorrhö zu verhindern. Grundsätzlich können sexuell übertragenen Krankheiten (STI) gut behandelt werden, wenn sie früh genug diagnostiziert werden.

In der Regel werden Gonorrhö-Erkrankungen mit Antibiotika behandelt. Da aber immer mehr Stämme von Neisseria gonorrhoeae resistent gegenüber üblichen Medikamenten sind, erschwert dies eine effektive Behandlung. Wie für so viele andere Erkrankungen auch, bräuchte es dringend die Entwicklung neuer Therapien.

Item URL https://www.dw.com/de/tripper-england-startet-weltweit-erstes-impfprogramm-gegen-gonorrhö/a-72633766?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Einige Meningokokken-B-Impfstoffe wirken zum Teil auch gegen das hier gezeigte Bakterium Neisseria gonorrhoeae, das Tripper verursacht.
Image source picture-alliance/dpa/Max-PlancK-Institut
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Item 48
Id 72597770
Date 2025-05-22
Title Zwei indische Künstlerinnen gehen ihren Weg
Short title Zwei indische Künstlerinnen gehen ihren Weg
Teaser Ob Behinderung oder die gesellschaftliche Stellung der Frau: Janhavi Khemka und Mayuri Chari verarbeiten in ihrer Kunst eigene Erfahrungen. So unterschiedlich das Resultat - erfolgreich sind beide Künstlerinnen.
Short teaser Ob Behinderung oder die Rolle der Frau: Janhavi Khemka und Mayuri Chari verarbeiten in ihrer Kunst eigene Erfahrungen.
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Janhavi Khemkas größte Inspirationsquelle war ihre Mutter. "Sie hat mir bei meinen Schulaufgaben geholfen - mit Handbewegungen, Gesichtsausdrücken und Körpersprache", erinnert sie sich.

Denn Khemka, 1993 in der indischen Stadt Varanasi geboren, ist hörbehindert. Ihre Mutter brachte ihr früh das Lippenlesen auf Hindi bei und förderte ihre Kreativität - bis sie starb. Da war Khemka 15 Jahre alt. "Ihr Einfluss hilft mir bis heute, mich in einer Welt zurechtzufinden, die vor allem auf Nicht-Behinderte ausgerichtet ist - und inspiriert meine Kunst durch Licht, Berührung, Klang und fühlbare Materialien", sagt sie im DW-Interview.

Khemka arbeitet interdisziplinär: Holzschnitt, Malerei, Performance, Animation. Sie hat einen Master Of Fine Arts (MFA) am Art Institute of Chicago absolviert und studierte zuvor an der traditionsreichen Visva-Bharati-Universität in Shantiniketan. "Dort habe ich gelernt zu wachsen und verstanden, dass meine Behinderung Teil meiner Identität ist."

Kunst als Zugang zur Welt

Trotz Unterstützung durch ihren Freundeskreis sowie Mentorinnen und Mentoren bleibt mangelnde Barrierefreiheit eine Herausforderung. Ständig müsse sie sich erklären, was ziemlich "anstrengend" sei, so Khemka.

Ihre Werke wurden bereits in zahlreichen Ausstellungen gezeigt. Zentrales Thema: ihre Erfahrung als hörbehinderte Person, die Klang über Vibration wahrnimmt. Manche ihrer Werke sind interaktiv: Dabei entsteht ein direkter Austausch mit dem Publikum, ganz nah und persönlich.

Die Installation "Letter to My Mother" (Brief an meine Mutter, 2021) besteht aus einer vibrierenden Plattform mit projizierten animierten Lippen aus Holzschnitten und erinnert an die Zeit, als ihre Mutter ihr das Lippenlesen beibrachte.

Für Khemka eine "sehr persönliche Erfahrung, die mich mit meiner Mutter verbindet - auf eine Weise, die Worte nicht ausdrücken können". Das Werk bietet anderen die Möglichkeit, Klang körperlich zu spüren und macht einen ganz intimen Moment aus dem Leben der Künstlerin erfahrbar. "Mein größter Erfolg ist, dass ich mich in der Welt wohlfühle, dass ich frei und selbstbewusst leben kann."

Mayuri Chari: Der weibliche Körper als Priorität

Auch die Konzeptkünstlerin Mayuri Chari kämpft für ein freies und selbstbestimmtes Leben - für sich und andere Frauen. Statt von Erfolg spricht sie lieber von "Prioritäten", die sie in ihrer Kunst sichtbar macht: Sie beschäftigt sich mit dem weiblichen Körper und sagt, was sie selbst ausdrücken möchte - nicht das, was andere hören wollen.

Ob mit Drucken, Textilien, Filmen oder sogar Kuhdung - Chari hinterfragt, wie Frauen in verschiedenen Teilen der indischen Gesellschaft gesehen und behandelt werden. "Das sind keine Geschichten oder Märchen - das ist Realität", sagt sie.

Während ihres MFA-Studiums in Hyderabad begann sie, den weiblichen Körper als Thema zu erforschen. Für eine Semester-Ausstellung zeigte sie großformatige Drucke ihres eigenen Körpers. Sie selbst sah darin Struktur und Farbe, doch viele empfanden es als "vulgär". "Ich fragte mich: Warum sieht man den Körper als etwas Sexuelles - warum nicht als etwas Kreatives?", so Chari gegenüber der DW.

Weder Göttin noch Objekt

Für Chari ist der weibliche Körper in ihrer Kunst weder Göttin noch Objekt - sondern Ausdruck von Selbstwahrnehmung. Damit stößt sie in Indien auf Widerstand. Nacktheit bleibt ein Tabu: Werke wurden von Galerien abgelehnt oder sollten aus Ausstellungen entfernt werden.

Viele Frauen dagegen erkennen sich in ihren Arbeiten wieder. Chari berichtet: "Bei Ausstellungen kommen Frauen zu mir und flüstern: 'Ich fühle das genauso.'"

Ihre Werke erhalten zunehmend internationale Aufmerksamkeit. 2022 zeigte sie ihre Installation "I was not created for pleasure" bei der 12. Berlin Biennale. 2024 war sie Artist-in-Residence (Kunststipendiatin) auf der India Art Fair in Neu-Delhi.

Kunst gegen Widerstände

Wie bei Janhavi Khemka hatte auch bei Mayuri Chari die Familie Einfluss auf ihren künstlerischen Weg - allerdings nicht immer im positiven Sinne. Geboren 1991 im Küstenstaat Goa, arbeitete sie als Kind oft mit ihrem Vater, einem Schreiner. In der Schule wurde ihr Talent früh gefördert. Nach dem Tod des Vaters jedoch verbot ihr ein Onkel das Studium. Chari aber setzte sich durch, schloss ihren Master mithilfe von Stipendien ab, unterstützt von ihrem heutigen Ehemann, dem Künstler Prabhakar Kamble.

Charis Werke beschäftigen sich vor allem mit der gesellschaftlichen Stellung der Frau. Für die Künstlerin spielt die Kaste (Gesellschaftsschicht in Indien) jedoch eine größere Rolle als ihr Geschlecht, wenn es darum geht, wie ihre Arbeit aufgenommen wird. "Ich komme aus einer niedrigen Kaste. Große Galerien bevorzugen Menschen aus höheren Kasten - gut gebildet, Englisch sprechend, mit Geld."

Aktuell arbeitet sie an einem Kurz-Dokumentarfilm über Landarbeiterinnen in der Zuckerindustrie und an textilen Projekten zum Thema Aussteuer - eine Hochzeitstradition, die die portugiesischen Besatzer nach Goa gebracht haben.

Auch Khemka plant Neues: einen Animationsfilm mit Holzschnitt-Technik über die Beziehung zu ihrer Mutter. Ihr Rat an junge Künstlerinnen: "Habt den Mut, Rückschläge auszuhalten, bewahrt Geduld und Hoffnung, und stellt euch den Herausforderungen."

Chari ergänzt: "Bleibt frei im Denken. Lasst euch inspirieren - aber kopiert nicht."

Adaption aus dem Englischen: Silke Wünsch

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Image caption Die beiden indischen Künstlerinnen Mayuri Chari (li) und Janhavi Khemka
Image source privat
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Item 49
Id 72638007
Date 2025-05-22
Title Trump hilft den Golfstaaten bei der KI auf die Sprünge
Short title Trump hilft Golfstaaten bei KI auf die Sprünge
Teaser Bei Donald Trumps Besuch im Nahen Osten wurde eine wahre Flut von Investitionsdeals für künstliche Intelligenz mit Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten abgeschlossen. China könnte ungewollt profitieren.
Short teaser Trumps Besuch im Nahen Osten war geprägt von einer wahren Flut von KI-Investitionsdeals. China könnte davon profitieren.
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Einer der wichtigsten Termine der jüngsten Reise von US-Präsident Donald Trump in den Nahen Osten war ein hochkarätiges Mittagessen am königlichen Hof in Saudi-Arabiens Hauptstadt Riad.

Die Liste der Gäste, die sich Trump und dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman anschlossen, fiel ins Auge. Neben Tesla-Chef Elon Musk waren einige der größten Namen im Bereich der weltweit führenden künstlichen Intelligenz (KI) vertreten - Jensen Huang von Nvidia, Sam Altman vom ChatGPT-Entwickler OpenAI, Google-Präsidentin Ruth Porat und Amazon-CEO Andy Jassy, um nur einige zu nennen.

Ihre gemeinsame Präsenz ergab bald Sinn, als mehrere US-Techkonzerne während des Trump-Besuchs eine Reihe von Vereinbarungen mit Saudi-Arabien über die Finanzierung von KI im Wert von mehreren Dutzend Milliarden US-Dollar ankündigten.

Überraschenderweise erklärte sich Nvidia dazu bereit, Hunderttausende von High-End-Chips an Humain zu verkaufen, ein neues, staatlich unterstütztes saudisches KI-Unternehmen, das erst am Tag vor Trumps Ankunft vorgestellt wurde. In der Zwischenzeit haben auch der Chipdesigner Advanced Micro Devices (AMD) und der Chiphersteller Qualcomm große Zusagen gemacht.

China-Falken in Alarmbereitschaft

Dies geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem Saudi-Arabien seine Investitionen in künstliche Intelligenz erhöht und die Trump-Regierung versucht, die Vormachtstellung der USA beim maschinellen Lernen und der Produktion von High-End-Halbleitern zu zementieren.

Karen E. Young, Nahost-Expertin am Center on Global Energy Policy der Columbia University in New York, glaubt, dass die USA und Saudi-Arabien natürliche Partner sind, wenn es um künstliche Intelligenz geht, da Riad in der Lage ist, riesige Rechenzentren zu bauen und zu betreiben.

"Sie sind in der Lage, eine enorme Stromversorgung aus Gas und Solarenergie bereitzustellen. Sie sind schnell in der Umsetzung, wenn es um regulatorische Fragen geht und können Rechenzentren oder Kraftwerke schnell bereitstellen. Das verschafft ihnen einen Vorteil", sagte sie der DW.

Dennoch hat die Deal-Orgie in Washington zu Kritik geführt, auch aus der Trump-Regierung. Das Argument der Kritiker ist, dass die Lieferung von High-End-Chips an die Länder des Nahen Ostens letztlich China im globalen Wettlauf um die KI-Vorherrschaft mit den USA zugute kommen könnte.

China unterhält enge wirtschaftliche und politische Verbindungen in den Nahen Osten, und einige glauben, dass Chips, die von den USA in die Region verkauft werden, am Ende in China landen könnten.

Um KI-fähige Chips in den Nahen Osten zu verkaufen, hat die Trump-Regierung die 2024 von Ex-Präsident Joe Biden eingeführten Exportverbote für Länder wie Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) abgeschafft.

Unternehmen wie Microsoft und Nvidia hatten diese sogenannte "AI Diffusion Rule" kritisiert und gesagt, sie ersticke Innovationen.

Allerdings hat erst Mitte Mai der Sonderausschuss des US-Repräsentantenhauses über die Kommunistische Partei Chinas ein neues Gesetz eingeführt, "um zu verhindern, dass fortschrittliche US-KI-Chips in die Hände von Gegnern wie der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) fallen".

Für Martin Chorzempa, China-Experte am Peterson Institute for International Economics, hängt die Frage, ob China profitiert, davon ab, ob es den Zugang nur zu den Chips oder auch zu den Modellen habe, die mit ihnen betrieben werden.

"Es besteht die Sorge, dass China in der Lage sein könnte, die Chips entweder selbst umzuleiten oder sich aus der Ferne Zugang zu ihnen zu verschaffen", sagte er der DW.

David Sacks, Vorsitzender von Trumps Beraterrat für Wissenschaft und Technologie und selbsternannter KI-Zar des Weißen Hauses, wehrte sich in einem Beitrag auf der Messaging-Plattform X vehement gegen die Kritik, dass die Golf-Deals China zugute kommen könnten.

Die Alternative bestehe darin, "kritische, geostrategische, ressourcenreiche Freunde und Verbündete aus unserem KI-Ökosystem auszuschließen", schrieb er und fügte hinzu: "Jedes Land wird an der KI-Revolution teilnehmen wollen. Wenn wir uns auf ihre Seite stellen, werden wir sie in unsere Umlaufbahn ziehen. Wenn wir sie ablehnen, treiben wir sie in die Arme Chinas."

Golfstaaten machen Ernst mit KI

"Saudi-Arabien nimmt KI als strategischen Sektor für die Diversifizierung sehr ernst", sagte Karen E. Young. "Es spielt seine Stärken in Bezug auf eine reichhaltige Energieversorgung aus und ermöglicht dem Königreich eine Brücke zur künftigen Energienachfrage."

Sie ist der Meinung, dass die VAE in Sachen KI "wahrscheinlich weiter fortgeschritten" sind als Saudi-Arabien, weil sie schon früher die Entwicklung vorangetrieben haben.

Ein weiteres Abkommen, das während Trumps Golfreise angekündigt wurde, stellt die Weichen für den Bau des größten KI-Campus außerhalb der USA. Das Abkommen sieht dabei auch die Lieferung von fortschrittlichen Chips "made in USA" an die Emirate vor.

Die Vereinigten Arabischen Emirate haben einen Technologiekonzern namens G42 als wichtigsten KI-Ableger gegründet, in den Microsoft bereits mehr als 1,5 Milliarden US-Dollar (1,34 Milliarden Euro) investiert hat.

Für US-Unternehmen, die auf der Suche nach Investitionen sind, werden die Golfstaaten wegen des dortigen Entwicklungseifers und ihrer milliardenschwerden Staatsfonds zunehmend attraktiver.

Humain, das neue saudische KI-Vehikel, befindet sich vollständig im Besitz des Public Investment Fund (PIF) des Landes, der über fast eine Billion US-Dollar verfügt. Der PIF hat zuvor andere KI-Projekte gestartet, während der staatliche Ölkonzern Saudi Aramco Partnerschaften mit den US-Chipherstellern Cerebras und Groq eingegangen ist.

"Diese Orte haben zwei der wichtigsten Zutaten, um zu großen KI-Mächten zu werden. Es fehlen jetzt nur noch Computer und Talente", sagte Martin Chorzempa. "Aber mit genug Macht, Kapital und es scheint, dass es bald Chips gibt, könnten die Talente dorthin strömen."

Laut Karen E. Young ist der Zugang zu fortschrittlicher Technologie eine "nationale Priorität" für Saudi-Arabien. Trumps Bereitschaft, sich zu engagieren und die US-Unterstützung als "Transaktionsthema und nicht als Sicherheitsproblem oder politische Herausforderung" zu sehen, helfe diesem Ziel.

Aber auch wenn die Flut von Investitionen den Golfstaaten dabei hilft, zu wichtigen KI-Hubs der Zukunft zu werden, glauben Experten, dass es nicht automatisch eine "Win-Win-Situation" sein wird.

Chorzempa zum Beispiel sieht die Gefahr, dass lokale Unternehmen, die nicht an Kapital- oder Energiekonzerne gebunden sind, eigene Modelle entwickeln könnten, um mit den USA zu konkurrieren. Er weist auch auf die Möglichkeit hin, dass China nicht unbedingt davon profitieren wird, wenn es an die Chips kommt, sondern indem Peking seine Leute in die Region schickt, um dort zu arbeiten und zu lernen.

"Eine der interessantesten Fragen ist, ob chinesische KI-Talente, die erstklassig sind und möglicherweise nicht in die USA kommen können, durch die Arbeit im Nahen Osten Zugang zu der Hauptzutat erhalten können, die ihnen fehlt - Chips", sagte er. "Dies wird eine zentrale Sorge der USA sein."

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert

Item URL https://www.dw.com/de/trump-hilft-den-golfstaaten-bei-der-ki-auf-die-sprünge/a-72638007?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72530305_302.jpg
Image caption Bei Donald Trumps Besuch in Saudi-Arabien wurden mehrere KI-Investitionsabkommen beschlossen
Image source Win McNamee/Getty Images
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Item 50
Id 72620871
Date 2025-05-21
Title Der britische Booker Prize geht nach Indien
Short title Booker Prize für indische Autorin Banu Mushtaq
Teaser Die indische Autorin Banu Mushtaq und ihre Übersetzerin Deepa Bhasti gewinnen den renommierten Literaturpreis mit der Kurzgeschichtensammlung "Heart Lamp". Sie erzählen von Frauen in Südindien.
Short teaser Die Autorin Banu Mushtaq und ihre Übersetzerin Deepa Bhasti gewinnen mit Geschichten über Frauen in Südindien.
Full text

Die mit 50.000 Pfund (fast 60.000 Euro) dotierte Auszeichnung wurde am Dienstagabend in der Tate Modern Gallery in London übergeben. Der Autor und Jury-Vorsitzende Max Porter nannte das Buch "etwas wirklich Neues für englische Leser: eine radikale Übersetzung von schönen, lebhaften, lebensbejahenden Geschichten". Sie nehme "diese große Ehre nicht als Einzelne an, sondern als eine Stimme, die im Chor mit so vielen anderen erhoben wird", entgegnete Banu Mushtaq. "Dieser Moment fühlt sich an wie tausend Feuerfliegen, die einen einzigen Himmel erleuchten - kurz, brillant und absolut kollektiv."

Die Autorin Banu Mushtaq, die im Bundesstaat Karnataka im Südwesten Indiens lebt, setzt sich für Frauenrechte und gegen Diskriminierung ein. Die zwölf Kurzgeschichten hat sie über 30 Jahre, von 1990 bis 2023, hinweg geschrieben. Darin schildert sie das alltägliche Leben von Frauen und Mädchen in muslimischen Gemeinschaften im Süden des Subkontinents.

Autorin setzt sich für Frauenrechte ein

Dort ist die Sprache Kannada – oder auch Kanaresisch – heimisch, in der Mushtaq ihre Geschichten verfasst hat. Die 77-Jährige ist die erste kannadischsprachige Autorin, die den Booker Prize für ins Englische übertragene Bücher bekommt – zusammen mit ihrer Übersetzerin Deepa Bhasthi. Außerdem ist Mushtaq erst die zweite indische Autorin, die mit dem renommierten Preis ausgezeichnet wird.

Mushtaq wurde eigenen Angaben zufolge von Menschen zum Schreiben der Geschichten inspiriert, die sich hilfesuchend an sie gewendet hätten. "Der Schmerz, das Leiden und das hilflose Leben dieser Frauen haben in mir eine tiefe emotionale Reaktion ausgelöst, die mich zum Schreiben zwang", sagte die 77-Jährige. Die Jury lobte ihre Figuren - von energischen Großmüttern bis hin zu unbeholfenen Geistlichen - als "erstaunliche Porträts des Überlebens und der Widerstandsfähigkeit".

Der International Booker Prize gilt als weltweit einflussreichster Preis für übersetzte Belletristik. Neu ist, dass der International Booker Prize für eine Kurzgeschichtensammlung vergeben wird. Im vergangenen Jahr nahm Jenny Erpenbeck den Preis als erste Deutsche entgegen.

sd/sw (dpa, afp, wikipedia)

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Image caption Gewinnt mit "Heart Lamp" den International Booker Prize: Die indische Autorin Banu Mushtaq
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Item 51
Id 72591576
Date 2025-05-21
Title Die US-Regierung möchte an das Geld der Latinos
Short title Die US-Regierung möchte an das Geld der Latinos
Teaser Rund 160 Milliarden US Dollar wurden im vergangenen Jahr aus den USA an Familien in Lateinamerika überwiesen. Nun könnte ein Teil davon besteuert werden. In Lateinamerika sind die Befürchtungen groß.
Short teaser Die Republikaner wollen die sogenannten Remesas der Latinos in den USA besteuern - ein Tiefschlag für Lateinamerika.
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Für ihre Kritik am Vorschlag aus den USA wählte sich Mexikos Präsidentin eine ganz besondere Bühne aus: Bei der Einweihung eines Hospitals in Los Cabos sagte Claudia Sheinbaum am vergangenen Wochenende: "Man darf nicht diejenigen doppelt besteuern, die bereits Steuern zahlen." Sheinbaum unterstrich mit der Wahl der Umgebung auch optisch den sozialpolitischen Aspekt ihrer Kritik an einem Vorhaben aus den USA, das derzeit in ganz Lateinamerika für Aufregung sorgt. Die Besteuerung der sogenannten Remesas, wie die Überweisungen von Migranten in ihre Herkunftsländer genannt werden. Die Idee einer Steuer von fünf Prozent auf diese Überweisungen stammt von den Republikanern, der Regierungspartei von US-Präsident Donald Trump.

Überweisungen im Wert von rund 160 Milliarden US-Dollar

Im Jahresbericht der Migrationsabteilung der Interamerikanischen Entwicklungsbank heißt es, dass im Jahr 2024 das Gesamt-Überweisungsvolumen aus den USA in die Länder Lateinamerikas und der Karibik rund 160,9 Milliarden Dollar betrug - eine Steigerung um 7,7 Milliarden US-Dollar gegenüber dem Vorjahr. Größte Empfänger südlich des Rio Bravo (in den USA Rio Grande genannt, Anm. d. Red.), der die USA von Lateinamerika trennt, sind Mexiko (64,7 Milliarden US-Dollar) und Guatemala (21,5 Milliarden US-Dollar). Allein nach Mexiko fließen also täglich etwa 177 Millionen US-Dollar.

"Wenn wir das Einkommen aus Rücküberweisungen im Verhältnis zum Brutto-Inlandsprodukt in den Ländern der Region vergleichen, machten sie 2024 rund 20 Prozent des BIP in Guatemala sowie in Nicaragua (27 Prozent), Honduras (26), El Salvador (24), Haiti (20) und Jamaika (19) aus", sagt Jesus Alejandro Cervantes Gonzalez vom Zentrum für Lateinamerikanische Währungsstudien (CEMLA) in Mexiko-Stadt im Gespräch mit der Deutschen Welle. Das CEMLA beschäftigt sich speziell mit der wirtschaftlichen Bedeutung der Remesas.

Die volkswirtschaftliche wie sozialpolitische Bedeutung dieser Remesas sei für die Empfängerländer enorm: "Die Überweisungen lindern die Haushaltszwänge von Millionen von Empfängerhaushalten und verringern ihr Armutsniveau. Sie ermöglichen ihnen einen höheren Lebensstandard und tragen dazu bei, Ausgaben für Konsumgüter, Bildung, Gesundheit, Wohnen und in einigen Fällen Investitionen in Familienunternehmen finanzieren zu können", sagt Cervantes Gonzalez. In Mexiko gibt es laut CEMLA-Studien 4,5 Millionen Haushalte und 9,8 Millionen Erwachsene, die Rücküberweisungen erhalten. Davon würde besonders der ärmere ländliche Raum profitieren.

Steuern und Identitätsprüfung als Mittel gegen irreguläre Migration

In Florida erwägt Gouverneur Ron DeSantis eine Identitätsüberprüfung für Geldtransfers, so dass Absender nachweisen müssen, dass sie legal im Land arbeiten, berichtet das Portal "El Economista". So sollen für irreguläre Migranten Auslandsüberweisungen unterbunden werden. Der mexikanische Senator Antonino Morales der Regierungspartei Morena aus Oaxaca kritisiert die verschiedenen Überlegungen als "offen diskriminierend und rassistisch, weil er Ausländer mit irregulärem Aufenthalt in den Vereinigten Staaten betrifft, denn zusätzlich zur Steuer auf Überweisungen wird er ihren Zugang zu Programmen wie Obamacare oder Medicare einschränken". Damit spielt der mexikanische Politiker auf die gängige Praxis an, eine US-Krankenversicherung im Namen von registrierten Personen zu beantragen.

Gesetz noch unklar

"Im Prinzip würde die Steuer nur für Einwanderer gelten, die keine Staatsbürger sind. Dazu gehören Einwanderer ohne Papiere und solche, die einen dokumentierten Wohnsitz haben, sich also legal in den USA aufhalten", sagt CEMLA-Experte Cervantes Gonzalez der Deutschen Welle.

Die Überweisungssteuer, die ab 2026 in Kraft treten könnte, könnte den Umfang der Überweisungen in die Region Lateinamerika und Karibik erheblich negativ beeinflussen.

Vor allem für Mexiko, Guatemala, Honduras, El Salvador und Nicaragua wäre das wegen des hohen Anteils am BIP schwerwiegend. Die Länder würden dann gleich doppelt getroffen, "da diese Steuer zusätzlich zu den laufenden Abschiebungen von Einwanderern ohne Papiere erhoben wird und zu einem Zeitpunkt kommt, an dem es Anzeichen dafür gibt, dass die USA einen Rückgang der Beschäftigung unter den Einwanderern aus der lateinamerikanischen Region erleben", sagt Cervantes Gonzalez.

Die Folgen des US-Vorschlags, Migranten ohne Papiere daran zu hindern, Geldüberweisungen in ihre Herkunftsländer zu tätigen, könnte noch weitere Folgen haben. Der CEMLA-Experte sieht ein Schwarzmarktrisiko: "Die Überweisungssteuer könnte dazu führen, dass Überweisungen informell durch Kuriere oder durch digitale Überweisungen über Krypto-Assets getätigt werden."

Republikaner enttäuschen Latino-Wähler

Es könnte allerdings auch ganz anders kommen. Wegen der bisweilen brachialen Bilder von Verhaftungen von lateinamerikanischen Migranten in den USA sowie immer neuen schlechten Nachrichten für hispanisch-stämmige Amerikaner, wächst der Druck aus dieser Wählergruppe auf republikanische Politiker, die im November 2026 bei den US-Zwischenwahlen antreten. Bei den so genannten Midterm-Wahlen wird alle zwei Jahre das gesamte Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats neu gewählt. Bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2024 hatten deutlich mehr Latinos für die Republikaner und Donald Trump gestimmt als noch 2020.

Einige fühlen sich nun in Hochburgen wie in Florida von der Partei verraten. Mexikos Präsidentin Sheinbaum hatte die in den USA lebenden Mexikaner ausdrücklich dazu aufgerufen, sich jetzt bei den Lokalpolitikern zu beschweren. Druck der offenbar in dem ein oder anderen Abgeordnetenbüro ankommt: Einen ersten Vorstoß des Trump-Lagers stoppten nun einige republikanische Abgeordnete. Vom Tisch ist die Initiative damit aber noch lange nicht.

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Image caption Die US-Regierung möchte etwas von dem Geld ab, das Latinos an die Familien in ihrer Heimat schicken
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Item 52
Id 72610315
Date 2025-05-20
Title Kommt die EU wie China und Großbritannien zu einem schnellen Handelsdeal mit Trump?
Short title Donald Trump: Kommt die EU zu einem schnellen Handelsdeal?
Teaser Was kann die EU aus dem Waffenstillstand im Zollkonflikt zwischen China und Großbritannien mit Donald Trump lernen, um bessere Konditionen auszuhandeln?
Short teaser Was kann die EU aus dem Waffenstillstand zwischen China und Großbritannien mit Donald Trump lernen?
Full text

Um einen drohenden Zoll von 20 Prozent auf ihre transatlantischen Exporte zu vermeiden, hat die Europäische Union zugestimmt, die Handelsgespräche mit den Vereinigten Staaten zu "intensivieren". EU-Kommissar Maros Sefcovic gab das Update vergangenen Donnerstag am Rande eines Treffens der EU-Handelsminister in Brüssel bekannt und fügte hinzu, dass er und sein US-Amtskollege Howard Lutnick sich "sehr bald" treffen würden.

Kommt es bis Anfang Juli zu keiner Einigung, würden die von US-Präsident Donald Trump für 90 Tage ausgesetzten Zölle in Höhe von 20 Prozent für Importe aus der EU in Kraft treten und die EU-Kommission würde wohl mit Gegenzöllen auf US-Einfuhren zurückschlagen.

Washington und Peking hatten Mitte Mai eine vorübergehende Senkung ihrer gegenseitigen Zölle beschlossen. Konkret wurden die US-Zölle auf chinesische Importe von zuvor 145 Prozent auf 30 Prozent reduziert, während China seine Strafzölle auf US-Waren von 125 Prozent auf zehn Prozent senkte. Die Maßnahme trat am 14. Mai 2025 in Kraft und gilt zunächst für 90 Tage. Währenddessen will man die Verhandlungen über ein langfristiges Abkommen intensivieren.

Wenige Tage zuvor hatte Trump den ersten Entwurf eines Handelsabkommens mit dem Vereinigten Königreich verkündet. Die Vereinbarung sieht eine Senkung der Zölle für britische Autoexporte in die USA vor und stellt US-Exporteuren, einschließlich Landwirten und Ethanolproduzenten, einen verbesserten Zugang zum britischen Markt in Aussicht.

Trump unter Druck, einen EU-Deal abzuschließen

Während Trump weiterhin einen harten Umgang mit Brüssel pflegt und vor kurzem polterte, dass "Europa in vielerlei Hinsicht böser ist als China", glaubt Andrew Kenningham, Chefökonom für Europa beim Londoner Forschungshaus Capital Economics, dass der wirtschaftliche Druck ihn daran hindern wird, Brüssel zu weit zu reizen.

"Die beiden neuen Abkommen werden die EU-Verhandlungsführer zuversichtlicher machen, dass sie sich weitgehend an die bereits festgelegte Politik halten können, die darin besteht, eine Eskalation zu vermeiden, mit Vergeltung zu drohen, aber mit Verzögerung, und gleichzeitig bereit zu Verhandlungen zu sein", sagte Kenningham der DW.

Trotzdem warnte Capital Economics vor kurzem in einer Forschungsnotiz, dass ein Abkommen zwischen der EU und den USA "schwieriger zu erreichen scheint", und verwies auf den großen Warenhandelsüberschuss der Europäer mit den USA und die Herausforderung, alle 27 EU-Mitgliedstaaten zu einem Konsens zu bringen.

Die EU hat bereits mit neuen Zöllen auf US-Waren im Wert von 95 Milliarden Euro (107 Milliarden US-Dollar) gedroht, als Reaktion auf Trumps Zölle auf Aluminium-, Stahl- und europäische Autoimporte, diese aber ausgesetzt, um die Verhandlungen fortsetzen zu können. Brüssel erwägt außerdem eine Einschränkung der Exporte von Stahlschrott und Chemikalien in die USA.

Trump bleibt bei Forderungen der EU vage

Claudia Schmucker, Leiterin des Zentrums für Geoökonomie bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), glaubt nicht, dass die Abkommen zwischen China und Großbritannien wirklich "etwas ändern".

"Trump erwartet immer noch, dass die EU etwas anbietet, das er für wertvoll genug hält", sagte Schmucker der DW und fügte hinzu, dass die Forderungen des Präsidenten an Europa ein "Rätsel" bleiben, aber wahrscheinlich mehr Agrar- und Energieimporte umfassen werden.

Die EU hat bisher angeboten, die Einfuhren von US-Flüssigerdgas (LNG), fortschrittlicher KI-Technologie und Sojabohnen zu erhöhen, während sie gleichzeitig die gegenseitige Abschaffung aller Zölle auf Industriegüter vorschlägt. Brüssel hat jedoch ausgeschlossen, bei anderen Streitthemen Zugeständnisse zu machen - etwa bei den Umsatz- und Mehrwertsteuersätzen sowie anderen EU-Regulierungen, die Trump als unfair wahrnimmt.

Im vergangenen Jahr hatten die USA nach Angaben des Büros des US-Handelsbeauftragten ein Handelsdefizit von 235,6 Milliarden US-Dollar (210 Milliarden Euro) im Warenaustausch mit der EU, was einem Anstieg von 12,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Die jüngsten Daten der EU-Statistikbehörde Eurostat für 2023 beziffern den Warenüberschuss der EU auf 157 Milliarden Euro.

Claudia Schmucker von der DGAP glaubt, dass die negative Rhetorik des Präsidenten, zu der auch die unbegründete Behauptung gehört, die EU sei geschaffen worden, um die USA "abzuzocken", Brüssel in die Hände spielt. Es könnte sogar die Suche nach einem Konsens beim Vorgehen im Handelskonflikt mit den USA stärken, obwohl EU-Staaten wie Ungarn und Italien auf bilaterale Abkommen drängen.

"Auch wenn einige EU-Staaten mit der Verhandlungsposition Brüssels nicht ganz einverstanden sind, reicht Trumps Feindseligkeit aus, um die Einheit der EU zu stärken", sagte Schmucker der DW.

Am Rande eines Treffens der EU-Handelsminister hatte sich der schwedische Minister Benjamin Dousa skeptisch über ein schnelles Abkommen zwischen den USA und der EU geäußert. Er halte es für unwahrscheinlich, dass es in den "kommenden Wochen" dazu kommen wird. "Die USA können von uns Gegenmaßnahmen erwarten", so Dousa, wenn Trump den im vergangenen Monat angekündigten Basiszoll von zehn Prozent auf alle Importe beibehält, wie er es jetzt mit Großbritannien vereinbart hat.

Europa ist Schlüsselmarkt für US-Dienstleistungsexporte

Miguel Otero, Senior Fellow für internationale politische Ökonomie am spanischen Königlichen Institut Elcano, glaubt, dass die USA durch einen Fehltritt Trumps "viel zu verlieren haben".

"Die EU hat ein großes Defizit, wenn es um Dienstleistungen geht, insbesondere bei Finanz- und digitalen Dienstleistungen sowie Unterhaltungsplattformen", sagte Otero gegenüber der DW. "Die USA können es sich nicht leisten, den europäischen Markt zu verlieren. Wenn wir als Einheit handeln, dann hat die EU genauso viel Einfluss wie China."

Obwohl die EU einen erheblichen Warenüberschuss gegenüber den USA aufweist und im vergangenen Jahr ein Fünftel der EU-Waren den Atlantik überquerte, entfielen 25 Prozent der US-Dienstleistungsexporte im Wert von 275 Milliarden US-Dollar im Jahr 2024 auf die EU. Einschließlich der Schweiz und des Vereinigten Königreichs landen 42 Prozent aller US-Dienstleistungsexporte auf dem europäischen Markt.

Die Europäische Kommission, die Exekutive der EU, bereitet unterdessen ein Beschwerdeverfahren bei der Welthandelsorganisation (WTO) gegen Trumps "gegenseitige" Zölle und Abgaben auf Autos und Autoteile vor.

Zollpause endet Anfang Juli

Da das Ende der 90-tägigen Pause der von Trump angedrohten höheren Zölle für EU-Importe am 8. Juli näher rückt, verengt sich das Zeitfenster für ein Abkommen. Trump steht dann vor einer schwierigen Entscheidung: Er kann zu den im April angekündigten höheren Zöllen zurückkehren oder die Pause verlängern.

Capital Economics prognostiziert, dass Trump die Pause verlängern wird, aber die Verhandlungen an den Rand des Abgrunds treiben und den Druck auf die Handelspartner aufrechterhalten könnte. Das Research-Haus warnte vor einem neuen "Krisenherd" in den kommenden Monaten. Das könnte eine erneute Achterbahnfahrt an den Finanzmärkten auslösen.

Die deutsche Wirtschaftsministerin Katherina Reiche schlug zuletzt einen optimistischeren Ton an und betonte die wichtige Rolle der USA als Handelspartner für die EU.

"Wir verhandeln aus einer Position der wirtschaftlichen Stärke ... aber eine, die vorsichtig gehandhabt werden muss", sagte Reiche. "Eine Lösung ist unerlässlich, denn bei einer Eskalation gibt es keine Gewinner."

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert

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Image caption Der Austausch von Waren und Dienstleistungen zwischen den USA und der EU hat einen Wert von 1,7 Billionen US-Dollar pro Jahr
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Item 53
Id 72607582
Date 2025-05-20
Title Tierischer Trend: Kapuzineraffen entführen Brüllaffenbabys
Short title Tierischer Trend: Kapuzineraffen entführen Brüllaffenbabys
Teaser Auf einer Insel in Panama entführen Kapuzineraffen Brüllaffenbabys und tragen sie tagelang mit sich herum – aus Langeweile. Forschende vermuten dahinter einen bizarren Trend, der für die entführten Babys tödlich endet.
Short teaser Auf einer Insel in Panama entführen Kapuzineraffen Brüllaffenbabys und tragen sie tagelang herum – aus Langeweile.
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Auf Jicarón ist es schrecklich langweilig – zumindest für Panama-Kapuzineraffen. Auf der Insel im panamaischen Coiba-Nationalpark leben keine Menschen, es gibt keine Raubtiere oder Fressfeinde, ein sehr großes Nahrungsangebot und nur wenige Konkurrenten. Die einzige Herausforderung war es bislang, irgendwie diese verflixt harten Nüsse und Schalentiere zu knacken.

Aber auch dafür fanden die Panama-Kapuzineraffen (Cebus capucinus imitator) eine kreative Lösung: Sie knacken die Nüsse mit Steinwerkzeugen. Um das genauer zu untersuchen, kamen Forschende 2017 auf die Insel und stellten 85 Kamerafallen auf.

Beim Sichten des Videomaterials fiel Zoë Goldsborough vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie 2022 auf, dass ein junges Männchen ein Baby auf dem Rücken trug – allerdings keinen kleinen Kapuzineraffen, sondern einen Brüllaffen.

Aber warum? Anfangs vermuteten die Forschenden, dass Joker - wie sie das Männchen nannten - ein fremdes Baby adoptiert haben könnte. Solche Verhaltensweisen sind vor allem von weiblichen Primaten bekannt.

Aber Joker kümmerte sich überhaupt nicht um das fremde Baby und gab dem kleinen Brüllaffen nichts zu fressen. Es schien, als störte der Anhang nur beim Fressen oder beim Knacken von Nüssen.

"Wir kamen zu dem Schluss, dass es sich um ein einzelnes Individuum handeln musste, das etwas Neues ausprobierte", erklärt Brendan Barrett, Gruppenleiter am Institut der Deutschen Presseagentur (dpa). Das sei bei Kapuzineraffen nicht ungewöhnlich, sie seien sehr neugierig und versuchten ständig, auf verschiedene Weise mit ihrer Umwelt zu interagieren.

Nachahmung als Modetrend

Bei der Auswertung der Videos zeigte sich allerdings, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelte: Joker trug im Laufe der Zeit vier verschiedene Brüllaffenbabys mit sich herum. Alle Säuglinge waren jünger als vier Wochen.

Außerdem fanden die Forschenden Hinweise, dass die Säuglinge wahrscheinlich ihren leiblichen Eltern entrissen wurden. Denn die riefen aus der Ferne verzweifelt nach ihren Babys. Als die Kleinen zu ihnen fliehen wollten, wurden sie von Joker wieder eingefangen.

Erstaunlicherweise übernahmen nach einiger Zeit auch andere Kapuziner-Männchen Jokers seltsames Verhalten. Innerhalb von 15 Monaten dokumentierte das Forschungsteam fünf Kapuziner-Männchen, die insgesamt elf Brüllaffenbabys bis zu neun Tage lang mit sich umhertrugen.

Vier entführte Säuglinge wurden schließlich tot gefunden – wahrscheinlich haben auch die anderen nicht überlebt. "Die Kapuzineraffen haben den Babys nicht wehgetan, aber sie konnten nicht die Milch bereitstellen, die die Säuglinge zum Überleben brauchen", so Verhaltensforscherin Goldsborough. Die Beobachtungen von Januar 2022 bis Juli 2023 und die daraus resultierenden Analysen wurden im Fachmagazin "Current Biology" veröffentlicht.

Entführung aus Langeweile?

Das für die jungen Brüllaffen tödliche Verhalten deuten die Forschenden als makabren Trend - ohne tieferen Sinn. Das seltsame Verhalten von 'Influencer' Joker wurde durch soziales Lernen in der Population von anderen jungen Männchen nachgeahmt.

"Die Zeitleiste erzählt uns die faszinierende Geschichte eines einzelnen Individuums, das ein zufälliges Verhalten begann, das zunehmend von anderen jungen Männchen übernommen wurde", so Barrett, der ebenfalls an der Studie beteiligt war.

Und zwar aus dem gleichen Grund, aus dem auch ausschließlich Kapuzineraffen-Männchen Steinwerkzeuge zum Knacken der Nüsse verwenden – aus Langeweile.

"Auch Tiere können also Traditionen entwickeln, die zwar keine klaren Funktionen, aber eventuell schädliche Auswirkungen auf ihre Umwelt haben", erklärte Barrett. Die im südwestlichen Panama vorkommende Brüllaffen-Unterart gilt ohnehin als vom Aussterben bedroht.

Tierische Modetrends

Innerhalb einer Population entstehende Modeerscheinungen wurden auch bei anderen Tierarten beobachtet. Orcas, die Segelschiffe angreifen, tun dies vermutlich aus Spaß. In den 1980er Jahren fand es eine bestimmte Gruppe der Meeressäuger eine Zeit lang interessant, tote Lachse wie einen Hut auf dem Kopf zu balancieren. Ein Tier fing damit an, andere ahmten nach.

In Sambia begann ein Schimpansen-Weibchen irgendwann, ohne ersichtlichen Grund einen Grashalm im Ohr zu tragen. Nach einiger Zeit ahmten fast alle Tiere in der Gruppe diesen Trend nach und trugen ebenfalls einen Grashalm als Accessoire im Ohr.

Quelle:

Rise and spread of a social tradition of interspecies abduction

https://www.cell.com/current-biology/fulltext/S0960-9822(25)00372-0?_returnURL=https%3A%2F%2Flinkinghub.elsevier.com%2Fretrieve%2Fpii%2FS0960982225003720%3Fshowall%3Dtrue

Deutsche Presse Agentur: dpa:250519-930-564331/1

Item URL https://www.dw.com/de/tierischer-trend-kapuzineraffen-entführen-brüllaffenbabys/a-72607582?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Der entführte Brüllaffen-Anhang stört eigentlich nur beim Laufen, Fressen oder beim Knacken von Nüssen
Image source Brendan Barrett/dpa/Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie/picture alliance
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Item 54
Id 72566510
Date 2025-05-20
Title Wie KI Japans Animationsindustrie verändert
Short title Wie KI Japans Animationsindustrie verändert
Teaser Künstliche Intelligenz krempelt Japans Animationsfilmindustrie um - dank technikfreundlicher Gesetze. Der Einsatz von KI im Film ist aber längst ein weltweiter Trend.
Short teaser Künstliche Intelligenz verändert die weltweite Filmproduktion. In Japan trifft es die Animationsfilmindustrie.
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Als das japanische Zeichentrickstudio Ghibli unlängst Einblicke in die Funktionsweise seines KI-Filters gab, der jedes Foto oder Video in den Stil des beliebten Zeichners und Regisseurs Hayao Miyazaki verwandelt, brach im Internet eine hitzige Debatte los: Wo bleibt das Urheberrecht der Kunstschaffenden?

Das Studio Ghibli reagierte nicht direkt. Stattdessen machte ein Zeitungsinterview mit Miyazaki, dem Mitbegründer des Unternehmens und wohl berühmtesten Anime-Regisseur der Welt, die Runde. Darin sagte Miyazaki, er sei "zutiefst angewidert" von KI-generierten Inhalten. Sie seien eine "Beleidigung des Lebens". Gleichwohl hat die KI-Entwicklung in Japan seither große Sprünge gemacht.

Das 2019 novellierte japanische Autorenrechte-Gesetz wird weitgehend so ausgelegt, dass urheberrechtlich geschützte Materialien zur Schulung von KI-Tools verwendet werden können, ohne dass die Rechteinhaber zustimmen. Das KI-freundliche Gesetz ist damit deutlich liberaler ist als ähnliche Rechtsvorschriften in der EU oder den USA. Es zielt offenkundig darauf ab, KI-Investoren für das asiatische Land zu gewinnen.

Streit um Urheberrechte

Japans Künstlerinnen und Künstler sind aufgeschreckt. Einer Umfrage der Künstler- und Mediengewerkschaft "Arts Workers Japan"von 2023 zufolge sorgen sich 94 Prozent der Kunstschaffenden um die Verletzung ihrer Urheberrechte durch KI. Mehr als 25.000 Mitglieder nahmen an der Befragung teil. Japans staatliche Kulturbehörde stellte inzwischen klar, dass die gesetzliche Regelung nicht gelte, wenn "die Interessen des Urheberrechtsinhabers in unzumutbarer Weise beeinträchtigt" seien.

Ein globaler Anime-Boom hat den japanischen Markt auf ein Rekordhoch im Jahr 2023 getrieben. Bis zu 300 TV-Titel wurden produtiert, berichtet die Association of Japanese Animations.

Und die künstliche Intelligenz ist bereits Teil dieser Entwicklung. Der erste KI-gesteuerte Anime, "Twins Hinahima", wurde im März dieses Jahres veröffentlicht. Ein kurzer Anime-Clip mit dem Titel "The Dog & The Boy", der 2023 von Netflix veröffentlicht wurde, nutzte ebenfalls KI-generierte Grafiken.

Anime-Branche fehlen Leute

In der Anime-Industrie herrscht derzeit aufgrund der unattraktiven Arbeitsbedingungen ein Arbeitskräftemangel. Aus einem 2024 erschienenen Bericht der Nippon Anime and Film Culture Association geht hervor, dass die Beschäftigten überarbeitet und unterbezahlt sind; die Stundenlöhne liegen zum Teil unter dem japanischen Mindestlohn.

Der Einsatz von KI in Anime könne daher eine Lösung sein, um diese Lücke zu schließen, sagt der Anime-Experte Roland Kelts, Gastprofessor an der Waseda University School of Culture, Media and Society in Japan. "Die Bevölkerung schrumpft, und es gibt nicht viele junge Künstler. Außerdem werden sie schlecht bezahlt, und die Arbeit ist hart", so Kells zur Deutschen Welle.

K&K Design ist ein Anime-Produktionsstudio, das KI in seine Arbeit einbezieht und eine angepasste Version des Text-zu-Bild-Generators "Stable Diffusion" verwendet. Das Tool hilft bei der Farbgebung, beim Erstellen von Hintergründen und beim Umwandeln von Fotos und Videos in Anime - was viel Zeit und Mühe spare, sagt Hiroshi Kawakami, Vizepräsident von K&K Design.

Ein fünfsekündiger Anime-Clip, der normalerweise eine Woche Handarbeit erfordert, kann mit Hilfe von KI innerhalb eines Tages produziert werden, indem nur zwei Zeichnungen in das KI-Modell eingespeist werden, sagte er der DW. Etwa 60 Prozent der Künstlerinnen und Künstler in Japan haben einer Umfrage der Arts Workers Japan zufolge Angst, ihre Jobs durch KI zu verlieren. Dennoch meint Hiroshi Kawakami, dass KI eine "unterstützende" Rolle spielen könne und müsse, sie aber den Menschen nie ersetzen könne – etwa in den Bereichen "visuelles Urteil" oder bei der kreativen Ideenfindung.

Eine technologiefreundliche Kultur

"Studios produzieren Anime-Projekte für das Late-Night-TV, und KI kann bei der Produktion solcher Inhalte helfen", sagt Kelts. Er sieht darin keine Bedrohung für die Kreativität in Japan.

Die Aussicht, dass KI innerhalb weniger Jahre eine eigene Version von "One Piece" oder einer anderen erfolgreichen Manga-Serie erschaffen könnte, wird von den Japanern nicht unbedingt als Bedrohung angesehen, erklärt Kelts. "Im Shintoismus (der Staatsreligion Japans, Anm.d.Red.) haben alle Dinge einen 'Kami', also einen Geist … Daher haben die Japaner weniger Angst vor Robotik, KI und Technologie, da diese untrennbar mit der Natur verbunden sind."

KI ist ein globales Phänomen. Schon jetzt arbeiten die Filmindustrien vieler Länder mit der Technologie. Der kanadische Independent-Filmemacher Taylor Nixon-Smith etwa, der zu den Auswirkungen von KI auf die Filmindustrie forscht, sagt, er nutze Chat GPT, um Aufgabenlisten für die Vorbereitungen zu erstellen, Recherchen zu konsolidieren und Arbeitsverträge zu entwerfen. Die meisten Aufgaben im Filmgeschäft könnten jedoch nach wie vor nur von Menschen erledigt werden. "Man braucht immer noch einen Kostümdesigner, um Entwürfe zu erstellen, man braucht immer noch Einkäufer, die richtige Sachen für den Set besorgen, und man braucht immer noch Schneider, die die Kostüme so anpassen, dass sie den Schauspielern richtig passen", so Nixon-Smith im DW-Gespräch.

Was Hollywood-Insider erwarten

Anders sieht das Charlie Fink, ehemals Disney-Produzent und jetzt außerordentlicher Professor für filmische KI an der Chapman University in Orange, Kalifornien. Fink ist sich sicher, dass der Einsatz von KI zu einem "neuen goldenen Zeitalter für Hollywood" führen wird. Ein Zeitalter zudem, das "in hohem Maße demokratisiert" sein werde, "da jeder Einzelne für ein paar tausend Dollar einen Film drehen kann", so Fink im DW-Gespräch. Die Beteiligung von Hunderten von Menschen an der Produktion eines Live-Action-Films werde dann der Vergangenheit angehören. Derzeit stünden noch Schauspieler im Mittelpunkt der Produktion. Das werde sich ändern.

Die sich abzeichnende Bedrohung hat bereits 2023 zu Streiks von Hollywood-Schauspielern geführt, die sich gegen den mangelnden Schutz vor KI aussprachen.

Der "NO FAKES Act", der sich gegen nicht autorisierte KI-Nachbildungen richtet, wurde letzten Monat erneut in den US-Kongress eingebracht. Der Gesetzentwurf fand Beifall bei Unterhaltungsriesen wie Walt Disney, YouTube, der US-amerikanischen Gewerkschaft SAG-AFTRA, die Schauspieler, Journalisten, Sänger und Tänzer vertritt, und auch beim Softwareunternehmen OpenAI.

Für Fink ist der Aufstieg der KI unausweichlich. Er sagt voraus, dass sie langsam Schauspieler und Produzenten ersetzen wird, und schlägt vor, dem Spiel voraus zu sein, indem man lernt, KI zu nutzen: "Disruption bedeutet auch eine Chance."

Adaption aus dem Englischen: Anastassia Boutsko

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Image caption Aus dem Hause KI: der Kurzfilm "Twins Hinahima"
Image source KaKa Technology Studio
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Item 55
Id 72587870
Date 2025-05-19
Title Deutschland gibt mehr Geld für globale Gesundheitsversorgung
Short title Deutschland gibt mehr Geld für globale Gesundheitsversorgung
Teaser Die USA haben sich aus der Weltgesundheitsorganisation zurückgezogen. Deutschland springt ein - zumindest teilweise.
Short teaser Die USA haben sich aus der Weltgesundheitsorganisation zurückgezogen. Deutschland springt ein - zumindest teilweise.
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Die Bundesregierung unterstützt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit weiteren zehn Millionen Euro. Das teilte die neue Bundesgesundheitsministerin Nina Warken nach einem Treffen mit WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus mit. Sie äußerte sich vor Beginn der sogenannten Weltgesundheitsversammlung in Genf an diesem Montag.

Damit unterstütze Deutschland die eingeleiteten WHO-Reformen, die nach dem Rückzug der USA aus der Weltgesundheitsorganisation erforderlich würden, betonte Warken. Bereits Anfang April hatte Deutschland zwei Millionen Euro zusätzlich gegeben.

Sparen beim Personal und bei Projekten

Die WHO steht nun unter erheblichem Sparzwang. US-Präsident Donald Trump hatte unmittelbar nach seinem Amtsantritt im Januar den Austritt seines Landes aus der WHO verfügt, damit verlor die UN-Sonderorganisation ihren traditionell größten Geldgeber. Die Haushaltslücke bei der WHO soll durch Personalabbau, Kürzung von Projekten sowie eine Anhebung der Pflichtbeiträge der Mitgliedstaaten ausgeglichen werden.

Pandemie-Abkommen vor dem Abschluss

Bei den bis zum 27. Mai dauernden Beratungen der 78. Weltgesundheitsversammlung steht die Verabschiedung des neuen Pandemie-Abkommens zur Bekämpfung künftiger weltweiter Seuchen im Mittelpunkt. Für die technische Umsetzung soll eine Arbeitsgruppe eingesetzt werden, so dass die globale Vereinbarung voraussichtlich ab kommendem Jahr ratifiziert und damit schließlich in Kraft gesetzt werden kann.

Die anstehende Annahme des internationalen Pandemieabkommens zeige, wozu die 190 WHO-Mitgliedstaaten in der Lage seien, betonte die deutsche Gesundheitsministerin. "Weltweit die Gesundheit der Menschen durch bessere Zusammenarbeit zu schützen - das hätte kaum einer nach dem Rückzug der Vereinigten Staaten aus der WHO für möglich gehalten", erklärte Warken.

Deutschland hilft global und national

Umso wichtiger sei es, dass die Weltgesundheitsorganisation ihren internen Reformprozess vorantreibe und sich auf ihre Kernaufgaben konzentriere: weltweite Gesundheitsüberwachung, Pandemieprävention, Krankheitsbekämpfung und gerechten Zugang zur Gesundheitsversorgung. Dies unterstütze Deutschland im globalen und damit im eigenen Interesse, betonte Warken.

fab/wa (dpa, afp)

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Image caption Diese Frau hat ihr Baby gegen Malaria impfen lassen - nach dem Ausstieg der USA aus der WHO stehen solche Kampagnen auf dem Prüfstand
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Item 56
Id 72567005
Date 2025-05-19
Title Industriestrompreis: Entlastung oder Energiewende-Bremse?
Short title Industriestrompreis: Entlastung oder Energiewende-Bremse?
Teaser Die neue Regierung in Deutschland will Firmen helfen. Kritiker sehen darin ein Risiko für Markt und Klimaziele.
Short teaser Die neue Regierung in Deutschland will Firmen helfen. Kritiker sehen darin ein Risiko für Markt und Klimaziele.
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Vor der Bundestagswahl im Februar schlug die deutsche Industrie Alarm: Der Strompreis sei zu hoch, Deindustrialisierung, Unternehmensschließungen und die Abwanderung ins Ausland würden folgen.

Tatsächlich scheint die Industrie Gehör gefunden zu haben: Die neue Regierung ist jetzt im Amt und plant weitreichende Entlastungen. Doch manche Expertinnen und Experten warnen vor negativen Folgen.

Wie hoch ist der Industriestrompreis?

Eine pauschale Angabe ist schwierig, da Entlastungen je nach Größe und Branche variieren.

Laut einer Studie der Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft (vbw) lag der deutsche Industriestrompreis 2022 im europäischen Mittelfeld. Da der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 Auswirkungen auf den Strompreis hatte, eignet sich das Jahr aber nur eingeschränkt für Vergleiche.

Aktuelle EU-Daten zeigen: Bei den Strompreisen für Nicht-Haushalte liegt Deutschland an dritter Stelle. Diese Kategorie umfasst jedoch auch öffentliche Einrichtungen wie Schulen und Verwaltungen - Rückschlüsse auf die Industrie sind kaum möglich.

Günstiger in China und USA

Beim Börsenstrompreis - ohne Steuern und Abgaben - liege Deutschland im internationalen Vergleich im Mittelfeld, so Bruno Burger, Energieexperte am Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme, gegenüber der Frankfurter Rundschau.

Klar ist jedoch: In den USA und China zahlen Unternehmen deutlich weniger. 2023 lag der Industriestrompreis in den USA bei rund sieben Cent pro Kilowattstunde (ifo Institut), in China bei acht (vbw) - in Deutschland waren es rund 20 Cent (ifo Institut).

Was plant die neue Regierung?

Die neue, von den Parteien CDU und SPD geführte Regierung unter Bundeskanzler Friedrich Merz plant weitreichende Entlastungen für den Industriestrompreis. Der Industriestrompreis setzt sich aus dem Börsenstrompreis, der Stromsteuer, Umlagen und Netzentgelten zusammen. Netzentgelte sind eine Gebühr, die für das Nutzen des Stromnetzes erhoben werden. Umlagen finanzieren konkrete Vorhaben.

Geplant ist, Unternehmen dauerhaft um fünf Cent pro Kilowattstunde zu entlasten - durch eine Reduktion der Stromsteuer auf das europäische Mindestmaß sowie durch niedrigere Umlagen und Netzentgelte.

Auch die Strompreiskompensation soll dauerhaft verlängert und auf weitere Branchen ausgeweitet werden. Die Strompreiskompensation gleicht die verursachten Kosten durch den CO2-Preis für energieintensive Unternehmen aus. Der CO2-Preis fällt für die Nutzung fossiler Brennstoffe in Deutschland und in der EU an, um klimaschädliche Brennstoffe zu verteuern.

Ist das eine gute Idee?

"Aus Sicht der Stromverbraucher sind die umfangreichen Entlastungen positiv", sagt Andreas Fischer der DW, Ökonom für Energie und Klimapolitik im arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft.

Auch Max Jankowsky, Geschäftsführer der Gießerei Lößnitz und Präsident der Industrie- und Handelskammer Chemnitz, begrüßt die Pläne: "Die Dringlichkeit wurde erkannt.“

Doch es gibt auch Kritik.

Risiko für Energiewende

"Ein pauschal gesenkter Strompreis widerspricht den Anforderungen eines Systems mit erneuerbaren Energien“, sagt Swantje Fiedler, wissenschaftliche Leiterin beim Forum ökologisch-soziale Marktwirtschaft. Stattdessen brauche es Anreize für Energiespeicher und Flexibilität.

Denn mit Sonne im Sommer und Dunkelheit im Winter schwankt das Stromangebot bei erneuerbaren Energien oft stark.

"Gleichzeitig ist es wichtig zu berücksichtigen: Wie flexibel kann wer sein?", gibt der IW-Ökonom Fischer zu bedenken. Nicht alle Unternehmen könnten schnell auf Änderungen reagieren.

Niedriger Strompreis: Vor- und Nachtteile

Ein niedrigerer Strompreis kann Anreize zur Effizienz für einen geringeren Stromverbrauch senken, sagt Wissenschaftler Leonhard Probst vom Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme, der dort unter anderem die Datenplattform Energy-Charts betreut.

Zugleich könne aber günstiger Strom helfen, Prozesse zu elektrifizieren, so Probst und Fischer gegenüber der DW.

So wie bei Jankowsky, der gerne von Kokskohle auf einen Elektroschmelzofen umstellen würde - doch die hohen Strompreise bremsen ihn: "Das fühlt sich an wie ein Rennen ins offene Messer."

Deckelung des Börsenstrompreises?

Der Koalitionsvertrag der Regierungsparteien sieht zudem zusätzliche Entlastungen für energieintensive Unternehmen vor. Unklar ist, ob damit eine Deckelung des Börsenstrompreises gemeint ist. Einige Experten gehen davon aus.

Denn wie an der Grafik zu erkennen ist: Steuern und Umlagen machen bereits jetzt nur einen kleinen Teil des Endpreises aus.

Der Fraunhofer Wissenschaftler Probst warnt vor Verzerrungen: "Wenn Strom knapp ist, aber günstig abgegeben wird, verschärft sich die Knappheit und es wird noch teurer."

Verstoß gegen EU-Recht

Eine Preisdeckelung wäre ein Eingriff in die Preisbildung - und ist beihilferechtlich in der EU kaum machbar“, sagt Dr. Sebastian Bolay, Bereichsleiter für Energie, Umwelt und Industrie bei der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK).

Außerdem sei eine Preisdeckelung auch teuer für den Steuerzahler, so Probst: Viele Unternehmen würden profitieren, die keine Entlastung bräuchten, da der Anteil der Energiekosten an der Wertschöpfung sehr gering ist

Was wäre sinnvoller?

"Der schnellere Ausbau der Erneuerbaren drückt langfristig den Preis“, sagt Fiedler. Gezielte Förderungen seien wirksamer als pauschale Entlastungen, ergänzt Probst - etwa durch spezielle Stromtarife für Wärmepumpen.

Auch Jankowsky fordert passgenaue Maßnahmen für den Mittelstand, denn von vielen Entlastungen und Förderungen sei sein Unternehmen bisher ausgenommen. "Und das muss möglichst schnell passieren."

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Image caption Die Gießerei Lößnitz braucht viel Energie, um Metalle zu schmelzen
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Item 57
Id 72545189
Date 2025-05-18
Title Wie Malcolm X gegen den "amerikanischen Alptraum" kämpfte
Short title Wie Malcolm X gegen den "amerikanischen Alptraum" kämpfte
Teaser Weiße waren für ihn Teufel, und Gewalt sah er als probates Mittel, um sich gegen die Unterdrückung der Schwarzen in den USA zu wehren. Bis heute ist Malcolm X eine Ikone der schwarzen Bürgerrechtbewegung.
Short teaser Weiße waren für ihn Teufel, Gewalt sah er als probates Mittel, um sich gegen die Unterdrückung der Schwarzen zu wehren.
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"Was glauben Sie, würden Sie nach 400 Jahren Sklaverei, Jim Crow und Lynchjustiz tun? Glauben Sie, Sie würden gewaltfrei reagieren?" Das war eine der Kernfragen, die Malcolm X der US-amerikanischen Gesellschaft stellte. Denn obwohl die Sklaverei in den USA 1865 abgeschafft wurde, zementierten die sogenannten Jim-Crow-Gesetze bis 1964 weiterhin die alltägliche Diskriminierung der Schwarzen. Sie durften nicht wählen und im Bus oder Restaurant nicht neben Weißen sitzen. Sie lebten in schwarzen Ghettos und bekamen schlechte Jobs.

"Malcolm X hat genau die Punkte thematisiert, die den unterdrückten Afroamerikanern auf der Seele brannten", sagt die Augsburger Geschichtsprofessorin Britta Waldschmidt-Nelson, Autorin der Biographie "MALCOLM X. Der schwarze Revolutionär", der DW.

Seine Botschaft an die Afroamerikaner war eindeutig: Seid selbstbewusst! Kämpft für eure Rechte "by any means necessary" - mit allen notwendigen Mitteln, sprich: zur Not auch mit Gewalt. Der 1974 mit dem Pulitzerpreis geehrte Journalist Leslie Payne (1941-2018) schrieb, er sei 1963 durch eine Rede Malcolms wie durch einen "blitzenden Schwerthieb" von dem tief in seiner Psyche verankerten "konditionierten Minderwertigkeitsgefühl als Schwarzer" befreit worden.

Genau das war das erklärte Ziel des laut Waldschmidt-Nelson "zornigsten Mann Amerikas" - und er hatte allen Grund dazu, zornig zu sein. Denn Malcolm X, der am 19. Mai 1925 als Malcolm Little in Omaha in Nebraska das Licht der Welt erblickte und in der Nähe von Detroit aufwuchs, wusste, was es in den USA bedeutete, schwarz zu sein.

"Für einen Schwarzen kein realistisches Ziel"

Seine Kindheit war von Armut und Gewalt geprägt. Er war sechs Jahre alt, als sein Vater tot aufgefunden wurde. Malcolms Mutter war überzeugt, dass Rassisten ihn ermordet hatten. Mit sieben Kindern und wenig Geld war sie komplett überfordert, wurde psychisch krank. Malcolm kam in die Obhut diverser Pflegefamilien und Institutionen; er selbst sprach später in seiner Autobiographie vom "Terror der sehr weißen Sozialarbeiter".

Trotz der schweren Startbedingungen war er ein guter Schüler, der einzige Schwarze in seiner Klasse. Ein Schlüsselerlebnis prägte ihn maßgeblich: Sein Lieblingslehrer habe gefragt, was er denn mal werden wolle, erzählt Waldschmidt-Nelson. Malcolm antwortete, er würde gern Jura studieren. Für einen Schwarzen (wobei er das N-Wort gebrauchte) sei das kein realistisches Ziel, so der Lehrer. Malcolm solle doch lieber was mit den Händen machen. "Das war die Lebenswirklichkeit der Afroamerikaner", so die Historikerin.

Der junge Malcolm war vollkommen desillusioniert. Seine Noten fielen dramatisch ab, schließlich zog er mit 15 zu seiner Schwester Ella nach Boston, später nach New York. Er hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, bevor er zum Kleinkriminellen wurde. Anfang 20 kam er wegen diverser Einbrüche ins Gefängnis.

Bekenntnis zur Nation of Islam

"Hier ist ein schwarzer Mann, in einem Käfig hinter Gittern … weggesperrt durch den weißen Mann …", schrieb er später in seiner Autobiographie. "Lass diesen eingesperrten schwarzen Mann einmal anfangen zu realisieren, so wie ich es tat, dass es von der Ankunft des ersten Sklavenschiffes an Millionen von Schwarzen in Amerika so erging wie Schafen in einer Wolfshöhle. Das ist der Grund, warum schwarze Häftlinge so schnell Muslime werden, sobald die Lehre Elijah Muhammads in ihre Käfige eindringt."

Der schwarze Bürgerrechtler Elijah Muhammad, das war der Anführer der Nation of Islam, einer religiös-politischen Organisation von Afroamerikanern außerhalb der islamischen Orthodoxie. "Sie behaupten, dass alle Schwarzen von Natur aus Kinder Gottes und gut sind und alle Weißen von Natur aus böse und Kinder des Teufels", erklärt Waldschmidt-Nelson. "Was das für Malcolm und auch viele andere Gefängnisinsassen sehr attraktiv gemacht hat, ist natürlich, dass da jemand kommt und sagt: 'Ihr seid selber gar nicht schuld an eurem Elend, sondern das sind die blauäugigen Teufel, die dafür gesorgt haben, dass ihr auf die schiefe Bahn geraten seid'." Deshalb seien Gefängnisse auch immer der favorisierte Rekrutierungsort für die Nation of Islam gewesen.

Für den österreichischen Politikwissenschaftler Farid Hafez, der derzeit an der William & Mary Universität in Williamsburg unterrichtet, ist die Nation das Produkt einer spezifisch afroamerikanischen Geschichte. "Sie fußt, was ihre politische Philosophie anbelangt, ganz stark auf dem "Afrozentrismus" - sozusagen Afroamerikaner zurück nach Afrika zu bringen", sagt er der DW. "In den 1950er-Jahren wurde die Gruppe von den Sicherheitsbehörden des Staates beschattet. Zum einen als schwarze, separatistische Bewegung, zum anderen waren hier 'böse Muslime' aktiv, denen man nicht trauen konnte." Islamophobie sei damals allerdings kein größeres Thema gewesen: "Feindbild der Regierung waren die Kommunisten, gegen die man "gute Muslime" durchaus mobilisieren konnte."

Kampf gegen die "weißen Teufel"

Auch Malcolm Little schloss sich der Nation an. Fortan nannte er sich Malcolm X, denn die Nachnamen eines jeden schwarzen Afroamerikaners wurden einst von Sklavenhaltern vergeben. Deshalb lehnten die Mitglieder der Nation of Islam sie ab und nannten sich schlicht "X".

Seine siebenjährige Haftzeit nutzte er, um sich autodidaktisch weiterzubilden. 14 Jahre lang gehörte er der Nation of Islam an. Anführer Elijah Muhammed wusste den intellektuellen Scharfsinn und die Redekünste des jungen Mannes zu schätzen und machte ihn zum Sprecher der Organisation.

In seinen Reden prangerte Malcolm X immer wieder die "weißen Teufel" an. Obwohl er in den Nordstaaten der USA lebte - für Schwarze aus den noch viel restriktiveren Südstaaten das "Gelobte Land" - setzte er auch hier keine Hoffnung mehr in weiße "Liberale". Hatte er doch selbst erlebt, dass Schwarze überall in den USA als Bürger zweiter Klasse galten.

Für die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings hatte Malcolm X lange nur Verachtung übrig. Kings berühmte Rede beim Marsch auf Washington 1963 von einem über alle Rassenschranken hinweg geeinten, freien Amerika kritisierte er als wirklichkeitsfremd: "Ich bin kein Amerikaner. Ich bin einer der 22 Millionen Schwarzen, die das Opfer von Amerikanismus sind … Ich sehe Amerika durch die Augen eines Opfers. Ich sehe keinen amerikanischen Traum; ich sehe einen amerikanischen Alptraum!"

Pilgerfahrt nach Mekka - und ein Sinneswandel

Im März 1964 brach Malcolm X mit der Nation of Islam. Im gleichen Jahr machte er eine Pilgerreise nach Mekka - und sein Bild der "weißen Teufel" kam ins Wanken: "Er war tief beeindruckt von der Gastfreundlichkeit und Herzlichkeit, mit der ihm auch weiße Muslime in Saudi-Arabien begegneten", schreibt Britta Waldschmidt-Nelson in ihrer Biografie. "Und dann hat er sich im letzten Jahr seines Lebens abgewandt von dieser rassistischen Doktrin", sagt sie der DW.

Er setzte sich eine neue Aufgabe :"Malcolm X wollte eine Allianz aller braunen und schwarzen unterdrückten Volker gegen die kolonialistische Unterdrückung der Weißen schaffen". Auf einer Afrikareise lobten die Regierungen zwar sein Ansinnen, aber mit Unterstützung konnte er nicht rechnen: "Sie hingen natürlich alle am Tropf der amerikanischen Entwicklungshilfe, und die meisten der afrikanischen Regierung hätten deshalb damals nicht öffentlich gegen die USA operiert."

Stattdessen geriet Malcolm X in den Fokus der CIA. Und auch die Nation of Islam war ihm auf den Fersen. "Er wusste, dass er ermordet wird und es war auch eine bewusste Entscheidung von ihm, sich dem zu stellen und nicht wegzugehen", sagt Waldschmidt-Nelson. "Er hat sich wohl gesagt: Ich kann jetzt nicht aufgeben. Malcolm hat nach seiner Erfahrung in Mekka einen ganz neuen Weg eingeschlagen, war offen auch für eine Zusammenarbeit mit der Bürgerrechtsbewegung Kings und gegebenenfalls auch für eine Zusammenarbeit mit Weißen."

Doch dazu kam es nicht mehr. Am 21. Februar 1965 wurde er während eines Vortrags erschossen - von Mitgliedern der Nation of Islam. Er wurde nur 39 Jahre alt. Die meisten Afroamerikaner waren zutiefst betroffen und schockiert. Für die meisten weißen Amerikaner hingegen war Malcolm X ein fanatischer "Hassredner": Er hatte ihrer Meinung nach bekommen, was er verdiente.

Vergessen wurde er nicht: Besonders in den 1980er-Jahren wurde er in der Hip-Hop-Kultur sehr wichtig. "Segmente der Reden von Malcolm X wurden gesampelt. So schuf er eine Art von Wiederaufleben der schwarzen Identität als politische Identität", sagt Michael E. Sawyer, Professor für afroamerikanische Literatur und Kultur an der Universität Pittsburgh. Die Lieder sind politische Kampfansagen an weißen Rassismus, Polizeibrutalität und die Verelendung der schwarzen Unterschicht. Und dann habe Spike Lee 1992 die Autobiographie Malcolms mit Denzel Washington in der Hauptrolle auf die Leinwand gebracht habe: eine Identifikationsfigur.

"Bei der jüngeren Generation - auch bei vielen Mitgliedern der Black Lives Matter-Bewegung - gilt er, nicht King, als die zentrale Symbolfigur der eigenen kulturellen Identität", so Waldschmidt-Nelson.

Und heute? 60 Jahre nach seinem Tod sei Malcolm Xs Stimme wieder gefragt. "Unter der gegenwärtigen Regierung in den USA wird ja Geschichtsfälschung betrieben. Sie versucht, die Geschichte in Museen und Schulbüchern so umzuschreiben, als hätten die Gründerväter alle keine Sklaven gehabt oder als hätte es nie Rassismus gegeben. Viele der weißen Backlash-Leute sind halt der Ansicht, Amerika ist glorreich und wundervoll und darf nicht kritisiert werden."

Malcolm X hätte das bestimmt nicht so stehen lassen.

Literaturtipp: Britta Waldschmidt-Nelson: Malcolm X. Der schwarze Revolutionär. C.H. Beck Verlag, 2025

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Image caption Malcolm X war ein begnadeter Redner, er debattierte mit Leuten von der Straße genauso wie mit Professoren
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Item 58
Id 72558071
Date 2025-05-18
Title PFAS: Helfen Müsli, Obst und Gemüse gegen die Umweltgifte?
Short title PFAS: Helfen Müsli, Obst und Gemüse gegen die Umweltgifte?
Teaser In Regenjacken, Pizzakartons, Trinkwasser und in unserem Blut: PFAS sind überall. Die Ewigkeits-Chemikalien können Krebs und Organschäden verursachen. Ballaststoffe könnten unserem Körper helfen, sie loszuwerden.
Short teaser Gesundheitsschädliche PFAS sind überall, auch in unserem Blut. Ballaststoffe könnten dem Körper helfen, sie loszuwerden.
Full text

Offiziell heißen sie Fluorchemikalien, genauer gesagt: Per- und polyfluorierte Alkylverbindungen, kurz PFAS oder PFC genannt. Sie sind wasser- und fettabweisend und kommen wegen dieser Eigenschaften in vielen Alltagsprodukten vor. Über diese Produkte, über Nahrung und Trinkwasser gelangen sie in unseren Körper. Das Problem: PFAS bauen sich in der Natur nicht ab, aus diesem Grund werden sie auch Ewigkeits-Chemikalien genannt - und sie verursachen viele Gesundheitsprobleme.

PFAS-Substanzen können unter anderem Organe schädigen, Fehlgeburten verursachen und die Krebsgefahr erhöhen. Sie können zu Schilddrüsenerkrankungen und Fruchtbarkeitsstörungen führen und die Wirksamkeit von Impfungen abschwächen. Zur großen Gruppe der PFAS zählen mehrere tausend verschiedene chemische Einzelverbindungen. Deklariert werden müssen sie in Produkten übrigens nicht.

Wie lange bleiben PFAS im menschlichen Körper?

Kurzkettige PFAS-Moleküle scheiden wir in der Regel nach Tagen oder Wochen über den Urin aus. Um langkettige PFAS abzubauen, braucht unser Köper dagegen teils mehrere Jahre. Dies geschieht dann über den Stuhl.

Spezielle Medikamente, mit denen wir PFAS schneller aus unserem Körper herausbekommen, gibt es bislang nicht. Lediglich der Wirkstoff Colestyramin scheint die Ausscheidung von PFAS zu beschleunigen.

Colestyramin wirkt gegen zu hohe Cholesterin-Werte, die Gefäßverkalkungen verursachen können. Dies geschieht, indem es Gallsäure im Darm bindet, die dann nicht mehr ins Blut gelangt, sondern über den Stuhl ausgeschieden wird. Die Leber muss dann Gallensäuren nachproduzieren und nutzt dafür Cholesterin aus dem Blut.

Verschiedene Studien haben gezeigt, dass auch bestimmte Ballaststoffe helfen, den Cholesterinwert im Blut zu senken. Ballaststoffe sind weitgehend unverdauliche Bestandteile in der Nahrung, meist Kohlenhydrate, die vor allem in pflanzlichen Lebensmitteln vorkommen - besonders in Vollkorngetreide und in Hülsenfrüchten, aber auch in Obst, Gemüse, Nüssen und Samen.

Wie Ballaststoffe dem Körper gegen PFAS helfen könnten

Wenn Ballaststoffe ähnlich wirken wie Colestyramin – könnten sie dann auch die Ausscheidung von PFAS-Substanzen beschleunigen? Diese Vermutung besteht schon länger.

Forschende der US-Universitäten von Bosten und Massachusetts gingen dieser Frage nach und untersuchten Blutwerte, die ursprünglich für eine Studie zu Cholesterin und dem Ballaststoff Beta-Glucan durchgeführt wurde.

Beta-Glucan kommt in Hafer und Gerste vor. Zusammen mit Flüssigkeit aus der Nahrung bildet Beta-Glucan eine Art Gel im Magen und Darm. Dieses Gel bindet - wie Colestyramin - ebenfalls Gallsäure und verhindert, dass diese über die Darmwand ins Blut gelangt. Sie wird stattdessen mit dem Stuhl ausgeschieden - und der Cholesterinwert im Blut sinkt.

Das Ergebnis: Die Probandengruppe, die vier Wochen lang Beta-Glucan eingenommen hatte, hatte nicht nur weniger Cholesterin im Blut - sondern auch weniger PFAS.

Ballaststoff aus Hafer senkt PFAS-Konzentration im Blut von Mäusen

Das Team startete selbst eine Studie, allerdings mit Mäusen. Die Mäuse wurden über das Trinkwasser sechs Wochen lang einer Mischung aus sieben PFAS ausgesetzt und erhielten solche Lebensmittel, die der Querschnitt der US-amerikanischen Bevölkerung zu sich nimmt. Eine Mäusegruppe erhielt zusätzlich Hafer-Beta-Glucan, eine andere den Ballaststoff Inulin, der kein Gel bildet.

Die Mäuse, die das Beta-Glucan bekamen, tranken deutlich mehr als die andere Gruppe. Sie nahmen also eine deutlich höhere Dosis an PFAS über das Wasser zu sich. Dennoch war die Konzentration mehrerer PFAS-Substanzen in ihrem Blut niedriger als bei den "Inulin-Mäusen".

Ihre Pilotstudie stütze die Hypothese, dass die Einnahme von Hafer-Beta-Glucan die PFAS-Belastung des Körpers reduzieren könne, so die Forschenden.

Wie aussagekräftig die ist die Mäuse-Studie zu PFAS?

Ergebnisse aus Tierversuchen lassen sich nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen. Dennoch ist die Mäuse-Studie ein weiteres Indiz für die Wirkung von Ballaststoffen auf PFAS. Denn auch andere Studien zeigen, dass Ballaststoffe PFAS schneller aus dem Körper ausleiten – auch bei Menschen.

So ergab eine groß angelegte US-Studie, an der zwischen 2005 und 2026 mehr als 6400 Menschen teilnahmen: Mehr Ballaststoffe in der Nahrung verringerten die Konzentration von drei PFAS-Substanzen im Blut um knapp zehn Prozent. Eine Schwäche dieser Studie: Die Teilnehmenden gaben selbst an, wie viele Ballaststoffe sie zu sich genommen hatten.

Eine Studie aus den USA und eine aus Dänemark zeigten, dass eine Ernährung mit viel Gemüse verschiedene PFAS-Werte im Blut senkte. Ähnlich Ergebnisse gibt es bei Studien mit Bohnen, Sojaprodukten und Fruchtfasern. Ballaststoffe könnten also tatsächlich gegen PFAS in unserem Körper wirken, aber der Mechanismus muss noch weiter untersucht werden.

Jenseits dessen aber ist klar: Ballaststoffe sind gut für uns. Sie senken den Cholesterinspiegel, fördern das Mikrobiom im Darm und wirken positiv auf den Blutzucker. Also ruhig öfter mal zu Obst, Müsli und Gemüse greifen!

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Image caption Eine ballaststoffreiche Ernährung könnte gegen PFAS-Umweltgifte helfen
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Item 59
Id 72564159
Date 2025-05-16
Title Glitter, Glamour, Politik: der ESC vor der Endrunde
Short title Glitter, Glamour, Politik: der ESC vor der Endrunde
Teaser Der Eurovision Song Contest (ESC) geht auf die Zielgerade: Nach der zweiten Zwischenrunde stehen die 26 ESC-Finalisten fest. Die große Show am Samstagabend verspricht Glanz und Glamour, hat aber weiter Konfliktpotential.
Short teaser Das ESC-Finale naht: Die große Show am Samstagabend verspricht Glanz und Glamour, birgt aber weiter Konfliktpotential.
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Zehn weitere Länder schafften am Donnerstagabend in der St. Jakobshalle in Basel den Sprung in die Endrunde des Eurovision Song Contest, darunter auch die israelische Sängerin Yuval Raphael. Sie ist eine Überlebende des Hamas-Terrors im Oktober 2022 und zählt - ungeachtet aller Proteste gegen Israel - zu den Favoritinnen. Weiter kamen neben Israel auch die Länder Litauen, Armenien, Dänemark, Österreich, Luxemburg, Finnland, Lettland, Malta und Griechenland. Die Heimreise antreten müssen allerdings Australien, Montenegro, Irland, Georgien, Tschechien und Serbien. Der Partystimmung tat das keinen Abbruch. Schon beim ersten ESC-Halbfinale am Dienstag zeigte das Pop-Publikum eine Sehnsucht nach Ausgelassenheit, im fröhlichen Kontrast zu einer Welt voller schlechter Nachrichten.

Erster Auftritt von Abor & Tynna

Für Deutschland trat erstmals - zunächst noch außer Konkurrenz - das Wiener Geschwisterpaar Abor & Tynna an. Abor &Tynna heißen mit bürgerlichem Namen Attila (26) und Tünde (24) Bornemisza. Deutschland ist neben Italien, England, Frankreich und Spanien für das Finale gesetzt, weil es zu den Geberländern des ESC gehört. Abor & Tynna brachten ihren Elektrohit "Baller" auf die Bühne, angereichert mit stakkatoartigen "Vocal Chops" [kurze Ausschnitte aus anderen populären Songs, Anm.d.R.]. Stroboskhafte Effekte rückten die Inszenierung ins rechte Licht. Abor traktierte dazu ein LED-beleuchtetes Cello.

Großer Baller-Faktor beim ESC

Welchen Erfolg "Baller" damit am Samstagabend einfährt, ist allerdings offen: Bei den Buchmachern verharrt Baller bisher im Mittelfeld. Überhaupt scheint der Baller-Effekt beim diesjährigen ESC angesagt, übrigens auch so manche Zweideutigkeit: "Ich komme" jubelt etwa die Finnin Erika Vikman, untermalt von erotisch aufgeladenen Verbiegungen. Als schriller Paradiesvogel gab sich der Australier Go-Jo, bei dessen Gaga-Song namens "Milkshake Man" es jedenfalls nicht um Kuhmilchprodukte ging. An den Start gingen auch ein lettisches Elfen-Sextett, das aussah wie aus einem Stamm geschnitzt, ein Schlosser aus Armenien, der sich als "Survivor" ausgab und, nicht zu vergessen, drei Disney-Barbies aus Großbritannien, die griechische Sängerin Klavdia mit großer Brille und schließlich eine weibliche Dracula aus Georgien. Die Schweden treten mit einem Spaß-Trio aus Finnland an. Die Gruppe KAJ frönt mit ihrem Spaßsong "Bara bada bastu" (Einfach in die Sauna gehen) genau dem: dem Saunagang. Schweden also ein heißer Favorit?

Eine Versöhnungshymne aus Israel

Gewinnchancen im Finale am Samstag könnte die israelische Sängerin Yuval Raphael haben. Ihre Versöhnungshymne "New Day Will Rise" wird in Israel als Erlösungslied gefeiert. Darin geht es um Verlust und Hoffnung. Bei einer Probe vor Publikum kam es am Donnerstag Berichten zufolge zu Störungen durch Israel-Kritiker mit Trillerpfeifen und Palästinenserfahnen. Größere Zwischenfälle blieben aber bislang aus, anders als 2024 in Malmö. Sängerin Yuval Raphael (24) hat die Anschläge in Israel durch Terroristen der Hamas am 7. Oktober 2023 als Besucherin des Nova-Musikfestivals überlebt, stundenlang versteckt unter Leichen, wie es heißt.

Der Eurovision Song Contest ist mit 160 Millionen TV-Zuschauern das meistgesehene Musikspektakel der Welt. In diesem Jahr kommt es aus Basel. 37 Länder wetteifern am Samstagabend ab 21.00 Uhr in der St. Jakobshalle um die Siegestrophäe. In der Schweizer Stadt direkt an der deutschen Grenze ist seit Tagen Rambazamba mit Live-Bühnen, Quiz- und Fernsehshows direkt aus der Fußgängerzone und ESC-Selfieboxen für schräge Fotos mit viel Glitter. Bei bestem Wetter tanzen die ESC-Fans bis in die Nacht.

Basel rechnet mit einer halben Million Besuchern, auch wenn nur rund 60.000 live bei den neun Shows dabei sein können. Im vergangenen Jahr hatte in Malmö die nonbinäre Person Nemo den ECS-Pokal in die Schweiz geholt.

Item URL https://www.dw.com/de/glitter-glamour-politik-der-esc-vor-der-endrunde/a-72564159?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Bunt, bunter, ESC: Die offizielle Flagge des Eurovision Song Contest 2025 in Basel
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Item 60
Id 72564521
Date 2025-05-16
Title Wie entwickelt sich die sexuelle Orientierung?
Short title Wie entwickelt sich die sexuelle Orientierung?
Teaser Sexualität ist vielfältig. Zu welchem Geschlecht man sich hingezogen fühlt, entscheidet sich in der Pubertät. Ein Zusammenspiel aus biologischen und psychosozialen Faktoren ist entscheidend.
Short teaser Wen man begehrt, entscheidet sich in der Pubertät. Die sexuelle Orientierung ist Schicksal und nicht Wahl.
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Vor 35 Jahren, am 17. Mai 1990, wurden weltweit Millionen von Menschen plötzlich "gesund". Denn an diesem Tag strich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Homosexualität von der Liste der menschlichen Krankheiten.

Bis dahin galt die gleichgeschlechtliche Liebe als eine Art "Geisteskrankheit". Betroffene wurden vielfach in Heilanstalten oder Gefängnisse gesperrt und mit Stromstößen oder fragwürdigen Psychotherapien "behandelt".

Heute sei völlig klar, dass homo-, bi- oder transsexuelle Menschen nicht krank sind und nie waren, sagt Prof. Dr. med. Klaus M. Beier, der Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Berliner Charité. Die menschliche Sexualität zeichne sich durch ihre Vielfalt aus.

"Mittlerweile ist klar: Kein Mensch sucht sich seine sexuelle Ausrichtung aus. Das ist Schicksal und nicht Wahl. Unter dem Einfluss der Geschlechtshormone in der Pubertät entfaltet sich das, was Fachleute als "sexuelle Präferenzstruktur" bezeichnen. Und da ist dann ab der Jugend einprogrammiert, auf welches Geschlecht die Ausrichtung besteht, wie das Körperschema der begehrten Person ist und welche sexuelle Interaktionen man sich mit dieser wünschen würde."

Nach dieser Entwicklungsphase in der Jugend bleibt die jeweilige sexuelle Präferenz stabil, so Beier. "Es ist in der Jugend entstanden und ist dann stabil über das Leben, trotz des bei manchem vorhandenen Wunsches, dass sich die sexuelle Orientierung ändern möge, etwa vor dem Hintergrund, dass ein gesellschaftlicher Druck erzeugt wird, so zu sein wie alle anderen."

Nicht-Heterosexualität wird vielerorts zum Problem gemacht

Die universellen Menschenrechte schließen das Recht auf freie sexuelle Orientierung ein. Sexualität ist und war schon immer vielfältig. Sie ist weder eine Modeerscheinung, noch zum Beispiel auf besonders liberale Gesellschaften beschränkt.

"Die gleichgeschlechtliche Orientierung liegt nach den Daten, die wir haben, etwa in einem Umfang von drei bis fünf Prozent in der Bevölkerung vor, und das gilt kulturübergreifend. Menschliche Sexualität ist anders nicht zu haben. Sie ist durch diese Vielfalt gekennzeichnet - und nicht anders zu haben", so der Sexualwissenschaftler Beier. Deshalb sei es falsch, jemanden wegen seiner sexuellen Ausrichtung zu bewerten oder sogar zu verurteilen.

Trotzdem polarisiert die sexuelle Orientierung Einzelner ganze Gesellschaften. Dies führt zum Teil zu deren Ausgrenzung, Diskriminierung und Verfolgung. Homosexualität zum Beispiel ist in mindestens 67 Ländern strafbar, in sieben droht für gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen sogar die Todesstrafe.

Wie entsteht die sexuelle Orientierung?

Eine einfache Frage, auf die es keine einfache und keine abschließende Antwort gibt. Es gibt nicht die eine Ursache für die sexuelle Orientierung, sondern verschiedene genetische, hormonelle Erklärmodelle und soziokulturelle Interpretationen.

"Nach dem jetzigen Wissensstand das ist ein multifaktorielles Geschehen. Niemand hat bisher irgendeinen einzelnen Faktor ausfindig machen können, der als Ursache dafür benannt werden könnte, dass ein Mensch gleichgeschlechtlich orientiert ist und ein anderer gegengeschlechtlich", so Beier.

Deshalb sei davon auszugehen, das ein komplexes Zusammenspiel aus biologischen und sozialen Faktoren für die Entwicklung der sexuellen Orientierung verantwortlich ist.

Biologische Einflussfaktoren

Zu den untersuchten biologischen Einflussfaktoren auf die Entwicklung der sexuellen Orientierung zählen die Gene, also die Erblichkeit sowie (pränatale) Hormone und chemische Substanzen.

Die sexuelle Orientierung ist nicht angeboren, also nicht erblich. Familien- und Zwillingsstudien zeigen zwar in manchen Familien ein Häufung von Homosexualität. Die gefundenen genetischen Marker sind allerdings wenig aussagekräftigt, es gibt kein einzelnes "Homosexualität-Gen".

Hormone und andere chemische Substanzen

Möglicherweise sind auch Hormone wie Testosteron und chemische Substanzen wie Pheromone bei der Entwicklung der sexuellen Orientierung mitverantwortlich. Pheromone sind Duftstoffe, die zum Beispiel das Sexualverhalten beeinflussen.

Studien belegen, dass männliche Pheromone sowohl bei heterosexuellen Frauen als auch bei homosexuellen Männern die Aktivität des Hypothalamus stimulieren - nicht aber bei heterosexuellen Männern. Der Hypothalamus ist eine Drüse im Zwischenhirn, die unser Instinktverhalten und die Sexualfunktionen beeinflusst.

Soziale Einflüsse auf die sexuellen Orientierung

Puppen und Kleider für Mädchen, Werkzeuge und Autos für Jungs – typisch weibliche oder männliche Spielsachen haben keinen Einfluss auf die sexuelle Orientierung. Gleiches gilt auch für die Erziehung.

Zwar leben manche Menschen ihre tatsächliche sexuelle Orientierung erst spät aus. Grundsätzlich aber ändert sich die sexuelle Präferenz im Laufe des Lebens nicht.

"Wir haben ganz starke Hinweise dafür, dass das nicht geht. Es gibt Verlaufsuntersuchungen zur sexuellen Orientierung. Es gab diese bedauerlichen `Umwandlungsversuche´ bei gleichgeschlechtlich orientierten Männern. Das war in den 70er-Jahren in den Vereinigten Staaten in einer größeren Studie versucht worden. Ohne jeden Erfolg. Ein starker Belege dafür, dass die sexuelle Orientierung sehr stabil ist."

Während sich die sexuelle Orientierung in der Pubertät entwickelt, beginnt die Entwicklung der Geschlechtsidentität bereits im Kindesalter und ist bei den meisten Menschen mit fünf bis sechs Jahren abgeschlossen, so Prof. Beier. Ab diesem Alter könnten sich Kinder "in ihrer Geschlechtlichkeit auch in der Zukunft sehen und dadurch Annahmen treffen über ihre Zukunft als Mann oder Frau".

Ist die sexuelle Orientierung einmal festgelegt, ändert sie sich nicht mehr. Auch nicht durch "Verführung" oder durch frühe sexuelle Kontakte. "Da ist nichts dran", so Sexualwissenschaftler Beier. "Ein wichtiger Beleg hierfür: Es gibt viele Menschen, die in der Jugend sexuelle Kontakte gleichgeschlechtlicher Art gehabt haben, die aber nicht gleichgeschlechtlich orientiert sind."

Entscheidend für die Identitätsentwicklung ist, ob Kinder von ihren Eltern Unterstützung oder Ablehnung erfahren. Stoßen Kinder und Jugendliche auf starke Ablehnung, entwickeln sie im Vergleich oftmals ein schwächeres Selbstwertgefühl. Bezieht sich die elterliche Ablehnung auf die sexuelle Identität oder Orientierung des Kindes, kann sie zu Depressionen und Selbstmordgedanken führen.

Sexualität ist vielfältig

Gerade in Gesellschaften, in denen sexuelle Minderheiten ausgegrenzt und verfolgt werden, sei eine vorurteilsfreie Debatte über die sexuelle Vielfalt sehr wichtig, so der Direktor der Instituts für Sexualwissenschaften und Sexualmedizin an der Berliner Charité.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist keine sexuelle Orientierung eine Krankheit oder "unnatürlich". Was toleriert wird, oder was als "normal" oder "widernatürlich" gilt, bestimmen die gesellschaftlichen Normen. Diese Normen können sich je nach Zeit und Kontext stark verändern. Aber die Natur des Menschen ändert sich nicht.

Berichtigung:

In einer früheren Version dieses Artikels hieß es, die Scharia schreibe die Todesstrafe in Mauretanien, Nigeria, Somalia und Südsudan vor. Die Scharia wird nur in 14 der nördlichen Bundesstaaten Nigerias angewandt, nicht im ganzen Land. Der Südsudan ist ein säkularer Staat und wendet die Scharia nicht an. Homosexualität ist zwar verboten, wird aber nicht mit dem Tod, sondern mit bis zu 14 Jahren Gefängnis bestraft. Diese Passage wurde am 27.05.25 überarbeitet.

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Image caption Liebe ist bunt, trotzdem polarisiert die sexuelle Orientierung Einzelner ganze Gesellschaften
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Item 61
Id 72555373
Date 2025-05-16
Title Zu wenig Regen: Was tun gegen Dürre in Deutschland?
Short title Zu wenig Regen: Was tun gegen Dürre in Deutschland?
Teaser Selten war es im Frühjahr so trocken wie 2025. Landwirtschaft, Grundwasser und sogar Verbraucherpreise leiden darunter, Pflanzen und Ökosysteme geraten frühzeitig unter Stress. Was kann man dagegen tun?
Short teaser Selten war es im Frühjahr so trocken wie 2025. Pflanzen und Ökosysteme geraten frühzeitig unter Stress.
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Eine alte Bauernweisheit besagt: "Ist der Mai kühl und nass, füllt's dem Bauern Scheun' und Fass". Aber der Regen, der dafür nötig wäre, ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Es ist deutlich zu trocken. Im Zeitraum von Anfang Februar bis Mitte April fiel in knapp 100 Jahren noch nie so wenig Regen wie 2025. Im März waren es fast 70 Prozent weniger Niederschlag als üblich und es gab so viele Sonnenstunden wie sonst nur im Sommer.

Die Folgen: Immer wieder war die Waldbrandgefahr erhöht, in Thüringen, und Nordrhein-Westfalen wurden erste Brände gemeldet. Auf Europas wichtigster Binnenwasserstraße, dem Rhein, konnten Schiffe aufgrund des niedrigen Wasserstands teilweise nur mit 25 Prozent ihrer üblichen Fracht fahren. Dadurch verteuerten sich die Transportkosten spürbar, Experten warnten vor höheren Verbraucherpreisen. Der Deutsche Städtetag rief dazu auf, sparsam mit Trinkwasser umzugehen.

Außergewöhnliche Dürre im ganzen Boden

Besonders im Norden und Nordosten des Landes und in Teilen Bayerns breiten sich auf dem Dürremonitor des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung tiefrote Flecken aus - das bedeutet Trockenheit im gesamten Boden, außergewöhnlich dürr sind aber vor allem die oberen 25 Zentimeter des Bodens. "Der ist vor allem wichtig für die Landwirtschaft und die Nutzpflanzen wie Getreide, Grünland, die ja nur sehr flach wurzeln", erklärt Borchardt. Mit zunehmender Erderwärmung wird das in Zukunft häufiger so sein, bestätigen auch der Deutsche Wetterdienst und das Umweltbundesamt.

Grundwasser: Die Ampel steht auf Gelb

Ein Alarmzeichen, sagen Experten. Denn wenn der Boden trocken ist, weist er Wasser ab - genau wie das Wasser beim Gießen einer trockenen Zimmerpflanze von der Erde abperlt. So kann Regen, selbst wenn er fällt, schlecht einsickern. Besonders bei Starkregen ist das ein Problem. "Starkregenereignisse tragen so gut wie nicht zur Grundwasserneubildung bei, sie fallen bei Trockenheit sozusagen auf versiegelte Flächen, denn auf ausgetrockneten Böden fließt das Wasser oberflächlich ab in Bäche und Flüsse."

Für das Grundwasser war die Trockenheit der vergangenen Monate besonders verheerend. Das bildet sich vor allem von November bis März neu, erklärt Borchardt, weil die Pflanzen dann noch nicht wachsen und demnach wenig Wasser brauchen. "In Sachsen haben mittlerweile 80 Prozent der Messstellen einen deutlich abgesunkenen Grundwasserspiegel," sagt Borchardt. "Die Ampel steht auf Gelb."

Um den Boden wenigstens temporär wieder zu befeuchten, reiche schon ein Tag Landregen - also sanfter, anhaltender Regen - meldet das Helmholtz-Institut. Damit hingegen Niederschlag im Grundwasser ankommt, bräuchte es mehrere Wochen stetigen Regen. Der darf aber nicht mehr lange auf sich warten lassen, gibt Borchardt zu Bedenken. "Wenn wir im Sommer Regen bekommen, kommt kaum ein Tropfen im Grundwasser an."

Pflanzen geraten unter Trockenstress

Vor allem die Natur benötigt ihn dringend. "Jetzt wollen die Pflanzen austreiben und blühen und dafür brauchen sie natürlich Wasser", sagt Verena Graichen von der Umweltorganisation BUND. Bekommen sie das nicht, geraten sie frühzeitig unter Trockenstress, wie schon jetzt flachwurzelnde Bäume wie die Birke. Pflanzen seien dann anfälliger für Schädlinge und Stürme, sagt Graichen. Das begünstige einen Teufelskreis: "Wenn Wälder oder Moore durch Trockenstress geschwächt sind, können sie weniger Kohlenstoff binden, was wiederum den Klimawandel anheizt."

Wenn nicht bald Regen fällt, leidet vor allem die Landwirtschaft. "Was die Pflanzen richtig unter Stress setzen würde, wäre eine Frühsommertrockenheit, wenn die Fruchtbildung einsetzt," mahnt Meike Mieke vom Landesbauernverband Brandenburg. "Dann wird’s schlimm für die Landwirte. Momentan hofft man einfach: Es wird schon alles werden." Aber die Prognosen des Deutschen Wetterdienstes sind nicht vielversprechend: die Bodenfeuchte soll weiter abnehmen.

Wie Deutschland mit Wasser umgeht, wird offiziell gemessen. Wenn mehr als 20 Prozent des Wassers verbraucht werden, welches sich im Laufe eines Jahres natürlich regeneriert, spricht man von Wasserstress. Die Zahlen geben zunächst Entwarnung: Die Wassernutzung ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zurückgegangen. 2022 wurden nur knapp 10 Prozent der Ressource genutzt.

Problem Niedrigwasser

Blickt man auf die Zahlen, so hat der Energiesektor den größten Durchsatz. 6,6 Milliarden Liter Flusswasser wurden 2022 abgeleitet, um thermische Kraftwerke zu kühlen, meldet das Statistische Bundesamt. Aber: Das Wasser wird fast unverändert zurückgeleitet. Niedrigwasser in Flüssen ist dabei problematisch - bei der verehrenden Trockenheit im Sommer 2018 mussten Kraftwerke gedrosselt werden, erklärt Borchardt.

Einen Lichtblick bringt hier die Energiewende, weil immer mehr thermische Kraftwerke abgestellt werden: "Die Transformation der Energieversorgung hin zu Erneuerbaren bewirkt, dass wir bis zur Jahrhundertmitte kaum noch einen Bedarf für die Kühlung der Energieversorgung haben", sagt Kirschbaum. Ein Bonuspunkt grüner Energie: Solar- und Windkraftanlagen müssen nicht gekühlt werden.

An zweiter Stelle steht die Trinkwasserversorgung. Viel Wasser fließt auch in das verarbeitende Gewerbe: Rund fünf Milliarden Liter Fluss- und Grundwasser werden vor allem in der Chemie- und Metallindustrie und zum Herstellen von Papier verwendet - der Großteil auch hier zur Kühlung. In Zukunft werden auch Serverzentren einen wachsenden Bedarf an Kühlwasser haben.

Für die Landwirtschaft reicht der Regen noch

Für die Landwirtschaft hat bisher der Regen gereicht. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Flächen wird in Moment bewässert.

Das Problem ist: Mit voranschreitendem Klimawandel wird sich das ändern. Prognosen sagen, dass bis 2100 für das Anbauen von Lebensmitteln bis zu viermal so viel Wasser gebraucht wird - weil weniger Regen fällt und vor allem, weil Wasser bei zunehmender Hitze schneller verdunstet. "Mit anderen Worten: Wir können nicht mehr davon ausgehen, dass für alle Wünsche genug Wasser da ist", resümiert Borchardt.

Wie Wasser sparen?

Wenn Trockenperioden immer häufiger werden, wer kann dann in Zukunft Wasser sparen, und wie? "An erster Stelle steht der Wasserrückhalt in der Fläche," sagt Bernd Kirschbaum vom Umweltbundesamt. Das kann beispielsweise geschehen, in dem Flüssen, Wäldern und Auen wieder mehr Raum gegeben wird.

"Ein mäandernder Flussverlauf, der etwa bei Regen mehr Wasser aufnimmt und sich bei Trockenheit zusammenzieht, kann das Wasser viel besser in der Landschaft halten", erklärt Graichen. Auch in Städten kann Entsiegelung und Begrünung von Flächen helfen, dass das Wasser besser versickert.

Großes Einsparpotenzial sieht Kirschbaum auch in Betrieben. "Auf großen Betriebs- und Dachflächen kann Regenwasser gesammelt, über bestimmte Filter aufbereitet und dann in technischen Prozessen wieder als Betriebswasser genutzt werden. Genauso ist es mit den dort anfallenden Abwässern."

Für die Landwirtschaft schlägt Graichen Investitionen in Tröpfchenbewässerung und dürreresistente Pflanzen vor. "Kichererbsen und Linsen können mit weniger Wasser auskommen als Beeren."

Item URL https://www.dw.com/de/zu-wenig-regen-was-tun-gegen-dürre-in-deutschland/a-72555373?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Zu wenig Regen: Risse im trockenen Boden eines Weizenfeldes
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Item 62
Id 72554653
Date 2025-05-15
Title Ukraine erwägt Bindung ihrer Währung an Euro statt US-Dollar
Short title Ukraine erwägt Bindung ihrer Währung an Euro statt US-Dollar
Teaser In der Ukraine werden die Überlegungen laut, den US-Dollar als Referenzwährung durch den Euro zu ersetzen. Welche Vor- und Nachteile könnten sich für die Wirtschaft ergeben und wie schnell wäre die Idee umsetzbar?
Short teaser Welche Vor- und Nachteile hätte es, wenn die Ukraine den US-Dollar als Referenzwährung durch den Euro ersetzen würde?
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Die Ukraine erwägt eine Abkehr vom US-Dollar und stattdessen eine stärkere Bindung ihrer Währung an den Euro. Das erklärte jüngst Nationalbank-Chef Andrij Pyschnyj gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Die Zersplitterung des Welthandels und zunehmende Verbindungen zu Europa würden die Ukraine zu einem solchen Schritt drängen.

Ein Wechsel vom US-Dollar zum Euro als Referenzwährung würde bedeuten, dass die Nationalbank künftig die ukrainische Hrywnja gegen Euro handeln würde und alle anderen Währungskurse über den Kreuzkurs bestimmt würden. Damit würde sich ihr Kurs nicht direkt zum Wert des Hrywnja ergeben, sondern würde über den jeweiligen Wert zum Euro berechnet. Derzeit wird der Handel im Verhältnis zum US-Dollar abgewickelt und der Euro-Hrywnja-Wechselkurs durch den Kreuzkurs bestimmt.

"Diese Arbeit ist komplex und erfordert eine hochwertige, umfassende Vorbereitung", räumte Pyschnyj ein. Transaktionen in US-Dollar würden weiterhin alle Segmente des Devisenmarktes dominieren, doch der Anteil der in Euro denominierten Transaktionen habe sich in den meisten Segmenten erhöht, wenn auch "bisher moderat".

Eine Wiederbelebung der Investitions- und Konsumtätigkeit dank engerer Verbindungen mit Europa und einer Normalisierung der Wirtschaft dürfte dazu beitragen, dass das Wirtschaftswachstum der Ukraine in den nächsten zwei Jahren leicht auf 3,7 bis 3,9 Prozent anziehe, so der Chef der Nationalbank. Allerdings hänge ihm zufolge die wirtschaftliche Entwicklung stark vom Verlauf des Krieges Russlands gegen die Ukraine ab.

Euro-Bindung als langfristige Perspektive

"Es ist klar, dass schwere, komplexe Störungen des Finanzsystems in Kriegszeiten, während großer Militäroperationen, nicht von allein vorbeigehen werden", sagt der ukrainische Wirtschaftsexperte Wasyl Poworosnyk im DW-Gespräch. Ein Übergang zum Euro würde mindestens fünf bis zehn Jahren brauchen.

Finanzexperten bewerten die Initiative der Nationalbank positiv, geben jedoch zu bedenken, dass sie nicht schnell umgesetzt werden könne. "Ich denke, dass die Bindung der Hrywnja an den Euro eher eine politische Entscheidung mit einem Zeithorizont von zehn Jahren ist", sagt der Ökonom Witalij Schapran gegenüber der DW. "Wenn sich die Ukraine in die Europäische Union integrieren möchte, dann ist die Annäherung an die Eurozone ein logischer und vorhersehbarer Schritt", so der Experte, der einst dem Aufsichtsrat der Nationalbank angehörte. Langfristig halte er diese Entscheidung für alternativlos, insbesondere vor dem Hintergrund der russischen Aggression.

Obwohl die Ukraine hauptsächlich Handel mit EU-Ländern treibe und ein Teil davon in Euro abgewickelt werde, sei die Überlegung, die Hrywnja an die europäische Währung zu koppeln, eher eine politische Richtlinie als eine wirtschaftlich begründete Notwendigkeit, findet Dmytro Bojartschuk vom Center for Social and Economic Research (CASE-Ukraine). Seiner Meinung nach hänge der Nutzen einer Euro-Bindung von der globalen Entwicklung des Dollarkurses ab. Wenn der US-Dollar gegenüber dem Euro an Wert verliere, könne das von Vorteil sein, wenn er aber stärker werde, könne das Panik in der Gesellschaft auslösen.

"Ich glaube nicht, dass die Bindung definitiv umgesetzt wird", sagt Bojartschuk. Das hänge höchstwahrscheinlich davon ab, wie sich die Ereignisse in der Welt entwickeln, so der Experte. Es würde sich um eine langfristige Perspektive handeln.

Wer würde profitieren und wer verlieren?

"Wenn in der gegenwärtigen Situation der Euro zur Ankerwährung der Hrywnja gemacht wird, dann werden davon Exporteure und Importeure profitieren, die Verträge in Euro haben und vielleicht würde dies zu einer Zunahme von Verträgen in Euro führen", sagt Schapran. Aber die Unternehmen, die ihre Produkte in US-Dollar verkauften, würden verlieren, und davon gebe es in der Ukraine viele. Nach Schätzungen seien das bis zu 70 Prozent, wenn man die Umsätze in der Schattenwirtschaft mitberücksichtige, so Schapran.

Die Schwächung des US-Dollars und damit auch der Hrywnja gegenüber dem Euro habe ukrainische Exporte für die Eurozone bereits attraktiver gemacht, betont der Experte. Eine sofortige Änderung der Leitwährung in der Ukraine wäre aber ohne strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft unmöglich, sonst würde dies zu Unzufriedenheit führen.

Schrittweise Maßnahmen erforderlich

Ein Wechsel zum Euro dürfte für die Wirtschaft generell schwierig werden, da der US-Dollar nach wie vor die wichtigste globale Reservewährung sei, über die die meisten internationalen Zahlungen abgewickelt werden. Die ukrainischen Exporte werden größtenteils in US-Dollar abgerechnet und eine Umstellung auf den Euro würden die Zahlungsprozesse ersteinmal verkomplizieren, meinen Experten. Für Unternehmen würde das zusätzliche Transaktionskosten und Belastungen bedeuten.

"Die Auswirkungen auf die Ersparnisse der Bürger werden zwar geringer sein, da sie den Dollar nicht aufgeben und weiterhin in Dollar sparen werden. Mit der Zeit wird es jedoch zu einer Umorientierung auf Ersparnisse in Euro kommen", prognostiziert Wasyl Poworosnyk.

Um den Anteil des Euro am Zahlungsverkehr schrittweise zu erhöhen, sind nach Ansicht von Experten gewisse Maßnahmen erforderlich. Erstens seien weichere Handelsregeln zwischen den Staaten der Eurozone und der Ukraine nötig. Zweitens müssten die ukrainischen Währungshüter den ukrainischen Unternehmen einen ungehinderten Zugang zu Instrumenten gewähren, mit denen die Risiken reduziert werden können, die sich aus Veränderungen des Euro-Dollar-Wechselkurses ergeben. Und drittens sollte die ukrainische Regierung Investitionen aus der Eurozone fördern, was den Anteil des Euro am ukrainischen Außenhandel automatisch erhöhen würde. "So werden wir den Euro von Jahr zu Jahr zu einer beliebteren Währung in der Ukraine machen", glaubt Witalij Schapran.

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk

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Image caption Bisher ist die Währung der Ukraine an den US-Dollar gekoppelt. In Zukunft könnte der Euro die Referenzwährung werden.
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Item 63
Id 72512828
Date 2025-05-15
Title Cognac in der Krise: Frankreichs Exportschlager zwischen Handelskonflikt und Klimawandel
Short title Frankreich: Cognac zwischen Handelskonflikt und Klimawandel
Teaser Cognac aus Frankreich gilt als der edelste Traubenschnaps der Welt. 98 Prozent der Produktion wird in über 150 Länder exportiert. Inzwischen kämpfen die Produzenten mit Zöllen, Absatzrückgängen und Klimawandel.
Short teaser Cognac-Erzeuger stehen unter Druck. Zölle drohen den Absatz in den USA und in China zu schwächen.
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Weinreben, soweit das Auge reicht. 24 Hektar davon gehören Alain Reboul. Der 62-Jährige ist Winzer in der siebten Generation. Sein Weingut "Earl des Bois nobles" ist eines der kleineren in der französischen Region von Cognac und liegt rund 100 Kilometer nördlich von Bordeaux. In der streng reglementierten Anbauregion sind 4350 Weinbauern ansässig. Nur Trauben aus den sechs Anbaugebieten ("crus") von genau definierten Weißweinsorten dürfen für Cognac verwendet werden.

Der größte Markt für den edlen Branntwein sind die USA: Präsident Donald Trump hat 200 Prozent Zölle auf europäische Spirituosen angedroht. Der zweitgrößte Markt ist der chinesische: Xi Jinping hat bereits im Herbst 2024 die Importe verteuert und ein Antidumping-Verfahren angestrengt - als Vergeltung für die Schutzzölle der EU gegen chinesische E-Autos. Der Alkohol darf dort auch nicht mehr in den Duty-free-Shops verkauft werden.

Nach Angaben des Branchen-Verbands BNIC (Bureau National Interprofessionell du Cognac) sanken die Lieferungen nach China um die Hälfte: Über 50 Millionen Euro monatlich gehen dadurch verloren. BNIC appelliert an die französische Regierung, die rund 70.000 Jobs, die direkt und indirekt am Cognac hängen, nicht zu vergessen.

Reben pflanzt man für Generationen

Während seines ganzen langen Berufslebens hat Reboul Land dazu gekauft und Reben gepflanzt. Und jetzt soll er einen Teil davon entfernen? Das hatten BNIC wie auch die Winzer-Gewerkschaft empfohlen, um Kosten für Maschinen, Dünger und Pestizide zu sparen. Reboul will keine Reben herausreißen. "Die pflanzt man für mindestens 30 Jahre, für Generationen!", sagt der große, wettergegerbte Mann. "Und warum sollen wir dieselben Dummheiten begehen wie unsere Vorfahren?" In der Ölkrise stieg sein Vater auf Rotwein um: Gelohnt habe es sich nicht.

Vor ein paar Jahren hieß es noch: "Pflanzen, pflanzen, pflanzen!" Der Durst nach Cognac schien schier unstillbar. 2022 wurden trotz Pandemie und Krieg in der Ukraine knapp 213 Millionen Flaschen weltweit verkauft: laut BNIC ein Rekordjahr.

Der aktuelle Einbruch sei der größte Schock seit der Ölkrise. Reboul kennt Kollegen, die mehrere Hektar Rebstöcke gerodet haben. Statt Weinberge sieht man nun mancherorts Oliven- oder Trüffelplantagen. "An meiner Philosophie wird das nichts ändern", beteuert er. Krisen habe es schon immer gegeben.

Weltpolitik und Klimawandel belasten Winzer

Chinesische und US-amerikanische Vergeltungszölle sind nicht die erste Herausforderung für die Region Cognac. Umsatzeinbrüche gab es zeitweise auch durch die Pandemie, die Inflation und den Wegfall des wichtigen russischen Marktes. Auch der Klimawandel belastet die Winzer. Die verlängerte Hitzeperiode macht die Trauben zuckerhaltiger. Cognac braucht aber eine gewisse Säure. Außerdem treiben die Reben früher aus, wodurch das Risiko steigt, die Ernte wegen Hagel, Spätfrost oder Schädlingen zu verlieren.

Reboul bewirtschaftet das Gut mit Hilfe von Familienmitgliedern und Saisonarbeitern. Den gesamten Wein-Ertrag verkauft er an Hennessy. "Ich liebe meinen Beruf!", sagt er stolz. Und die achte Winzer-Generation steht auch schon bereit.

Holzfässer für Cognac - viel Handarbeit und Knowhow

Cassandra Allary führt mit ihrem Bruder ebenfalls einen Familienbetrieb: die Küferei Allary. Mit 26 Mitarbeitenden fertigen sie Eichenfässer und -tonnen aller Größenordnungen für Wein und Hochprozentiges. Zwischen Cognac und Bordeaux gibt es rund 50 Fasshersteller: Ihr Handwerk wurde zum Weltkulturerbe erklärt.

Es steckt viel Handarbeit und Knowhow in den Fässern. Zuerst werde das Eichenholz viele Monate lang im Freien getrocknet, damit Wind und Regen die Tannine besser zur Geltung bringen, erklärt die junge Firmenchefin. Später würden die Fass-Rohlinge befeuchtet, erhitzt, mit Böden, Deckeln und Ringen versehen, poliert und entgratet.

"Vom Grad der Erhitzung hängt ab, welche Aromen wir aus dem Holz herauskitzeln", verrät Allary. "Das machen wir je nach Kundenwunsch." Bei niedriger Hitze dufte es nach Kokosnuss. Mittlere Hitze bringe einen Schuss Vanille hinein und stärkere Mokka- bzw. Kakaonoten. Ursprünglich belieferte Allary nur die Cognac-Firmen, diversifizierte jedoch in den 90ern das Portfolio. In diesem Jahr sei die kleine Firma noch gut ausgelastet, doch die Aufträge werden weniger.

Cognac brachte der Region Wohlstand

Fast jeder in der Region produziert oder vermarktet Wein, Cognac, Fässer, Gläser, Flaschen oder Etiketten. Die 20.000 Einwohner Stadt Cognac, die den selben Namen trägt wie ihr berühmtes Produkt, ist durch den Branntwein reich geworden.

Cognac verdankt seine Existenz dem Handel: Die Destillation macht Weine haltbarer und so konnten sie auf dem Seeweg in weit entfernte Länder exportiert werden. Viele Cognac-Häuser wurden von Einwanderern gegründet - wie Bache Gabrielsen, aber auch Hennessy und Martell. Heute beherrschen die großen Vier Cognac-Brennereien Hennessy, Rémy Martin, Martell und Courvoisier rund 90 Prozent des Marktes und sind meist Teil von großen Konzernen wie LVMH und Pernod-Ricard.

Konsumenten stellen andere Ansprüche

Im Empfangsraum des "Maison Bache Gabrielsen" hängt eine Ahnengalerie über Schubladen voller historischer Flaschenetiketten. Das Haus wurde 1905 gegründet und gehört zu den vergleichsweise jungen Cognac-Produzenten. Bache Gabrielsen ist immer noch im Familienbesitz und produziert ungefähr eine Million Flaschen jährlich. Das ist im Vergleich zu den berühmten Marken wenig, für einen Betrieb mit gerade einmal 23 Beschäftigten jedoch eine ganze Menge.

Winzer wie Reboul liefern den Wein, Cognac-Produzenten wie Bache Gabrielsen machen daraus durch doppelte Destillation im ersten Schritt ein hochprozentiges "eau de vie" (Wasser des Lebens). Mindestens zwei Jahre muss dieses "Wasser des Lebens" dann in Eichenfässern reifen und die Holzaromen aufnehmen. Das bernsteinfarbene Endprodukt ist eine Mischung aus verschiedenen Jahrgängen und Crus.

Kellermeister Jean-Philippe Bergier ist die "Nase" von Bache Gabrielsen. Bergier komponiert seit 35 Jahren die Produkte des Hauses aus bis zu 15 Destillaten aus allen Crus der Region. Rebsorten, die früher nur in winzig kleinen Anteilen beigemischt wurden, sind jetzt wieder gefragt, weil sie mehr Säure bringen, erklärt Bergier, "eine Reaktion auf den Klimawandel".

Der kreative Kopf hat schon etliche Geschmack-Trends kommen und gehen gesehen. Bache Gabrielsen hat auch eine kleine Charge Bio-Cognac in recycelten Flaschen abgefüllt, um ein neues Segment zu testen. Zudem versuchen die Produzenten mit Cocktails, Likören und Aperitifs weitere Zielgruppen zu erschließen.

Heute wollten vor allem die Jüngeren wissen, wie ein Produkt gemacht wird. Es werde zwar weniger Alkohol getrunken als noch vor einer Generation, aber man lege mehr Wert auf Qualität. Und weil Cognac ein Qualitätsprodukt sei, glaubt Bergier fest an seine Zukunft.

Item URL https://www.dw.com/de/cognac-in-der-krise-frankreichs-exportschlager-zwischen-handelskonflikt-und-klimawandel/a-72512828?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Frankreichs Cognac Branche muss Exporteinbußen verkraften
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Item 64
Id 72521498
Date 2025-05-14
Title Weltraum: Neue deutsche Raumkapsel startet für die Forschung
Short title Weltraum: Neue deutsche Raumkapsel startet für die Forschung
Teaser Sie heißt Nyx, wie die griechische Göttin der Nacht. Der erste Auftrag für Deutschlands erstes Raumschiff: wissenschaftliche Experimente in der Schwerelosigkeit, vor allem mit Schimmelsporen.
Short teaser Sie heißt Nyx, wie die griechische Göttin der Nacht. Erster Auftrag: Versuche in der Schwerelosigkeit - mit Schimmel.
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"Mission possible" (Mission möglich) - diesen hoffnungsvollen Namen hat die deutsche Entwicklerfirma, The Exploration Company (TEC), dem Jungfernflug ihres Raumschiffs gegeben. Voraussichtlich Anfang Juni 2025 wird eine Demo-Variante in den Weltraum geschossen.

"Die Kapsel wird an Bord einer SpaceX-Rakete vom Typ Falcon 9 von der Vandenberg Space Force Base in Kalifornien starten. Die Rakete bringt die Kapsel bis zum gewünschten Orbit, wo sie sie entlässt", erklärt Catharina Carstens vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Carstens ist dort zuständig für Forschung unter Weltraumbedingungen.

Der kleine unbemannte Nyx-Raumtransporter hat gerade einmal einen Durchmesser von 2,5 Metern. An Bord: Material für wissenschaftliche Experimente. 160 Kilogramm wiegt die Fracht, die das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) durch "Nyx" in den Orbit bringen lässt. Auf dem Testflug soll erforscht werden, wie sich Schimmelpilzsporen unter Weltraumbedingungen, also etwa der Strahlung, verhalten.

Schimmel ist in der Raumfahrt ein echtes Problem

Schimmelpilze wurden bereits auf der Internationalen Raumstation ISS und der russischen Raumstation Mir gefunden. In den abgeschlossenen Systemen von Raumstationen oder Raumschiffen ist Schimmelbefall ein echtes Problem. Schließlich kann man im Weltraum nicht lüften, die Sporen bleiben also vor Ort und können sich munter vermehren. Desinfektionsmittel helfen kaum, ebenso wenig scheint die Strahlung sie zu stören. Diese lässt die Pilze möglicherweise sogar noch besser wachsen.

Bei Menschen mit geschwächtem Immunsystem kann Schimmel Allergien und Krankheiten hervorrufen. Und Schimmel sorgt dafür, dass Lebensmittel verderben - ein weiteres Problem, wenn man nicht mal eben neu einkaufen gehen kann.

Durch die Experimente auf dem ersten Nyx-Flug erhoffen sich die Forschenden neue Erkenntnisse, wie sich das Wachstum von Schimmelpilzen in der Raumfahrt verhindern oder eindämmen lässt.

"Nyx": deutscher Hin-und-Rück-Service für die ISS

Ab 2028 soll dann eine größere Nyx-Version für die Europäische Weltraumorganisation ESA​​​​​​​ die Internationale Raumstation ISS versorgen. "Nyx Earth" soll einen Durchmesser von vier Metern haben und deutlich mehr Ladung transportieren können: vier Tonnen hin und drei Tonnen wieder zurück zur Erde.

Denn die Raumkapseln des deutsch-französischen Start-Ups TEC sind so gebaut, dass sie die große Hitze überstehen, die beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre entsteht - bis zu 2100 Grad Celsius. Anschließend werden die Kapseln laut TEC eingesammelt und für neue Missionen im All wiederaufbereitet. So entsteht weniger Müll im Weltraum.

Damit wäre TEC die einzige Firma in Europa, die künftig solche Flüge anbietet. Derzeit bringen russische Progress- und US-amerikanische Cygnus-Transportraumschiffe (Orbital Sciences) Material auf die ISS. Sie sind allerdings nicht wieder verwendbar. Beladen mit Abfällen der Raumstation verglühen sie beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre. Hin- und Rücktransporte werden aktuell nur vom US-amerikanischen Raumtransporter Dragon (SpaceX) durchgeführt.

Deutschland will Grundlagenforschung im Weltraum fördern

Auf den Transportflügen von "Nyx" zur ISS sollen gleichzeitig wissenschaftliche Experimente durchgeführt werden. Die Forschung habe großen Bedarf an Experimenten in der Schwerelosigkeit, so das DLR.

"Mit den Flügen auf der deutschen Nyx-Kapsel eröffnen wir der Wissenschaft die Möglichkeit, auf einer neuen Plattform ihre Forschung unter Weltraumbedingungen vorantreiben zu können", erklärt Walther Pelzer, Generaldirektor der Deutschen Raumfahrtagentur im DLR. Vorteilhaft sei, dass "Nyx" schwere und voluminöse Ladung transportieren könne.

Die Nutzung der Nyx-Kapseln wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz gefördert. Damit will Deutschland laut DLR die Forschung unter Weltraumbedingungen in den Bereichen Biologie, Medizin, Humanphysiologie, Physik und Materialforschung voranbringen. So könnten etwa Experimente für die Entwicklung von neuen Navigationssystemen durchgeführt werden. Geplant seien außerdem zellbiologische Experimente zu grundlegenden Fragestellungen aus der Krebs- und Alternsforschung.

Quellen:

https://www.dlr.de/de/aktuelles/nachrichten/2025/neue-moeglichkeiten-fuer-die-weltraumforschung

https://elib.dlr.de/129880/

Item URL https://www.dw.com/de/weltraum-neue-deutsche-raumkapsel-startet-für-die-forschung/a-72521498?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption So sieht sie aus - zumindest im Modell: die neue deutsche Nyx-Raumkapsel
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Item 65
Id 72528568
Date 2025-05-14
Title Wie deutsche Autobauer mit Trumps Zöllen umgehen
Short title Wie deutsche Autobauer mit Trumps Zöllen umgehen
Teaser Donald Trumps Zölle haben die deutsche Automobilbranche stark verunsichert. Kurzfristig versuchen Unternehmen noch viele Autos in die USA zu liefern, bevor die Zölle greifen. Doch die Unsicherheit erschwert die Planung.
Short teaser Donald Trumps Zölle haben die deutsche Automobilbranche stark verunsichert. Die Unsicherheit erschwert die Planung.
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Seitdem Donald Trump wieder als US-Präsident ins Weiße Haus eingezogen ist, hält er die Welt in Atem. Nur ein Teil seiner Agenda sind dabei seine Zollpläne. Doch allein die haben bereits zu Milliardenverlusten durch Börsencrashs geführt und sie bedrohen den globalen Handel in seinen Grundfesten. Das trifft gerade das exportabhängige Deutschland und besonders seine Automobilindustrie.

Zwar zeigt eine Studie der Commerzbank, die die Nachrichtenagentur Reuters zitiert, dass Deutschland nicht einmal die meisten Autos auf dem nordamerikanischen Markt bring. Mexiko, Japan, Südkorea und Kanada liefern noch mehr fertige Autos in die USA. Laut Statistischen Bundesamt hat Deutschland 2024 rund 3,4 Millionen Pkw exportiert. Und das größtes Abnehmerland waren eben die USA.

Daher beträfen die Zölle für Autos das "wichtigste Exportgut Deutschlands", so Ifo-Präsident Clemens Fuest laut Reuters. "Das ist für sich genommen eine große Belastung für die deutsche Wirtschaft."

"Export auf Vorrat"

Seit dem "Liberation Day", wie Donald Trump den Tag der Veröffentlichung seiner Zollpläne nennt, ist ein merkwürdiger Trend zu beobachten: Es werden gerade mehr Autos für die USA produziert und ausgeliefert als zuvor. Für den Autoexperten Ferdinand Dudenhöffer, Direktor des privatwirtschaftlichen Instituts Center Automotive Research in Bochum, ist das ein "Export auf Vorrat".

Die Autohersteller wollten ihre Lager in den USA "aufstocken", sagt er im DW-Gespräch. Sie wollten noch so viele Fahrzeuge wie möglich ohne die angedrohten hohen Zölle einführen. Aus diesem Grund käme es "kurzfristig zu einer antizyklischen Produktion".

Das sieht auch Stefan Bratzel so. Die Autohersteller hätten noch "möglichst viele Fahrzeuge in die USA geschafft, bevor die Zölle wirksam wurden". Der DW sagte der Direktor des Center of Automotive Management (CAM) weiter: "Am Ende werden die Preise erhöht werden müssen. Grundsätzlich wird die Nachfrage in den USA sinken - und in der Folge Umsatz und Gewinn."

Hoffnung in London

Was Politiker und Ökonomen am meisten fürchten, ist die Unberechenbarkeit der Trumpschen Politik. Will man es aber positiv sehen, könnte man auch von "Flexibilität" reden, wie die unerwartete Verständigung Washingtons mit Peking zeigt. Oder wie es das Beispiel von Großbritannien nahelegt.

Zwischen Washington und London sei, so berichtet die BBC, eine vorläufige Einigung auf bilaterale Autozölle verhandelt worden. Demnach würde der Zollsatz für maximal 100.000 britische Autos auf zehn Prozent gesenkt. Das entspricht mehr oder weniger genau der Anzahl der Autos, die Großbritannien im vergangenen Jahr exportierte. Für alle über diese Quote hinaus exportierten Autos wird jedoch eine Einfuhrsteuer von 27,5 Prozent erhoben.

Ganz schön kompliziert, aber Trump versprach außerdem, dass Rolls-Royce-Motoren und Flugzeugteile zollfrei aus Großbritannien in die USA exportiert werden können. Das jedoch, so die BBC, sei noch nicht in Stein gemeißelt, denn es fehle an der Zustimmung des Kongresses. Der US-Präsident könne keine über einen langen Zeitraum geltenden Handelsabkommen im Alleingang abschließen.

Unsicherheit als Gift für die Wirtschaft

Die Trumpsche Wirtschaftspolitik ist ein stetes Hüh und Hott: Heute Zolldrohung, morgen ein Moratorium. Kann man so überhaupt arbeiten? Nein, meinen alle von der DW befragten Experten: "Flexibilität ist Trumpf, insbesondere bei Trump", bemerkt Stefan Bratzel. Allerdings sei sie "Gift für Hersteller und Zulieferer, die langfristig investieren und Lieferketten organisieren müssen".

Dirk Dohse vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel sieht in der Unsicherheit ein großes Problem für Europas Autobauer. Die kämpften zudem noch mit anderen Herausforderungen. Generell hohe Produktionskosten und ein Mangel "an attraktiven Modellen, gerade im Bereich der Elektromobilität" bedeuteten auch einen "Verlust an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der chinesischen Konkurrenz".

Um hohen Zöllen langfristig entgehen zu können, wollten einige deutsche Autobauer Produktion in die USA verlagern. "Audi überlegt gar ein Werk dort zu errichten. Perspektivisch könnte auch ein gemeinsames Audi-Porsche-Werk in den USA interessant werden", so Dohse gegenüber der DW.

Das Konzept der "Arbeitsteilung"

Doch Investitionen in den USA sind bestimmt nicht der Königsweg aus der Zollfalle, denn um in Amerika Autos zu bauen, ist man auf importierte Teile angewiesen. Das gilt auch für US-Firmen. Viele Teile "amerikanischer" Autos stammen aus anderen Ländern. Ist dieses Konzept industrieller "Arbeitsteilung" in den USA noch nicht erkannt worden? Oder ist das der Politik egal?

"Trump hat das Konzept und die Vorzüge der internationalen Arbeitsteilung nicht wirklich verstanden", glaubt Stefan Bratzel. Die Konsequenz: "Am Ende könnte die America-First-Parole den Wohlstand der USA empfindlichen Schaden zufügen."

Dirk Dohses Eindruck ist, "dass die Zölle und ihre vielfältigen Auswirkungen nicht wirklich gut durchdacht sind. Darauf deuten auch das ständige Hin- und Her bei Trumps Ankündigungen und die nachträglichen Korrekturen bei bereits verkündeten Zöllen hin."

Bei Ferdinand Dudenhöffer löst der Gedanke, Donald Trump habe die globale Arbeitsteilung nicht verstanden, schon fast Empörung aus: "Das kennen doch alle!" Aber er habe den Eindruck, Donald Trump halte "sich für den klügsten Menschen der Welt. Und er macht die größten Fehler!"

Neue Märkte erschließen!

Angesichts der Verwerfungen, die die Trumpsche Wirtschaftspolitik nach sich zieht, müssen sich Deutschlands Autobauer Antworten einfallen lassen. Ferdinand Dudenhöffer rät erst mal zu Zurückhaltung: "Abwarten! Zunächst gar nicht reagieren!" Weil die Lage noch nie so unsicher gewesen sei, sollte man bei zukünftigen Investitionen lieber nach Asien schauen, so der Autoexperte.

"Die wichtigste Konsequenz ist eine stärkere räumliche Diversifizierung der Produktion", sagt entsprechend auch Dirk Dohse: "Die Unternehmen sollten ihre Produktion auf mehr Länder ausweiten, um unabhängiger von den Handelsbestimmungen einzelner Länder zu werden."

Stephan Bratzel zitiert das Prinzip des "Build where you sell", also dort zu produzieren, wo auch verkauft wird. Es sei bereits zu beobachten, "dass immer mehr Wertschöpfung in die Regionen verlagert wird, in denen die Fahrzeuge verkauft werden." Einen weiteren Vorschlag erwähnte Automobilanalyst Frank Schwope gegenüber DW: "Langfristig könnten die Autohersteller sich stärker Perspektivmärkten in Südostasien zuwenden, um die Abhängigkeit sowohl von China als auch von den USA zu verringern."

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Image caption Wird sich die Importflut ausländischer Autos durch US-Zölle verringern?
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Item 66
Id 72519475
Date 2025-05-13
Title Trumps Zollchaos - China positioniert sich in Lateinamerika
Short title Trumps Zollchaos - China positioniert sich in Lateinamerika
Teaser Während die USA unter Donald Trump auch ihre südlichen Nachbarn mit Zöllen überziehen, wächst in Südamerika der Wunsch nach einer stärkeren Zusammenarbeit mit China.
Short teaser Während die USA unter Trump auch ihre südlichen Nachbarn mit Zöllen überziehen, wird China in Südamerika präsenter.
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Brasilien plant eine Eisenbahnverbindung zum neuen peruanischen Großhafen Chancay, den China finanziert hat. Damit will das Land seine Exporte und Importe langfristig neu ordnen und die Warenströme absichern. Das brasilianische Wirtschaftsmagazin Valor prognostiziert, dass das chinesische Interesse an Investitionen in Brasilien wieder wachse. Kolumbien denkt nach Medienberichten zumindest darüber nach, dem sogenannten chinesischen Seidenstraßenprojekt beizutreten und Venezuela strebt eine engere Kooperation mit chinesischen Ölkonzernen an.

Solche Meldungen aus den letzten Tagen deuten darauf hin, dass die von US Präsident Donald Trump verhängten Strafzölle gegen lateinamerikanische Länder dafür sorgen, dass sich die Region eher weiter an China annähert, als sich von Peking zu lösen.

China verfolgt langfristigere Ziele

Derzeit sorgt der Handelskonflikt vor allem für Ungewissheiten: "Das Wichtigste vor allem für Lateinamerika ist zu lernen, wie die neuen Spielregeln jetzt funktionieren. Was wir derzeit beobachten, ist eine Menge Unsicherheit, ständige Veränderungen und das Fehlen von klar definierten Spielregeln", sagt Vladimir Rouwinski von Research Center der Universität Icesi in Cali (Kolumbien) im Gespräch mit der Deutschen Welle. Praktisch jede Woche gibt es aus Washington neue Meldungen, Ankündigungen und Forderungen, die es für die andere Seite schwer macht, sich auf die ständig verändernde Lage einzustellen.

China dagegen scheint an seiner langfristigen Strategie festzuhalten. "China wird nicht darauf erpicht sein, seine Strategien einfach von einer Woche auf die andere zu ändern", meint Rouwinski. Peking sei eher dafür bekannt seine Pläne und Ziele langfristig zu verfolgen und umzusetzen. "Es besteht allerdings die Möglichkeit, dass China seine Präsenz ausbaut und Lateinamerika kurzfristig als Stützpfeiler nutzt", so Rouwinski.

China erscheint vertrauenswürdiger

Ähnlich sieht es Enrique Dussel-Peters, Koordinator des Zentrums Mexiko-China-Studien der Universität UNAM in Mexiko-Stadt: "China ist seit mehreren Jahrzehnten besonders aktiv in seiner Süd-Süd-Kooperationsstrategie. Der chinesische Außenminister Wang Yi betonte Anfang März die Bedeutung der Zusammenarbeit zwischen China und Lateinamerika: eine Beziehung, die auf gegenseitigem Respekt, Gleichheit und gegenseitigem Nutzen basiert. Der Kontrast zu den Exekutivverordnungen des US-Präsidenten seit seinem Amtsantritt im Januar könnte nicht größer sein."
Handel, Investitionen und Infrastrukturprojekte mit China hätten heute einen erheblichen Einfluss auf die Region Lateinamerika und die Karibik, so der Experte. "In der aktuellen Konfrontation zwischen den USA und China hat sich Peking als vertrauenswürdiger und langfristiger Partner erwiesen."

Lateinamerika - Problem oder Chance?

Es gebe zwischen der Betrachtungsweise der Region unterschiedliche Ansätze, sagt der brasilianische Politikwissenschaftler und China-Experte Mauricio Santoro gegenüber der DW: "Die US-Regierung betrachtet Lateinamerika als Problem. Die chinesische Regierung sieht dagegen eine Region mit wirtschaftlichen Chancen."

Dieses Muster habe nicht erst mit Trump begonnen, sondern tauche mindestens seit Beginn dieses Jahrhunderts immer wieder auf. "Die politische Agenda des derzeitigen US-Präsidenten hat jedoch verschiedene Spannungen mit Lateinamerika in Bereichen wie Handel, Migration und organisierte Kriminalität verschärft. Die Agenda Washingtons für die Region ist stark negativ geprägt, konzentriert sich auf Schwierigkeiten und hat wenig zu bieten in Bezug auf vorteilhafte Abkommen und Perspektiven für gegenseitigen Nutzen", sagt Santoro.

USA und China bleiben beides wichtige Handelspartner

Im Gegensatz dazu habe das rasante Wirtschaftswachstum Chinas in den letzten Jahrzehnten zu einem exponentiellen Anstieg seines Handels mit Lateinamerika geführt. Oft sind die Chinesen der größte oder zweitgrößte Handelspartner der Länder der Region. Mit Brasilien beispielsweise sei der Umfang des bilateralen Handels von 1 Milliarde US-Dollar im Jahr 2000 auf derzeit über 130 Milliarden US-Dollar gestiegen.
"Die lateinamerikanischen Länder wollen und können sich nicht zwischen den USA und China entscheiden", sagt Santoro, denn beide Länder seien für jeweiligen Wirtschaftsräume sehr wichtig. Derzeit sei jedoch ein Rückgang des amerikanischen Einflusses und ein Anstieg der chinesischen Präsenz in der Region zu beobachten. "Der Umgang mit dieser neuen Situation stellt für Washington eine größere Herausforderung dar, da die in der Vergangenheit eingesetzten Zwangsmittel zumindest für die größten und vielfältigsten Nationen der Region wie Brasilien, Mexiko und Argentinien nicht mehr funktionieren."

Lateinamerika: künftig wichtiger Absatzmarkt für China

Ähnlich sieht es der brasilianische Autor und Wirtschaftsjournalist Gilvan Bueno: "Chinas Exporte sind seit Beginn des Handelskrieges um mehr als 60 Prozent zurückgegangen", sagt Bueno im Gespräch mit der DW. "Lateinamerika wird ein Ziel der Chinesen sein, da sie neue Strategien und eine geopolitische Diversifizierung entwickeln müssen, um nicht so abhängig von der amerikanischen Wirtschaft zu sein."

Auf dieser Grundlage sei davon auszugehen, dass Afrika und Lateinamerika jene neuen Akteure sein könnten, um die eigene Produktion abzusetzen und den Rückgang der chinesischen Exporte um mehr als 60 Prozent aufzufangen.

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Image caption China hat den Megahafen Chancay in Peru finanziert
Image source Angela Ponce/REUTERS
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Item 67
Id 72514956
Date 2025-05-12
Title Waffen statt Autos: Rüstungsindustrie in Tschechien boomt
Short title Waffen statt Autos: Rüstungsindustrie in Tschechien boomt
Teaser Die tschechische Waffenproduktion erlebt goldene Zeiten und gewinnt rapide an Bedeutung. Sie könnte als Motor der tschechischen Wirtschaft die Automobilindustrie ergänzen oder sogar ersetzen.
Short teaser Die Waffenindustrie in Tschechien erlebt goldene Zeiten und gewinnt rapide an Bedeutung.
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In den letzten dreißig Jahren hat sich die Tschechische Republik zum Land mit der höchsten Pro-Kopf-Produktion von Autos in der Welt entwickelt. Das Jahr 2024 war ein Rekordjahr: In dem Zehnmillionen-Einwohnerland wurden mehr als 1,4 Millionen Fahrzeuge hergestellt, eine Steigerung von fast vier Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Doch im ersten Quartal 2025 brach die Produktion um 7,1 Prozent ein, hauptsächlich aufgrund der gesunkenen Nachfrage in Westeuropa. Die wiederum hängt mit den Problemen in der europäischen Automobilindustrie, dem schleppenden Übergang zur Elektromobilität und den US-Zöllen zusammen.

Während die Autoproduktion schrumpft, erlebt die Rüstungsindustrie einen Boom. In den letzten drei Jahren weiteten tschechische Waffenfabriken ihre Produktion massiv aus und steigerten ihre Gewinne erheblich.

Nach Ansicht von Ales Rod vom Zentrum für Wirtschafts- und Marktanalysen könnte der Anteil der tschechischen Rüstungsindustrie an der Wirtschaft in den nächsten Jahren von derzeit etwa einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) auf ein Vielfaches steigen. "Das Potenzial dafür sehen wir", sagte Rod dem Tschechischen Rundfunk. "Wir sehen eine Nachfrage in der Waffenindustrie für ein Jahrzehnt oder sogar 15 Jahre voraus. Wir sehen leere Lagerhallen. Was wir produzieren, hat kaum Zeit auszukühlen und ist weg."

Die Rüstungsindustrie als neuer Wirtschaftsmotor?

Danuse Nerudova, ehemalige Rektorin der Mendel-Universität in Brünn und Mitglied des Haushaltsausschusses des Europäischen Parlaments, sieht das ähnlich. "Die Rüstungsindustrie kann ein neuer Motor der tschechischen und europäischen Wirtschaft werden. Sie kann die frei werdenden Lieferkapazitäten und Arbeitskräfte des Automobilsektors nutzen, das Wirtschaftswachstum ankurbeln und gleichzeitig unsere Sicherheit stärken", so Nerudova gegenüber der DW.

Ein anderer prominenter tschechischer Wirtschaftswissenschaftler, Petr Zahradnik, ist etwas skeptischer. "Die tschechischen Waffenfabriken erleben goldene Zeiten, das stimmt. Ihre Kapazitäten werden ausgebaut, die tschechischen Rüstungsbetriebe expandieren mit ihrem Kapital in die fortschrittlichsten Teile der Welt", sagt der Berater des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses in Brüssel der DW. Aber: "Ich glaube nicht, dass sie den Automobilsektor als Motor der tschechischen Wirtschaft ersetzen werden." Und, so fügt er hinzu: "Ich möchte das auch nicht erleben, dass die Waffenproduktion die zivile Produktion verdrängt."

Tschechien - traditionelle Waffenschmiede

Das Gebiet der heutigen Tschechischen Republik war bereits vor dem Ersten Weltkrieg ein Zentrum der Rüstungsproduktion. Und auch zwischen den beiden Weltkriegen und danach gehörte die Tschechoslowakei zu den führenden Waffenproduzenten und -exporteuren der Welt. Lange Zeit machten die Waffenexporte etwa ein Zehntel aller tschechoslowakischen Ausfuhren aus.

So produzierte die Tschechoslowakei zwischen 1958 und 1989 zehntausend Kampf- und Übungsjets. Experten zufolge waren die tschechoslowakischen Waffen damals die besten des Ostblocks und wurden in Dutzende von Ländern in aller Welt exportiert.

Doch Bedarf gab es auch zuhause, denn die Tschechoslowakei verfügte Ende der 1980er Jahre über eine schwer bewaffnete Armee von mehreren Hunderttausend Mann und gab bis zu 20 Prozent ihres Staatshaushalts für Verteidigungsausgaben aus.

Das Ende des Warschauer Paktes und der Konfrontation in Europa sowie die allgemeine Abrüstung zu Beginn der 1990er Jahre, die mit einer erheblichen Kürzung des Militärhaushalts einherging, trafen die tschechischen Rüstungsbetriebe hart. Der letzte große Rüstungsauftrag der Tschechoslowakei war ein Exportvertrag über 250 T72-Panzer nach Syrien, der im Jahr 1991 von der ersten nichtkommunistischen Regierung genehmigt worden war.

Nach dem Ende der Tschechoslowakei

Die Auflösung der Tschechoslowakei in ihre beiden Einzelstaaten im Jahr 1992 führte auch zu einer Aufteilung der Rüstungsindustrie: Die Produktion von Panzern und schweren Maschinen verblieb hauptsächlich in der Slowakei, während die Flugzeugindustrie, die Produktion von Kleinwaffen, Munition, Radarsystemen und vor allem von Handfeuerwaffen in Tschechien blieb.

Die nicht immer gelungenen Privatisierungen, die Reduzierung der tschechischen Verteidigungsausgaben auf ein Prozent des BIP, die Professionalisierung und Verkleinerung der Armee auf nur noch etwa 20.000 Soldaten - all dies hat die tschechische Rüstungsindustrie erheblich geschwächt.

Wachstumsfaktor Ukraine-Krieg

Nach der Vollinvasion Russlands in das Nachbarland Ukraine im Februar 2022 steigerten die tschechischen Waffenfabriken ihre Produktion, oft um Hunderte Prozent pro Jahr. Vor allem die Herstellung von Munition, die Modernisierung von Panzern, die Produktion von Militärfahrzeugen, selbstfahrenden Haubitzen sowie von Drohnen, Radargeräten und den weltberühmten Maschinengewehren und Patronen erleben seither einen Aufschwung. Die Flugzeugfabrik Aero, der Stolz der tschechischen Rüstungsindustrie, entwickelte das neue Kampf- und Trainingsflugzeug Skyfox, das zur Ausbildung ukrainischer F-16-Kampfpiloten eingesetzt werden soll.


Vierzig Prozent der Produktion der tschechischen Waffenfabriken gehen in die Ukraine, wo auch Joint Ventures gegründet werden. Insgesamt werden bis zu 90 Prozent der Produktion exportiert. Gleichzeitig nehmen aber auch die Käufe der tschechischen Armee zu. Im vergangenen Jahr erreichten die tschechischen Verteidigungsausgaben erstmals zwei Prozent des BIP. Premierminister Petr Fiala kündigte an, dass sie in einigen Jahren drei Prozent ausmachen sollen.

Auch die Gewinne der privaten Eigentümer der Rüstungskonzerne steigen: Der Eigentümer der Czechoslovak Group, Michal Strnad, hat sein Vermögen seit dem vergangenen Jahr mehr als verdoppelt, und zwar um 129,5 Mrd. Kronen (etwa 5 Mrd. Euro) auf 230,5 Mrd. Kronen (etwa 9 Mrd. Euro). Ähnlich erging es im vergangenen Jahr auch anderen großen tschechischen Waffenherstellern.

Waffenfabriken stellen Tausende von Mitarbeitern ein

Und für die nächsten Jahre soll der Boom anhalten. Der Munitionshersteller STV Group wird seine Produktion von großkalibriger Artilleriemunition, die er hauptsächlich an die Ukraine liefert, in diesem Jahr von 100.000 Stück auf das Dreifache erhöhen. Die PBS Group will die Herstellung von Triebwerken für Raketen und Drohnen ebenfalls verdoppeln.

Auch die Zahl der Beschäftigten in den Unternehmen steigt deutlich an. Allein die STV-Group plant die Einstellung von 1000 zusätzlichen Beschäftigten. Der größte tschechische Rüstungskonzern, die Czechoslovak Group, zu dem neben der Munitionsproduktion auch das militärische Automobilwerk Tatra gehört, beschäftigt laut ihrem Jahresbericht bereits 14.000 Mitarbeiter.

Zum Vergleich: Der größte Automobilkonzern Skoda-Auto beschäftigt in seinem Stammwerk in Mlada Boleslav rund 20.000 Mitarbeiter. Doch die weniger anspruchsvolle Herstellung von Elektroautos wird in Zukunft zu einem Abbau der Beschäftigtenzahlen führen. Skoda-Auto-Chef Klaus Zellmer sagte Ende Februar 2025 dem Branchendienst "Automobilwoche", seine Firma mit derzeit 41.000 Angestellten plane einen Personalabbau von fünfzehn Prozent.

Viele dieser Beschäftigten dürften von der Rüstungsindustrie aufgenommen werden. Tschechischen Personalagenturen zufolge werden sie beim Wechsel keine größeren Umschulungen benötigen.

Item URL https://www.dw.com/de/waffen-statt-autos-rüstungsindustrie-in-tschechien-boomt/a-72514956?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption L-39 Skyfox Kampf- und Trainingsjets sind der Stolz der tschechischen Rüstungsindustrie
Image source Josef Vostarek/CTK/picture alliance
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Item 68
Id 72442154
Date 2025-05-11
Title ME/CFS: Sterben bei lebendigem Leib
Short title ME/CFS: Sterben bei lebendigem Leib
Teaser Weltweit leben geschätzt 17 Millionen Menschen mit ME/CFS. Sie sind völlig erschöpft und können kaum etwas dagegen tun. Nun kämpfen sie für Aufmerksamkeit – im Liegen. Der 12. Mai ist der internationale ME/CFS-Tag.
Short teaser Weltweit leben ca. 17 Millionen Menschen mit ME/CFS. Sie sind völlig erschöpft und sie können kaum etwas dagegen tun.
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Wenn Larissa* sich mit Freundinnen und Freunden trifft, stellt sie sich vorher einen Wecker auf 20 Minuten. Mehr ist nicht drin. Wenn sie über ihre Grenze geht, folgt der Crash. Das fühle sich dann ein bisschen so wie Sterben an, sagt sie.

Menschen mit ME/CFS sind permanent erschöpft. So erschöpft, dass sie kein normales Leben führen können. Mehr als die Hälfte der Betroffenen kann nicht mehr arbeiten. Larissa verbringt die meiste Zeit im Liegen. In einem abgedunkelten Raum, mit Stöpseln in den Ohren und Maske auf den Augen. Nach allem, was sie tut, braucht sie 30 bis 45 Minuten Pause. Aufwachen – ausruhen. Zur Toilette gehen – ausruhen. Zähneputzen – ausruhen. Essen – ausruhen. Als sie vor Kurzem mal eine Viertelstunde lang gebadet hat, war sie danach fünf Tage lang k.o.

Was ist ME/CFS?

ME/CFS, das steht für Myalgische Enzephalomyelitis/ Chronisches Fatigue Syndrom. Die neuroimmunologische Erkrankung führt oft zu schwerer körperlicher Behinderung. Viele Betroffene haben starke Schmerzen, Muskelkrämpfe und Herz-Kreislauf-Probleme, sie fühlen sich grippig und haben Schlafstörungen. Aufrechtes Sitzen oder Stehen ist schwierig. Und auch das Gehirn spielt nicht mehr richtig mit: “Gedanken verschwinden einfach aus meinem Kopf", sagt Larissa. “Ich finde sie dann nicht mehr." Sich mehrere Dinge gleichzeitig zu merken, fällt ihr schwer. Mit Anfang 30 liest sie wieder Kinderbücher, mit großer Schrift und vielen Bildern.

Für diesen Artikel hat Larissa über Wochen hinweg in vielen kurzen Sprachnachrichten ihr Leben beschrieben. “Manche von uns sagen, man kann sein Leben verlieren, ohne zu sterben", schreibt sie. “Ich kann verstehen, was sie meinen".

Die Ursache: Wie kommt es zu ME/CFS?

Meist beginnt ME/CFS nach einer Infektionskrankheit, zum Beispiel nach dem Pfeifferschen Drüsenfieber oder einer Grippe. Bei Larissa war es COVID-19. Innerhalb weniger Wochen ging es ihr extrem schlecht. Sie hatte das Gefühl, sich wie durch Wasser zu bewegen, so schwer war auf einmal die Luft. Stehen wurde zur Herausforderung. Selbst Fernsehgucken war zu anstrengend. Es folgten Muskelschmerzen, Gelenkschmerzen, Nervenschmerzen, Kopfschmerzen. Dann Schlafstörungen und Tinnitus, schließlich Übelkeit und Probleme beim Laufen.

Larissa tingelte von Arzt zu Arzt. Sie solle positiv denken, Gemüse essen, Yoga machen. Als man ihrer Erschöpfung mit Physiotherapie, Ergotherapie und kalten Kniegüssen heilen will, bricht ihr Körper vollends zusammen. Larissa sitzt fortan im Rollstuhl.

Es ist typisch für ME/CFS, dass bereits geringen Belastungen die Symptome verstärken. Post-Exertionelle Malaise (PEM) heißt das. Manchmal bleiben die Symptome danach dauerhaft schlechter. Als wäre sie einen Berg hochgerannt, sagt Larissa. Dabei hat sie nur Zähne geputzt. Andere beschreiben den Zustand, als hätte man gleichzeitig Grippe, Kater und Jetlag.

"Weil ich mich mit meinem ganzen Sein danach sehne, zu leben"

Was das Leben für Larissa ausmacht: Entscheidungen treffen, Pläne machen, Dinge erleben. Licht, Geräusche, Gefühle. Sich unterhalten. Nachdenken.

Was ihr Körper toleriert: In Stille liegen. Möglichst nichts denken. Möglichst nichts fühlen.

“Eigentlich ist alles, was ich tue, ein Kampf", sagt Larissa. “Aber ich verliere diese Kämpfe ständig." Zum Beispiel den Kampf der Körperhygiene. Einmal pro Woche eine Gesamtwäsche ist nur eine ihrer Fronten. Larissa muss sich entscheiden: “PEM oder Saubersein."

Dass das nicht für immer so weiter geht, ist für sie inzwischen eine beruhigende Aussicht. “Falls ich einmal Sterbehilfe in Anspruch nehmen sollte, dann nicht, weil ich sterben möchte. Sondern aus Liebe zum Leben", sagt sie. “Weil ich mich mit meinem ganzen Sein danach sehne, zu leben. Aber ich kann es nicht mit dieser Erkrankung."

Larissas Fall ist schwer. Es gibt mildere Verläufe, bei denen die Betroffenen noch arbeiten und ein einigermaßen selbständiges Leben führen können. Manchen geht es aber noch schlechter als ihr: so schlecht, dass sie nicht einmal mehr ihren Arm heben können. Dass bereits die reine Anwesenheit einer anderen Person ihren Zustand verschlechtert.

Ein Erklärungsansatz: Die gestörte Durchblutung

Auch wenn man ME/CFS schon seit mehr als 50 Jahren kennt, ist immer noch nicht ganz klar, was genau dabei im Körper passiert. Lange gab es zwar viele unzusammenhängende Befunde, aber keine Erklärung für das große Ganze.

Ein vielversprechender Ansatz: “Wir wissen, dass bei ME/CFS die Durchblutung nicht angepasst wird", sagt Carmen Scheibenbogen. Sie leitet in Berlin das Charité Fatigue Centrum und gilt in Deutschland als führende Expertin für die Multisystemerkrankung. Gerade die Durchblutung des Gehirns und der Muskulatur leidet. “Wenn man die Durchblutungsstörung als einen zentralen Krankheitsmechanismus ansieht, kann man auch das Krankheitsbild gut erklären." Das Muskelkater-ähnliche Gefühl, die Konzentrationsstörungen, die Erschöpfung. Der Körper funktioniert nur gut, wenn ausreichend Sauerstoff im Gewebe ankommt und ausreichend Energie produziert wird.

Das Team von Carmen Scheibenbogen untersucht derzeit, ob ein Medikament, das man bei Herzinsuffizienz einsetzt, auch ME/CFS-Patienten helfen kann. Dieses Medikament unterstützt die Blutgefäße dabei, sich zu weiten. Ein Mechanismus, der bei ME/CFS-Betroffenen nicht mehr gut funktioniert.

Das Immunsystem richtet sich gegen den Körper

Außerdem kommt bei ME/CFS-Patienten das Immunsystem nach der auslösenden Infektion nicht zur Ruhe, kleine Entzündungen lodern weiter. Antikörper, die eigentlich gegen die Infektion gerichtet waren, richten sich manchmal gegen den Körper selbst, zum Beispiel gegen Nervenzellen. Besonders betroffen scheint das autonome Nervensystem zu sein, das all jene Prozesse steuert, die wir gar nicht mitkriegen: unseren Herzschlag oder Blutdruck.

Viele Studien fokussieren sich auf spezielle Antikörper, die an Stressrezeptoren andocken und die Stressantwort des Körpers stören. Passend zu den Symptomen: ME/CFS-Patienten fühlen sich oft wie im Dauerstress oder sind schnell erschöpft. Ihre angemessene Reaktion auf Stress ist außer Gefecht. Da Stressrezeptoren auch die Durchblutung steuern, kann das dazu führen, dass der Körper diese bei Belastung nicht richtig anpasst.

Vor rund zehn Jahren hat Carmen Scheibenbogen bereits untersucht, was passiert, wenn man diese Antikörper aus dem Kreislauf der Betroffenen auswäscht. Tatsächlich ging es vielen damit schnell besser. Eine Übersetzung in die Standard-Therapie haben Studien wie diese jedoch noch nicht erreicht. Und dies ist nur ein Erklärungsansatz, der wahrscheinlich nicht für alle Patienten zutrifft.

Was kann man tun?

Bis heute gibt es für ME/CFS keine Therapie, die an den Wurzeln ansetzt. Meist wird versucht, die Symptome zu lindern. Die wichtigste Maßnahme ist das “Pacing", bei dem Betroffene lernen, die eigenen Grenzen zu erkennen und sie nicht zu überschreiten. Für Larissa heißt das oft: Ohrstöpsel rein. Augenmaske auf. Leben im Liegen.

Es fehlen klinische Studien, die sich auf die fehlgeleitete Immunantwort des Körpers stürzen, genauer gesagt auf B-Zellen, die die Auto-Antikörper herstellen. Medikamente, die das können, gibt es eigentlich – allerdings sind sie für andere Erkrankungen zugelassen. Pharmafirmen zeigten geringes Interesse, Studien für ME/CFS durchzuführen, sagt Carmen Scheibenbogen.

Bis bessere Medikamente zur Verfügung stehen, werde es noch Jahre dauern, sagt die Ärztin. Sie sei aber zuversichtlich, dass ME/CFS gut behandelbar sei. “Ich halte das für Erkrankungen mit einer großen Chance auf eine vollständige Heilung".

Langer Kampf um Aufmerksamkeit

ME/CFS ist seit 1969 eine offiziell anerkannte Erkrankung. Weltweit sind geschätzt 17 Millionen betroffen, Frauen deutlich häufiger als Männer. Keine seltene Erkrankung also. Es ist die “häufigste nicht verstandene schwere Erkrankung", sagt Carmen Scheibenbogen.

Lange wurde ME/CFS als psychiatrische oder psychosomatische Erkrankung fehlgedeutet. Das ist manchmal noch heute so. Auch bei Larissa stand erst einmal Burnout im Raum. An Universitäten werde die Erkrankung oft häufig nicht oder falsch gelehrt, sagt die Ärztin Carmen Scheibenbogen. “Und wenn man das Krankheitsbild nicht kennt, geht man gerne mal davon aus, dass das so eigentlich alles gar nicht sein kann und es sich wahrscheinlich um eine funktionelle Erkrankung handelt".

Larissa sagt: “Wir werden unsichtbar gemacht”. Für sie trägt auch das Gesundheitssystem Schuld daran, dass es ihr immer schlechter geht. Kritische Momente: Als sie in der Long-COVID-Ambulanz im Licht der Neonröhren ausharren musste. Als die Ergotherapeutin sie zur Tanztherapie motivieren wollte. Als sie im Kognitionstest nicht mehr konnte. Larissa hält das Gesundheitssystem für ME/CFS-Patientinnen gar für gefährlich. “Weil es von uns abverlangt, über unsere Grenzen zu gehen.“

Um wieder sichtbar zu werden, gibt es den internationalen ME/CFS-Tag am 12. Mai. Bereits am 10. Mai legten sich in ganz Deutschland Betroffene auf die Straße, um auf ME/CFS aufmerksam zu machen. Larissa hat die Demonstration mit organisiert. Teilnehmen konnte sie nicht. Ihr fehlt sogar zum Liegen die Kraft.

*Name von der Redaktion geändert.

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Item 69
Id 72481946
Date 2025-05-09
Title Sind Temu und Shein Europas neue Handelsbedrohung?
Short title Sind Temu und Shein Europas neue Handelsbedrohung?
Teaser Donald Trump hat ein Schlupfloch geschlossen, durch das chinesische Einzelhändler Waren ohne Einfuhrzölle direkt an US-Verbraucher liefern konnten. Könnten Temu und Shein nun Europa mit Billigexporten überschwemmen?
Short teaser Werden chinesische Online-Händler Europa mit Waren überschwemmen, nachdem Trump US-Zoll-Schlupflöcher geschlossen hat?
Full text

Seit Jahren bestand das Geschäftsmodell von Temu und Shein darin, massenhaft Waren in die USA zu liefern, die mit einem Wert von weniger als 800 US-Dollar (rund 710 Euro) von Einfuhrzöllen befreit waren.

Allein im Jahr 2024 wurden 1,36 Milliarden Sendungen im Rahmen dieser sogenannten De-minimis-Regel in die USA eingeführt. Das war eine Verneunfachung gegenüber den 153 Millionen im Jahr 2015.

Diese bei Temu und Shein bestellten Waren, die im vergangenen Jahr insgesamt 30 Prozent der täglichen US-Pakete mit geringerem Wert ausmachten, unterliegen nun einem Zoll von 30 Prozent oder Pauschalgebühren von bis zu 50 US-Dollar. Dazu kommt noch der von Trump im vergangenen Monat erhobene Zoll von 145 Prozent auf Importe aus China.

Weil sich damit die Preise für US-Verbraucher mehr als verdoppelt haben, bröckeln jetzt die Gewinnmargen der chinesischen Online-Händler. Es wäre also keine Überraschung, wenn Temu und Shein jetzt Europa ins Visier nehmen und ein ähnliches Zoll-Schlupfloch der Europäischen Union ausnutzen, um ihr Geschäftsmodell aufrechtzuerhalten.

Europa will Zoll-Schlupfloch abschaffen

Obwohl die EU-Steuerbefreiung bei Waren bis 150 Euro (170 US-Dollar) niedriger ist als bislang in den USA, hat sie das explosive Wachstum von Temu und Shein nicht gebremst. Im Jahr 2024 überschwemmten 4,6 Milliarden Pakete mit geringerem Wert den EU-Markt - eine Verdoppelung gegenüber 2023 und eine Verdreifachung gegenüber 2022, wobei 91 Prozent aus China stammten.

Diese 12,6 Millionen Pakete pro Tag werden zollfrei zugestellt und unterbieten damit die Preise europäischer Einzelhändler, die durch höhere Arbeits-, Lieferketten- und Compliance-Kosten belastet werden.

Obwohl die EU-Kommission vor zwei Jahren vorgeschlagen hat, diese EU-Ausnahmeregelung abzuschaffen, muss das Vorhaben noch von den 27 EU-Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament gebilligt werden. Die Zollausnahme-Regel wird damit laut der Nachrichtenagentur Bloomberg frühestens 2027 fallen.

Diese Verzögerung ist schlecht für die europäischen Unternehmen, die bereits mit einem harten chinesischen Wettbewerb konfrontiert sind - vom E-Commerce über Solarmodule bis hin zu Elektrofahrzeugen. Sie stehen zusätzlich unter Druck, weil durch die drastischen US-Zölle gegen chinesische Produkte mehr billige Waren aus China nach Europa umgeleitet werden könnten.

Viele Einzelhändler in der EU befürchten, dass Temu und Shein künftig noch mehr Billigprodukte auf den europäischen Märkten abladen und sie aus dem Geschäft drängen.

Chinesische Waren fallen oft bei Sicherheitstests durch

Abgesehen davon, dass die Flut von Billiggütern aus dem Reich der Mitte auf die Gewinnmargen drückt und so Entlassungen bei EU-Unternehmen drohen, lässt die oft mangelhafte Produktsicherheit noch viel größere Alarmglocken schrillen.

Agustin Reyna, Generaldirektor von BEUC, einer in Brüssel ansässigen Lobby europäischer Verbraucherorganisationen, sagt, Gruppen wie seine hätten "umfangreiche Beweise" dafür gesammelt, dass chinesische Waren - von giftigem Make-up und Kleidung bis hin zu fehlerhaftem Spielzeug und Geräten - die EU-Sicherheitsstandards nicht erfüllen.

"Wir brauchen zusätzliche Instrumente, um den Zustrom unsicherer Produkte zu bewältigen, die über kleine Pakete nach Europa gelangen, die oft auf Plattformen wie Temu gekauft werden", sagt Reyna gegenüber der DW. "Die Verbraucher setzen unwissentlich ihre Gesundheit und Sicherheit aufs Spiel."

Im Januar versprach die EU-Kommission neue strenge Kontrollen für chinesische Einzelhandelsplattformen, um zu verhindern, dass "unsichere, gefälschte oder sogar gefährliche" Produkte nach Europa gelangen. EU-Handelskommissar Maros Sefcovic forderte die europäischen Gesetzgeber auf, eine Bearbeitungsgebühr für chinesische Pakete zu erheben, um steigende Compliance-Kosten zu decken.

Viele politische Entscheidungsträger wollen Online-Plattformen direkt für den Verkauf gefährlicher und gefälschter Produkte verantwortlich machen. Derzeit agieren Marktplätze wie Temu als Vermittler und nicht als Verkäufer. So entziehen sie sich einer direkten Haftung, was bei Zoll- und Regulierungsbehörden für große Kopfschmerzen sorgt.

"Bei über zwölf Millionen Paketen, die täglich in den EU-Binnenmarkt gelangen, ist es einfach unrealistisch zu erwarten, dass der Zoll als letzte Verteidigungslinie fungiert", unterstreicht Reyna. "Daher ist es wichtig, Online-Marktplätze für die Sicherheit und Konformität der Produkte, die sie an europäische Verbraucher verkaufen, zur Rechenschaft zu ziehen."

Mehrwertsteuerbetrug ein wachsendes Problem

Es gibt immer mehr Beweise für andere illegale Praktiken chinesischer Verkäufer, einschließlich der Unterdeklaration des Warenwerts, um Verkaufs- oder Mehrwertsteuern (MwSt.) zu vermeiden. Diese liegen je nach EU-Staat zwischen 17 und 27 Prozent.

"Es gibt viele Fälle, in denen Importeure einen falschen Wert für ihre Sendungen angeben, um die Schwelle zu unterschreiten und Zollformalitäten zu umgehen", sagt Momchil Antov, Ökonom und Zollexperte an der D. A. Tsenov Wirtschaftsakademie in Bulgarien, gegenüber der DW. "Das ist Betrug."

Im vergangenen Monat deckten das EU-Betrugsbekämpfungsamt OLAF und die polnischen Behörden ein ausgeklügeltes Mehrwertsteuerbetrugssystem auf, bei dem chinesische Waren in die EU importiert wurden. Betrüger behaupteten, die Waren seien für andere EU-Staaten bestimmt, um Steuern und Zölle zu vermeiden. In Wirklichkeit blieben die Waren größtenteils in Polen.

Ein weiteres Beispiel: Ab 2023 nutzten chinesische Exporteure den belgischen Flughafen Lüttich, um Steuern in Höhe von 303 Millionen Euro zu hinterziehen, indem sie ein komplexes System nutzten, an dem private Zollagenturen und Scheinfirmen in anderen EU-Ländern beteiligt waren.

Frankreich plant Maßnahmen zur Betrugsbekämpfung

Während der Plan der Kommission in Brüssel, die 150-Euro-Zollausnahme der EU abzuschaffen, noch nicht umgesetzt ist, haben einige EU-Staaten den Vorschlag von Sefcovic aufgegriffen. Die französische Regierung kündigte Anfang Mai an, die Kontrollen von importierten Waren mit geringerem Wert zu verstärken.

Diese Importgüter werden auf Produktsicherheit, Kennzeichnungsstandards und Umweltstandards geprüft und Paris wird auf jedes Paket eine pauschale "Verwaltungsgebühr" erheben.

Die europäischen Entscheidungsträger stehen vor der kniffligen Aufgabe, Betrug einzudämmen und die Einhaltung von Vorschriften sicherzustellen. Gleichzeitig müssen sie fairen Wettbewerb sicherstellen, ohne den Zugang der EU-Verbraucher zu erschwinglichen Waren aus China einzuschränken.

Der Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert

Item URL https://www.dw.com/de/sind-temu-und-shein-europas-neue-handelsbedrohung/a-72481946?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Billig war gestern: In den USA steigen die Preise für chinesische Waren von Temu oder Shein drastisch an
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Item 70
Id 72472918
Date 2025-05-08
Title Wildtierschmuggel: 5000 Ameisen und ein globales Problem
Short title Wildtierschmuggel: 5000 Ameisen und ein globales Problem
Teaser In Kenia wurden 5000 Ameisen geschmuggelt. Wildtierhandel im Kleinen sozusagen - aber nicht ungefährlicher. Biopiraterie bedroht Arten, Ökosysteme und am Ende auch uns.
Short teaser Warum Ameisen geschmuggelt werden – und welche Risiken der Wildtierhandel für Artenvielfalt und Gesundheit birgt.
Full text

Hier krabbelts gewaltig. In Kenia wurden vier junge Männer wegen des versuchten Schmuggels von Ameisen schuldig gesprochen. Die zwei Belgier, ein Vietnamese und ein Kenianer erhielten Geldstrafen von rund 6150 Euro. Zwar gaben die Männer den Besitz der Insekten zu, bestritten aber die Schmuggelabsicht.

Der Fall flog im April am Jomo Kenyatta Flughafen in Nairobi auf, als Sicherheitskräfte in Gepäckstücken der Männer insgesamt über 5000 Ameisen entdecken, verpackt in 2244 kleinen Röhrchen, welche die beiden Belgier mit sich führten. Die beiden anderen Verurteilten lagerten ihre Ameisen in mit Baumwolle gefüllten Spritzen.

Seltene Ameisenarten aus Ostafrika

Die Polizei schätzte den Wert der Ameisen, die die Belgier mit sich führten, auf über 6800 Euro. Eine eher konservative Schätzung. Denn unter den Ameisen waren auch Tiere der seltenen Ameisenart Giant African Harvester Ant (Messor cephalotes). Eine einzelne Königin dieser Art wird umgerechnet auf mindestens 87 Euro geschätzt. Doch Liebhaber zahlen weit mehr dafür. Der Gewinn der beiden Schmuggler hätte also durchaus in die Hunderttausende gehen können.

Die beiden Fälle stehen in keinem Zusammenhang, wurden aber gemeinsam verhandelt. Einer der Belgier ist laut der Anklageschrift ein "Ameisen-Fan", der Zuhause ganze Ameisenkolonien hielt und Mitglied der Facebook-Gruppe "Ameisen und Ameisenhaltung" war. Er sagte im Polizeiverhör aus, nicht gewusst zu haben, dass der Transport von Ameisen illegal ist.

Biopiraterie im Kleinen

Die kenianische Wildtierbehörde (KWS) sprach von einem Präzedenzfall. Sie wirft den jungen Männern Biopiraterie vor, so die Deutsche Press-Agentur (dpa). Der Schmuggel verstoße gegen das Nagoya-Protokoll.

Biopiraterie bezeichnet die kommerzielle Nutzung oder den Export von biologischem Material - wie Pflanzen, Tieren und Mikroorganismen - ohne angemessene Entschädigung oder Vorteilsausgleich für das Ursprungsland. Damit würden lokalen Gemeinden und Forschungseinrichtungen potenzielle ökologische und wirtschaftliche Vorteile genommen.

Wildtierschmuggel wandelt sich

Der Fall in Kenia zeigt nach Einschätzung der dortigen Wildtierbehörde auch: Der illegale Handel könnte sich von den ikonischen, leicht erkennbaren Säugetieren künftig auf unbekanntere Arten verlagern.

Laut "World Wildlife Crime Report 2024" des UN-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) zählen Nashorn, Pangolin und Elefant noch immer zu den am häufigsten betroffenen Tierarten. Die Wildtierkriminalität gilt als das viertgrößte Delikt des organisierten Verbrechens weltweit.

Insekten machen bislang noch den kleineren Teil aus. Doch dass die Giant African Harvester Ant so begehrt ist, hat laut KWS folgenden Grund: Ihr Verhalten sei einzigartig und sie verfügten über komplexe Fähigkeiten bei der Koloniebildung. Sammler halten sie zur Beobachtung in sogenannten Formicarien. Die Giant African Harvester Ant ist die größte ihrer Art und kann bis zu 20 mm groß werden, wobei die Königin bis zu 25 mm groß wird.

"Schmuggler unterschätzen den ökologischen Wert"

In ihrer Urteilsbegründung betonte die Richterin Njeri Thuku, auch jede kleine Tierart müssen geschützt werden: "Unsere Wildtiere, von Ameisen bis zu Elefanten, erhalten unsere Ökosysteme und unser nationales Erbe", so Thuku. Auch KWS stimmt dem zu. "Schmuggler unterschätzen oft den ökologischen Wert kleinerer Arten, aber ihre Rolle in unserem Ökosystem ist unersetzlich", hieß es in einer Stellungnahme.

Das stimmt. Ameisen sind wichtige Akteure in Ökosystemen: Sie verbessern Böden, regulieren Schädlinge, verbreiten Samen und leben in ökologisch wertvollen Symbiosen. Werden sie in neue Lebensräume eingeschleppt, kann dies unter Umständen fatale Folgen haben.

Die Rote Feuerameise ist ein Paradebeispiel dafür. Heimisch in Südamerika, breitet sich heute bis nach Europa aus, verdrängt andere Arten und richtet massive Schäden in Landwirtschaft und Natur an. Doch es gibt auch andere Vertreter, wie der Japankäfer, die Pazifische Auster, die Bisamratte und viele mehr.

Gefahr für Mensch und Tier

Allerdings erhöht der illegale Handel mit Wildtieren nicht nur den Druck auf bedrohte Arten und Ökosysteme, sondern birgt auch ernsthafte Gesundheitsrisiken für den Menschen.

Beim Transport und der Haltung lebender Tiere - oft unter unhygienischen Bedingungen - kann es zur Übertragung sogenannter Zoonosen kommen, Krankheiten, die von Tieren auf Menschen überspringen können. Beispiele sind Salmonellen, einige Coronaviren, Mpox, Vogelgrippe oder Ebola.

Rund drei Viertel aller neuartigen Infektionskrankheiten sind Zoonosen. Forschende gehen aktuell davon aus, dass allein in Säugetieren und Vögeln 540.000 bis 850.000 bisher unentdeckte Viren schlummern, die das Potenzial haben, Menschen zu infizieren.

Der Naturschutzbund (NABU) nennt Wildtierhandel ein "Rezept für Pandemien". Fast die Hälfte aller neuen zoonotischen Krankheiten, die seit 1940 vom Tieren auf den Menschen übergesprungen sind, ließen sich auf Veränderungen in der Landnutzung, der Landwirtschaft oder der Jagd auf Wildtiere zurückführen. Und dazu gehört auch der Handel mit Wildtieren oder ihren Produkten, selbst den kleinsten.

Item URL https://www.dw.com/de/wildtierschmuggel-5000-ameisen-und-ein-globales-problem/a-72472918?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
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Image caption Ende der Reise: Am Flughafen in Nairobi, Kenia, wurden über 5000 Ameisen in Spritzen und Röhrchen verpackt sichergestellt.
Image source Monicah Mwangi/REUTERS
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Item 71
Id 72445553
Date 2025-05-06
Title Vornamen: Warum wir aussehen, wie wir heißen
Short title Vornamen: Warum wir aussehen, wie wir heißen
Teaser Unsere Namen formen mehr als nur unsere Identität - sie können sogar das Gesicht prägen. Eine Studie aus Israel zeigt: Wir sehen oft so aus, wie unser Name klingt. Zufall?
Short teaser Unsere Namen formen mehr als nur unsere Identität. Wir sehen sogar oft so aus, wie unser Name klingt. Zufall?
Full text

"Ist doch nur ein Name…". Nun ja, tatsächlich ist es viel mehr als das. Unser Name ist meist die erste Information, die Fremde über uns erfahren, er prägt unsere Identität, unser Selbstbild – und sogar unser Gesicht. Denn wir passen im Laufe des Lebens das Aussehen sogar an unseren Namen an.

So lautet zumindest das Ergebnis einer israelischen Studie. Die Forschenden wollten herausfinden, ob Eltern bei der Namenswahl unbewusst das Aussehen ihres Babys berücksichtigen – oder ob sich umgekehrt das Gesicht eines Menschen im Laufe der Jahre an den gegebenen Namen anpasst.

Um dies zu untersuchen, baten die Forschenden neun- und zehnjährige Kinder sowie Erwachsene, Fotos von Gesichtern mit passenden Namen zu versehen.

Das Ergebnis: Bei Fotos von Erwachsenen lagen die Teilnehmenden überdurchschnittlich oft richtig – die Gesichter wurden dem korrekten Namen zugeordnet. Bei Kindern hingegen funktionierte das nicht: Hier konnten weder Erwachsene noch Kinder passende Namen erkennen.

Auch der Computer sieht es so

Zufall? In der Studie wurde auch ein maschinelles Lernsystem mit über 1000 Porträts und den dazugehörigen Namen gefüttert. Der Computer erkannte, dass sich Erwachsene mit demselben Vornamen im Gesicht auffallend ähnlich sehen – deutlich mehr als Personen mit unterschiedlichen Namen. Bei Kindern zeigte sich hingegen keine vergleichbare Ähnlichkeit.

Nicht nur wir selbst, auch unsere Umwelt reagiert auf Namen – oft früher als uns liebt ist. Schon im Grundschulalter können Vornamen das Bild prägen, das Lehrerinnen und Lehrer von ihren Schülern haben: Kinder mit bestimmten Vornamen werden häufiger als weniger leistungsfähig oder auffällig wahrgenommen. So können Vorurteile bereits mit der Namenswahl ungleiche Chancen im Bildungssystem schaffen.

Auch andere Studien zeigen: Die Wahrnehmung eines Namens – ob er modern oder altmodisch klingt– kann Einfluss auf die Einschätzung der Person haben. Je moderner der Name, desto attraktiver erscheine der Mensch, – und Attraktivität wiederum wird häufig mit Intelligenz gleichgesetzt.

Sogar im digitalen Raum zeigt sich dieser Effekt: Wer einen als unvorteilhaft empfundenen Vornamen trägt, erhält beim Online-Dating weniger Klicks. Nur wenige Beispiele von vielen. Die Forschung zur Wirkung von Namen ist vielfältig – und zeigt immer wieder, wie weitreichend ihre Bedeutung sein kann.

Die beliebtesten Vornamen für Kinder waren 2024 in Deutschland übrigens Sophia und Noah. Diese würden gewählt, weil sie vertraut, modern und gleichzeitig zeitlos wirkten, so die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS). Sie veröffentlicht die jährlichen Namens-Hitlisten.

Wenn der Name das Gesicht formt

Zurück zur ursprünglichen Studie: Die Forschenden sehen in der Gesicht-Namen-Ähnlichkeit das Ergebnis einer sogenannten selbsterfüllenden Prophezeiung – also einer Vorhersage, die ihre Erfüllung selbst bewirkt.

So passe sich das Gesicht über viele Jahre hinweg – bewusst oder unbewusst – den gesellschaftlichen Erwartungen an, die mit einem Namen verbunden sein können. Diese Erwartungen entstehen zum Beispiel durch prominente Namensvetter, kulturelle oder religiöse Konnotationen oder eben schlichtweg durch stereotype Vorstellungen.

"Unsere Forschung unterstreicht die allgemeine Bedeutung dieses überraschenden Effekts – die tiefgreifende Wirkung sozialer Erwartungen", so Studienautorin Dr. Yonat Zwebner von der Reichman Universität. "Die soziale Strukturierung ist so stark, dass sie das Aussehen einer Person beeinflussen kann."

Doch der Name allein macht sicherlich keinen Menschen aus. Die Erkenntnisse könnten auch ein neues Licht auf die Rolle anderer persönlicher Faktoren werfen – etwa Geschlecht oder ethnische Zugehörigkeit – und wie sehr auch sie den heranwachsenden Menschen prägen können, so die Forschenden.

Quellen:

Y. Zwebner, M. Miller, N. Grobgeld, J. Goldenberg, & R. Mayo, Can names shape facial appearance?, Proc. Natl. Acad. Sci. U.S.A. 121 (30) e2405334121, https://doi.org/10.1073/pnas.2405334121 (2024).

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Image caption Daniel? Marius? Leo? Unser Gesicht kann unseren Namen verraten.
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Item 72
Id 72415543
Date 2025-05-02
Title Kommt das Universal-Gegengift für Schlangenbisse?
Short title Kommt das Universal-Gegengift für Schlangenbisse?
Teaser Hunderte Male ließ sich ein US-Amerikaner absichtlich von Giftschlangen beißen oder injizierte sich Schlangengift. Aus seinen Antiköpern entwickelten Forschende ein breit wirksames Gegenmittel.
Short teaser Jahrelang ließ sich ein Mann von Giftschlangen beißen. Aus seinen Antiköpern wurde ein Gegengift entwickelt.
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Die Angst vor Schlangen ist uns angeboren. Diese Tiere gruseln viele Menschen - selbst in Ländern, in denen man ihnen kaum begegnet. Bereits wenige Monate alte Babys zeigen Stressreaktionen beim Anblick der Tiere.

Die Urangst vor Schlangen kommt nicht von ungefähr: Jährlich verursachen Schlangenbisse 81.000 bis 138.000 Todesfälle und 300.000 bis 400.000 dauerhafte Schädigungen.

Bisse von Giftschlangen können bisher nur mit spezifischen Gegengiften, sogenannten Antivenomen, behandelt werden. Die meisten davon wirken allerdings nur gegen eine einzige oder wenige verwandte Schlangenarten.

Zudem wissen Betroffene und entsprechend auch das medizinische Personal oftmals nicht, welche Schlange tatsächlich gebissen hat. Immerhin gibt es weltweit etwa 600 giftige Schlangenarten.

Jetzt haben US-Forschende die Grundlage für ein möglicherweise breit wirkendes Gegengift bei Schlangenbissen gefunden. Die Ergebnisse veröffentlichten sie im Fachjournal "Cell". Ein Antivenom, das gegen mehrere Schlangengifte wirkt, könnte die Behandlung stark vereinfachen.

BITTE NICHT NACHMACHEN!

Die US-Forschenden verwendeten dafür das Blut eines Spenders, der sich innerhalb von 18 Jahren freiwillig 856 Mal dem Gift von diversen Schlangen ausgesetzt hat. Timothy Friede hat sich absichtlich mehr als 200 Mal von Giftschlangen beißen lassen und sich hunderte Injektionen mit tödlichem Schlangengift verabreicht.

Bereits als Schüler kam der Amateur-Schlangensammler aus dem US-Bundesstaat Wisconsin auf die lebensgefährliche Idee, irgendwie eine Immunität gegen Giftschlangen zu entwickeln, um vor giftigen Bissen geschützt zu sein. So molk er das Gift seiner Haustiere und injizierte sich das Gift verdünnt.

Mit Erfolg: Sein Körper entwickelte entsprechende Antikörper. Wie jeder andere Mensch blutet natürlich auch Friede nach den schmerzhaften Bissen und die Bissstellen schwellen an. Aber er überlebt die Bisse von Nattern, Kobras, Mambas oder Klapperschlangen.

Die Suche nach dem Universalgegengift

Da Friede seine schmerzhaftes Hobby seit 1998 filmt und bei YouTube hochlädt, wurde irgendwann der Immunologe Jacob Glanville auf die Videos aufmerksam. Wenig später gründeten der Pharmaexperte und der ehemalige LKW-Mechaniker Tim Friede für die gemeinsame Suche nach einem universellen Gegengift die Firma CentiVax.

18 Jahre und hunderte Bisse später identifizierten die Forschenden in Friedes hyperimmunem Blut zwei breit neutralisierende Antikörper: LNX-D09 und SNX-B03. Das daraus gewonnene Gegenmittel wirkt in Mausexperimenten gegen das Gift von 19 der weltweit giftigsten Schlangen.

"Ohne diesen sehr besonderen Spender Timothy Friede wäre die Entwicklung des Antivenoms nur schwer möglich gewesen", urteilt der nicht an der Studie beteiligte Prof. Dr. Michael Hust, Direktor der Abteilung Medical Biotechnology an der Technischen Universität Braunschweig.

Langer Weg bis zum Medikament

Nicht jede Giftschlange ist gleich gefährlich. Abhängig von der Gefährlichkeit werden sie von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in zwei Kategorien eingestuft: 109 der giftigsten Schlangenarten gehören in die Kategorie 1, der Rest in Kategorie 2.

Durch das von den US-Forschenden entwickelte Gegengift entsteht im Maus-Experiment ein vollständiger Schutz gegen zehn Schlangen der WHO-Kategorie 1 und drei Schlangen der Kategorie 2 sowie ein Teilschutz gegen fünf Schlangen der Kategorie 1 und eine Schlange der Kategorie 2.

"In den nächsten Schritten sollte der Cocktail auch an größeren Tieren getestet werden, da sich die Toxizität der einzelnen Schlangengifte bei größeren Säugetieren und Mäusen unterscheiden kann." Es sei aber noch ein langer Weg, bis daraus ein potenzielles Medikament entwickelt werde, das für Menschen nicht gefährlich ist, so Hust.

Forschung an Gegengiften lohnt sich nicht

Zudem sei es laut Hust fraglich, ob sich die Entwicklung von Gegengiften für die Pharmafirmen lohne. "Die größte Herausforderung bei der Entwicklung von Therapeutika gegen 'vernachlässigte Krankheiten', wie zum Beispiel Vergiftungen durch Schlangenbisse, ist nicht wissenschaftlicher, sondern ökonomischer Natur. Überspitzt ausgedrückt: Krebs, Autoimmunkrankheiten und Haarausfall sind wirtschaftlich lukrativ. Ist aber auch ein Medikament gegen Schlangenbisse wirtschaftlich tragbar? Ich wünsche Glanville und Friede, dass es ihnen gelingt, dieses Medikament weiterzuentwickeln, um mehr als 100.000 Menschen jährlich zu helfen."

Dass solch ein Medikament allerdings gegen Bisse sämtlicher Schlangenarten wirksam sein kann, bezweifelt Dr. Andreas Laustsen-Kiel, Professor und Leiter der Section for Biologics Engineering an der Technical University of Denmark.

Für die Untersuchung wurden nur Gegengifte ausgewählt, bei denen es den gewünschten Effekt gab. "Man hat einfach diejenigen ausgewählt, die funktionieren. Die Arbeit ist dennoch großartig, allerdings sollten aus der Studie nicht mögliche Übertreibungen über ein 'universelles Gegengift, das kurz vor der Markteinführung steht' resultieren." Statt der Suche nach einem 'universellen Gegengift' wären "regional breit wirksame Gegengifte" sinnvoll.

Prof. Laustsen-Kiel würdigt Friedes Verdienste zwar, warnt gleichzeitig aber, dass seine lebensgefährlichen Selbstversuche "andere Menschen dazu inspiriert, 'im Namen der Wissenschaft' ähnliche Dinge zu tun", die dann wohlmöglich kein gutes Ende nehmen.

Quellen:

Snake venom protection by a cocktail of varespladibvand broadly neutralizing human antibodies. Cell. DOI:10.1016/j.cell.2025.03.050.
Itsy Bitsy Spider…: Infants React with Increased Arousal to Spiders and Snakes
https://www.frontiersin.org/journals/psychology/articles/10.3389/fpsyg.2017.01710/fullSchlangen
,

Item URL https://www.dw.com/de/kommt-das-universal-gegengift-für-schlangenbisse/a-72415543?maca=de-VAS_DE_NeuseelandNews-32453-html-copypaste
Image URL (460 x 259) https://static.dw.com/image/72424132_302.jpg
Image caption Tim Friede ließ sich über einen Zeitraum von fast 18 Jahren hundertfach von 16 verschiedenen, sehr giftigen Schlangenarten beißen.
Image source Handout Centivax/dpa/picture alliance
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Item 73
Id 72400082
Date 2025-05-01
Title Warum Russlands Wirtschaft Sekundärsanktionen so fürchtet
Short title Warum Russland Sekundärsanktionen so fürchtet
Teaser Bis jetzt hat sich die russische Wirtschaft trotz der westlichen Sanktionen als relativ widerstandsfähig präsentiert. Was passiert aber, wenn die USA den Sanktionsdruck erhöhen?
Short teaser Bis jetzt wirkte die russische Wirtschaft trotz Sanktionen relativ stabil. Neue US-Sanktionen könnten das ändern.
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Seit mehr als drei Jahren rätseln die Beobachter im Westen, in welcher Verfassung die russische Wirtschaft ist. Mal scheint sie unter dem Druck der westlichen Sanktionen zu ächzen, dann wieder macht sie einen überraschend widerstandsfähigen Eindruck mit Wachstumsraten von zuletzt über vier Prozent. So war das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2023 um 4,1 Prozent und 2024 um 4,3 Prozent gewachsen.

Doch mittlerweile scheint der durch die Umstellung auf Kriegswirtschaft befeuerten Konjunktur die Puste auszugehen. Von einer Halbierung auf nur noch zwei Prozent ist bei vielen Ökonomen die Rede. Für das laufende Jahr sieht das Kieler Institut für Weltwirtschaft das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) nur noch um 1,5 Prozent steigen, für 2026 erwarten die Forscher nur noch ein Plus von 0,8 Prozent.

Selbst die Russische Zentralbank rechnet mit einer Abkühlung der Konjunktur und hält nach Angaben der russischen Nachrichtenagentur Interfax "an ihrer Wachstumsprognose für das russische BIP von 1,0 bis 2,0 Prozent für 2025 und 0,5 bis 1,5 Prozent für 2026 fest". Besonders pessimistisch ist das Münchner Ifo-Institut, das davon ausgeht, dass die russische Wirtschaft nach einem kleinen Plus in diesem Jahr 2026 um 0,8 Prozent schrumpfen wird.

Schwieriges Umfeld

Der Zinssatz der russischen Notenbank liegt mit aktuell 21 Prozent extrem hoch, was die Investitionen der Privatwirtschaft ausbremst. Vor allem im Automobilsektor und im Maschinenbau herrscht Flaute. Auch die Baubranche und die Stahlindustrie kriseln.

Dass der Rubel das Kunststück fertig gebracht hat, seit Jahresanfang gegenüber dem US-Dollar um rund 40 Prozent zuzulegen, war vor allem eine Reaktion auf die Russland-freundliche Haltung von US-Präsident Donald Trump, erklärt Vasily Astrov, Russland-Experte am Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) im Interview mit der DW.

"Als Präsident Trump an die Macht gekommen ist, hat er gesagt, er werde einen radikal anderen Kurs gegenüber Russland fahren als sein Vorgänger, Präsident Biden." Er habe eine verstärkte Zusammenarbeit mit Russland und die Lockerung oder sogar die Aufhebung der US-Sanktionen gegen Russland in Aussicht gestellt, so Astrov. "Das alles hat zu einer Euphorie auf den russischen Finanzmärkten geführt und die russischen Aktienkurse sind massiv gestiegen, der russische Rubel hat aufgewertet." Was aber passiert, wenn diese Euphorie ins Gegenteil umschlägt?

Banken-Sanktionen treffen Russland hart

Im November 2024 hatten die USA die seit 2014 bestehenden Sanktionen gegen die russische Gazprombank verschärft und das Finanzinstitut aus dem US-Bankensystem ausgeschlossen. Ihr Handel mit US-Partnern wurde unterbunden und ihr Vermögen in den USA eingefroren. Die Sanktionen trafen die Gazprombank, weil sie als zentraler Akteur bei der Abwicklung von Zahlungen für Gaslieferungen und der Finanzierung militärischer Projekte fungiert. Die EU hatte die Gazprombank bis Ende 2024 von Sanktionen ausgenommen, um europäischen Gasimporteuren weiterhin die Zahlung für russisches Gas zu ermöglichen.

Nach Verkündung der US-Sanktionen gegen die Gazprombank im Herbst verlor der Rubel innerhalb kurzer Zeit ein Viertel seines Werts gegenüber dem US-Dollar. Am Aktienmarkt gab es regelrechte Panikverkäufe und massive Kursverluste - besonders im Finanz- und Energiesektor.

Kein Wunder, dass Russlands Entscheidungsträger genau hingehört haben, was Donald Trump nach seinem Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten Ende April in Rom andeutete: Vielleicht sei es an der Zeit, "mit ihm (Wladimir Putin, Anm. d. Red.) anders umzugehen" und über Maßnahmen im "Bankenbereich oder Sekundärsanktionen" nachzudenken.

Mit "Sekundärsanktionen" sind Maßnahmen gegen Drittländer, Unternehmen oder Einzelpersonen gemeint, die weiterhin mit Russland Geschäfte machen.

Neue Sanktionen im US-Senat in Vorbereitung

Der republikanische Senator und Trump-Vertraute Lindsey Graham reagierte auf Trumps Äußerungen mit einem Post auf der Kurznachrichtenplattform X. Graham und mehrere Dutzend Unterstützer aus Republikanern und Demokraten seien bereit, die Sanktionen auf Länder ausweiten, die russische Energieprodukte importieren.

Es gebe einen "parteiübergreifenden Gesetzesentwurf mit fast 60 Mitunterzeichnern, der Sekundärzölle auf jedes Land erheben würde, das russisches Öl, Gas, Uran oder andere Produkte kauft", schrieb Graham in seinem Tweet am 26. April.

China, Indien und die Türkei im Visier

Das würde vor allem Indien und China treffen, erklärt der Wiener Experte Astrov. "China ist mittlerweile der wichtigste Handelspartner Russlands und war 2024 für rund 40 Prozent der russischen Importe und 30 Prozent der russischen Exporte verantwortlich. Auch die Einfuhr wichtiger Importgüter für die Militärindustrie findet über China und Hongkong statt." Daneben spiele auch Indien eine zentrale Rolle. "China und Indien absorbieren mehr als die Hälfte der gesamten russischen Ölexporte", so Astrov.

Dass sich China nicht an den westlichen Sanktionen gegen Russland beteiligt, sei absehbar gewesen. Dass Indien neutral bleiben würde, sei ebenfalls keine große Überraschung gewesen. "Die große Überraschung war die Türkei. Weil sich die Türkei den westlichen Sanktionen ebenfalls nicht angeschlossen hat, obwohl die Türkei Nato-Mitglied ist und eine Zollunion mit der Europäischen Union hat."

Zahlungsverkehr mit Russland wird komplizierter

Unter US-Präsident Biden sei die Einhaltung der Sekundärsanktionen streng überwacht und ihre Nichteinhaltung mehrmals bestraft worden, so Astrov. "Da geht es um Banken, chinesische Banken, türkische Banken, die Importzahlungen aus Russland angenommen haben. Sie wurden stark unter Druck gesetzt von der US-Regierung unter Joe Biden."

Unter Trump habe es dann eine massive Abkehr von der früheren US-Politik gegenüber Russland gegeben, nicht nur bei der Rhetorik. "So ist zum Beispiel die Abteilung im Finanzministerium, die früher für Maßnahmen gegen die Vermögenswerte russischer Oligarchen in den USA zuständig war, inzwischen aufgelöst worden und die Überwachung der Einhaltung der Sekundärsanktionen wurde ebenfalls massiv gelockert", sagt Astrov.

Wie stark eine Verschärfung der US-Sekundärsanktionen durch Donald Trump Russlands Partner treffen würden, lässt sich trotzdem nur schwer voraussagen. Denn nach aktuellen Recherchen der Nachrichtenagentur Reuters haben russische Banken ein spezielles Verrechnungssystem namens "China Track" aufgebaut, um den Zahlungsverkehr mit China abzuwickeln und westlichen Sanktionen zu entgehen.

Umgehung der Sanktionen mit "China Track"

Laut Banken-Insidern gebe es das System schon seit einiger Zeit, es werde von mehreren sanktionierten russischen Banken betrieben. Dabei kommen Zwischenhändler in Ländern zum Einsatz, die weiter mit Russland Handel treiben. Das Netzwerk arbeitet den Reuters-Recherchen zufolge bereits seit einiger Zeit ohne größere Störungen.

Würden damit mögliche US-Sanktionen gegen chinesische Banken ins Leere laufen? "Ich schließe nicht aus, dass die chinesischen Partner bald keine Angst mehr vor sekundären Sanktionen haben werden", zitiert Reuters Alexander Schokhin, Chef des russischen Unternehmerverbands "Union of Industrialists and Entrepreneurs" (RSPP), der an den Handelsgesprächen mit China teilnimmt.

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Image caption Ein Drittel des russischen Staats-Budgets stammt aus dem Energiesektor und dabei vor allem aus dem Ölexport
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